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Artikel „Rau, Heribert“ von Curt Pfütze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 376–379, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rau,_Heribert&oldid=- (Version vom 8. November 2024, 17:56 Uhr UTC)
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Rau: Heribert R., am 11. Februar 1813 zu Frankfurt am Main geboren, mußte gegen seine Neigung, die ihn zur Wissenschaft hinzog, als Lehrling in ein kaufmännisches Geschäft eintreten. Von den Beschwerden des ihm unliebsamen Berufes floh er, so oft er konnte, zu seinen Studien, die er eifrig betrieb. Im Jahre 1844 ward er zu der damals auftauchenden freireligiösen Bewegung hingezogen und als der Führer derselben bald allgemein bekannt. Da er jedoch zur ernsten Durchführung seiner Rolle einer strengeren wissenschaftlichen Schulung bedurfte, als sie der „entlaufene Handlungscommis“ – so nannten ihn spottend seine Gegner – trotz seines Eifers haben konnte, so begab er sich nach abgelegtem Maturitätsexamen als Student der Theologie nach Heidelberg. Bereits verheirathet und Vater von zwei Kindern, absolvirte er hier sein Triennium und wurde sodann als Prediger der deutsch-katholischen Gemeinde nach Stuttgart und im Jahre 1849 zu derselben Stellung nach Mannheim berufen. Nachdem er in letzterer Stadt sieben Jahre gewirkt hatte, wurde er auf Betrieb der orthodoxen Partei, die er durch seine freireligiösen Schriften: „Evangelium der Natur“ (1853); „Feuerflocken der Wahrheit“ (1854); „Katechismus der Kirche der Zukunft“ (1855) und „Neue Stunden der Andacht“ (3. Auflage 1876) gegen sich aufgebracht hatte, von der Regierung im Jahre 1856 seines Amtes entsetzt. Er zog sich nach Frankfurt zurück und widmete sich dort vollständig und mit dem größten Fleiße der schriftstellerischen Thätigkeit. Noch einmal jedoch nahm er ein ihm angetragenes [377] Amt an und zwar in Offenbach. Hier stand er von 1868–1874 als Prediger und Religionslehrer an der Spitze einer deutsch-katholischen Gemeinde. Vom Jahre 1874 an begann er zu kränkeln und blieb siech bis an seinen Tod, welcher am 26. September 1876 erfolgte. Heribert R. hat eine erstaunlich vielseitige und reiche Thätigkeit entfaltet, er hat sich auf dem Gebiete der Dichtung ebenso versucht wie auf demjenigen der Wissenschaft, er hat philosophische Werke ebenso verfaßt wie theologische und geschichtliche, er hat Volkskalender herausgegeben und Operntexte geschrieben. Er hat die deutsche Litteratur um ganze 103 Bände bereichert. Es ist natürlich, daß ein Mann, den seine amtliche Thätigkeit überdies mannigfach in Anspruch nahm, bei solcher Fülle der Production nur wenig Gediegenes zu Tage fördern konnte. So haften an fast allen seinen Schöpfungen die Spuren der Flüchtigkeit und Flachheit. Und doch kann man ihm eine große Fertigkeit und Gewandtheit nicht absprechen, besonders besticht sein glatter, correcter Stil. Wodurch er aber überall Achtung einflößt, das ist sein hoher, freiheitlicher und nach Wahrheit strebender Sinn, seine Begeisterung für alle großen Ziele und erhabenen Besitzthümer der Menschheit. Um mit seiner schönwissenschaftlichen Thätigkeit zu beginnen, so hat R. vor allem die Gattung der biographisch-culturgeschichtlichen Romane gepflegt, jener unnatürlichen Mischung von Phantasiegebilde und Geschichte, bei der man bald die Wahrheit, und bald die Dichtung vermißt. Was gleichwohl auf diesem Gebiete für Vortreffliches geleistet werden kann, hat Willibald Alexis genügend gezeigt. Heribert Rau war in derselben Hinsicht nicht eben bedeutend. Seine Romane sind gehaltlos, seicht, ohne Anziehungskraft, – längst vergessen. Sie haben etwas Handwerksmäßiges an sich, man könnte es ihnen anmerken, daß ihr Verfasser sich bei ihnen Zwang anthut; dies allerdings in der guten Absicht, dem deutschen Volke die bedeutendsten Männer in anziehender Form vorzuführen. So hat er einen Mozart, einen Beethoven, einen Weber, ferner einen Alexander v. Humboldt (obwohl dieser damals noch am Leben war), einen Shakespeare, einen Jean Paul, einen Hölderlin, einen Theodor Körner und andere behandelt.

Seine übrigen Romane und Erzählungen, deren er überhaupt sehr viele geschrieben hat, verdienen kein besseres Urtheil. Von tieferem poetischen Gehalte ist bei ihnen kaum eine Spur zu finden. Uebrigens sind sie meist stark tendenziös und würden also schon deswegen keinen reinen poetischen Genuß gewähren. So ist z. B. sein Roman „die Pietisten“ der Träger seiner rationalistischen Ideen, von denen wir bald genauer zu sprechen haben werden. Bedeutend höher als Rau’s Romane stehen seine Gedichte. Sie haben zum Theil einen ernstreligiösen und durch ihre liebevolle Versenkung in die Natur anmuthenden Inhalt. Ihre Form ist durchaus gewandt und ansprechend. Ueberall begegnen wir schönen großen Gedanken. Da zieht es ihn hinaus in die Natur, um hier seinen „Gottesdienst“ zu halten; hier ist sein Tempel, hier fühlt er das Wehen des göttlichen Geistes. Und das Gefühl, die Bewunderung der Naturherrlichkeit ist ihm Gebet. In den Schöpfungen der Kunst, in allen Geisteswerken „ehrt er den Schöpfergeist, der schaffend durch das Weltall kreist“. Da flieht er denn oft in die Einsamkeit, in das Dickicht der Wälder oder auf die Gipfel der Berge, wo auch ihm die Freiheit wohnt. – Die Welt ist ihm kein Jammerthal, sondern sie ist ihm reich an Freuden, sie ist Gottes Blumengarten. Für den „rechten Mann“ aber hält er den, der Wahrheit über alles stellt, der nicht heucheln kann, der die Vernunft walten läßt, der sich nicht unter das Joch der Priester beugt, der jene Freiheit liebt, die im Gesetz und in der Ordnung liegt, und der seine Pflicht streng erfüllt. Freilich er weiß, er hat es ja selbst an sich bitter erfahren müssen, daß ein solcher Mann nicht [378] immer einen leichten Stand in der Welt hat. In diesem Sinne ruft er aus: „Auch ich bin ein Soldat“, seine Löhnung ist der „Wahrheit lautres Gold“, seine Feinde sind die Mucker und die Pfaffen, sein Ziel ist, des Geistes Macht der Welt zu erstreiten. „Das Leben“ ist ihm kein Traum, sondern eine wilde Schlacht, in der es gegen Wahn und Irrthum zu kämpfen gilt. Nicht träumend soll der Mensch in die Ferne schauen, sondern die Dinge so nehmen, wie sie sind, doch soll er in allem, in Freude wie im Leide, das Gute suchen und jedem Ding die lichte Seite abzugewinnen streben. Wie dem Dichter Religion nicht darin besteht, unglaubliche Dinge zu glauben, sondern ein rechtschaffenes Leben in Heiterkeit und Begeisterung für das Schöne und Edle zu führen, so faßt er die Weisheit nicht auf als Verzicht auf die Güter der Erde, sondern als klugen Genuß des Lebens, wobei Gemüth und Vernunft wie Sinne in harmonischer Weise sich erfreuen. Seine heiteren Gedichte fallen gegen jene ernsten außerordentlich ab; sie haben etwas Gezwungenes, sie werden mitunter gar lehrhaft, auch ironisch, wenn sie deutsche Zustände berühren. Er feiert den Wein in einzelnen unbedeutenden Liedern, fast nie die Liebe. Seine mehr epischen Gedichte, seine poetischen Erzählungen aus Heidelbergs Geschichte, seine Balladen und Romanzen haben nichts Anziehendes, nichts irgendwie Hervorragendes aufzuweisen. Bemerkenswerth ist, daß auch hier das Lehrhafte oder das Tendenziöse oft hervortritt. R. war eben vor allen Dingen Agitator der freireligiösen Bewegung, Volksaufklärer, Prediger. Diese Seite seiner Thätigkeit lernen wir nach allen Richtungen hin in seinen wissenschaftlichen Werken kennen. Dieselben zerfallen in geschichtliche und populärphilosophische oder theologische. Die ersteren, deren bedeutendste seine „Geschichte des deutsches Volkes“ und „das Papstthum“ sind, haben wieder jenes stark subjective Gepräge, das von der heutigen strengen Geschichtsschreibung mit Recht gänzlich verworfen wird. Es fehlt in ihnen nicht an Lobreden auf die dem Verfasser sympathischen Helden, nicht an gelehrten Auseinandersetzungen und Ermahnungen, alles Dinge, welche dem Geiste einer soliden Wissenschaft zuwider sind.

Zu den theologisch-philosophischen Werken Rau’s gehören außer den schon oben angeführten sein „Katechismus der christlichen Vernunftreligion“, zum theil seine „Mysterien eines Freimaurers“ und andere. Hier nun tritt uns ein umfassendes Bild von der religiösen und philosophischen Weltanschauung Rau’s entgegen. Dieselbe baut sich auf Hegel’s System auf und folgt dem Rationalismus von David Strauß. Aller Dogmatik abhold, erkennt er als die wahre Religion die der Wahrheit und der Liebe. „Wahrheit ist der Bestandtheil, Liebe der Ausfluß des göttlichen Lebens“. Die Stufen der Himmelsleiter heißen bei ihm: Blinder Glaube, Zweifel, Unglaube, Materialismus und Determinismus, Naturalismus, Rationalismus. Gleichwohl bekennt er sich äußerlich zur christlichen Religion, weil ihm diese der Vernunft am meisten zu entsprechen scheint. Christus, ihr Stifter, ist ihm ein edler Mensch, der Gott im Geiste und in der Wahrheit anzubeten lehrte. Seine Wunderthaten, seine Auferstehung und Himmelfahrt werden ganz rationalistisch gedeutet. In Gott erkennt R. den Weltgeist, die Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe, den Schöpfer der Welt, die ernährende, bildende und erhaltende Kraft, das Leben in aller Creatur. Für das Dasein Gottes führt er die bekannten unhaltbaren Beweise an, ebenso wie für die Unsterblichkeit der Seele. Der Mensch hat nach ihm eine göttliche Vernunft, durch welche er zu Gott kommen, und einen freien Willen, durch welchen er die Gebote Gottes befolgen oder übertreten kann. Gemäß seiner Handlungen trägt er Himmel oder Hölle schon bei Lebzeiten in seiner Brust; sein Tod ist nur Tod des Fleisches, aus dessen Banden die Seele durch diesen befreit wird, doch keine Veränderung der Seele selbst. In der Bibel findet R. [379] einen schönen Schatz religiöser und ethischer Lehren in parabolischer Form, die einer rationalistischen Deutung bedarf. Dabei hält er nicht alle Bücher der heiligen Schrift für gleichwerthig, vielmehr erscheinen ihm manche, vor allem aber die Apokalypse, religiös vollständig bedeutungslos, ja sogar schädlich. Um unser Urtheil über Heribert Rau kurz zusammenzufassen, können wir ihn also einen gewandten, nicht talentlosen, aber oberflächlichen Autor, dagegen einen edlen Mann nennen, der unermüdlich nach Wahrheit strebend, nichts als das Recht für sich in Anspruch nahm, frei, vorurtheilslos und selbständig zu denken und zu forschen.