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Artikel „Rahm, Meinrad“ von Adolf Socin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 172–173, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rahm,_Meinrad&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 05:07 Uhr UTC)
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Rahm: Meinrad R., Erfinder eines Stenographiesystems, wurde geboren zu Unterhallau im Kanton Schaffhausen, am 6. Juli 1819. Seine geistige Bildung erwarb R. als Autodidakt, gegen den Willen der in bäuerlichen Verhältnissen lebenden Eltern. Das zeitraubende und mühevolle, meist nächtlicher Weile vorgenommene Excerpiren aus geliehenen wissenschaftlichen Werken brachte ihn auf die Idee, sich der Stenographie als eines trefflichen Mittels zu diesem Zwecke zu bedienen. – Während auf deutschem Boden in den dreißiger und vierziger Jahren die Verbreitung der Geschwindschreibekunst über den engen Kreis des parlamentarischen Dienstes hinaus sich erst ankündigte, hatte diese in Frankreich schon 1787 die Aufmerksamkeit der Akademie auf sich gezogen und war zur Zeit der ersten Revolution, dann aber namentlich seit dem dritten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zu einer verhältnißmäßig hohen Blüthe gediehen, von welcher die reiche, theilweise über das rein didaktische hinausgehende Fachlitteratur des Zeitraumes von 1820–1850 und die den Bestrebungen auf Popularisirung dieser Kunst von oben herab gewährte Unterstützung Zeugniß ablegen. Daß eines dieser Systeme, und zwar die von Fayet 1832 zu Paris veröffentlichte, von einer Gelehrtencommission günstig begutachtete Nouvelle écriture et sténographie in Rahm’s Hände gelangte, und daß er sie auf die deutsche Sprache übertrug, macht die innere Uebereinstimmung wahrscheinlich. Ein Zwist mit dem Vater wurde Ursache, daß R. das elterliche Haus und bald darauf sein Vaterland verließ. Im J. 1844 treffen wir ihn in Berlin. Hier stenographirte er die bei Anlaß der Einführung des ersten Pfarrers der deutsch-katholischen [173] Gemeinde gehaltenen Reden und Predigten, deren Drucklegung die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf seine noch unveröffentlichte „Polygraphie“ zu lenken geeignet war. Eine unerquickliche Zeitungsfehde mit den Anhängern des seit 1841 in Berlin eingesessenen Stolzeschen Systems begleitete sein Auftreten als Lehrer. Kränkungen und Enttäuschungen mögen ihn, der aller pecuniären und wirksamer persönlicher Mittel entbehrte, welche den Gegnern zu Gebote standen, veranlaßt haben, sich nach Dresden zu begeben, wo er sich unter der Leitung Wigard’s, des Vorstehers des königl. sächsischen stenographischen Instituts, mit dem Studium des Gabelsberger’schen Systems beschäftigte. Der Tod entriß ihn diesem Streben. Ein Nervenleiden begann ihn zu verzehren. In einem Anfall von Geistesverwirrung endete er am 14. September 1847 durch einen Sturz aus dem Fenster. Rahm’s Lehrgebäude wurde unter dem Titel „Anleitung zur Rahm’schen Stenographie oder deutschen Redezeichenkunst“, Berlin 1849, von G. Rahn veröffentlicht, ein kurzgefaßtes Unterrichtsmittel für den Gebrauch in Lehrcursen erschien von H. Neukomen, Bern 1851, und in modificirter Form gab A. Wießner eine Uebersicht des Systems (Lübeck 1851). Der Letztgenannte (später populär-philosophischer Schriftsteller) war wohl der einzige praktische Stenograph nach R., er arbeitete als solcher während mehrerer Jahre im preußischen Herrenhause und beim Erfurter Parlament. Ebensowenig scheint die Verbreitung des Systems durch Unterricht je größere Dimensionen angenommen zu haben; dasselbe kann längst als vollständig erloschen gelten.

Spielt sonach R. in der äußeren Geschichte der deutschen Stenographie keine wesentliche Rolle, so ist hingegen sein Einfluß auf deren innere Entwicklung nicht unbedeutend. Das Gabelsberger’sche System scheint er in seinen Grundzügen gekannt zu haben, bevor er ihm in Dresden näher trat; darauf deutet wenigstens sein Grundsatz, die stenographischen Buchstaben aus den Zügen der deutschen Currentschrift zu bilden und jedes Zeichen auf die Schreiblinie zurückzuleiten. An Stolze erinnert die zuerst von Gabelsberger ausgesprochene Regel, daß die Weglassung von Buchstaben nicht dem Belieben des Schreibenden unterstellt ist, sondern nach im Voraus festgesetzten Normen zu geschehen hat. R. theilt ferner mit Stolze den Gebrauch von Neben- und Hilfszeichen, die ausgedehnte Anwendung des Drucks als eines Unterscheidungsmittels und die Vorliebe für die Bildung zahlreicher dem Gedächtniß einzuprägender Abbreviaturen (sog. Sigel). Das Hauptprincip des Systems aber: zur Bildung der Consonantzeichen den niedersteigenden (Grund)strich, zur Bildung der Vocale den Bindestrich zu verwerthen und den Vocal mit dem Consonanten zu verschmelzen, geht auf Fayet zurück, von dem auch einzelne Zeichen direct herübergenommen sind. Dadurch aber bildet R. die Brücke von Fayet zu dem bis heute eine ziemliche Wirksamkeit entfallenden System von Arends (zuerst 1850). Auch der allgemeine Charakter beider Schriften stimmt überein: der Eindruck ist ein angenehmer, doch ist die graphische Ausführung an peinliche Unterscheidungen gebunden, welche die Aufmerksamkeit des Schreibenden in bedeutendem Maße absorbiren.

Vgl. Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Litteratur der Stenographie (1855) S. 72–74.