ADB:Nikolaus von Straßburg
Meister Eckhart zu den deutschen Mystikern, mit denen er hinsichtlich seiner Lehre freilich nur die gleiche Grundlage gemein hat. Mystiker im strengen Sinne des Wortes ist er nicht. Ueber sein Leben wissen wir nicht viel und auch das, was von seiner schriftstellerischen Thätigkeit in deutscher Sprache auf uns gekommen – es sind 13 (vorwiegend Fasten-) Predigten, von seinen Zuhörern und Zuhörerinnen aufgezeichnet – ist nur mangelhaft überliefert. Durch Eckhart und seine Schule verdunkelt, verhallte sein Wort früher als es sonst vielleicht der Fall gewesen sein würde. N. stammt wohl aus Straßburg, er predigte am Oberrhein, bei den Dominicanern und Dominicanerinnen zu St. Agnes in Freiburg (Predigten I, V, VI, VII, IX), sowie bei den Dominicanerinnen zu Adelhausen nahe bei Freiburg (VIII) und bekleidete das Lectoramt im Cölner Dominicanerkloster. Wann er letzteres angetreten, ist unbestimmt, jedenfalls aber war N. aus nächster Nähe Zeuge jenes Glanzes, der, von Eckhart’s Persönlichkeit ausgehend, seit dem Anfange der zwanziger Jahre des 14. Jahrhunderts den Ruhm der Cölner Dominicanerschule erneute. 1325/26 wurde N. vom Papste Johann XXII. zum Specialinquisitor (specialis vicarius) für die deutsche Provinz des Predigerordens bestellt und als solcher im Proceß gegen den der Ketzerei beschuldigten Eckhart (s. A. D. B. V, 620) mit dem Amte der Untersuchung betraut. Es erfolgte die Freisprechung Eckhart’s (1326), ohne daß sich damit der Cölner Erzbischof Heinrich von Virneburg, der eigentliche Anstifter des Processes, zufrieden gegeben hätte. Vielmehr wurde von seiner Seite der Proceß am 14. Januar 1327 wieder aufgenommen und zuerst N. – fautor et defensor maximus fratris Aycardi et haeresium suarum nennt ihn ein gleichzeitiges Actenstück – vorgeladen. um ihn wegen der von ihm geführten Untersuchung zu vernehmen. N. legte jedoch Verwahrung ein, erklärte für diesen einzelnen Fall das bischöfliche Inquisitionsgericht [629] für incompetent und appellirte an die päpstliche Curie. Als nun auch gegen ihn selbst gerichtlich vorgeschritten werden sollte, wiederholte N. schon am folgenden Tage (15. Januar) seinen Protest vor den erzbischöflichen Inquisitoren und forderte jetzt, um was er vorher gebeten: die Appellation. Es ist nicht unwahrscheinlich, wenn auch nicht sicher zu belegen, daß sich N. wirklich zum festgesetzten Termine (4. Mai) nach Avignon begab. Um dieselbe Zeit hatte ein verläumderischer Religiose, Hermann de Summo, der in zwei Acten des Eckhartprocesses als Zeuge begegnet, aus Rache für eine ihm vom vicarius Teutoniae N. zuertheilte wohl verdiente Strafe diesen denuncirt und seine Excommunication bewirkt; doch wurde N. bald darauf von Johann XXII. de facto dispensirt, damit er auf dem am 31. Mai 1327 zu eröffnenden Generalcapitel zu Perpignan als Definitor erscheinen könne. Damit sind die Lebensdaten über N. erschöpft und wir wissen nicht, ob und in welcher Art N. von der im März 1329 gegen Eckhart und die Anhänger und Vertheidiger seiner Lehre erlassenen Bulle betroffen worden ist. – Trotz mangelhafter Ueberlieferung sind wir doch im Stande, uns ein Bild von Nicolaus’ Predigtweise zu entwerfen. N. ist weniger speculativ als Eckhart. Von des letzteren gewagten Aussprüchen und kühnen Folgerungen hält er sich frei: am stärksten ist noch die auch bei Eckhart und Tauler wiederholt zu findende Behauptung, gotes friunt der twinget in (Gott) wol (276, 31). Seine Lehre ist thomistisch, gelegentlich eckhardisch, ohne daß N. deshalb nun selbständiger Auffassung, abweichender Ansicht entsagte. Citirt wird nur Augustin. Wenn N. neben den kirchlichen Bußen und guten Werken zur Abtragung eigener Schuld und um sich Verdienste zu erwerben, des öfteren die Aneignung des Verdienstes Christi im Glauben empfiehlt, so liegt ihm doch jede reformatorische Tendenz fern. Seine Predigt will dem Menschen im Dienste reiner Gottesliebe zur Seligkeit verhelfen. Der Besitz des ewigen Lebens beruht auf der Vereinigung Gottes mit uns und der menschlichen Seele mit Gott und hierdurch bekundet er seine Vertrautheit mit mystischer Lehre. Im Allgemeinen wird N. nur selten durch den biblischen Text zur Beantwortung speculativer Fragen angeregt, er ist vorwiegend Praktiker. Er will, daß man Christo nachlebe, von Christus zu lehren und sei es auch mit größtem Wissensaufwand, das mache es noch nicht: die menschliche Seligkeit beruhe auf Liebe und Demuth, sie gehen vor aller Welt Weisheit (273, 7 ff.). Die Form der Predigten ist eine wenig geschlossene, ihr Aufbau durchaus nicht regelmäßig zu nennen, die Gedanken sind oft nur lose unter einander verbunden, zum Theil eine Folge der auch bei N. herrschenden Neigung zu allegorisiren. Solche Mängel werden nun aber durch Vorzüge der Sprache und des Stiles ausgeglichen. N. redet faßlich, natürlich, anschaulich und darin liegt seine litterarhistorische Bedeutung. Er ist ein volksthümlicher Prediger, ein Volkslehrer, der neben den mystischen und scholastischen Predigern des 14. Jahrhunderts seinen besonderen Platz verdient. Es ist etwas von der Natur eines Berthold von Regensburg in ihm und wenn eine Handschrift seiner Predigten ihn stets unter dem Kosenamen Cleusli aufführt, so verdankt N. diesen Beweis seiner Popularität einzig und allein seiner Redeweise, die zu Herzen geht, weil sie aus dem Herzen kommt. Er redet eindringlich und wiederholt deshalb gern denselben Gedanken; dabei schlägt er einen volksthümlichen, heiter-naiven, ja kindlichen Ton an, dem Bilder und Vergleiche, dem täglichen Leben entnommen, in reichem Maße zu Gebote stehen. Lehrend, aber nicht doctrinär, versteht er sein Publicum zu unterhalten durch eingefügte Gleichnisse, Beispiele, Fabeln und erbauliche Erzählungen, ohne daß nun diese wie die Predigtmärlein späterer Zeit sich über Gebühr vordrängen. An Berthold erinnert die dramatische Bewegtheit des Stiles, das Einmischen seiner Persönlichkeit [630] (288, 7. 265, 25. 277, 13), die mit Vorliebe gebrauchte dialogische Form, die Belebung der Darstellung durch ein die Aufmerksamkeit neu anfachendes nû hoere, durch Frage und Antwort, sei es, daß der Prediger selbst die Frage stellt, sei es, daß er sie vom Publicum ausgehen läßt, oder endlich durch Einwürfe des letzteren, denen N. dann mit einem „nein, geselle, nein“ begegnet. Seinem Streben nach Anschaulichkeit verdankt auch der deutsche Wortschatz mancherlei Bereicherung durch Neubildungen; die philosophischen Kunstausdrücke, die die Sprache der deutschen Mystik verwendet, sind zum Theil bereits N. geläufig. – N. ist auch der Verfasser einer lateinischen Schrift: „De adventu Christi“, die er als nuncius und minister des Papstes in der deutschen Ordensprovinz im J. 1326 Johann XXII. widmete. Nach Denifle, der neuerdings in der Berliner königlichen Bibliothek eine Handschrift jenes Werkes fand, wodurch der Verlust einer 1870 verbrannten Straßburger ersetzt wird (Deutsche Litteraturzeitung 1882, Sp. 202), soll dieselbe Copie der dem Johannes Parisiensis II. († 1306, über ihn vgl. Denifle in seinem Archiv f. Litt.- und Kirchengesch. 2, 205. 226) gehörigen, im J. 1300 verfaßten Schrift gleichen Namens (gedruckt zu Venedig 1516) sein. Eine nähere Untersuchung hierüber fehlt noch. Ein anderer Nicolaus von Straßburg ist Nicolaus Kemp de Argentina, 1440 Karthäuser zu Chemnitz, † 1497 (Pez, Bibl. ascetica Bd. IV).
Nikolaus von Straßburg, angesehener Dominicaner des 14. Jahrhunderts. Die Litteratur- und Kirchengeschichte stellt ihn wegen seiner Parteinahme für- Die Predigten sind abgedruckt von F. Pfeiffer, Deutsche Mystiker 1, 261–305, vgl. S. XXII–XXV der Einleitung. Eine weitere Predigt des N. ist möglicherweise die von J. König, Die Chronik der Anna von Munzingen S. 64 f. mitgetheilte. – Schmidt, Johannes Tauler, S. 5, 6 und in Herzog und Plitt’s Real-Encyclopädie, 2. Aufl., 10, 576. – Wackernagel, Altdeutsche Predigten, S. 393–397, 412, 421. – Cruel, Geschichte der deutschen Predigt, S. 441 ff. – Preger, Geschichte der deutschen Mystik 2, 67–79. – Derselbe, Meister Eckhart und die Inquisition in den Abhandlungen der hist. Classe der k. bairischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XI, Abth. 2, auch separat, München 1869. – Denifle in der Zeitschrift f. deutsches Alterthum 29, 259 ff