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Artikel „Neumann, Kaspar“ von Adolf Schimmelpfennig in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 532–535, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neumann,_Caspar&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 08:46 Uhr UTC)
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Neumann: M. Kaspar N., Inspector der Breslauischen Kirchen und Schulen, geb. in Breslau am 14. September 1648, empfing den ersten Unterricht von Privatlehrern. Nach dem frühen Tode seines Vaters, eines Beamten des Breslauer Raths, wurde er 1660 von seinen Vormündern als Lehrling in einer Apotheke untergebracht, aber das Jahr darauf von seiner Mutter, die dem sterbenden Gatten das Versprechen gegeben hatte, den Sohn dem geistlichen Stande zu widmen, wieder zurückgenommen und auf das Magdalenäum gethan, um sich auf demselben für die höheren Studien vorzubereiten. Im Herbste 1667 bezog er die Universität Jena, wo damals Musäus und Gerhard Theologie, Frischmuth orientalische Sprachen und Erhard Weigel Philosophie und Mathematik [533] lehrten. Nach Vollendung seiner Studien habilitirte er sich 1670 als Magister legens und hielt Vorlesungen über Politik, Rhetorik und Homiletik. Sie wurden viel besucht und die von ihm bei besonderen Gelegenheiten gehaltenen Parentationen, nachträglich von dem Buchhändler J. J. Bauhofer gesammelt und 1678 herausgegeben, erregten allgemeine Bewunderung. Als daher Herzog Ernst der Fromme 1673 für seinen auf Reisen gehenden Erbprinzen Christian von der theologischen Facultät in Jena einen Prediger verlangte, wurde N. einstimmig von derselben für diesen Vertrauensposten in Vorschlag gebracht und am 30. November 1673 ordinirt. Nach seiner Rückkehr von dieser Reise, auf welcher er die ausgezeichnetsten Männer des westlichen Deutschlands, der Schweiz, Südfrankreichs und Oberitaliens kennen lernte, blieb N. in den Diensten des herzoglichen Hauses, gab aber die ihm kurz zuvor übertragene Hofpredigerstelle in Altenburg zum größten Bedauern seiner Gemeinde auf, als ihn der Breslauer Rath 1678 zum Diaconus an der Maria-Magdalenenkirche berief, deren Pastorat ihm unter Uebergehung des Seniors 1689 übertragen wurde. Eine Berufung als Superintendent nach Lüneburg schlug N. 1692 aus und seine Vaterstadt entschädigte ihn dafür durch die Beförderung zum Pastor von St. Elisabeth, mit welcher Stelle die Inspection über sämmtliche Breslauer Kirchen und Schulen und die erste theologische Professur an den beiden städtischen Gymnasien verbunden war. In diesem wichtigen Amte hat N. bis zu seinem am 27. Januar 1715 erfolgten Tode in reichem Segen gewirkt. In welcher Verehrung er gestanden, bezeugen die anläßlich seiner Beförderung zum Pastor von Elisabeth und seines Todes geschlagenen Denkmünzen. Als Prediger und Redner wurde N. von keinem seiner Zeitgenossen erreicht, geschweige übertroffen; mit Recht nennt ihn Propst Bröstedt in der von ihm verfaßten Grabschrift Chrysostomus Vratislaviensis. Seine Predigten sind noch heute Muster der edelsten Popularität. Seltene Reinheit der Sprache und treffliche Auswahl der Bilder macht sie auch den Ungelehrten verständlich; ihr runder, den Classikern abgelauschter Periodenbau nimmt das Ohr, ihre logische Gedankenentwickelung und wissenschaftliche Schärfe den Verstand, ihre religiöse Wärme das Herz gefangen. Wir verstehen es, daß Christian August Wolff nach dem Zeugniß seines Biographen den Sonntag stets mit brennender Ungeduld erwartete, um durch Neumann’s klaren Vortrag, durch die Bündigkeit seiner Beweise und die Eindringlichkeit der ertheilten Ermahnungen seinen Verstand zu erleuchten und sein Herz zu befriedigen; auch bekennt Wolff, „N. in Breslau sei derjenige, von dem er am meisten gelernt und dessen Rath und Exempel ihm den größten Nutzen geschafft“. Mit Vorliebe verweist N. in seinen Predigten auf die Natur, erklärt in philosophischem Geiste ihre Erscheinungen und bespricht unbedenklich neue auf dem Gebiete der Naturwissenschaft gemachte Entdeckungen. Allem Mysticismus und Pietismus von Grund der Seele abhold, war sein Urtheil über die Auswüchse des damaligen religiösen Lebens dennoch überall maßvoll und nirgends der Liebe entbehrend. In welchem Lichte erscheint die dem Neumann’schen „Unvorgreiflichen Gutachten über die in Schlesien öffentlich betenden Kinder, in der Furcht des Herrn abgefasset und den 29. Februar 1708 in der damaligen Abendpredigt seiner Gemeinde vorgetragen“, von dem frommen Anastasius Freylinghausen entgegengesetzte „Prüfung des sogenannten unvorgreiflichen Gutachtens“ mit ihren Invectiven und hämischen Insinuationen. Ungleich mehr noch denn als Prediger hat N. als ascetischer Schriftsteller durch seinen „Kern aller Gebete“ gewirkt. Dieses von ihm in Jena für seinen eigenen Gebrauch verfaßte Gebet war durch Zufall in fremde Hände gerathen und ohne sein Wissen und Willen in Druck gegeben worden. Sieben Auflagen waren bereits erschienen, unberufene Hände hatten Zusätze gemacht und den ursprünglichen Text nach Gefallen geändert; da entschloß sich [534] N., sich als Verfasser zu dem Büchlein zu bekennen und eine authentische Ausgabe desselben unter seinem Namen zu veranstalten. Sie erschien 1680 in Jena. Später stark vermehrt, wurde dieses Gebetbuch in alle europäischen Sprachen übersetzt und bis zu Neumann’s Tode 22 mal aufgelegt. – Unter den Liederdichtern der evangelischen Kirche nimmt N., mag immerhin Gervinus über ihn absprechend urtheilen, eine achtungswerthe Stellung ein. Seine 39 Lieder tragen den Charakter seiner Beredsamkeit. Untadelig in der Form, klar gedacht und warm empfunden ermangeln sie zwar hohen lyrischen Schwunges, halten sich aber auch frei von den Spielereien und Tändeleien gefühlsseliger, schwärmerischer Mystik. Dabei hat sich N. auch um den damals sehr im Argen liegenden kirchlichen Gemeindegesang durch Herausgabe des ersten schlesischen Kirchengesangbuches noch ein besonderes Verdienst erworben. Ein Gesangbuch in die Kirche mitzunehmen, war nicht Brauch; die angesagten Lieder wurden aus dem Gedächtniß gesungen, weil man sich schämte, unter dem Singen in ein Buch zu sehen. N. nennt das in der Vorrede zu seinem Gesangbuch „eine böse, unverantwortliche Gewohnheit“. Um den daraus hervorgehenden Uebelständen abzuhelfen, stellte er ein Kirchengesangbuch zusammen, welches wegen der trefflichen Auswahl der aufgenommenen Lieder und seines handlichen Formats die beifälligste Aufnahme fand. Es erschien 1703 unter dem Titel: „Vollkommenes Schlesisches Kirchen-Gesang-Buch, worinnen diejenigen Lieder zusammen getragen sind, welche beim öffentlichen Gottes-Dienste und Begräbnissen denen Evangelischen Gemeinen in Schlesien bißher üblich gewesen“ und enthielt 513 Lieder. – N. war übrigens keineswegs bloß Theologe, sondern auch ein Mann der exacten Wissenschaft. Er hatte in Jena fleißig Baco und Descartes studirt und von ihnen beobachten gelernt. Seine mit wissenschaftlicher Schärfe über die Zahlenverhältnisse der jährlichen Geburten und Todesfälle angestellten Beobachtungen, die er mit einer Denkschrift: „Reflexiones über Leben und Tod bei denen in Breslau Gebornen und Gestorbnen“, 1689 an Leibnitz sandte, boten Edmund Halley zu den 1693 von ihm publicirten Berechnungen über die Grade der Sterblichkeit behufs Bestimmung der Höhe der Leibrenten das nöthige Material. Neumann’s Verdienste auf diesem Gebiete der Staatswissenschaft waren so allgemein anerkannt, daß er bei Errichtung der Berliner Akademie der Wissenschaften von Leibnitz in erster Linie zum Mitgliede in Vorschlag gebracht wurde. – An Predigten besitzen wir von N. außer den 1678 bei Bauhofer in Jena erschienenen Reden noch eine Sammlung unter dem Titel; „Allerhand gesammelte Früchte von mancherlei Art oder besondre Predigten etc.“ Breslau 1707. 4. 1717. 1737. Beide Sammlungen sind von den Verlegern auf eigne Hand veranstaltet und nicht ohne große Mühe zusammengebracht worden. N. wollte von seinen Predigten, sobald sie gehalten waren, nichts mehr wissen; sie waren in seinen Augen dürre Blätter, welche zu sammeln nicht der Mühe lohne; Postillen gebe es ohnehin schon mehr als genug, und darum hat er auch das von den Verlegern seiner Predigten ihm freiwillig dafür angebotene Honorar consequent zurückgewiesen. Nach seinem Tode erschien noch eine dritte Sammlung unter dem Titel: „Licht und Recht, Predigten über die Evangelien“, Breslau 1717. Leipzig 1731. Beiläufig sei hier noch bemerkt, daß sich in seiner großen Bibliothek nicht eine einzige Postille vorgefunden hat. Neumann’s gelehrte Arbeiten, unter ihnen die „Clavis domus Heber, reserans januam ad significationem hieroglyphicam literaturae hebraicae perspiciendam“, Breslau 1712. 4, mit der er sich nach seiner eignen Versicherung 36 Jahre herumgetragen, sind veraltet und vergessen. Von den Vorlesungen, welche er als erster Professor der Theologie an den beiden Gymnasien der Stadt zu halten hatte, ist eine derselben nach seinem Tode von seinem Schüler Moritz Castens unter dem Titel: „Trutina [535] religionum, quae hodie sunt, ubi singularum aetas, fontes judicantur. Adjecit curriculum vitae beati auctoris M. Mauricius Castens.“ Lipsiae 1716. 1731. 1733 herausgegeben worden.

M. Castens in der Trutina religionum. - Kundmanni Silesii in nummis p. 297 ff. – Ehrhardt, Presbyterologie I. 211. – G. E. Guhrauer, Leben und Verdienste Caspar Neumann’s nebst seinem ungedruckten Briefwechsel mit Leibnitz, im Schl. Provinzialblatt, neue Folge Band II. 7 ff. – Schimmelpfennig, Der Pietismus in Schlesien, in der Zeitschr. des Vereins für Gesch. u. Alterth. Schlesiens IX. 223 ff. und: Caspar Neumann, Pastor von St. Elisabeth, in der Schl. Kirchenzeitung 1881, Nr. 21–27. – Graetzer, Edmund Halley u. Caspar Neumann. Breslau 1884.