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Artikel „Nettelbeck, Joachim Christian“ von Hermann Petrich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 457–458, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nettelbeck,_Joachim&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 18:58 Uhr UTC)
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Nettelbeck: Joachim Christian N., „Bürgerpatriot“, geb. zu Kolberg am 20. September 1738, † ebenda am 29. Januar (nicht am 19. Juni) 1824. Sein Vater, Johann David N., war Schuhmacher und dann Branntweinbrenner, seine Mutter Katharina Sophie Greiffen. Die maritime Lage und der Handel seiner Vaterstadt, der seemännische Beruf vieler Verwandten, sowie der eigene ruhelose, nach Abenteuern durstende Sinn machten ihn seit dem eilften Lebensjahre zum Schiffer. In allen Richtungen durchkreuzte er die Ostsee, Nordsee und den atlantischen Ocean bald auf fremdem, bald auf eigenem Fahrzeug. Die Versuche zu einem seßhaften Leben waren immer nur von kürzester Dauer, 1757 floh er vor den preußischen Werbern aus Kolberg, 1758 und 1760 war er während der Belagerungen seiner Vaterstadt durch die Russen daheim, bald darauf verheirathete er sich zu Königsberg in Preußen mit der Tochter eines Segelmachers, 1770 ward er königl. preußischer Schiffscapitän auf einer von Friedrich II. zum Verkauf gebauten Fregatte, aber schnell wegen Insubordination wieder aus dem Dienste entlassen, mehrmals auch ertheilte er über Winter in seiner Vaterstadt an junge Seeleute nautischen Unterricht. Endlich im J. 1783, nachdem er am 11. Mai nochmals im Kattegat Schiffbruch gelitten und sein bischen Erspartes verloren hatte, ließ er sich zu Kolberg als Branntweinbrenner nieder. Die angeborene stürmische Selbständigkeit und trotzige Wagelust, die unter den Gefahren des Wassers nur schärfer sich ausgeprägt hatte, blieb ihm getreu. Ein häufiger Kriegsstand mit den am Altgewohnten haftenden Mitbürgern, sowie mit den vielfach verrotteten städtischen Behörden war die Folge. 1789 wurde unter seiner Mitwirkung das Fünfzehn-Männer-Collegium, eine Mittelinstanz zwischen Magistrat und Bürgerschaft, gesprengt und eine Körperschaft von zehn Repräsentanten an dessen Stelle gewählt, zu der auch N. selber gehörte. Außerdem wandte er sein Interesse mit Vorliebe der wissenschaftlichen Ausbildung jugendlicher Seefahrer zu. Eine Denkschrift, die er Friedrich Wilhelm II. im J. 1786 zu Köslin überreichte, um ihn zu veranlassen, Colonien für Preußen zu erwerben, von denen er eine in Surinam ausgesucht hatte, blieb bei den Acten. Seine erste Ehe wurde geschieden, eine zweite 1799 geschlossene ebenfalls.

Da, mit dem Anrücken des Feindes, begann seine Meisterzeit. Als im Spätherbst 1806 eine preußische Festung nach der anderen ruhmlos in französische [458] Hände fiel, gewann Kolberg, abseits der Heerstraße, bedeutend an Werth. Es unterhielt die Verbindung mit dem Osten zur See und beunruhigte den vordringenden Feind. Der 65jährige Commandant v. Lucadou ließ die Wälle armiren, aber der Größe seiner Aufgabe war er nicht gewachsen. Aengstlich beschränkte er sich auf die Vertheidigung des Platzes, statt dem Feinde, der seit Anfang März die Wälle umschlossen hielt, entgegen zu gehen. Die patriotische Bürgerschaft war, wie ihr Eid es verlangte, zu jeder Hilfe bereit. Lucadou aber wies sie mit militärischer Selbstzufriedenheit ab. Er hielt als Schüler Friedrich’s II. von freiwilligen Leistungen nichts. Das wurde die Quelle vieler Conflicte. N. trat ihm mit dreisten Worten entgegen und zog mit den Bürgern zum Schanzen hinaus. Dem Schill’schen Corps war er besonders zugethan und half demselben die Maikühle befestigen. Endlich, am 29. April, betrat Major von Gneisenau, vom König an Lucadou’s Stelle zum Commandanten ernannt, den Kolberger Strand. Eine neue Epoche brach an. Die Bürgerschaft, die der Vorgänger schnöde verschmäht, zog der Nachfolger auf jede Weise heran. N. vor Allen erhielt seinen ordentlichen Wirkungskreis. Wie er ihn ausgefüllt, sagt Gneisenau selbst in einem Bericht an den König vom 24. Mai: „Seine Thätigkeit ist unbegrenzt, ohnerachtet seines Greisenalters, und ich brauche ihn zu Allem. Ich sende ihn den ankommenden Schiffen entgegen, um selbige zu recognosciren, ich lasse durch ihn Lebensmittel für die Truppen hinausschaffen, er muß mir die Ueberschwemmung bewachen, und wo ich in technischen Gegenständen unkundig bin, muß er mir Rath ertheilen, der immer mit Sachkenntniß gegeben wird. In allen Winkeln und Böden muß er mir die feuerfangenden Dinge aufspüren, um solche wegzuschaffen. Kurz, er ist einer der ersten unserer Staatsbürger und verdient einen huldreichen Blick von Ew. Maj.“ Der rastlose Alte, der durch sein Besserwissen dem vorigen Commandanten so unbequem geworden war, fügte sich jetzt willig dem überlegenen Genie und bewies für alle Zeit, welche wichtige Hilfe ein tüchtiger Bürgerstand den militärischen Zwecken zu leisten vermag. Er erhielt während der Belagerung vom König die silberne, und nach deren Aufhebung die goldene Verdienstmedaille. – Nach Gneisenau’s Fortgang brachen freilich die alten Conflicte zwischen Civilisten und Soldaten aufs Neue hervor. N. schürte durch unbedachte Reden den Brand. Schon war ein Antrag auf gerichtliches Verfahren gegen ihn gestellt, doch Gneisenau’s Verwendung unterdrückte denselben. Er erwirkte dem Freunde sogar die Erlaubniß zum Tragen der Seeuniform. Derselbe hatte 1814 seine dritte Ehe mit der Tochter des Predigers Loewe aus Thomsdorf bei Boitzenburg geschlossen; im folgenden Jahre ward ihm eine Tochter geboren. Sein Lebensabend war glücklich. Er wurde sein eigener Biograph, nachdem der Ruhm seiner Thaten schon vielfach von Andern verbreitet war. 1821 und 1823 erschien, von J. C. L. Haken herausgegeben, Nettelbeck’s Lebensbeschreibung, die eine treffliche Darstellungsgabe bekundet.

Der Bürger Nettelbeck. Ein Muster wahrer Vaterlandsliebe. Kolb. 1808. – Joachim Nettelbeck, Bürger zu Kolberg. Eine Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgezeichnet. 1. u. 2. Bändchen. Halle 1821. 3. Bändchen. Leipzig 1823 (4. Aufl. 1878). – (Frau v. Helwig:) Morgenblatt 1822. Nr. 59–61. – Maaß, Die Belagerung Kolbergs 1807. Kolb. 1857. – Pertz, Leben Gneisenau’s, Bd. I–III. – Riemann, Geschichte der Stadt Kolberg. Kolb. 1873, S. 530 ff. – Sonntags-Beilage der Neuen Preuß. Ztg. 1884, Nr. 44 ff. – Eine Biographie Nettelbeck’s soll im letzten Theil meiner Pommerschen Lebens- und Landesbilder erscheinen.