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Artikel „Nagel, Wilhelm“ von Motz. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 216–218, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nagel,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 11. November 2024, 05:40 Uhr UTC)
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Nagel: Karl August Wilhelm N. wurde am 14. December 1805 in Halle a. S. geboren. Sein Vater, Dr. Ernst N., wirkte als Arzt an der Francke’schen Waisenhausstiftung, wurde aber, als nach der Schlacht bei Leipzig das Waisenhaus in ein Lazareth verwandelt war, ein Opfer des in demselben grassirenden Typhus. Nach dem Tode des Vaters wurde der Knabe von der mittellosen Mutter der Waisenhausanstalt übergeben und erhielt in der lateinischen Schule derselben seine erste Bildung. Bereits im Herbst 1823 hatte er das Gymnasium absolvirt und nun begann er unter Gesenius und Wegscheider seine theologischen Studien. War es ihm aber bei seinen sehr beschränkten Mitteln nur durch Ertheilung von Privatstunden möglich, sich einen nur dürftigen Unterhalt zu verschaffen, so blieb er doch auch dabei stets guten Muthes. – Nach Beendigung seiner akademischen Studien wandte er sich, da auch die Mutter bereits 1822 gestorben war, nach Westfalen, wo er 1826–1828 als Hauslehrer in adligen Familien wirkte. Einer solchen abhängigen Lage jedoch bei seinem angeborenen Widerwillen gegen den Druck conventioneller Fesseln bald überdrüssig, privatisirte er die folgenden Jahre in Bielefeld, bis es ihm nach wohlbestandenem Examen gelang, 1832 als Hülfsprediger des Superintendenten Scherr an der Neustädter Kirche daselbst angestellt zu werden. Im März 1838 erhielt er eine Pfarre zu Heepen bei Bielefeld, doch bewarb er sich, da die Stellung eines Landpredigers seiner Natur weniger zusagte, schon 1839, freilich ohne Erfolg, um eine Stelle an der St. Ansgariigemeinde in Bremen, wurde aber 1842 an die Rembertigemeinde zu Bremen berufen, an welcher er bis zu seinem am 26. October 1864 durch einen Schlagfluß herbeigeführten Tode wirkte. Gerade diese Rembertigemeinde war der richtige Boden für Nagel’s erfolgreiche Thätigkeit; hier konnte er seine bedeutenden Gaben entwickeln in einer Gemeinde denkender Anhänger und Freunde, welche mit ihm nach immer größerer Klarheit und Sicherheit in ihren religiösen Ueberzeugungen strebten, und welche er, den Anforderungen der denkenden Vernunft, wie auch des tiefsten Gefühls gleich gerecht werdend, auf die Höhe seiner eigenen Bildung in seltener Weise zu erheben verstand. Als im Herbst 1844 die Versammlung der Naturforscher in Bremen tagte, ließ N. in dem damaligen Sonntagsblatt der Weserzeitung anonym einen Aufsatz unter der Ueberschrift: „Einiges über den Einfluß der Naturwissenschaften auf Religion und Volksbildung überhaupt“ erscheinen. Dieser Artikel, in welchem er offen den Conflict zwischen der kirchlichen Auffassung des Christenthums und den Ergebnissen der Naturwissenschaften beleuchtet hatte, führte einen heftigen Kampf zwischen der bibelgläubigen und der freisinnigen Partei herbei. N. bekannte sich sofort als Verfasser des angegriffenen Aufsatzes und begegnete den leidenschaftlichen Angriffen seiner Gegner in seiner „Abgedrungenen Rechtfertigung“ mit würdiger Ruhe. Es kam schließlich so weit, daß das aus den Predigern der Parochialkirchen gebildete Ministerium N. aus seiner Mitte ausstieß und sogar seine Absetzung beantragt wurde. Da aber trat seine Gemeinde für ihn ein, erklärte sich in einer an ihn gerichteten Adresse mit ihm vollkommen einverstanden und suchte auch den Schutz des Senats für ihren Prediger nach. Der Senat aber gab, nachdem er zunächst den Streitenden Ruhe und Frieden geboten, am 30. Juli 1845 eine schwerwiegende Entscheidung ab. Das Senatsconclusum erklärte: „daß, da sogenannte Glaubensgerichte im Bremischen Freistaate ordnungsmäßig nicht beständen, es auch keiner Behörde gestattet sei, sich eigenmächtig dazu aufwerfen. Pastor Nagel könne und dürfe nicht vom Ministerio ausgeschlossen werden, und dieses werde keine Sitzung halten, ohne ihn dazu einzuladen.“ [217] So war durch N. das Princip der Freiheit der Bremischen Gemeinden gerettet und dem weiteren Aufschwunge ihres geistigen Lebens für alle Zukunft Bahn gebrochen. Ist Bremen ein Vorkämpfer für religiöse Wahrheit und Freiheit geworden, so hat N. dazu, wie kein Anderer, den Grund gelegt. – Von der gewaltigen Bewegung des Jahres 1848 wurde auch N. mächtig ergriffen, doch suchte die demokratische Partei den auch in social-politischer Hinsicht durchaus freisinnigen Mann vergeblich als Genossen im Kampfe für die bürgerliche und politische Freiheit zu gewinnen. Freimüthig erklärte er vielmehr öffentlich, daß seine Aufgabe lediglich sei, von der Kanzel herab lehrend und ermahnend auf die Gemüther zu wirken. So verlief denn auch von jener Zeit an sein Leben in ruhiger Wahrnehmung seines geistlichen Amtes, indem er selbst mit seinen Zuhörern und Anhängern durch gemeinsames Denken und Forschen zu immer größerer Klarheit der Erkenntniß zu gelangen strebte. Als N. 1842 nach Bremen kam, stand er noch entschieden auf dem Boden des Rationalismus. Das Leben Jesu von Strauß hatte ihn gewaltig gepackt, doch gab er in einem Aufsatze der Allgemeinen Kirchenzeitung vom Jahre 1836 seiner Besorgniß vor einem schädlichen Einfluß desselben auf das Volk Ausdruck und verlangte eine wissenschaftliche Bekämpfung des Werkes. Nun aber warf er sich in Bremen auf die Hegel’sche Philosophie, wodurch er zu einer tieferen Auffassung des Christenthums, insbesondere der Begriffe der Sünde, der Erlösung und Versöhnung gelangte. Aber auch durch die Hegel’sche Philosophie keineswegs vollkommen befriedigt, wandte er sich Ludwig Feuerbach und später auch der Schopenhauer’schen Philosophie zu, von welchem ernsten Studium seine „Begleitende Bemerkungen“ zu Schopenhauers’s philosophischem Systeme „Die Welt als Wille und Vorstellung“, 1861, Zeugniß gaben. Aber wie voll und ganz er sich auch solchen Studien hingab, behauptete er doch stets seine Selbständigkeit und ließ sich durch kein System in seinem eigenen wissenschaftlichen Forschen und Streben gefangen nehmen. So kam es denn auch, daß man ihn bald überhaupt als Hegelianer, bald als einen Pantheisten, ja sogar als einen Atheisten bezeichnete, nicht aber als einen christlichen Prediger gelten lassen wollte, während er selbst unablässig rang, das Christenthum in seiner Einfachheit, Wahrheit und Lauterkeit im vollkommensten Einklang mit dem Denken und der Vernunft zu predigen. Während die beiden schon in Bielefeld erschienenen Predigtsammlungen: „Sammlung ausgewählter Predigten“, 1833, und „Thabor, Sammlung ausgewählter Predigten“, 1838, von seiner Begabung, namentlich in rhetorischer Beziehung, ein glänzendes Zeugniß ablegen, offenbart sich erst in den in Bremen dem Druck übergebenen Predigten immer reicher und tiefer der Gehalt seiner Gedanken, deren Werth auch für künftige Zeiten noch als ein bleibender bezeichnet werden kann. So erschienen: „Zur Fortbildung des Christenthums. Eine Zusammenstellung von Predigten als Beitrag zur Religion des Geistes“, 1845; „Erbauungsstunden“, 1846; „Zum Wesen des Christenthums, als Fortsetzung der Erbauungsstunden“, 1848; „Zur Religion der Mündigkeit, Blätter in Predigtform“, 1851; „Das Christenthum in seiner Wahrheit als Religion der Gegenwart“, 1855. Außerdem erschienen noch von ihm: „Inbegriff des Christenthums in seiner Ausbildung zur absoluten Religion. Grundlage für den Confirmanden-Unterricht“, 1848; „Unterricht über die Bibel als Vorstufe für den eigentlichen Confirmanden-Unterricht und Ergänzung meines Inbegriffs“. – Imponirte N. auch auf der Kanzel weder durch seine persönliche Erscheinung, noch durch sein Organ, suchte er in seinen Predigten ebensowenig durch Erregung der Affecte, als auch durch rednerisches Pathos zu wirken, so wußte er doch seine Zuhörer nicht nur durch die Fülle der Gedanken, sondern auch durch den stets adäquaten Ausdruck derselben zu fesseln, oft auch durch die warme und innige Sprache hinzureißen und [218] zu begeistern. Auch als Dichter hat N. sich nicht ohne Erfolg versucht. Das Trauerspiel „Michael Servet“ 1849 war eine Frucht seiner historischen Studien des 16. Jahrhunderts. Er, der selbst die Qualen eines Glaubensgerichtes gekostet, feierte in dem unglücklichen Glaubensopfer Calvin’s ein Ideal des Märtyrerthums. – „Salzungen, ein Erinnerungsblatt für seine Freunde“ 1853 schildert in lieblicher Weise einen Sommeraufenthalt in Thüringen. Außerdem verfaßte er unter dem Namen Wilhelm Angelstern 1836 die Romane „Das Testament“ und „Thaleck“, die Tragödie „Paulus“, 1837 die Novelle „Der Nachtwandler“, ferner die 1860 in Bremen in 2. Auflage erschienene moderne Tragödie „Angelica“, welche dem Streit um die gemischten Ehen ihre Entstehung verdankte, und 1863 einen Band „Erzählungen“.

Zur Erinnerung an Wilhelm Nagel. Von W. Meyer. Bremer Sonntagsblatt 1864, Nr. 46. – Karl August Wilhelm Nagel. Von Ernst Bulle. Bremer Morgenpost 1864, Nr. 305, 308, 310–312. Gedächtnißpredigt von O. F. Nonweiler, Pastor an der St. Ansgariikirche. – Rede am Sarge von H. L. G. Nieter, Pastor am Dom. Bremen 1864.
Motz.