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Artikel „Marquardsen, Heinrich“ von Hermann Rehm in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 216–218, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Marquardsen,_Heinrich&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 04:15 Uhr UTC)
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Marquardsen: Heinrich M., Staatsrechtslehrer und hervortretender Parlamentarier, war am 25. October 1826 in Schleswig geboren (nach dem Kirchenbuch). Sein Vater, Weinhändler, später auch Senator in Schleswig, besaß ein kleines von den Voreltern übernommenes Landgut in der Nähe (Holm bei Treia). Seine Mutter stammte aus gleicher Gegend. So wünschten die Eltern, auch der Sohn, ihr einziges Kind, solle auf heimischer Erde bleiben und in die Fußtapfen der Vorfahren treten. Der Knabe mußte darum in landwirthschaftlicher Arbeit früh mit anpacken und durfte die Gelehrtenschule in Schleswig nicht besuchen. Allein mächtiger als die väterliche Bestimmung erwies sich des Jungen Wissenstrieb. Abends wenn die Familie zur Ruhe gegangen, saß er eifrig studirend in seiner Kammer. Ohne jede Hülfe ward aus Büchern älterer Vettern, die die Schule in Schleswig besuchten, Latein und Griechisch, Englisch, Französisch und Mathematik gelernt. Kaum 12 Jahre alt, machte der Knabe auf eigene Hand die Prüfung zur Aufnahme in Secunda. Der Wille des Vaters war gebrochen. Kaum 14 Jahre alt, ward M. Primaner und als solcher am 20. März 1842 im Dom confirmirt. 161/2 Jahre alt, wurde er in Kiel immatrikulirt, wandte sich aber bald nach Heidelberg, der Stadt, die ihm die liebste seines Lebens wurde. Dort begründete M. seine Lebensfreundschaft mit Adolf Kußmaul, dem nachmaligen Kliniker, und Ludwig Karl Aegidi, dem engeren Fachgenossen. Am 2. Februar 1848 schloß M. seine Universitätsbildung durch seine Promotion zum Doctor beider Rechte der Heidelberger Facultät ab. Vangerow und Mittermaier waren die Lehrer gewesen, die ihn für die akademische Laufbahn begeisterten. Der Vorbereitung auf diese gehörten die Jahre 1848–51 mit Reisen nach Belgien und England, um in längerer eigner Anschauung und [217] Uebung das öffentliche mündliche Strafverfahren daselbst kennen zu lernen. Wintersemester 1851/52 habilitirte sich M. in Heidelberg mit einer Arbeit „über Haft und Bürgschaft bei den Angelsachsen“, die als Einleitung zu einer Geschichte des Habeas-Corpus–Rechtes gedacht war. Marquardsen’s Vorlesungen betrafen Straf- und alsbald auch Völker- und Staatsrecht. An den allgemeinen Fragen der Rechtswissenschaft nahm M. durch Mitbegründung der zuerst 1855 erschienenen „Kritischen Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft“ theil. Ein Jahr vorher hatte er den eigenen Herd gegründet. 1857 zum Extraordinarius befördert, erhielt M. 1861 einen Ruf als ordentlicher Professor für Staatsrecht nach Erlangen. Er blieb dieser Universität bis ans Lebensende treu.

Die ersten Jahre entwickelte M. im neuen Amt eifrige und fruchtbringende Docententhätigkeit. Allein die schleswig-holsteinische Frage wurde 1863 acut. Ihn, den treuen Sohn seiner Heimath, packte es mächtig. Er trat hinaus ins öffentliche Leben. Unter Leitung von M. und Völk fand am 28. Februar 1864 eine Landesversammlung von etwa 7000 Baiern zu Erlangen statt, die für Erhaltung der Selbständigkeit der Herzogthümer sich einsetzte. Von 1868 an gehörte Marquardsen’s Thätigkeit nahezu ausschließlich dem parlamentarischen Wirken. Am 27. April 1868 trat er für den Wahlkreis Fürth-Erlangen in das deutsche Zollparlament, am 21. September 1869 für den Wahlkreis Erlangen in die bairische Abgeordnetenkammer. Von 1871 ab war er Mitglied des Reichstages. Mitglied dieses blieb er, den ursprünglichen Wahlkreis später mit den Wahlkreisen Worms und Kusel vertauschend, bis zu seinem Lebensende. Aus dem bairischen Landtag schied er 1893, zuletzt den Wahlkreis Kempten vertretend.

Marquardsen’s parlamentarische Thätigkeit hatte drei Richtungen. In erster Linie gehörte sie der Partei. National und liberal in der Worte bester Bedeutung, zählte er zu den berufensten Kräften der nationalliberalen Partei. Ihren verschiedenen Organisationen gehörte M. als Vorstandsmitglied bezw. (in Baiern) als Vorsitzender an. Innerhalb der Reichstagsfraction bestand seine vorwiegende Arbeit in informatorischen Vorträgen an die Genossen über schwebende Vorlagen. Mit das wichtigste Actenstück, das die Geschichte der Partei kennt, ist die einen Wendepunkt in ihrem Programm darstellende Heidelberger Erklärung vom 23. März 1884. Stammt ihr erster Entwurf von Miquel, so gab ihr M. die Fassung, in der sie mit nur einer Ergänzung auf dem Parteitag angenommen war. In zweiter Linie stand sein Antheil an den Reichstagsverhandlungen. M. wirkte in den verschiedensten Commissionen; in der über das Preßgesetz war er Berichterstatter; der Wahlprüfungscommission stand er durch mehrere Legislaturperioden vor. Im Plenum sprach M. hauptsächlich über juristische und allgemein politische Fragen. Drittens pflegte M. besonders die Vertretung der Partei gegenüber den übrigen Fractionen, Regierung und Presse. Nicht nur von den Parteien, auch von Bismarck war M. als Mittler in Vertrauensmänner-Versammlungen geschätzt. Seine freie, ungezwungene Art, in der M. nicht nur zu geben, sondern auch zu nehmen verstand, eignete ihn besonders hiezu. Hervorragend wirkte M. anonym als politischer Tages- und Parteischriftsteller. Die meisten kritisch würdigenden Artikel der „Kölnischen Zeitung“ über Reichstagsvorlagen, die Reichstagsberichte des gleichen Organs, in welchen die auftretenden Personen und der Lauf der Verhandlung prägnant, fein und vornehm geschildert wurden, hatten M. zum Verfasser. Von der bairischen Regierung wurden die politischen Verdienste Marquardsen’s 1888 auch äußerlich durch Verleihung des [218] mit persönlichem Adel verbundenen Verdienstordens der bairischen Krone gekennzeichnet.

Begreiflich ist, daß bei solch reicher Thätigkeit im öffentlichen Leben für die Wissenschaft wenig Zeit blieb. Nichtsdestoweniger gab M. auch ihr Anregung. 1874 wurde M. zum Mitglied des Instituts für Völkerrecht gewählt. An dessen Versammlungen nahm er eifrigen Antheil. Ende der siebziger Jahre leitete M. die Herausgabe eines großen, seinen Namen tragenden Sammelwerkes, des „Handbuches des öffentlichen Rechts der Gegenwart“ aller Culturländer in die Wege. Die Absicht, selbst dafür eine Politik zu liefern, blieb unverwirklicht. Von den verwirklichten Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Arbeit sei erwähnt Der Trentfall 1862, Das englische Oberhaus und die Wissenschaft 1862, Reichspreßgesetz vom 7. Mai 1874 mit Einleitung und Commentar, Spencer Einleitung in das Studium der Sociologie, 2 Theile übersetzt 1875, In memoriam (Erinnerungsblätter auf Vangerow und Mohl) 1886, Artikel Mohl in der A. D. B. XV (1887), Artikel Baco v. Verulam, Brougham in Bluntschli’s und Brater’s Staatswörterbuch 1857, eine eingehende Besprechung von Mohl’s Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften Bd. II in der Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft 1857.

Am 30. November 1897 setzte zu Erlangen ein Gehirnschlag Marquardsen’s vielgestaltetem Wirken das Ziel. Er starb am Tage vor der Eröffnung der Wintersession des Reichstags, an der sich M. noch eifrig hatte betheiligen wollen. Denn der Hauptberathungsgegenstand, die Militärstrafproceßreform, lag ihm besonders am Herzen. In seinem Plane war gestanden, nach ihrer Erledigung dem Parlamentarismus Lebewohl zu sagen und Lebenserinnerungen zu schreiben. Der Tod griff früher ein.

Nekrologe von H. Rehm in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1897 Nr. 291, im Juristischen Litteraturblatt (Beil.) v. 15. April 1898, in Paul Stettenheim’s Biogr. Jahrb. u. Dtsch. Nekrolog, 2. Bd. 1898, S. 411 ff.