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Artikel „Münster, Sebastian“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 30–33, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCnster,_Sebastian&oldid=- (Version vom 17. November 2024, 13:17 Uhr UTC)
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Münster: Sebastian M., Hebraist und Kosmograph, geb. 1489 in Ingelheim, † am 23. Mai 1552 in Basel. Seinen Geburtsort hat er später gern verherrlicht und sich und Karl den Großen als die bedeutendsten Söhne des „wohlgefreiten Orts“ hingestellt. Er studirte in Heidelberg, später in Tübingen (dies nach der allgemeinen Angabe, denn weder in der Heidelberger Matrikel von 1502–1514, noch in der Tübinger ist sein Name zu finden) Theologie, beschäftigte sich aus besonderer Vorliebe mit den orientalischen Sprachen, und besonders mit Mathematik. In letzterer war sein Lehrer Joh. Stöffler, dessen er später mit Dankbarkeit gedachte. Daß er auch ein Schüler des Joh. Brassicanus in Wien gewesen, geht aus einem Empfehlungsbriefe des Hier. Caduceator an Fr. Nausea (Nauseae Epist. misc. 1550, p. 79) hervor. Er wurde Franciscanermönch, doch legte er später das Ordenskleid ab, trat der reformirten Kirche bei und wurde 1529 Lehrer des Hebräischen an der Universität Basel. Vorher hatte er schon in Heidelberg von 1524–27 gelehrt. Sein Gehalt betrug ursprünglich 25 Gulden jährlich; von 1526 an erhielt er eine Zulage von 5 Gulden. In Basel war er Nachfolger des Bonif. Wolfhard, der in einem Briefe an Farel (Herminjard, Corr. des réf. franç. II, 248) meldet, M. sei nur durch dieses Anerbieten zum Uebertritt bewogen worden. Von den Zeitgenossen wurde M. sehr geehrt, von Luther gelegentlich gelobt („Schemhamphoras“ am Ende); mit den Schweizern Vadian und Keßler stand er in freundlichstem Verkehr. Er lebte in Basel bis zu seinem Tode.

In Münster’s Thätigkeit sind zwei Seiten zu unterscheiden. Er ist Hebraist und Kosmograph. Als Hebraist nimmt er in Deutschland nach Reuchlin eine der ersten Stellen ein. Er ordnet sich letzterm bescheiden unter. Er lernt von den Juden und besitzt Ehr- und Gerechtigkeitsgefühl genug, um seinen bedeutenden jüdischen Lehrmeister Elias Levita (s. d.) mit Achtung und Ehrerbietung zu nennen. Er giebt dessen Schriften heraus und führt die Anregungen aus, die er von diesem erhalten hat. Auch Reuchlin’s Rudimenta hebraica gab er neu heraus und dessen Vorgänger und Hauptquelle, David Kimchi. Er zeigt eine ziemliche Kenntniß der Rabbinen, bemüht sich, alte Schriften wieder ans Licht zu ziehen, so das barbarisch geschriebene hebräische Matthäusevangelium, die Logik des Rabbi Simeon (Münster’s Arbeit wird sehr getadelt bei Dukas, Rech. sur l’hist. lit. du 15. siècle 1879, S. 26 A.). Aber die Bibel bleibt doch seine vornehmste Quelle und das Hauptgebiet seines Studiums. Einzelne biblische Bücher: Jesajas, Psalmen, Koheleth, Hohes Lied gab er in Uebersetzungen mit Anmerkungen heraus, in denen er meist als Grammatiker, nur selten als christlicher Theologe spricht. Auf diese Einzelarbeiten ließ er 1535 eine Ausgabe der ganzen hebräischen Bibel mit vollständiger Uebersetzung derselben folgen. Es ist die erste vollständige Ausgabe des hebräischen Textes und schon deswegen rühmenswerth; rühmenswerther aber noch durch sein offenes Auftreten gegen die Vulgata, durch den kritischen Sinn, mit welchem er die Leistungen der Früheren mustert, durch die Dankbarkeit, welche er seinen jüdischen und christlichen Vorgängern erweist. Der christliche Standpunkt des Herausgebers tritt auch in diesem Werke hervor; er sagt einmal „denn die Propheten geben fast nur Weissagungen über Christus und die Zukunft seiner Lehre“. – Außer Editionen und Uebersetzungen hat M. noch lexikalische und grammatikalische Arbeiten erscheinen lassen. Darunter sind drei Wörterbücher: ein rabbinisches, ein dreisprachiges, ein chaldäisches. Das rabbinische ist nur dadurch interessant, daß es eine nicht unbedeutende, damals sehr seltene Kenntniß der Rabbinen beweist. [31] Das dreisprachige stellt lateinische, griechische und hebräische Wörter zusammen, doch dergestalt, daß die ersteren den Vorrang erhalten, indem sie alphabetisch zusammengestellt werden, die übrigen nur eine Nebenrolle zu spielen scheinen. Das chaldäische ist nur eine Zusammenstellung aus dem talmudischen Wörterbuch Aruch (Perles hat im Einzelnen den Zusammenhang Münster’s mit seiner Quelle dargethan). – Von grammatikalischen Arbeiten sind zu erwähnen: eine Conjugations- und Declinationstafel, nicht unpassend zum praktischen Gebrauch; sodann eine durchaus elementare hebräische Grammatik, die sich bei streitigen Punkten damit begnügt, die verschiedenen Ansichten neben einander vorzuführen, ohne eine Entscheidung zwischen denselben zu treffen; endlich eine chaldäische Grammatik, die erste derartige in Deutschland, elementar, mit Uebungsstücken aus den chaldäischen Schriften der Bibel, nebst deren lateinischer Uebersetzung. – Diesen größeren Arbeiten reihen sich dann noch Nebenstudien an: ein hebräisches Kalendarium, eine Ausgabe des Josippon, mit einigen unbedeutenden historiographischen Zuthaten, eine Zusammenstellung der 613 Ge- und Verbote der Juden. (Die bibliographisch genauen Titel der Münsterischen Schriften sowie eine Darlegung ihres Inhaltes und ihres Werthes findet man in meinem unten anzuführenden Buche.) Alle diese Schriften zeigen, daß M. ein fleißiger, gewissenhafter Benutzer seiner Vorgänger ist. Er ist weder genial noch original, aber er will auch nicht mehr scheinen als er ist. Er gedenkt vielmehr seiner Vorgänger, besonders des Elias Levita, dem er allerdings das Meiste und Beste verdankt, mit vielem Lobe. Er mißversteht ihn nicht selten und begeht manche Fehler, aber wegen dieser darf er angesichts seines redlichen Willens und seines achtbaren Fleißes nicht zu sehr getadelt werden. Jedenfalls ist das Urtheil, das von Rich. Simon über M. gefällt und das von Späteren oft nachgesprochen worden ist: M. ne faisait aucun pas sans tomber, hart und ungerecht; im Hinblick auf die spärlichen Vorarbeiten und auf die beschränkten Hülfsmittel, die M. zu Gebote standen, müssen Münster’s Leistungen als in hohem Grade achtungswerth bezeichnet werden. –

Allgemeiner bekannt als durch seine Leistungen auf dem Gebiete der hebräischen Sprache ist M. durch seine „Cosmographia. d. h. Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Münsterum, in welcher begriffen, aller Völker Herrschaften, Stetten, und nahmhaftiger Flecken, herkommen: Sitten, gebreuch, ordnung, glauben, secten und hantierung, durch die ganze Welt, und fürnemlich teutscher Nation. Was auch besunders in jedem Lande gefunden und darin beschehen sey. Alles mit Figuren und schönen landt taflen erklärt und für augen gestellt; Getruckt zu Basel durch Henrichum Petri“ (dieser Titel der Originalausgabe nach Hager, S. 91 ff., ich benutze die Ausgabe mit ziemlich verändertem Titel, Basel 1550, den wieder sehr veränderten Titel der Ausgabe von 1614 s. bei Hager S. 79). Das Buch erschien zuerst 1543; es wurde sehr oft bei Lebzeiten des Autors rechtmäßig und unrechtmäßig gedruckt, ins Lateinische, Italienische, Französische übersetzt. M. ist in diesem Werke vor Allem Gelehrter, mehr Antiquar als Forscher. Er ist bei den Alten in die Schule gegangen und spickt sein Werk gern mit Citaten aus den drei Sprachen des Alterthums, die er beherrschte. Er verehrt Strabo als Meister und hätte gewiß schon bei Lebzeiten gern den Ehrennamen eines „deutschen Strabo“ geführt, der seinen Leichenstein ziert. Er führt die Alten an, aber der „dogmatische Glaube“ an dieselben ist in ihm erschüttert; er will die Jahrhunderte, die seit dem Alterthum dahingegangen sind, nicht übergehen, sondern sucht sich allerwärts Kunde von dem seither Erforschten und Gewordenen zu verschaffen. Er ist Compilator und Sammler. Als Compilator benutzt er alle gedruckten Quellen, er nennt sie gern: die Historiker und Geographen von Diodorus Siculus an bis auf Aegidius Tschudi –, und zwar der Sitte der Zeit nach, mit starker Aneignung des von Anderen bearbeiteten Stoffes, er trägt das Verschiedenartigste zusammen, so [32] daß sein Werk nicht blos eine geographische Beschreibung der Städte und Länder, sondern auch ein Compendium für Geschichte und Alterthumskunde, Philologie und Physik ist. Und da er die gedruckten Berichte nicht ausreichend fand und nicht einmal die vorhandenen alle erreichen konnte, so erließ er ein gedrucktes Ausschreiben an Fürsten, große Herren, Gelehrte und Beamte mit der Bitte, ihm ihre Länder und Städte zu beschreiben, und erhielt, er, der einfache Privatmann, während vieler Jahre von allen Seiten (auch diese seine Helfer zählt er dankbar auf) zahlreiche Mittheilungen, die er für seine Darstellung verwerthete. Diese Mittheilungen waren häufig mit Städtebildern und Landkarten versehen, die von ihm alle in sein Werk aufgenommen wurden, und noch heute einen eigenartigen Werth beanspruchen, nicht immer als Kunstwerke, sondern als sprechende Beispiele dafür, wie unvollkommen die Künstler jener Zeit sahen und wie unvollkommen sie das Gesehene wiederzugeben verstanden. Als Gelehrter alten Schlages hat M. für Volksleben, für Culturzustände wenig Sinn; bezeichnend für ihn ist der Satz, den er einmal braucht: „Es weiß Jedermann, was und welche Kleider und Speis’ jetzt im teutschen Lande in Brauch sind, darum nicht von nöthen, etwas davon zu schreiben.“ Trotzdem bringt er manche statistische Notizen, giebt einige Versuche zur genauern Zeichnung der Volksart, schildert die Stände und zwar so, daß er die Bauern erhebt, die Adligen schilt, über die Geistlichen vorsichtig hinweggeht, um es mit keiner Glaubenspartei zu verderben. Zeigt er sich gerade in letzterer Hinsicht nicht als echten Sohn der Reformationszeit, die, wenn irgendwo, gerade in Sachen der Religion ein entschiedenes Auftreten, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei verlangte, so bewährt er sich als wahres Kind seiner Zeit durch seinen Hang zum Aberglauben und durch sein Festhalten an Volksmärchen. Er ist, wie die Besten seiner Zeit, von dem Walten eines Teufels fest überzeugt; er berichtet mit naivem Glauben von Wundern, die Gott in einer Nacht verrichtet, so daß er Silber in die deutschen Berge gelegt und durch übernatürliche Macht eine Wüste in ein Paradies verwandelt habe. Er ist fromm und bezeugt seine fromme Gesinnung nicht blos durch zahlreiche Anführungen von Bibelstellen, durch Gebete, die er gelegentlich einfügt, sondern durch den weihevollen, oft kindlich ausgedrückten und doch so erhebenden Gottesglauben, der sein ganzes Werk durchzieht. Außer seiner Religiosität ist besonders Münster’s Patriotismus erwähnens- und rühmenswerth. Man mag es schon als eine patriotische That bezeichnen, daß er trotz seiner Gelehrsamkeit den Gedanken faßt und ausführt, eine allgemeine Erdkunde in deutscher Sprache zu schreiben. Aber er gebraucht nicht blos die deutsche Sprache, er bewährt vornehmlich deutschen Sinn dadurch, daß er unter allen Ländern Deutschland am ausführlichsten behandelt und bei jeder Gelegenheit, die sich ihm darbietet, ja die begierig von ihm aufgesucht wird, des deutschen Namens mit Stolz gedenkt. Am besten drückt er seine Gesinnung aus durch die Worte, welche er über die Karte Deutschlands setzt: „Deutschland von Gottes Gnaden ein Stuhl des römischen Reichs, ein Schul aller guten Künste und Handwerke, ein Ursprung vieler neuen Kunst, eine Mutter vieler streitbarer Helden, hoher, weiser, gelehrter Leut, ein reiner Tempel wahrhaftiger Gottesfurcht und aller Tugend“.

Was das Aeußere des Werkes betrifft, so zerfällt es in 6 Bücher. Das erste behandelt die mathematische und allgemeine physische Geographie. Die fünf übrigen sind der speciellen physischen und der politischen Geographie gewidmet und zwar das 2. dem südlichen Europa und England, das 3. Deutschland, das 4. dem übrigen Europa, das 5. Asien, das 6. Afrika. Die erste Ausgabe hat 24 Karten, von welchen die letzte die neue Welt darstellt, die 22. Neu-Indien gewidmet ist. Diese Landkarten wurden in den späteren [33] Ausgaben vermehrt, die von 1592 hat 26. Dazu kommen dann 46 Städtebilder, von denen 30 deutsche Städte darstellen. Ferner alle möglichen kleineren Holzschnitte: Bäume, Thiere, Wappen der Städte, der Länder, der gräflichen Familien, die Herrscher der einzelnen Länder, nicht etwa nur die zur Zeit Münster’s regierenden, sondern die ganze Reihe der Herrscher der einzelnen Länder überhaupt; bei Erwähnung der Flagellanten wird ein Geißler abgebildet, bei Besprechung des Landrechts eine Frau, die ihre Hand ins Feuer steckt und dadurch ihr Recht beweisen will (Feuerprobe), bei Schilderung der bäuerlichen Zustände ein Dorf, zwei Bauern, ebenso Bergwerke, Brücken, Brunnen etc. Seltsame Gebräuche, wie „die Matzen“ in Wallis werden illustrirt. Gelegentlich werden auch genealogische Tabellen gegeben, z. B. der Herren von Mindelheim. Die Initialen sind groß, aber ohne sonderliche Kunst. – Deutschland wird mit einer die richtige Oekonomie des Werkes verletzenden Breite beschrieben; von den 1203 Seiten des Werkes (in der Ausgabe von 1550) sind ihm 656, also weit mehr als die Hälfte gewidmet. Der Name Amerika findet sich in den ersten Ausgaben nicht; in dem Abschnitt „von den neuen Inseln“ (S. 1178–1192) wird aber von Columbus, seinen Fahrten und seinen Entdeckungen gesprochen.

J. G. Hager, Geographischer Büchersaal, Chemnitz 1764, 1. Band, 2. Stück, S. 77–140. Inhaltsverzeichniß der Cosmographie, zugleich auch ein ziemlich genaues Verzeichniß der Münster’schen Schriften. Ein ähnliches bei Rotermund, Fortsetzung von Jöcher, Bd. V, vgl. Jöcher’s Hauptwerk Bd. III. Die dort gegebene Biographie ebenso wie die Darstellungen in den vielen bei Hager genannten biogr. Nachschlagswerken sind ohne jede selbständige Bedeutung. Für den Kosmogr. vgl. W. H. Riehl, Freie Vorträge, Stuttg. 1871, Bd. I, ein vorzüglicher, der obigen Darstellung zu Grunde gelegter Aufsatz. O. Peschel, Geschichte der Erdkunde, 2. Aufl., hgg. von S. Ruge, München 1881; für den Hebraisten: L. Geiger, Gesch. des Stud. der hebr. Sprache in Deutschland, Breslau 1870, S. 74–88, 90. – Perles, Beitr. zur Gesch. d. hebr. und aram. Studien, München 1884, S. 20–44.