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Artikel „Kurtz, Johann Heinrich“ von Nathanael Bonwetsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 450–453, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kurtz,_Johann_Heinrich&oldid=- (Version vom 4. Dezember 2024, 21:38 Uhr UTC)
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Kurtz: Johann Heinrich K., geboren am 13. December 1809 zu Montjoie bei Aachen. Seinen Unterricht empfing er zu Montjoie (1821–23), Dortmund (1825 bis Ostern 1827) und Soest (Herbst 1827 bis Ostern 1830), dazwischen durch private Unterweisung. Der Wechsel des Aufenthalts erklärt sich aus der wechselnden Stellung seines Vaters, der (er stammte aus der Nähe Kassels) in verschiedenen Berufszweigen mit Erfolg und Mißerfolg sich versuchte. Auf das religiöse Leben des Sohnes hat die sich selbst aufopfernde, fromme Sitte pflegende Mutter stärker eingewirkt. Doch war seine Denkweise die der Aufklärung, als er nach mit I bestandener Abgangsprüfung, um [451] Theologie zu studiren – er hatte zuvor an Jurisprudenz, Medicin oder Philologie gedacht –, die Universität Halle bezog (Ostern 1880). Hier aber erfolgte der Umschwung vom Rationalismus zur Gläubigkeit. In Bonn (Michaelis 1831 bis Ostern 1833) kann er nur wenige Vorlesungen gehört haben, da er zumeist in der Nähe Hauslehrer war. Sein Examen bestand er in Koblenz mit „gut“. Aus einer Hauslehrerschaft in Kurland wurde ein dauernder Aufenthalt. Er ward 1835 Religionslehrer am Gymnasium zu Mitau. Noch als solcher erhielt er 1844 den Lic. theol. hon. c. von Königsberg und 1849 den Dr. theol. h. c. von Rostock. 1849 folgte er einem Ruf nach Dorpat als Professor der Kirchengeschichte, sich fast unmittelbar anschließende Rufe nach Rostock und Marburg lehnte er 1850 ab; dagegen vertauschte er 1859 die kirchengeschichtliche Professur mit der alttestamentlichen. Während zwölf Jahren war er Decan der theologischen Facultät. Nach seiner Emeritirung verließ er am 15. Juni 1870 Dorpat; seit 1871 wohnte er dauernd in Marburg. Dort ist er am 26. April 1890 gestorben.

Kurtz’ Wirksamkeit beruhte in mehr als gewöhnlichem Maaße auf seiner schriftstellerischen Thätigkeit. Er eröffnete sie 1842 mit der G. H. v. Schubert gewidmeten Schrift „Die Astronomie und die Bibel. Versuch einer Darstellung der biblischen Kosmologie, sowie einer Erläuterung und Bestätigung derselben aus den Resultaten und Ansichten der neueren Astronomie“, Mitau 1842. Erweitert und umgestaltet hieß sie später „Bibel und Astronomie, nebst Zugaben verwandten Inhalts. Eine Darstellung der biblischen Kosmologie und ihrer Beziehung zu den Naturwissenschaften“, 5. Aufl., Berlin 1865. Die Absicht des Verfassers ist hier darauf gerichtet, eine Geschichte des Universums auf Grund der biblischen Offenbarung zu geben, die Geschichte des ganzen Kosmos als verflochten mit der Geschichte des Menschen zu zeigen. Aehnliche Gedanken hat K. in Knapp’s Christoterpe 1848 und in der Evang. Kirchenzeitung 1846 entwickelt. Sie sind später bei ihm zurückgetreten, aber das rege naturwissenschaftliche Interesse ist ihm bis zuletzt geblieben. – Im gleichen Jahre mit jenem Werk haben auch Kurtz’ Veröffentlichungen auf dem Gebiet begonnen, dem seine Arbeit in der nächsten Zeit durchaus vorwiegend gelten sollte, auf dem alttestamentlichen, speciell dem des alttestamentlichen Cultus. Seiner Erstlingsschrift in dieser Hinsicht: „Das Mosaische Opfer, ein Beitrag zur Symbolik des Mosaischen Cultus, Mitau 1842, folgten Aufsätze verwandten Inhalts in den „Theol. Studien und Kritiken“ 1844. 46 („Ueber die symbolische Dignität der Zahlen an der Stiftshütte“ und des Num. 19 verordneten Ritus), in der „Christoterpe“ 1849–52 (über den alttestamentlichen Gottesdienst) und in der „Zeitschr. f. luth. Theol. u. Kirche“ 1851 („Zur Symbolik des alttestamentlichen Kultus“). Diese Arbeiten fanden ihre Zusammenfassung und Weiterführung in seinem Werke: „Der alttestamentliche Opferkultus nach seiner gesetzlichen Begründung und Anwendung“, Mitau 1862.

Auf alttestamentlichem Gebiet bewegen sich auch vorwiegend seine der biblischen Geschichte geltenden Arbeiten, zu denen ihm zunächst sein Beruf als Religionslehrer Anlaß gab. Eingeleitet durch seine „Präliminarien zu einer neuen Konstruction der heiligen Geschichte“ in der „Zeitschr. f. luth. Theol. u. Kirche“ 1842. 43, erschien zunächst (Königsberg 1848) sein „Lehrbuch der heiligen Geschichte, ein Wegweiser zum Verständniß des göttlichen Heilsplans. Aus jenem „Lehrbuch“ erwuchs die „Biblische Geschichte der heiligen Schrift nacherzählt und für das Verständniß der unteren Klassen in Gymnasien und Bürgerschulen erläutert“, Berlin 1847, die seinen Namen in allen Welttheilen bekannt gemacht hat. Eine Ausgestaltung zu einer umfassenden wissenschaftlichen [452] Bearbeitung der alttestamentlichen Geschichte erfuhr aber das „Lehrbuch“ in der „Geschichte des alten Bundes“, I, Berlin 1848 (3. Aufl. 1864); II, 1855 (2. Aufl. 1858). Das Werk ist nur bis zum Tod Moses geführt, bezeichnet aber die eigentliche wissenschaftliche Leistung Kurtz’ in Beziehung auf das Alte Testament. Durch Quellenuntersuchungen über den Pentateuch hatte er seine Geschichtsdarstellung vorbereitet. Er hatte darin die Einheit des Pentateuchs, speciell der Genesis nachzuweisen gesucht: „Beiträge zur Vertheidigung und Begründung der Einheit des Pentateuchs“, Königsberg 1844, und „Die Einheit der Genesis“, Berlin 1846; später unterschied er im Anschluß an Delitzsch zwischen verschiedenen Bestandtheilen des Pentateuchs, die er jedoch in unmittelbarer Nähe der mosaischen Zeit geschrieben und zu einem einheitlichen und planvollen Ganzen verbunden glaubte. Vor allem war ihm die Gesetzgebung durch Moses Sache unumstößlicher Gewißheit: „Wenn auch kein Pentateuch existirte, so würde doch das Factum der durch Moseh vermittelten Gesetzgebung am Sinai fester stehen als irgend ein andres Factum der alten Geschichte“ (Gesch. d. alt. Bundes II, 546). Durchgängige Geschichtlichkeit und Offenbarungscharakter des pentateuchischen Berichts ist Kurtz’ grundlegende Ueberzeugung; von ihr aus hat er mit eben solchem Scharfsinn wie Wahrheitssinn in durchsichtiger und klarer Weise seine geschichtliche Darstellung zu geben gewußt. Einschlägige Einzelfragen hat er in verschiedenen Zeitschriften und in der ersten Auflage der „Realencyklopädie für protestant. Theologie und Kirche“ erörtert, über die Deutung von Gen. 6, 1–4 mit seinem Dorpater Collegen Keil (dem Hengstenberg secundirte) einen lebhaften, Beide auch persönlich entzweienden litterarischen Streit geführt (vgl. „Die Ehe der Söhne Gottes mit den Töchtern der Menschen“, Berlin 1857; „Die Söhne Gottes in 1. Mos. 6, 1–4 und die sündigenden Engel in 2. Petr. 2, 4. 5 und Judä V. 6. 7, eine Streitschrift gegen Herrn Dr. Hengstenberg“, Berlin 1858). An sonstigen alttestamentlichen Abhandlungen hat K. in der Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche (und gesondert) veröffentlicht: „Die Ehe des Propheten Hosea“ 1859 und „Zur Theologie der Psalmen“ 1864. 1865. Auch die „Erklärung des Briefes an die Hebräer“, Mitau 1869, stand in engem Zusammenhang mit seinen alttestamentlichen Studien. – Alle diese das Alte Testament betreffenden Arbeiten Kurtz’ sind zu beurtheilen nach dem Stand der alttestamentlichen Wissenschaft um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, bevor, in Deutschland namentlich unter Wellhausen’s Führung, ein völliger Umschwung in der alttestamentlichen Forschung eintrat.

Durch seinen Beruf als Religionslehrer sah sich K. schon 1844 auch zur Herausgabe seiner „Christlichen Religionslehre“ veranlaßt (letzte, 14., von ihm selbst besorgte Aufl. 1889). Der Ruf nach Dorpat als Kirchenhistoriker bestimmte ihn 1849 zunächst als Grundlage für seine Vorlesungen sein „Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende“ (2. Aufl. 1850) erscheinen zu lassen. Es hat sich dann zu drei verschiedenen Werken entwickelt. Es erschien nämlich 1852 sein „Lehrbuch [seit der 3. Aufl. 1856 ‚Abriß‘ genannt] der Kirchengeschichte für den Unterricht in höheren Lehranstalten“ (12. Aufl. 1889), 1853 und 1854 der 1. Band seines „Handbuches der allgemeinen Kirchengeschichte“, 1. 2 Mitau 1853; Theil 3 i. J. 1854, 1856 der erste Theil des 2. Bandes, dann aber 1857 sein „Lehrbuch“ für Studirende, der sogenannte Studentenkurtz oder „große Kurtz“ (3. Aufl. Mitau 1857; 11. Aufl. Leipzig 1890; die 12. Aufl. ist mit ihr wesentlich identisch). Man merkte es diesem Werke zunächst deutlich an, daß es aus der Arbeit des Unterrichts, nicht der Forschung, geschweige aus vorausgehender Einzelforschung erwachsen war. [453] Quellenbelege fehlten und die Auffassung der geschichtlichen Vorgänge war nicht selten eine unzutreffende. Seinen ganz außerordentlichen Erfolg aber verdankte das Lehrbuch Kurtz’ eigenthümlicher Gabe der übersichtlichen Disponirung des Stoffes und lebendiger und kraftvoller Darstellung. Eine durchgreifende, auf erweiterter und vertiefter kirchenhistorischer Erkenntniß beruhende Umgestaltung seines Werkes konnte K. erst nach seiner Emeritur vornehmen. In seiner Anlage, die sich wesentlich an die des Lehrbuchs Gieseler’s anschloß und mehr sachlich als rein zeitlich disponirte, ist das Buch sich freilich auch ferner wesentlich gleich geblieben, und es ist daher nicht dazu angethan, zusammenhängend gelesen zu werden. Aber mit seinem unermüdlichen Fleiß hat K. es verstanden, eine überaus große Fülle des Inhalts in knappster Form zu bieten und über den Stand der Forschung zu orientiren. Mit ernstem Streben hat er dabei auch fremdem Standpunkt volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen gewußt.

Auch in seinen Vorlesungen trat uns, seinen Zuhörern, dies Bestreben und die stete Willigkeit zu lernen und auch umzulernen deutlich entgegen. Zugleich hat er doch kein Bedenken getragen in seinen Abschiedsworten an seine Schüler auf den im Princip reactionären Charakter des Glaubens hinzuweisen. Ueber die Gabe der freien Rede verfügte er nicht, um so mehr über den schriftlichen Ausdruck. Auch seine Vorlesungen redeten die Sprache des Buchs. Aber alles, was er bot, war sorgfältig ausgearbeitet und durchsichtig gestaltet.

Die Schriften Kurtz’ sind vielfach auch übersetzt worden, seine Schulbücher in überaus zahlreiche Sprachen.

Eine Uebersicht über seine Schriften in Schaff’s und Jackson’s Encyclopedia of living divines and christian workers S. 121, vgl. auch meinen Artikel in der 3. Aufl. der protest. Realencyklopädie XI, 187 ff.