ADB:Kummer, Ernst Eduard
Scherk (s. A. D. B. XXXI, 118–119), der 1826 bis 1883 in Halle lehrte, einen mächtigen Einfluß, K. entschloß sich statt der theologischen Laufbahn die eines Lehrers der Mathematik einzuschlagen. In seinem dritten Studienjahre löste er eine mathematische Preisaufgabe, die Entwicklung von Potenzen eines Sinus oder eines Cosinus in eine Reihe ähnlicher Functionen vielfacher Winkel betreffend, und im September 1831 erwarb er in Halle auf Grund jener Preisschrift die philosophische Doctorwürde. Als Gymnasiallehrer kehrte er an die Anstalt zurück, von welcher er zur Universität abgegangen war, verließ sie aber schon [439] 1832 durch Versetzung an das Gymnasium zu Liegnitz. Nach zehnjähriger Wirksamkeit in Liegnitz folgte er 1842 einem Rufe als Professor der Mathematik an die Universität Breslau, und 1855 brachte ihn nach Berlin als Nachfolger Dirichlet’s (s. A. D. B. V, 251–252), der damals nach Göttingen übersiedelte. Jetzt war K. also Mitglied der Akademie, welcher er schon seit 1839 als correspondirendes Mitglied angehörte und deren immerwährender Secretär er später wurde, ordentlicher Professor der Mathematik an der Universität, Professor der Mathematik an der Allgemeinen Kriegsschule, der späteren Kriegsakademie. Aus letzterer Stellung zog K. sich 1874 zurück, und die Art und Weise, wie dieses geschah, ist kennzeichnend für Kummer’s ganzes Wesen. Die Stelle war keine pensionsfähige. General v. Ollech, der damalige Director der Kriegsschule, wollte versuchen, für den nach 19jähriger Thätigkeit ausscheidenden Lehrer trotzdem ein Ruhegehalt zu erwirken. K. weigerte sich dessen und zwar mit der Begründung, er habe die Besoldung, die er aus jener Thätigkeit zog, alljährlich zurückgelegt, und daraus sowie aus den immer aufs neue capitalisirten Zinsen sei eine Summe entstanden, welche ihm auch künftig einen der in Abzug kommenden Besoldung gleichen Jahresertrag liefern werde. Die Lehrthätigkeit an der Universität stellte K. 1884 ein. Auch schriftstellerisch war er nach diesem Zeitpunkt, ja schon vier Jahre früher seit 1880, nicht mehr fruchtbar. Er hörte von dem Augenblicke an zu schaffen auf, wo er die Empfindung hatte, frühere Arbeiten seiner Feder nicht mehr überbieten zu können. Kummer’s fünfzigjähriges Doctorjubiläum wurde 1881 von Freunden und Verehrern festlich begangen, wiewol er es versucht hatte, sich der Feier zu entziehen. Eine bei dieser Gelegenheit gemachte Stiftung, über deren Bestimmung er zu entscheiden hatte, wandte er der Universität Halle zu, der Wiege seines mathematischen Lebens.
Kummer: Ernst Eduard K., Mathematiker, geboren am 29. Januar 1810 in Sorau, † am 14. Mai 1893 in Berlin. K. war erst drei Jahre alt, da starb sein Vater, ein Arzt, als Opfer seines Berufes. Die aus Rußland 1813 heimkehrenden Ueberreste der französischen Armee brachten den Typhus mit, der den behandelnden Arzt erfaßte. Ein geringes hinterlassenes Vermögen reichte knapp aus, die beiden Söhne, deren jüngster Ernst Eduard war, zu erziehen. Nach Gymnasialstudien in Sorau begab sich K. 1828 der Ersparniß wegen zu Fuß nach Halle, um Theologie zu studiren. Gewissensbedenken traten ein, außerdem übten die Vorlesungen vonDie außergewöhnliche Laufbahn Kummer’s, der von einer Mittelschule an eine Universität berufen wurde, zeugt für die Bedeutsamkeit seiner Arbeiten, die sich im Laufe der Jahre auf sehr verschiedene Gegenstände bezogen. K. begann mit Untersuchungen über Reihenconvergenz. Die vom 29. Januar 1833 datirte Abhandlung über die Convergenz und die Divergenz der unendlichen Reihen erschien im XIII., die daran anknüpfende Abhandlung über die hypergeometrische Reihe im XV. Bande von Crelle’s Journal, und sie brachten den wichtigen Gegenstand um viele Schritte weiter, als es Gauß und Cauchy gelungen war ihn zu fördern. K. diente, in der Ausübung der Wehrpflicht lange zurückgestellt, gerade sein Jahr ab, als er die Separatabzüge des Aufsatzes über die hypergeometrische Reihe erhielt und einen derselben an C. G. J. Jacobi nach Königsberg schickte. Da zeigte dieser die Sendung seinen Collegen mit den Worten: „Sieh da, jetzt machen schon preußische Musketiere mit ihren mathematischen Arbeiten den Professoren Concurrenz!“ K. blieb dieser analytischen Richtung während der ganzen Liegnitzer Zeit treu und verdankte seinen dahinschlagenden Arbeiten die Wahl zum correspondirenden Mitgliede der Berliner Akademie, sowie die Berufung nach Breslau. Jetzt warf er sich plötzlich auf ein neues Arbeitsfeld, die Zahlentheorie. Ihr gehörte seine Breslauer Antrittsrede über cubische Reste an, ihr die berühmte Gratulationsschrift zur dritten Säcularfeier der Universität Königsberg (1844) über die aus mit ganzen Zahlen in Verbindung tretenden Einheitswurzeln gebildeten complexen Zahlen. Die sogenannten idealen Factoren waren damit in die Zahlentheorie eingeführt, und ihr Erfinder wußte von ihnen einen nie geahnten Gebrauch inbezug auf den Fermat’schen Unmöglichkeitssatz zu machen.
Diese zweite Gruppe von Abhandlungen, aus welcher wichtige Arbeiten bis zum Jahre 1863 zu nennen wären, wenn wir uns bei Einzelheiten aufhalten [440] dürften, gab den Ausschlag bei Kummer’s Berufung nach Berlin und verschaffte ihm 1857, ohne daß er sich darum beworben hätte, den großen mathematischen Preis, welchen die Pariser Akademie wiederholt auf den Beweis jenes Fermat’schen Satzes ausgesetzt hatte, ohne ihn ertheilen zu können. Die Vielseitigkeit von Kummer’s Geist offenbarte sich in Berlin durch abermaligen Wechsel des Gebietes seines Nachdenkens. Er zeigte sich als feinen Geometer. Seine hauptsächlichste Leistung ist in den Monatsberichten der Berliner Akademie für 1864 veröffentlicht und betrifft eine Fläche vierten Grades mit 16 Knotenpunkten, welche nachmals als Kummer’sche Fläche bezeichnet, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen deutscher wie außerdeutscher Geometer geworden ist. Wir haben neben einer Gedächtnißrede auf Dirichlet in den Abhandlungen der Berliner Akademie für 1860 noch eine kleine aber bedeutsame Gruppe Kummer’scher Arbeiten zu erwähnen. In seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie vom 3. Juli 1856 hatte K. seinen wissenschaftlichen Standpunkt als einen theoretischen bezeichnet, nicht allein darum, weil die Erkenntniß allein das Endziel seiner Studien sei, sondern namentlich auch darum, weil er vorzüglich nur diejenige Erkenntniß in der Mathematik anstrebe, welche sie innerhalb der ihr eigenthümlichen Sphäre ohne Rücksicht auf ihre Anwendungen gewähre. Er ist diesem Programme nicht ganz treu geblieben. Eine an geometrische Untersuchungen über Strahlensysteme anknüpfende Abhandlung von 1860 über athmosphärische Strahlenbrechung, eine solche von 1875 und 1876 über die Wirkung des Luftwiderstandes auf Körper von verschiedener Gestalt, insbesondere auch auf die Geschosse zeigen K. als mathematischen Physiker, als genauen Experimentator. So hat er in den verschiedensten Gebieten sich umgethan und überall Bahnbrechendes geleistet.
- Vgl. Nekrolog von E. Lampe in dem Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. III, S. 13–28. Berlin 1894.