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Artikel „Kirchhoff“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 158–165, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kirchhoff&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 18:28 Uhr UTC)
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Kirchhoff, Gustav
Band 51 (1906), S. 158–165 (Quelle).
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Kirchhoff: zwei Brüder, Dichter, der jüngere auch Reiseschilderer, der ältere Philolog, etwa fünf Jahre im Alter auseinander und in demselben Abstande gestorben, zwei Drittel ihres Lebens, die ganzen Mannesjahre örtlich weit, durch den Ocean getrennt, aber vielfach eines Sinnes und trotz recht verschiedenartiger Anlagen von dem gleichen Idealismus, insbesondere vaterländischer Richtung, durchglüht und in zwei poetischen Hauptkundgebungen ihrer besten Zeit gemeinsam vor das Publicum getreten. Sie sind geboren zu Uetersen in Südholstein, Söhne eines Advocaten, nachherigen Bürgermeisters von Kiel, langjährigen Abgeordneten zur schleswig-holsteinischen Ständeversammlung, dann zum dänischen Reichsrath, der seiner Verdienste wegen den Titel Etats- und Conferenzrath erhalten. Obwol dessen ausgezeichnete, feingebildete Gattin die Kinder schon früh verloren, war doch der Familienkreis höchst anregend: „Die Musen veredelten Geist und Gemüth, die Wissenschaften standen in hohen Ehren, und die Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, lauschten mit verhaltenem Athem den gelehrten Erörterungen über die Tagesfragen, über Politik, Kunst und Wissenschaften, die der Vater mit den bei ihm vorsprechenden Honoratioren des Städtchens zu halten liebte. Dazu kam, daß der Vater selbst hübsche Sonette schrieb.“ Was Wunder, daß die Söhne begeisterte Jünger der Poesie wurden? Wundervoll hat der jüngere die im Vaterhause verlebten glücklichen Tage in einem Gedichte „Trübe Stunden“ geschildert: ,Wie so ganz anders war es doch Im väterlichen Haus, Auf Silberfüßen gingen dort Die Musen ein und aus. Und dann die Abende voll Glanz, O, sie vergeß ich nie, Da stritten um den Vorrang sich Musik und Poesie‘.

Der ältere, Friedrich Christian K., am 11. Juni 1822 geboren, studirte, nach dem Schulbesuche in der Geburtsstadt, Flensburg und – unter Jakobs und Classen – Lübeck, seit Herbst 1840 auf den Universitäten Kiel, Bonn, Berlin evangelische Theologie. Er bestand 1847 mit Auszeichnung die geistliche, auf Grund philologischer Studien 1848 die Prüfung für das höhere Lehramt, wurde im Herbst bei der Domschule zu Schleswig von der Landesregierung angestellt, kehrte aber 1850 unter der dänischen Reaction dahin nicht zurück, obwol er seine deutschpatriotische und heimathliche Begeisterung nicht wie der feurigere Bruder mit der Waffe bethätigt hatte. 1851 als Hülfslehrer [159] am Gymnasium zu Altona verwendet, wurde er im folgenden Sommer am Schullehrerseminar zu Mörs in der Rheinprovinz, 1854 am Realgymnasium in Rendsburg angestellt. 1859 kehrte er ans Altonaer Christianeum zurück, wo er, 1869 zum Oberlehrer befördert, 1873 den Professortitel erhielt und an Michaeli 1887 in den Ruhestand trat. Am 23. August 1894 ist er ebenda gestorben.

Nach seiner ersten Veröffentlichung „Das Gebet und seine Arten“ (1846), trägt „Israel und die Völker. Ein christlicher Dithyrambus“ (1855) Christian K. noch dem nie ganz abgestreiften Gedankenkreise seiner Ausbildung Rechnung, hat sich aber als Dichter noch nicht gefunden. Im J. 1864 ließen die Brüder ein Heft ihrer „Lieder des Krieges und der Liebe aus Schleswig-Holstein vorsorglich auswärts, in Dresden drucken (Ch. K.’s eigene Schriften sind in Altona herausgekommen), und 1869 erschienen, mit der Ziffer 1870, „Adelpha. Gedichte“, in neuer, unveränderter, zweibändiger Ausgabe 1872. Deren Inhalt entstammt, getreu dem Namen Ἀδελϕά, der Muse beider Brüder, die das Titelblatt nennt: I. „Die Rose vom Rhein und Magnolien vom Mississippi“. II. „Eider und Rhein. Bilder aus beiden Hemisphären“. Im ersten Bande spendet Christian K. einen großen Cyclus kurzer, wahr empfundener und klar gefaßter Lieder, die das stille Glück der Liebe mit einem in Bonn kennen gelernten Mädchen hoffnungsvoll preisen: „Der Minne Frühling“. Ein Abschnitt vermischter Gedichte Christian’s ist meist epigrammatisch oder spruchartig. Ueberwiegt nun auch bei Christian in seinen rein lyrischen Stücken eine weiche, zarte, gemüthreiche Auffassungs- und Ausdrucksweise, die bisweilen durch Beschaulichkeit die Brücke zum betrachtenden Stile findet, so schlägt doch, wol von der lebhafteren Art des Bruders angesteckt, in seinen deutschnationalen Gesängen kräftigere Klangfarbe vor. Betheiligt ist er auch an dem patriotischen episch-lyrischen Cyclus „Der Krieger und sein Mädchen“ im zweiten, Patriotisch-politisches von 1848–66 enthaltenden Theile der „Adelpha“-Sammlung: „eine Reihe realistisch gehaltener Bilder aus dem Friedens- und Kriegsleben eines Soldaten, der, in den Krieg marschierend, eine Braut zu Hause läßt, aber nach langem, fast hoffnungslosem Warten der Braut glücklich in die Arme der Beglückten zurückkehrt: meist echt lyrische Stücke, welche zur Composition geradezu herausfordern. [J. Rieter-Biedermann in Leipzig-Winterthur hat in der That ein Doppelheft vorgelegt: „Lieder von Christian Kirchhoff, für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte componirt von Louis Bödecker. Op. 5. 7“.] Mit Wilh. Jensen’s Kriegsbildern haben sie eine gewisse Verwandtschaft; auch hier sind die Bilder realistisch, und der eigentliche Patriotismus tritt in den mannichfachen Stimmungsbildern zurück“. So urtheilt Leimbach (s. u.), der über das Zusammenarbeiten angibt: „Nicht nur in den patriotischen Liedern, sondern auch sonst haben die Brüder in wahrhaft brüderlicher Weise sich der Musenkinder des Bruders angenommen, sie gefeilt, und nicht selten haben sie auf das alleinige Eigenthumsrecht zu Gunsten des Bruders verzichtet.“ Endlich die Dichtung „Friedrich. Ein Studentenleben“ bietet in ihrem 1883 erschienenen I. Theile („Geist und Herz“) einen frei gestalteten Ausschnitt eigener Lebensgeschichte, im ganzen epischer und lehrhafter Anlage, die einige lyrische Stücke und undramatische Dialoge leicht durchbrechen, in reimlosen Jamben und würdiger leidenschaftsloser Darstellung. Inhalt: eines Studenten Abschied vom Hause, Erlebnisse und Anfechtungen während des Studiums an der Berliner Universität, Heimkehr des kranken und zweifelnden, allmähliche Genesung des Herzens und Kopfes. 1892 hat als letzte Gabe Christian Kirchhoff’s der gleichfalls in der Grundstimmung epische Band „Das Burschenfest“ diese Wiedergeburt des alten Studenten [160] fortgesetzt, innerlich wie äußerlich abgeklärt. Diese zweite dramatisch-lyrische Dichtung führt innerhalb einer Studentenausfahrt nebst -Kommers mit Humor die verschiedenen akademischen Individualitäten vor, wobei wichtige Zeitfragen verhandelt und verkehrte Richtungen verspottet werden. Die nicht überall auf den ersten Blick klare Darstellung ist gedankenreich und mit vielen schönen Liedern durchsetzt. Einen dritten Band der Gesammtverarbeitung seines Entwicklungsgangs durch Zweifel und Kämpfe zur befriedigten Annahme der Liebe als Lebensprincip hatte K. fast druckfertig bezw. weiteres entworfen, als der Tod fernerem Nachdenken den Abschluß gab.

Obwol dieser Dichter nichts weniger als ein Verskünstler ist und sein wollte, auch sich nirgends an metrische Experimente wagt, versucht er doch gelegentlich – man vergleiche z. B. „Der Krieger und sein Mädchen. Nr. 24: Die Schlacht“ mehrfach – eine Verschlingung der Reime über die Strophenausgänge hinüber ungeachtet dazwischen liegenden Satzschlusses. Seine Abhandlung „Ueber einheitliche Gestaltung des Liedes durch den Reim“ (Altona. 1871) fordert nämlich, mittelst des Reims nicht bloß innerhalb derselben Strophe die Verse aufeinander zu beziehen, sondern erblickt in solcher Verknüpfung mehrerer oder gar aller Strophen unter einander höchste Kunst. Dies Verlangen, bei den mittelalterlichen Troubadours und Minnesängern öfters angewandt, beruht auch bei ihm gewiß auf musikalischen Gesichtspunkten. Solche dankt er wissenschaftlichem Forschen.

In der philologischen Fachwissenschaft hat Ch. K. nämlich eine lange Reihe eigenartiger Arbeiten auf Grund selbständiger Studien verfaßt. Sie erstrecken sich fast sämmtlich auf das hellenische classische Drama und zwar auf den antiken Theaterbau, die Orchestik, die Chor-Rhythmik. Auf die Schriften „Zur Theorie der griechisch-römischen Phonik“ (1861), „Die Parodos der Antigone des Sophokles“ (1862), „Ueber die Betonung des heroischen Hexameters“ (1866) folgten 1870 die „Beiträge zu den Elementen der antiken Rhythmik und der Grammatik. 1. Ueber die Annahme von Bruchzeiten unter 1 in der antiken Rhythmik. 2. Ueber die Begriffe des Nomens und des Verbums“, 1873 die erste Darlegung seiner neu gewonnenen Einsicht in Ziel und Sinn des altgriechischen Bühnenchors: „Die orchestische Eurhythmie der Griechen. 1. Grundzüge der Theorie. 2. Analyse der Praxis. 1: Die orchestischen Diagramme zu Euripides’ Hippolyt. 2: Das erste Stasimon der Antigone des Sophokles. Mit einem orchestischen Diagramm und einer Erörterung des Begriffes Stasimon“. Danach wandte er sich, in steter Verbindung mit diesen Untersuchungen, dem Bau des athenischen Bühnenhauses zu, um nach dessen, auf seinen Anlaß durch Koldewey genau festgestellten Maßen seine Hypothesen über die Tanzfiguren und strophische Gliederung beim Auftreten des Chors zu controlliren und zu festigen: „Vergleichung der Ueberreste vom Theater des Dionysos zu Athen aus dem 5. Jahrhundert vor Christi Geburt mit den Regeln des Vitruv für die Erbauung griechischer Theater und mit einer orchestischen Hypothese“ (1882); „Neue Messungen der Ueberreste vom Theater des Dionysos zu Athen nebst einigen Bemerkungen“ (1883); „Der Rhombus in der Orchestra des Dionysustheaters zu Athen. Mit einer dreifarbigen Steindrucktafel“ (1885). Nach diesen kleineren Schriften sollte eine Gesammtdarstellung die langjährigen Studien zusammenfassen und die ganze selbsterarbeitete Theorie entwickeln, nach allen Seiten begründen und zwar an einer einzelnen Tragödie, Euripides’ „Hippolytos“, die Ausführung des Tanzes der Chöre, auch in Tafeln aufklären. Der Tod hemmte den letzten Abschluß dieses Werkes, und erst 1899 hat es Kirchhoff’s Sohn Frdr. Aug. Theodor – anfangs Arzt, jetzt Director der Provinzialirrenanstalt zu Schleswig – herausgegeben, [161] unter dem Titel „Dramatische Orchestik der Hellenen. Mit zwei Tafeln“, den ihm „ein dem Verf. freundlich gesinnter Mitforscher“, auch sonst sein Beistand, angerathen. Hatte K. in den früheren gleichsam vorbereitenden Veröffentlichungen durch eine von der herrschenden Theorie durchaus abweichende Auffassung die Vereinigung der drei rhythmischen Elemente Metrum, Tanz, Musik, namentlich der beiden ersteren, exakt wieder hergestellt zu haben geglaubt, indem er aus Metrum und Aufbau der Chorgesänge die Bewegungen und Stellungen der Choreuten construirte, so war er überzeugt, ohne die künstlichen Modificationen des Verhältnisses von Länge und Kürze und ohne Textconjecturen nur nach den Angaben der alten Metriker die Tanzfiguren zu harmonischem Abschluß und auch bei Ungleichheit der Strophe und Antistrophe zu fertiger Schlußstellung zu bringen. Alle diese theoretischen Erörterungen und praktischen Analysen des orchestischen Baus nebst den damit eng zusammenhängenden eingehenden – schließlich gegenüber den neueren Behauptungen, z. B. Dörpfelds, conservativ bleibenden – Untersuchungen über den Bau des altgriechischen Bühnenhauses, die 1882–85 hervorgetreten, hat K. nun in dem umfänglichen gelehrten Hauptwerke seines Nachlasses folgender Theorie dienstbar gemacht: die Schrittbewegungen der Choreuten kann man aus den melischen Theilen der Tragödie feststellen und danach die vollkommen symmetrische Einheit sämmtlicher Chöre einer Tragödie in einem alle umfassenden System orchestischer Bewegungen erweisen. In dem Buche, wie es gedruckt ist, stehen diese „Grundzüge der Theorie“ zu zweit, die Nutzanwendung auf Euripides’ genanntes Trauerspiel voran, an dritter Stelle die Erledigung der „Spielplatzfragen“. Statt näherer Einzelheiten sei hier auf die scharfe Kritik des, auch formell nicht ganz ausgereiften, sehr inhaltreichen Compendiums verwiesen, die H. Gleditsch in der „Berliner philologischen Wochenschrift“ Nr. 42 v. 21. Octbr. 1899 Sp. 1295–99 geliefert hat, freilich mehr über das Geleistete unterrichtend als dessen Werth gerecht und mit Rücksicht auf den Torso-Charakter abwägend.

Der anregende und geistvolle Lehrer, als der Christian K. auf mehrere Geschlechter von Gymnasiasten in der „deutschen“ Stunde, bei Homer, Sophokles, Horaz, der Religion sowie in Unterredungen über religiöse, philosophische, ästhetische, nationale Fragen, auch im Privatgespräche gewirkt, tritt auch in den Schriftchen „Ueber die christliche Humanität. Rede bei der Introduction als Lehrer“ (1859) und „Ueber Schiller’s nationalen Charakter“ (1859) – Säkularfestrede – hervor. Außerdem hat K. im Laufe der Jahre mancherlei Aufsätze und viele Gedichte in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht.

Im Vergleiche zu dem gesetzten Charakter Christian’s, der freilich auch, schon jung vor dem 48er Sturme verheirathet, hübsch sittsam die Gymnasialcarrière durchlaufen, ist der jüngere, Theodor K., im bürgerlichen Leben stets mehr forscher Draufgänger, demgemäß in der Poesie Verfechter eines frischen, kecken Realismus gewesen. Leimbach’s einsichtige Charakteristik sei hier wiederholt: „Er spricht sich aus wie er fühlt oder mehr noch wie er denkt; denn er sieht die Welt nicht wie ein Gelehrter, sondern wie ein Praktikus an. So kommt es, daß ihn die Eigenart der neuen Welt bald abstößt und bald wieder anzieht, daß ihn die gesteigerte Pracht und Kraft der Natur im neuen Welttheile zur Poesie anregt, daß er die Culturfortschritte unserer Zeit, das Jahrhundert der Erfindungen und Entdeckungen, bewundert und preist und bei aller Pietät gegen die Heimath und die Verwandten, besonders die Mutter, doch immer mehr in der Neuen Welt allein sich wohlfühlt. Der starke Wandertrieb, die durch die umfassenden Reisen und mancherlei Kämpfe mit [162] dem Schicksal erhöhte Lebensauffassung sprechen aus jeder Zeile der Theodor Kirchhoff’schen Poesie“. Dieser Entwicklung seines Wesens entspricht sein Lebensgang. Am 8. Januar 1828 geboren, besuchte er die heimathliche Lateinschule, das Katharineum zu Lübeck, seit 1847 die Polytechnische Schule zu Hannover. Beim Ausbruch der Erhebung der Elbherzogthümer gegen Dänemark April 1848 trat er in Wasner’s Freischarencorps, 1849 in das schleswig-holsteinische Heer und nahm als Lieutenant an allen Hauptgefechten theil, zugleich, ein zweiter Theodor Körner, mit dem er auch im Alter übereinstimmte, das Ringen um Unabhängigkeit mit theils aufmunternden, theils wehmüthigen Klängen seiner Leier begleitend. Als dies Streben seiner Landsleute vorläufig zu nichte geworden, wanderte der enttäuschte Jüngling April 1851 nach Nordamerika aus und hat dort in den Vereinigten Staaten, von kürzeren Fahrten nach und durch Europa abgesehen, sein ganzes übriges Leben zugebracht. Anfangs schlug er sich in St. Louis als Clavierspieler durch, wohnte dann auch in Davenport, blieb aber infolge ungezügelter Wanderlust nirgends lange seßhaft. In jugendlich unentschlossenem Optimismus versuchte er sich in den wechselndsten Berufen und hielt sich an verschiedenen Orten des wachsenden Staatengebildes als Postmeister, Buchhalter, Tapezierer oder gar als Wirth auf. Bis 1854 bereiste er als Photograph das Mississippithal von Minnesota bis Louisiana und verlor dann durch eine Feuersbrunst seine ganze Habe. Nun errichtete er mit einem Freunde zu Osyka im Staate Mississippi ein gutflorirendes Vergnügungslocal, endlich 1857 zu Clarksville in Nord-Texas ein rasch aufblühendes, recht einträgliches kaufmännisches Geschäft. Aber dessen Zusammenbruch durch den nordamerikanischen Bürgerkrieg veranlaßte Theodor K. 1862 über New Orleans, dessen Belagerung durch die Bundestruppen er beiwohnte, zur zeitweiligen Rückkehr nach Europa, zu neuem Wandern durch England, Schottland, die Schweiz, Oberitalien. Aber weder da fand er Ruhe und Glück noch konnte er in Deutschland heimisch werden beim Vater in Kiel oder beim Bruder im geliebten Schleswig-Holstein, das noch unter dänischem Joche schmachtete. Gerade unmittelbar ehe daselbst das Schwert zum letzten Entscheid ausholen sollte, im Frühjahr 1863, nachdem ihm im Verkehr mit dem Bruder Christian ein junger Trieb zum Dichten erwacht, kehrte K. nach seinem Adoptivvaterlande zurück, reiste von New York über Panama nach San Francisco und gründete im Städtchen The Dalles (Oregon) ein schön auskömmliches Geschäft; hier schrieb er seine ersten amerikanischen Skizzen für „Die Gartenlaube“. 1865 reiste er durch Nicaragua, New York, Cuba nach New Orleans, ordnete im Süden frühere Geschäftsangelegenheiten, machte 1867 die beschwerliche „Stage“-Reise nach Idaho, die er so köstlich schildert, und verweilte dann abwechselnd in den Goldminen Idaho’s und Oregon’s, bis er, des Umherstreifens müde, 1869 in San Francisco festen Fuß faßte und mit seinem früheren Compagnon eine Goldwaaren- und Juwelen-Engroshandlung und eine mit optischen Instrumenten begründete. Als wohlhabender Mann zog er sich 1886 nur auf seine litterarischen Neigungen zurück.

Zahlreiche Aufsätze und Gedichte Th. Kirchhoff’s brachten die illustrirten Prachtwerke „Nord-Amerika“ von E. v. Hesse-Wartegg, „Von Wunderland zu Wunderland“ von Rud. Cronau, ferner Rob. v. Schlagintweit’s „Pacific- Eisenbahn und Californien“, „Heimathgrüße aus Amerika“ und „Dornrosen“, beide hrsg. 1870/71 bei E. Steiger (New York), „Die Doppel-Eiche“ (Anthologie schleswig-holsteinischer Dichter), „Erinnerungsblätter aus den schleswig-holsteinischen Feldzügen“ u. a. Seit 1865 steuerte er viele Skizzen und längere Artikel culturhistorischen, reisebeschreibenden u. ä. Inhalts bei zu „Gartenlaube“, [163] „Ausland“, „Daheim“, „Deutsche Blätter“, „Das Neue Blatt“, „Europa“, „Globus, „Gegenwart“, „Deutsch-amerikanische Monatshefte“, „New Yorker belletristisches Journal“ (Udo Brachvogel’s), „Der deutsche Pionier“ (Gust. Brühl’s 1869–71), „Deutsch-amerikanisches Magazin“ (Cincinnati), und für californische Blätter. Eine Reihe dieser Beiträge ging dann umgearbeitet in seine, noch zu nennenden Skizzen-Bücher über, gar manche wurden ins Englische, Französische, Schwedische übersetzt; so enthielt eine Sondernummer von „Le Tour du Monde“ (Paris), zugleich mit dem deutschen Text im „Globus“, eine Beschreibung des Yosemite-Thals in Californien französisch, reich illustrirt. Deutsch-amerikanische Blätter haben viele einzelne Gedichte Kirchhoff’s gebracht. Auch lieferte er eine beträchtliche Anzahl Lieder für Singspiele und humoristische Unterhaltungen, so „Narrenlieder für den deutschen Verein in San Francisco“ (1883). Im J. 1870 hat er gleich seinem Altonaer Bruder in den dichten Chor der Sänger mit eingestimmt, der Alldeutschlands Kampf und Sieg mit eigenen Tönen begleitete: laut rühmte da der deutsche Californier die Erfolge der deutschen Waffen in Frankreich vor den Deutschen jenseit des Weltmeeres und den Fremden. Damals ließ es ihn nicht daheim, sondern er durchwanderte den noch wenig civilisirten Süden der Vereinigten Staaten; später zwischendurch wiederum Texas 1876. 1883 bereiste er Deutschland, dessen neuerstandene Größe er nun begrüßte, und Italien, 1889/90 nochmals halb Europa, besonders Deutschland, England, Italien, und weilte im Winter 1888/89 auf den Sandwich-Inseln. Am 2. März 1899 ist der wandermüde Mann nach kurzem Krankenlager in San Francisco entschlafen, in ungetrübtem Schaffen.

Als der Tod dem Rastlosen die Feder aus der Hand nahm, hatte er die Correctur des Buches, das die letzte seiner litterarischen Veröffentlichungen sein sollte, größtentheils vollendet, der köstlichen Skizzen „Allerhand Heiteres aus Californien“ (2., unveränderte Ausgabe 1900), die nach 18 sauberen Momentphotographien vom Alltag des Ex-Goldlandes bezeichnend „Sechs anmuthige Weinlieder“, mit dem Lobe des Johannisbergers beginnend, abschließen. Die erste Serie dazu sind die „Californischen Culturbilder“ (1886), ein starker Band fesselnder völkerpsychologischer Eindrücke bunten Gewandes. Dieses Feld der Schriftstellerei hatte Theodor K. schon 1875/76 mit den zwei Bänden „Reisebilder und Skizzen aus Amerika“ eröffnet, deren amüsante Plaudereien reichen Anklang fanden, so daß der erste längst vergriffen ist. Die offene Neigung, die der leicht warm werdende Schriftsteller den nordamerikanischen Zuständen entgegengebracht hat, wird hier schon durch seine Laune und die weltmännische Umschau des vielgereisten Vergleichsberechtigten paralysirt. „Eine Reise nach Hawaii“ schilderte 1890 ein flottes Buch des schon Angejahrten, mit einer genauen Karte der eben damals mehr in den Vordergrund des politischen Interesses tretenden Sandwichinseln und einem Bilde des letzten Königs Kalakaua; in der zum guten Theile deutsch geschriebenen Litteratur über das Allgemeine dieses Archipels nimmt es eine Ehrenstelle ein.

Nun hat Theodor K. sich zwar über ähnliche Stoffe und Probleme außerdem in deutschen Zeitschriften vielfach verbreitet, und alle diese Schilderungen seiner weiten, mit offenen Augen unternommenen Fahrten verrathen ja den tüchtigen Darsteller, Frische und Anschaulichkeit. Auch hat er gerade auf diesem Gebiete viel Eindruck erzielt und noch manch unausgeführten Entwurf hinterlassen. Zudem konnte er sich eben hiermit wie durch ähnliches segensreiches Wirken ein höchst anerkennenswerthes Verdienst um Festigung des Deutschthums und ernstgemeinten deutschen Schriftthums in den Landen zwischen dem Atlantic und dem Pacific erwerben, wie er denn auch im Leben und Tode [164] bei den deutschen Sprachgenossen drüben nach Gebühr Dank geerntet hat, er, dessen selbständige Bücher sämmtlich im alten Vaterlande erschienen. Daß er jedoch unter den deutsch-amerikanischen Dichtern „eine der ersten, wenn nicht die erste Stelle“ (so schrieb Leimbach schon 1889) eingenommen, erheischt einen stärkeren Nachdruck auf seine poetischen Spenden zu legen. Das Wesentliche seines dichterischen Charakters und Stils haben wir schon neben seinem älteren Bruder kennen gelernt. Ihm, Theodor, den die dänische Restauration nach dem Begeisterungstaumel von 1848/49 und der Verzweiflung von 1850 schärfer am Kragen gepackt hätte, wenn er nicht selber den Platz geräumt, eignet ein energischerer Zug auch in der Muse. Er malt in jenen Kriegsliedern, dann besonders in den Schweizer und amerikanischen Naturbildern, wie sie der zweite Theil der „Adelpha“-Sammlung vorführen, mit kühnerem Griffel, ohne Scheu ins volle Leben hineingreifend. So bewegt sich auch seine dichterische Fernsicht in viel weiterem Rund als die des behaglicher schaffenden, um nicht zu sagen behäbigeren Christian. Theodor’s prächtige, doch niemals schwülstige Naturbilder packen durch ihre Bodenständigkeit und belegen seine angeborene, nicht angelernte Kraft der Phantasie, namentlich im Reichthum der eigenthümlichen Vergleiche. All dies schon in den „Adelpha“-Stücken. Die allein herausgebrachten „Balladen und Neuen Gedichte“, 1883 mit dem unlogischen Titel, zumal Kirchhoff’s episch-lyrische Erzeugnisse gar keine Balladen sind – Ernst v. Wildenbruch’s „Dichtungen und Balladen“ um ein Jahr voran – bekundeten die mannichfaltigen Seiten seines Dichtens nach langen Jahren noch gesteigert. Es wimmelt da von neuen, im Westen eroberten Gegenständen seiner Muse, es mischt sich deutsch-gemüthvolle, nicht selten echt lustige Anschauung mit amerikanischem Kraftbewußtsein, und die Kunst zu schildern erreichte vielfach geradezu Vollkommenheit. Ueberall aber reißt in das Schaffen dieses subjectiven Dichters ein innerer Zwiespalt eine tiefe Kluft, derselbe Zwiespalt, der sein Dasein überhaupt nie ganz anwurzeln ließ: man sieht das am besten, wenn man aus der Sammlung von 1883, S. 87 „California“ und S. 214 „In der alten Heimath“, beide tief empfundene Dichtungen, in Parallele setzt, wie es Leimbach geschickt gethan. So entläßt auch seine letzte poetische Leistung nicht voll befriedigt trotz aller Schönheit der Gedanken und der Form: „Hermann. Ein Auswandererleben. Episch-lyrische Dichtung“ in zwölf Gesängen (1898), ein bewußt unepischer Versuch, die eigenen Lebenserfahrungen und Stimmungen geschlossener festzubannen und zu gestalten, ein höchst bemerklicher eigenartiger Versuch auf einer in jüngster Vergangenheit fast brachen Trift deutscher Poesie. Jene angeführten Weinlieder am Schlusse seines Schwanengesangs, anmuthige Verse neben flüssiger Prosa, zeigen noch einmal den frohsinnigen Dichter, wie er dem gewandten Culturschilderer die Hand reicht, und diese beiden machen uns seine Schriften ebenso sympathisch wie den braven Menschen und ehrlich sich hingebenden Deutschen. Als solchen hat Theodor K. auch sein Lebtag mit Ehren seinen Mann gestellt.

Will man die volle Echtheit der poetischen Erzeugnisse Th. Kirchhoff’s ermessen, so halte man sich auch das Urtheil eines langjährigen Beobachters vor, seines Freundes und Altersgenossen, des deutsch-amerikanischen Arztes Dr. Gustav Brühl („Kara Giorg“) in Cincinnati, in der „Deutsch-amerikanischen Dichtung“ (s. u.). Er nennt sie „Perlen, am Strande der pacifischen Küste aufgelesen, Goldkörner im Sande der Cordillerenbäche gesammelt, Südfrüchte von den Blüthenbäumen der Tropen gepflückt. Sie verrathen eine scharfe Beobachtungsgabe, die auch im Detail spannend bleibt und für die Eindrücke der überwältigend großartigen Natur, wie die Neue Welt sie bietet, [165] die frische, lebendige Darstellung und farbenprächtige Form findet. Herrlich sind in dieser Beziehung die Mississippi-Panoramen und ,Der Mantel des Mount Davison‘. In manchen Liedern, wie in ,Verloren‘, ‚M. A.‘, ,Meinem Vater‘, verräth sich ein tief empfindendes Gemüth – ein Gemüth, das den herben Schmerz um die verlorenen Geliebten in wehmüthigen Accorden aushaucht, während in anderen ein köstlicher Humor sprudelt. In den Gedichten der früheren Zeit findet sich nur selten ein epischer Anklang; in seinen neueren jedoch hat er sich der Bearbeitung von Balladen und Sagen mit größtem Erfolge zugewandt; wie z. B. im ‚Felsbild im Yosemitethale‘, ‚Heldin von Husum‘, ,Gräber am Donnersee‘ u. a. G. A. Zimmermann’s breit angelegtes Handbuch (s. u.) rechnet Th. K. nebst E. A. Zündt (s. A. D. B. XLV, 486) als Dichter „denen wir Vieles vom Besten verdanken, das die deutsch-amerikanische Lyrik überhaupt aufzuweisen hat“.

Am ausführlichsten und gründlichsten unterrichtet bisher über beide Brüder K. L. Leimbach, Die dtschn. Dichter der Neuzeit u. Gegenwart IV (1889), S. 442–45, Proben S. 445/65, mit guter Bibliographie, der jedoch all die Cultur- und Reisebilder Theodor’s nur in der Bibliographie berücksichtigt; Leimbach stützt sich mit auf Frz. Brümmer, Lexik. d. dtsch. Dichter u. Pros. d. 19. Jhrhs. 5 I, 286 f. u. 549. Dann auf Niedersächs. Dichterbuch, hrsg. (1889) von Rud. Eckardt usw. (s. auch dessen Lexik. d. niedersächs. Schriftsteller, 1891, S. 103). Ausführlich Ed. Alberti, Lex. der Schlesw.-Holst. Schriftsteller v. 1866–82 I, S. 380–84. Ueber Th. K.: Der Dichter vom goldnen Thore (d. i. Th. K.) von Kara Giorg (s. o.), Deutsch-Amerikanische Dichtung, hrsg. von Konr. Nies u. Hrm. Rosenthal, New-York, 2. Jhrg., H. 1, 15. April 1889; Vgl. auch G. A. Zimmermann, Deutsch in Amerika I (1892), S. 112 f. (Bildniß) u. XXXIX (Biographie u. Charakteristik nach Gust. Brühl), S. 113–120 (episch-lyrische Proben). – Lebensabriß Theodor’s, mit Erwähnung Christian’s, Meyer’s Convers.-Lex. 5 X, 167 (ebd. XIX, 558, falsch 10. März als Todesdatum). – Nachrufe auf Theodor auch: von O. v. L(eixner) i. d. Dtsch. Roman-Ztg. 1900, Nr. 35, 647, Das litterar. Echo I, S. 863; von W. Wolkenhauer i. Biograph. Jhrb. u. Dtsch. Nekrolog IV, 237 (ohne jede Kenntniß des Dichters, genau wie seine Quelle Geograph. Jhrbch. XXII, 445!), sowie viele dankbare warme Nachrufe in der deutschen – europäischen wie amerikanischen – Presse (s. Vornotiz vor „Allerhand Heiteres“). – Ueber Christian hat sein Amtsgenosse E. Schlee zu Altona im Jahresbericht über die Fortschritte der klass. Alterthumswissenschaft 1896, S. 45–48 einen genauen authentischen Nekrolog (mit Biographie) gegeben, wohl den einzigen, der Ch. Kirchhoff’s philologische Arbeiten erwähnt und bespricht.