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Artikel „Jessen, Peter Willers“ von Melchior Josef Bandorf in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 786–787, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jessen,_Peter&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 04:47 Uhr UTC)
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Jessen: Peter Willers J., Irrenarzt, geb. am 13. September 1793 zu Flensburg, studirte an der Universität Berlin Medicin, wo besonders Horn und Heim eine nachhaltige Einwirkung auf ihn ausübten. Ehe er noch in Kiel zum Doctor promovirt worden war (Dissertatio: De Digitalis purpureae viribus usuque medico, 1820), war er schon zum Arzt der neu errichteten Irrenanstalt zu Schleswig, welche 1820 vollendet wurde, ernannt. 1832 erhielt er den Charakter als Professor. Nach 25jährigem Wirken legte er seine Stelle nieder. Um die Wirksamkeit Jessen’s in der Anstalt richtig zu beurtheilen, muß man den damaligen Stand der Psychiatrie berücksichtigen; J. gebührt unter anderm der Ruhm, schon vor länger als 40 Jahren den unberechenbaren Schaden, welchen die damals fast allgemein angewandten Zwangsmaßregeln den Kranken zufügten, erkannt zu haben. Schon im J. 1828 beantragte er den Ankauf größerer Ländereien, um die Kranken im Freien mit landwirthschaftlichen Arbeiten beschäftigen zu können. Der Drehstuhl, Zwangslager und Stühle, welche als unbedingt erforderliche Requisiten gleich bei Errichtung der nach einem Plan des berühmten Esquirol[WS 1] erbauten Anstalt beschafft waren und noch heute als traurige Andenken auf der Anstalt bemerkt werden, sind von ihm kaum angewandt, da er bald erkannte, daß zweckmäßige Beschäftigung, gehörige Classificirung und möglichste Freiheit als Beruhigungsmittel weit vorzuziehen wären, welche er lange vor Griesinger’s Reformvorschlägen anwendete und welche nach seinem Vorgange noch heute zum Wohle der unglücklichen Kranken und zur Beruhigung des Publikums, dessen Scheu vor der Irrenanstalt mehr und mehr schwindet, angewandt werden. Wenn J., dessen wissenschaftliche Ausbildung, persönliche Liebenswürdigkeit und angenehme gesellige Formen ihm viele Freunde erwarben und allgemeine Anerkennung fanden, nach 25jähriger Wirksamkeit seine Stellung aufgab, mögen theils Familienrücksichten, theils die, mit der starken Zunahme der Krankenzahl der Anstalt, welche in den 25 Jahren von Anfangs 90 bis auf 406 gestiegen war, wachsende Last der Geschäfte, welche ihm wenig Zeit zur wissenschaftlichen Beschäftigung ließ, ihn dazu vermocht haben. Als College beliebt, war er der hochverehrte Begründer und Leiter des seit 1832 bestehenden Vereins der Aerzte Schleswigs, den er durch geistreiche Vorträge belebte.

Am 1. October 1845 eröffnete J. eine von ihm gegründete Privatirrenheilanstalt bei Kiel, welche er in dankbarer Erinnerung an seine Lehrer Horn und Heim „Hornheim“ benannte, und wo er wissenschaftlich und praktisch thätig war, bis zu seinem am 29. September 1875 erfolgten Tode. Für seine erfolgreiche praktische Wirksamkeit spricht der blühende Stand dieser Anstalt und das ihr allseitig entgegengetragene Vertrauen, welches kaum vorübergehend erschüttert schien, als J. in den Jahren 1861 und 1862 die kränkendsten Angriffe erlitt. Auf die Aussagen zweier Wahnsinnigen hin beschuldigte man ihn, daß er sich hätte dazu erkaufen lassen, einen Genesenen unter dem Vorwande fortdauernder Geisteskrankheit in seiner Heilanstalt zurückzuhalten, ja daß er sogar versucht hätte, eine seiner Obhut anvertraute Kranke zu vergiften. In einer würdig gehaltenen Schrift „Das Asyl Hornheim, die Behörden und das Publikum“, 1862, legte er den Sachverhalt einfach dar und benutzte zugleich die naheliegende Gelegenheit, um die Ansichten des Publikums über Geisteskrankheiten und Irrenanstalten soweit thunlich zu berichtigen. An seine Collegen richtete er die Aufforderung, so viel als möglich dahin zu wirken, daß so schmählichen Verläumdungen von Irrenärzten und -anstalten endlich einmal eine Schranke gesetzt werde, indem sie beitragen sollen, richtigere Begriffe über Geisteskranke [787] und Anstalten allgemein zu verbreiten. Schon im J. 1846 hatte er in der allgemeinen Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte zu Kiel einen mit großem Beifall aufgenommenen Vortrag gehalten, in welchem er die Versammelten dazu aufforderte, die Irrenärzte in dem Bestreben zur Vernichtung der Vorurtheile zu unterstützen, wodurch das Schicksal der Geisteskranken so sehr erschwert werde. Ueberhaupt entfaltete J. eine rege, auf das Allgemeine gerichtete Thätigkeit, er war Mitredacteur der Zeitschrift für krankhafte Seelenzustände und Mitarbeiter an verschiedenen Journalen, besonders auch der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie. An den Versammlungen der deutschen Naturforscher und Aerzte, sowie des Vereins der deutschen Irrenärzte, nahm er fleißig Antheil, wiederholt wurde er in die Vorstandschaft des Vereins berufen und öfters präsidirte er den Sitzungen. In verschiedenen wichtigen Fragen, zu denen der Verein Stellung nehmen mußte, wurde ihm das Referat übertragen, so bei den Vorschlägen zur Irrengesetzgebung, bei den Thesen zur gerichtlichen Psychiatrie und bei der Aufstellung der gesetzlichen Bestimmungen in Beziehung auf die Aufnahme von Geisteskranken in Irrenanstalten. Jessen’s wissenschaftlicher Standpunkt in der Psychiatrie ist zunächst der seines Lehrers Horn, dabei wandte er sich aber mit Vorliebe dem Gebiete der Psychologie zu, welche er als ärztlichen Wissenschaftszweig zu begründen suchte. Sein erstes Werk sind die „Beiträge zur Erkenntniß[WS 2] des psychischen Lebens im gesunden und kranken Zustande“, 1831. Hier suchte er durch nähere Entwicklung und Fortbildung der von Charles Bell[WS 3] gemachten Entdeckungen über das Nervensystem nachzuweisen, daß nicht blos die Muskeln durch einen Nervenkreis mit dem Gehirn verbunden wären, sondern alle Nerventhätigkeit vermittelst eines Kreislaufes zu Stande komme; daß alle menschlich-psychische Thätigkeit an einen entsprechenden Kreislauf gebunden sei; daß die Duplicität des Nervenlebens sich im psychischen Leben wiederhole; daß endlich die psychische Thätigkeit, wie alles Leben, durch ein Entfalten des ursprünglich Einfachen zum Entgegengesetzten und durch das Bestreben des Entgegengesetzten nach Wiedervereinigung entstehe. Den Anschauungen vom Kreislauf der Nerventhätigkeit und der Ideen sowie von der Duplicität des Seelenlebens begegnen wir wieder in erweiterter Form in dem 1855 erschienenen „Versuch einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie“, in welchem das Seelenleben im Allgemeinen und speziell das menschliche und zwar im wachenden und träumenden Zustande behandelt wird. Auf empirischem Standpunkte fußend ist das Werk reich an treffenden Urtheilen und lehrreichen Erörterungen, besonders wenn das pathologische Seelenleben abgehandelt wird. Auf der Naturforscherversammlung zu Hannover (1865) hielt er einen sehr anregenden Vortrag über doppeltes Bewußtsein, sowie über Störung und Verlust der Sprache, ein dritter (Ueber das Verhältniß des Denkens zum Sprechen) wurde zurückgezogen und erschien im Druck in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XXII, pag. 352. Ebenda wurden (Bd. XXVI, pag. 1) „Gedanken über den Sitz des Gemüthes oder die Funktionen des kleinen Gehirns“ veröffentlicht. Anläßlich des 50jährigen Doctorjubiläums seines Freundes Flemming[WS 4] (15. December 1871) widmete er diesem seine „Physiologie des menschlichen Denkens“, in der er an der Grenze eines langen thätigen Lebens die Resultate seiner Forschungen auf diesem Gebiete niederlegte.

Callisen, medic. Schriftstellerlexikon, Bd. IX, pag. 442 und XXIX, pag. 152. J. Rüppell, Summar. Bericht über die Irrenanstalt bei Schleswig, den Zeitraum von 1820–1870 umfassend. Hamb. 1872. 4°.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840), französischer Psychiater.
  2. Vorlage: Erkenniß
  3. Sir Charles Bell (1774–1842), schottischer Anatom und Physiologe.
  4. Carl Friedrich Flemming (1799–1880), deutscher Psychiater