ADB:Hille, Christoph Werner (2. Artikel)

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Artikel „Hille, Christoph Werner“ von Wilhelm Naudé in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 330–332, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hille,_Christoph_Werner_(2._Artikel)&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 00:07 Uhr UTC)
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Hille: Christoph Werner H.[WS 1], unter dem Beamtenthum Friedrich Wilhelm’s I. von Preußen eine der markantesten Persönlichkeiten, auf dessen Wirken zuerst Ranke hingewiesen, dann in noch eingehenderer Weise Schmoller und Koser. Ueber das Geburtsjahr und die Jugendzeit Hille’s wissen wir nicht das geringste; nach einem Bildniß des Mannes ist noch neuerdings vergebens geforscht und gesucht worden (vgl. Petersdorff, Friedrich der Große, 1902, Vorrede S. IV). H. tritt uns zum ersten Mal in bedeutsamer Stellung entgegen als Steuerrath in Frankfurt a. O., wo er seit 1717 eine neue Epoche städtischen Lebens, Handels und Wandels herbeiführte, der Stadt, den Messen, ja auch der Universität mit großem Erfolge vorstand, unbeirrt von den fiscalischen Künsten der Zeit die Verwaltung führte und die Messen dadurch in die Höhe brachte, daß er dem Handel möglichst geringen Zwang anthat und selbst falsche Angaben der Fremden bei der städtischen Accise durchließ, um nur nicht von dem Besuche des neben Leipzig und Breslau kühn aufstrebenden Handelsplatzes abzuschrecken. H. war dann in die Cüstriner Kammer als Kammerdirector eingetreten, und er hat bis zu seinem Tode, 1740, bedeutenden, ja nicht selten ausschlaggebenden Einfluß auf die auswärtige und die innere Handels- und Gewerbepolitik des preußischen Staates geübt; seine Stimme wog in diesen Dingen weit mehr als es sein Rang würde vermuthen lassen. In den handelspolitischen Kämpfen und Reibungen zwischen Stettin und Frankfurt, die, aus Jahrhunderte langer Verfeindung beider Städte herrührend, auch in die Zeit Friedrich Wilhelm’s I. noch so bedeutsam hineinspielen, hat H. als der Wortführer der Frankfurter Interessen leidenschaftlich Partei ergriffen; gegenüber den Versuchen der Oesterreicher und Schlesier, Antheil am Oderhandel zu gewinnen, freie Fahrt in die Ostsee zu erreichen, war es H., der die jahrelangen Bestrebungen des österreichischen Gesandten in Berlin, des Grafen v. Seckendorff in handelspolitischer Beziehung durchkreuzte, hingegen freilich seine weitergehenden Absichten des offenen Zollkrieges mit Oesterre1ch bei [331] Friedrich Wilhelm I. 1728 nicht durchsetzte. Während H. Oesterreich gegenüber zum Handelskriege entschlossen war, rieth er umgekehrt Sachsen gegenüber zu einem Handelsvertrag, und er hat als preußischer Bevollmächtigter 1728 jenen preußisch-sächsischen Handelsvertrag in Leipzig geschlossen, der, auf sechs Jahr geschlossen, dann stillschweigend verlängert in der Hauptsache bis 1748 bezw. 1755 in Geltung war und den Verkehr beider Staaten mit einander sehr erleichterte. Bei den handelspolitischen Berathungen über die preußisch-polnischen Handelsbeziehungen 1724 und 1734/35 hat H. zu einer milden Praxis hinsichtlich der auf dem polnischen Getreide ruhenden preußischen Einfuhrzölle gerathen und hat – im Gegensatz zu den in Berlin herrschenden Anschauungen – den polnischen Transithandel durch Preußen zu heben gesucht. Im J. 1727 ist auf Hille’s Antrieb die Beseitigung der Zollschranken erfolgt, die der sog. neue Kornzoll bisher in dem Complex der mittleren Provinzen Preußens aufgerichtet hatte: es war eine der bedeutsamsten Etappen auf dem Wege der Verschmelzung der mittleren Provinzen Preußens zu einem festen Staatsganzen, zu einem einheitlichen Handelsgebiet, in dem Augenblicke, wo die scharfe handelspolitische Absperrung und Absonderung gegen das Ausland ihren Höhepunkt erreichte.

Auch in Handwerks- und Gewerbesachen war H. nahezu die erste Autorität damals in Preußen. Immer wieder wird er von Berlin aus um sein Gutachten ersucht; er ist die treibende Kraft für das deutsche Reichsgewerbegesetz von 1731, und in der von ihm so eifrig geförderten preußischen Innungsreform glaubte H. eine Art innerer Freizügigkeit und Gewerbefreiheit erreicht zu haben. H. erscheint unter den Beamten Friedrich Wilhelm’s I. nicht nur als einer der fähigsten, sondern auch als ein Mann von selbständigem Urtheil, der nach eigenen Ideen denkt und handelt und in seinen Reformplänen seiner Zeit oft weit vorausgreift. Nicht selten ist er in Widerspruch mit den herrschenden Anschauungen und mit der von Berlin aus dictirten Politik. Alles in allem erscheint er als ein entschiedener Anwalt der kaufmännischen und industriellen Interessen des Landes; aber nicht frei von einer stark localpatriotischen Färbung zu Gunsten seiner eigensten Schöpfung, der Stadt Frankfurt. Nach dem Urtheil des Kronprinzen Friedrich von eingefleischtem Adelshaß, hatte H. jedenfalls für die agrarischen Interessen des Landes bei weitem nicht das Verständniß und die Vorliebe wie für die mercantilen und die industriellen Interessen; und wenn Friedrich Wilhelm I. ein Industrie und Landwirthschaft gleichmäßig förderndes Solidarschutzsystem befolgte, so hat umgekehrt H. Industrie und Exporthandel zur Basis der Wirthschaftspolitik Preußens machen wollen.

1730 und 1731 ist H. in Küstrin der Lehrer des Kronprinzen in der Staatswirthschaft gewesen; und seine Vorträge über preußische Handelspolitik haben damals großen Eindruck auf seinen jungen reichbegabten Hörer gemacht: die Denkschrift, die Friedrich 1731 niederschrieb: „Plan wegen des Commercii nach Schlesien“ (Oeuvres de Frédéric le Grand 27, 3. 35 ff.) spiegelt ganz die Gedankenwelt Hille’s wieder. H. besaß, nach dem Urtheil des Kronprinzen, einen feinen für alles empfänglichen Geist, reiche Kenntnisse, eine große persönliche Liebenswürdigkeit; er war von allgemeiner, auch philosophischer Bildung, und so fand sich Friedrich in den Cüstriner Tagen mit dem Kammerdirector auch auf dem gemeinsamen Boden der litterarischen Bildung und er hat sich selbst in seinen religiösen Anschauungen von ihm damals beeinflussen lassen.

H. kam später von Cüstrin als Kammerdirector nach Stettin; und sofort [332] nach seinem Regierungsantritt hat Friedrich den Mann, an dem er „das eigenartige Genie“ für alle Fragen der Handelspolitik bewunderte, in seine Nähe ziehen wollen: er gedachte ihm die Stellung eines Geheimen Finanzraths in dem am 27. Juni 1740 neu begründeten 5. Departement des Generaldirectoriums für Handel und Gewerbe einzuräumen. Gewiß, daß Hille’s Kenntnisse und Fähigkeiten hier ein neues reiches Feld der Thätigkeit gefunden hätten. Aber der bereits stark kränkelnde Mann lehnte den Posten ab; er starb im October 1740.

Der Einfluß Hille’s auf Friedrich hat dann noch Jahre hindurch nachgewirkt; und die Oderschifffahrtspolitik, die Friedrich nach dem ersten schlesischen Kriege begann, sie ist einerseits von eigenen Entwürfen und selbständigen Neigungen Friedrich’s getragen, daneben aber ist auch der Einfluß unverkennbar dessen, was dem Kronprinzen einst in Cüstrin der Kammerdirector H. immer wieder vor Augen geführt und womit er damals Sinn und Geist des Thronerben erfüllt hatte.

Ranke, S. W. 27, S. 123 ff.; S. 289. – Schmoller, Das Städtewesen unter Friedrich Wilhelm I. (Zeitschr. f. Preuß. Gesch. 1874, S. 529/530); – Schmoller, Die Erwerbung Pommerns und der Handel auf der Oder und in Stettin bis 1740 (Jahrb. f. Gesetzgebung u. s. w. 1884, VIII, 397, 417); – Schmoller, Die preuß. Wirthschaftspolitik im Herzogthum Magdeburg 1680 bis 1786, hauptsächlich das Transitzollsystem (Jhrb. f. Gesetzgebg. u. s. w. 1886, X, 700 ff.); – Schmoller, Das brandenburgisch-preußische Innungswesen von 1640 bis 1800, hauptsächlich die Reform unter Friedrich Wilhelm I. (Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirthschaftsgeschichte, besonders des Preußisch. Staates im 17. u. 18. Jahrhundert, 1898, S. 356 ff.). – Koser, Friedrich der Große als Kronprinz, 2. Aufl. 1901, S. 75 ff., 249 ff.; – Koser, Briefwechsel Friedrich’s mit Grumbkow (Publicationen aus den Preußischen Staatsarchiven, Bd. 72, 1898, S. 9, 69). – Naudé, Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Brandenburg-Preußens bis 1740, 1901 (Acta Borussica, Getreidehandelspolitik, Bd. 2, S. 241, 333); – Naudé, Die merkantilistische Wirthschaftspolitik Friedrich Wilhelm’s I. und der Küstriner Kammerdirector Hille (Histor. Zeitschr. Bd. 90, 1902, S. 1 bis 55). – Abdruck der beiden bisher bekanntesten großen Denkschriften Hille’s: 1) über den Handel der Kurmark 1725 bei Schmoller, Die russische Kompagnie in Berlin 1724–1738 (Zeitschr. f. Preuß. Gesch. 20, 71 ff.), 2) über den polnischen Handelsverkehr 1734 bei Naudé (Acta Bor. Getreidehandelspolitik 2, 445 ff.). – Ueber Hille’s letzte Schicksale unter Friedrich dem Großen: Hintze, Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und der allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II. (Acta Borussica Behördenorganisation VI, 1, 388). – Weiteres Material über Hille passim bei Ludo M. Hartmann, Preußisch-österreichische Verhandlungen über den Crossener Zoll (1901) und bei Wuttke, Die schlesische Oderschifffahrt in vorpreußischer Zeit. Urkunden und Aktenstücke. (Codex diplomaticus Silesiae 1898). – Der Grundriß Hille’s für den Unterricht des Kronprinzen in der Staatswirthschaft: „Kurzer Bericht von dem Finanzwesen in der Neumark und incorporirten Kreise“ ist gedruckt bei Graevell, Drei Briefe über Preßfreiheit und Volksgeist, 1815, S. 131 ff. – Ueber die Oderschifffahrtspolitik Friedrich’s nach dem ersten schlesischen Kriege bringt das nähere der in der Vorbereitung begriffene 3. Band der „Getreidehandelspolitik“ in den Acta Borussica.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Über diese Person existiert in Band 12 ein weiterer Artikel.