ADB:Haxthausen, August Freiherr von
[120] zu Clausthal. Nachdem er unter hannoverscher Fahne den Feldzug an der Elbe und in Dänemark als Freiwilliger mitgemacht und als Cornet verabschiedet worden, bezog er die Universität Göttingen, um Jura zu studiren. Er trat bald in ein näheres Verhältniß zu Blumenbach und Benecke und bildete mit gleichgesinnten Altersgenossen, A. v. Arnswaldt, v. Hornthal, v. d. Osten, Straube u. a. die „poetische Schustergilde“, eine Verbindung, welche deutsche Kunst und Poesie mit romantischem Geiste fördern und pflegen wollte. Aus diesem Kreise ging die Zeitschrift „Wünschelruthe“ hervor, zu der auch A. v. Arnim und Brentano, Benecke und die Brüder Grimm Beiträge gaben. Der liebevolle Sinn für alles Vaterländische und Volksthümliche war in der Familie v. H., die sich durch echt deutsche Gesinnung auszeichnete, schon lange heimisch. Alle Glieder der Familie sammelten eifrig die Reste der alten Volksüberlieferung, Märchen, Sagen, Lieder und Weisen. Durch dieses gemeinsame Interesse knüpfte sich die schöne Freundschaft zwischen ihnen und den Brüdern Grimm, die nur der Tod lösen konnte. Der Antheil der Familie v. H. an der Märchen- und Sagensammlung der Brüder ist ein sehr bedeutender. A. v. H. wollte schon damals die reiche Volksliedersammlung seiner Familie mit ausführlichen Abhandlungen über die einzelnen Lieder unter Mitwirkung der Brüder Grimm, Görres u. A. veröffentlichen. Die Sammlung nahm besondere Rücksicht auf die Musik der Lieder, weil die Volkslieder ohne Melodien Leib ohne Seele seien. Nur die geistlichen Lieder der Sammlung gab H. heraus, von den übrigen erschienen die in Westfalen gesammelten erst zwölf Jahre nach seinem Tode. 1819 kehrte H. nach Bökendorf zurück und machte die agrarischen Verhältnisse Norddeutschlands zum Gegenstande seiner eifrigsten Studien. 1829 erschien als erste Frucht derselben das Buch „Ueber die Agrarverfassung in den Fürstenthümern Paderborn und Corvey und deren Conflicte in der gegenwärtigen Zeit nebst Vorschlägen, die den Grund und Boden belastenden Rechte und Verbindlichkeiten daselbst aufzulösen.“ In der Vorrede gab er das Programm seines ganzen geistigen Strebens, dem er während seines langen Lebens treu geblieben ist: er wollte Fortentwicklung der Agrarverfassung auf historischer Basis, Befreiung des Grundes und Bodens von der Macht des Capitals und in Folge dessen zeitgemäße Regeneration der ständischen Gliederung des Volkes. Auf den Wunsch des damaligen Kronprinzen von Preußen, späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., wurde H. nach Berlin berufen, um seine Ideen praktisch zu verwerthen; er erhielt den Auftrag, die verschiedenen Provinzen Preußens zu bereisen, ihre Agrarverfassung zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten. Die Regierungen waren angewiesen, ihm in jeder Hinsicht behülflich zu sein. Zum Aerger der in sich geschlossenen Bureaukratie, die über seine Bestrebungen spottete, wurde er bald darauf zum Geheimen Regierungsrathe ernannt. Neun Jahre lang bereiste H. die preußischen Provinzen und die angrenzenden Landgebiete und versuchte dann das gesammelte Material wissenschaftlich zu verarbeiten. 1838 erschien der 1. Band des projectirten großen Werkes „Die ländliche Verfassung in den einzelnen Provinzen der preußischen Monarchie“, Ost- und Westpreußen betreffend; der 2. Band, Pommern betreffend, von Padberg überarbeitet, erschien erst 1861, nachdem H. schon mit Pension aus dem Staatsdienste getreten war. Im J. 1842 veröffentlichte H. im Staatsanzeiger über den Ukas vom 2. April 1842 (über die zwischen Gutsherrn und Bauern zu bildenden Contractsverhältnisse) einen Artikel, A. v. H. unterzeichnet, welcher Aufsehen erregte und von der Allgemeinen Zeitung, dem Journal des Débats und der Times nachgedruckt wurde, indem sie A. v. H. in A. v. Humboldt auflösten. Als der Kaiser Nicolaus Humboldt für seinen vortrefflichen Aufsatz seinen Dank aussprechen ließ, wurde die Autorschaft v. Haxthausen’s bekannt und ihm wurde jetzt auf diplomatischem [121] Wege im Auftrage des Kaisers selbst der Antrag gestellt, zur Erforschung der russischen Agrarverhältnisse eine wissenschaftliche Reise durch ganz Rußland zu machen. Die Munificenz Friedrich Wilhelm IV., der ihm vorschußweise für zwei Jahre seine Besoldung auszahlen ließ, gestattete ihm seine Selbständigkeit zu wahren und jede Abhängigkeit von der russischen Regierung zu vermeiden. Er verbat sich jede russische Geldunterstützung und war nur verpflichtet, auf Erfordern direct an den Kaiser höchstpersönlich zu berichten. Im Frühling 1843 trat er seine Reise an, von der er im Sommer 1844 zurückkehrte. Die Ergebnisse seiner Nachforschungen veröffentlichte er in den „Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands“, I. II. Hannover 1847, III. Berlin 1852, und in „Transkaukasien. Andeutungen über das Familien- und Gemeindeleben und die socialen Verhältnisse einiger Völker zwischen dem schwarzen und caspischen Meere“, I. II. Leipzig 1852. Während das erste Werk gleichzeitig in französischer Sprache erschien, wurde das zweite zuerst englisch ausgegeben. Kaiser Nicolaus und die Großfürstin Helene schätzten H. sehr hoch, besprachen mit ihm die russischen Zustände und forderten oft seinen bewährten Rath. In den J. 1847 und 1848 war H. Mitglied des vereinigten Landtags und eine Zeit lang Mitglied der ersten preußischen Kammer. Mit dem Tode seines Gönners Friedrich Wilhelm IV. war alles lebendige Interesse an seinem wissenschaftlichen Erstlingswerke geschwunden. Nachdem H. seine Entlassung genommen, beschäftigte er sich fast nur noch mit kirchlichen Fragen. Mit dem Jesuiten Gagarin, einem früheren russischen Fürsten und Diplomaten, und der Frau v. Swetschine verband er sich, die Wiedervereinigung der griechischen und der römisch-katholischen Kirche herbeizuführen. Zu diesem Behufe unternahm er vielfache Reisen und trat mit bedeutenden kirchlichen Autoritäten in briefliche Verbindung, seine rege Phantasie ließ ihn das Ungeheure des Unternehmens völlig übersehen. Später bemühte er sich vergebens, den Malteserorden zu regeneriren. Den Winter brachte er in großen Städten zu, in Cassel, Berlin und Hannover, während des Sommers übte er in der „Tyrannei“ Thienhausen unumschränkte Gastfreundschaft. In fast vollendetem 75. Lebensjahre starb er in der Nacht des 31. Decembers 1866 an einem Herzschlage zu Hannover in dem Hause seiner Schwester, der Freifrau v. Arnswaldt.
Haxthausen: August Franz Ludwig Maria Freiherr v. H., geboren am 3. Februar 1792 zu Bökendorf im Paderborn’schen als der letzte von acht Söhnen des kurpfälzischen Kammerherrn und Drosten des Amtes Lichtenau, Werner Adolf Freiherrn v. H., Herrn auf Thienhausen, Bökendorf, Abbenburg und Hellersen, und der Freiin Marie Anne v. Wendt-Papenhausen. Er hatte neun Schwestern, von denen drei nach ihm geboren wurden. Erzogen im Hause seines Onkels, des Freiherrn v. Kalenberg, besuchte er von 1808–13 die Bergwerksschule- Franz Ludwig August Maria Freiherr v. Haxthausen. Ein Versuch von Freundeshand. Als Manuscript gedruckt. Hannover 1868. – Freundesbriefe von Wilhelm und Jacob Grimm. Mit Anm. herausgegeben von Al. Reifferscheid. Heilbronn 1878. – Westfälische Volkslieder in Wort und Weise mit Clavierbegleitung und liedervergleichenden Anm. her. von Al. Reifferscheid. Heilbronn 1879. S. VII ff.