ADB:Gregorius a Sancto Vincentio

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Artikel „Gregorius a Sancto Vincentio“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 631–633, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gregorius_a_Sancto_Vincentio&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 14:12 Uhr UTC)
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Gregorius a Sancto Vincentio, Mathematiker, geb. 1584 zu Brügge, † am 27. Januar 1667 zu Gent. In früher Jugend zeigte er durch seine Fortschritte, namentlich im mathematischen Unterrichte, welche Erwartungen sich an seine richtig geleitete Entwicklung knüpfen ließen, und zog dadurch die Aufmerksamkeit des Jesuitenordens auf sich. Es gelang leicht ihn zu gewinnen, und mit 20 Jahren finden wir ihn losgelöst von allen Familienbanden, wie ein Ordensschriftsteller rühmt, als Novizen in Rom den Unterricht des Paters Clavius genießend, dessen Schüler er zugleich mit Christoph Grienberger bis zu dem Tode des Lehrers 1612 geblieben zu sein scheint. Nun kehrte G. nach Belgien zurück, vollendete in Löwen seine theologischen Studien, erhielt 1613 die kirchlichen Weihen, und wirkte als Lehrer der griechischen Sprache an den Jesuitenschulen in Brüssel und Herzogenbusch, dann als Feldgeistlicher bei den in Belgien stehenden spanischen Truppen. Ein Jahr darauf legt er in Courtrai die drei Klostergelübde des Gehorsams, der Keuschheit und der Armuth ab und beginnt jetzt in Antwerpen als Gehülfe des Vaters Aiguillon eine mathematische Lehrthätigkeit, welche seinem Leben den Inhalt geben sollte, und welche in Löwen an dem von der Universität durchaus getrennten Jesuitencollegium zuerst zu einer öffentlichen wurde. Hier stellte er 1619 Thesen auf, die sich auf die Kometenkunde bezogen, wol der erste Fachmann, der durch eine solche Aufstellung die Bestreitbarkeit mathematischer Dinge anerkannte; hier wurde er 1623, eine schon gefeierte wissenschaftliche Größe, zur Profession im Orden zugelassen; hier stellte er die Materialien seines großen Werkes zusammen, welches als „Opus geometricum quadraturae circuli et sectionum coni“ erst 1647 die Presse verlassen sollte, aber 1625 bereits so weit gediehen war, daß der Ruf des unvollendeten Werkes den Wunsch nach dessen Veröffentlichung laut und lauter werden ließ. Der Ordensgeneral befahl G. nach Rom zu kommen, um dort seine Cirkelquadratur in Gemeinschaft mit seinem gelehrten früheren Mitschüler Grienberger einer Durchsicht zu unterziehen. Die beiden Freunde hatten ihre Aufgabe kaum zur Hälfte erfüllt, als gleichzeitig zwei Berufungen an den belgischen Gelehrten ergingen. König Philipp IV. verlangte ihn nach Madrid als Erzieher des jüngeren Don Juan d’Austria, des Sohnes der schönen Schauspielerin Maria Calderon. Kaiser Ferdinand II. bot ihm eine Professur der Mathematik an der Prager Hochschule, welche eben nach Verjagung der der Reformation anhängenden Lehrer den Jesuiten übergeben worden war. Der bedingungslose Gehorsam des Ordens gestattete G. keine Wahl, der General traf dieselbe für ihn. Prag sollte sein Wohnsitz werden. Der friedliebende Gelehrte sollte nach dem Mittelpunkte der Kämpfe sich begeben, welche schon 11 Jahre wütheten, aber doch erst den dritten Theil ihrer zerstörenden Dauer kaum überschritten hatten. Mit einem Umwege über Belgien, welcher vermuthlich den Zweck hatte, die noch dort zurückgebliebenen Manuskripte zur Uebersiedelung zu ordnen, reiste G. an seinen neuen Bestimmungsort. König Philipp ließ nicht nach ihn zur Uebernahme seines [632] Rufes nach Spanien zu drängen, und es scheint, als ob ein neuer Aufenthaltswechsel in’s Werk gesetzt werden sollte, als eine Lähmung bei G. sich einstellte, welche 5 Jahre andauernd das Reisen verhinderte. Ganz geheilt wurde G. überhaupt nicht, und es ist wunderbar genug, daß der angegriffene Körper nach Ueberstehung des schlimmsten Anfalles trotz der gleich zu erwähnenden Ereignisse noch 36 Jahre aushielt und G. das seltene Alter von 83 Jahren erreichen ließ. G. blieb also in Prag. Er mußte die Einnahme der Stadt durch die Sachsen, nachdem Tilly’s Heer in der Schlacht von Breitenfeld im September 1631 vernichtet worden war, mit allen ihren Schrecknissen mitansehen. Während er in der Kirche das Meßopfer darbrachte, zerstörten die Flammen drei stattliche Bände druckreifer Arbeiten über Statik und Geometrie, bevor es einem aufopfernden Freunde, dem gelehrten Theologen Pater Rodericus de Arriago, gelang, unter eigener Lebensgefahr die noch vorhandenen Papiere zu retten. Die Flucht ging nach Wien. Von da sollte G. nach anfänglicher Bestimmung nach Italien sich wenden, aber, erzählt er, „ich kehrte zu meinen Belgiern zurück nicht so gesund, wie ich von ihnen weggegangen war.“ Seine Manuscripte vollends gelangten erst nach weiteren 10 Jahren in Gent wieder in seinen Besitz. Mit dem Eintreffen in Gent hört der bewegte Theil seines Lebens auf. Nur einmal noch wird von einer Lebensgefahr erzählt, in welche G. sich begab, als der Kriegsschauplatz sich wieder nach Flandern zog und er in das spanische Lager eilte, um den Verwundeten die Tröstungen der Religion zu bringen. Damals soll er schwer verwundet worden sein. Auch eine Bekehrung wird von ihm erzählt, indem der in Gent gefangene Marschall v. Rantzau durch ihn vermocht wurde zum Katholicismus überzutreten. Im Uebrigen liegt von jetzt an das Leben des G. in seinen Schriften, deren eine, wie oben gesagt, 1647 in Antwerpen gedruckt wurde, während eine andere: „Opus geometricum posthumum ad mesolabum per rationum proportionabilium novas proprietates“ (Gent 1668) unfertig von dem durch einen Schlagfluß dahingerafften Verfasser zurückgelassen nach seinem Tode erst erschien. Diese nachgelassene Arbeit bezieht sich, wie der Titel schon verräth, auf die Aufgabe der Würfelverdoppelung. Das Hauptwerk würde man ganz falsch beurtheilen, wollte man in ihm nur das sehen, was in den ersten Worten des Titels, die allerdings den landläufig gewordenen Namen bilden, gesagt ist. Der Hauptinhalt des Werkes, seine Bedeutung für die Geschichte der Mathematik, liegt in den letzten Worten des Titels. Oder um uns deutlicher auszusprechen: die Zirkelquadratur des G. ist ein gradeso verfehlter Versuch, wie es die aller anderen Mathematiker waren, welche an die Möglichkeit einer solchen genau auszuführenden Umwandlung glaubten; die Lehre von den Kegelschnitten aber ist eine meisterhafte Arbeit, geradezu ein Lehrbuch der höheren Geometrie aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, und verdient trotz der unbeholfenen und dunkeln Schreibart noch heute studirt zu werden. G. eigenthümlich ist die unter dem Namen Symbolizatio bekannte Vergleichung der Parabel mit der archimedischen Spirale, deren auch Cavalieri aber sicherlich erst später als G., der den Gegenstand schon in Rom in öffentlichen Vorträgen zur Sprache brachte, sich bediente. Die Methode Ductus plani in planum, vermöge welcher G. den Rauminhalt von Körpern zu ermitteln suchte, beruht gleichfalls auf der Zurückführung eines Raumgebildes auf ein anderes von einfacherer Natur, wenn auch gleich vielen Abmessungen. Unter Gregorius’ Entdeckungen ragt besonders der von ihm zuerst bemerkte Zusammenhang der Hyperbelfläche mit den natürlichen Logarithmen hervor. Dem angedeuteten doppelten Charakter des Werkes entsprachen seine Schicksale. Die befugtesten Richter fällten über dasselbe die entgegengesetztesten Urtheile, je nachdem ihre Aufmerksamkeit mehr der einen oder mehr der anderen Abtheilung sich zuwandte. Wenn Descartes mit einer Schroffheit, welche seinem [633] Charakter entsprach, sagte: qu’il ne contient rien de bon qui ne soit facile et qu’on ne pust écrire tout en une ou deux pages. Le reste n’est qu’un parálogisme touchant la quadrature du cercle; wenn Huygens bei Anerkennung des Scharfsinnes des Verfassers eine besondere Abhandlung gegen dessen Quadratur schrieb; so erklärte Leibnitz, daß, als er noch wenig von höherer Geometrie gewußt, ihm durch das Studium der Werke von G. und von Huygens plötzlich ein unerwartetes Licht aufgegangen sei. G. selbst, ein Mann von größter Bescheidenheit und Zurückhaltung, wie seine Schüler ihn schildern, antwortete nicht auf die Angriffe, welche gegen ihn sich erhoben. Dagegen traten Freunde und Ordensgenossen wie Antonio von Sarassa und Franc. Aynscom für ihn ein, und so entstand eine ganze kleine Literatur von Schriften für und gegen G., welche aber mit Ausnahme der Abhandlung von Huygens der Wissenschaft nur geringen Nutzen brachten.

Vgl. Kästner, Geschichte der Mathematik III, 221–266. – Quételet, Histoire des sciences mathématiques et physiques chez les Belges, Bruxelles 1864, pag. 206–221.