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Artikel „Gallus, Johann“ von Egon von Komorzynski in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 245–248, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gallus,_Johann&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 18:15 Uhr UTC)
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Gallus: Johann G., Musiker. Ueber Gallus’ Leben sind uns nur sehr spärliche Nachrichten überliefert. Er soll 1765 als der Sohn eines Organisten in Nimburg an der Elbe geboren worden sein; später taucht er vorübergehend als Capellmeister in Lemberg, Prag und Wien auf; 1781–1782 war er Musikdirector am Theater zu Olmütz, 1794 wirkte er in der gleichen Eigenschaft zu Ofen, 1796 war er in Wien, wo er für den Theaterdirector Schikaneder componirte und auch eine Zeit lang den jungen Grillparzer im Clavierspiel unterrichtete. Später soll ihn eine enge Freundschaft mit Mozart’s Sohn verbunden haben. Ueber Ort und Jahr seines Todes weiß Wurzbach nichts anzugeben; nach Fétis ist er 1830 in Lemberg im Alter von 66 Jahren gestorben.

Ein räthselhaftes Dunkel umgibt das Leben dieses interessanten, für die Musikgeschichte wie für die Entwicklung der Wiener Volksdramatik gleich wichtigen Mannes. Nicht einmal die wahre Gestalt seines Familiennamens steht fest. „Gallus“ war nicht sein eigentlicher Name: nach Grillparzer hätte er „Medaritsch“ geheißen, Wurzbach gibt gar die Varianten: „Mederisch, Medritsch, Meterisch, Medric, Metoritsch“ an. Auf der Handschrift einer Messe, die das Archiv der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde besitzt, heißt er „signore Gallus Metriz“. Fétis gibt in seinem Lexikon als eigentlichen Namen „Megdrzicky“ an. Eine bedeutsame Charakteristik Gallus’ liefert Grillparzer in seiner „Selbstbiographie“, wo er erzählt, daß seine Mutter sich entschloß, einen Clavierlehrer aufzunehmen, und weiter fortfährt: „Leider war meine Mutter in der Wahl nicht glücklich. Sie verfiel auf einen Johann Medaritsch, genannt Gallus, einen, wie ich in der Folge erfuhr, ausgezeichneten Contrapunktisten, der aber durch Leichtsinn und Faulheit gehindert wurde, seine Kunst zur Geltung zu bringen. Bestellte Arbeiten konnte niemand von ihm erhalten, eine begonnene Oper mußte der Capellmeister Winter vollenden, ja, durch einige Zeit in den Diensten des Königs von Polen, ging er jedes Mal zur Hinterthüre hinaus, wenn der Wagen des Königs am vorderen Thore anfuhr, so daß dieser ihn endlich entließ, ohne ihn je spielen gehört zu haben. Um nicht geradezu zu verhungern, mußte er Clavierunterricht geben, obwol es ihm widerlich genug war. Mich gewann er lieb, aber sein Unterricht war eine Reihe von Kinderpossen. Die Finger wurden mit lächerlichen Namen bezeichnet, der Schmutzige, der Ungeschickte u. s. w. Wir krochen mehr unter [246] dem Clavier herum, als daß wir darauf gespielt hätten. Meine Mutter, die gegenwärtig war, begütigte er dadurch, daß er in der zweiten Hälfte der Stunde und oft darüber hinaus phantasirte und fugirte, daß ihr das Herz im Leibe lachte. Statt mir Fingersatz und Geläufigkeit beizubringen, machte es ihm Spaß, mich bezifferten Baß spielen zu lassen, ja einmal componirte er, der faule, sogar für mich ein Concert mit allen Instrumenten, das ich in seiner Wohnung aufführen mußte, bei dem, da ich gar nichts konnte, das Clavier wahrscheinlich nur einzelne Töne und Accorde hatte, indeß die Instrumente das übrige thaten. Für einen Spaß konnte er sich sogar Mühe geben, zum Ernste war er nie zu bringen. Und doch war er kein Spaßmacher, mehr kindisch als scherzhaft“. – Ich habe die Stelle absichtlich hierhergesetzt, weil sie besser als alles andere das seltsame, aus Genie und Kinderei gemischte Wesen Gallus’ kennzeichnet. Was Grillparzer da über G. sagt, erfährt durch eine kritische Betrachtung seiner erhaltenen Compositionen eine werthvolle Ergänzung. 1796 tobte in Wien der heiße Concurrenzkampf zwischen Schikaneder und Marinelli. Beide Directoren eines Volkstheaters, suchten sie einander flink und listig mit neuen Stücken zuvorzukommen. Darum ließ Schikaneder gern neue Opern actweise von mehreren Musikern zu gleicher Zeit componiren; um einheitliche Auffassung war es ihm weniger zu thun wie um die baldige Première. Diese praktische Methode wurde bald von andern nachgeahmt. „Man bauete an diesen Opern wie an einem Hause!“ sagt ein alter Theateralmanach. So ließ Schikaneder auch 1796 den ersten Act seiner eben gedichteten Oper „Babylons Pyramiden“ von G., den zweiten zugleich von Peter v. Winter componiren. Die seltsame Thatsache dieser Doppelcomposition ist keineswegs durch Gallus’ Faulheit zu erklären. G. hat sich im Gegentheil um die ihm gewordene Arbeit ernstlich gekümmert und die phantastischen Ungeheuerlichkeiten Schikaneder’s , darunter ein nächtliches Gewitter im Walde und die Hinrichtung einer Sünderin durch wilde Tiger auf offener Scene hat er mit großer Sorgfalt musikalisch zu illustrieren gesucht. Die auf der Verbindung kindlichen Humors mit unbegrenzt ins Weite strebender Phantasie beruhende Zauberoperette scheint so recht seinem Geschmack entsprochen zu haben. G. hat sich in den verschiedensten Gattungen bethätigt; er schrieb ebensowol Kirchenwerke wie Kammermusik, Singspiele und Opern. Die beiden im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde befindlichen Messen (D–moll für vier Singstimmen, Orgel und kleines Orchester, und C–dur für drei Singstimmen [Sopran, Tenor, Baß], Orgel und großes Orchester) legen von seinem gediegenen theoretischen Können das schönste Zeugniß ab. Beide sind in Anlage und Ausführung streng kirchlich, mit größter Sorgfalt durchgeführt, die Instrumentation klang- und farbenreich, namentlich die Blechbläser mit Verständniß verwendet. Die zwei gleichfalls erhaltenen Singspiele „Der letzte Rausch“ und „Rose“ zeigen uns G. im Fahrwasser Hiller’s und Dittersdorf’s, deren Ton er glücklich getroffen und erneuert hat. Die Form der Musikstücke (Arien, Duette, Terzette und Schlußchor) ist ganz die Hiller’s; das Orchester hat außer dem Streichquartett bloß zwei Hörner und einige Holzbläser. Hier ist es die einfache, durchsichtige Structur der Musik, die uns imponiren muß: G. versteht es so gut, ländliche Einfalt und Schlauheit zum Ausdruck zu bringen und vermag insbesondere seiner Musik einen so schalkhaft-graziösen Charakter zu verleihen, daß wir uns der Wirkung dieser zwei Singspiele nicht entziehen können. – Das interessanteste seiner erhaltenen Werke ist jedoch entschieden eine vollständige Musik (Ouvertüre, Entreacts und Melodramen) zu Shakespeare’s „Macbeth“. Da dieses Werk gewiß das Reichste und Vollendetste in Gallus’ Schaffen repräsentirt, was uns erhalten geblieben ist, [247] so ist ein näheres Eingehen darauf an dieser Stelle gewiß berechtigt. Die Partitur des Werkes (ebenfalls im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde befindlich) zeigt uns zweierlei: zunächst lernen wir aus ihr Gallus’ gewaltiges symphonisches Können, seine Meisterschaft in der Verwendung der Orchesterinstrumente kennen und ferner ist sie ein Zeugniß dafür, daß er es liebte und auch verstand, den seelischen Inhalt einer Dichtung voll auf sich wirken zu lassen und in seiner Musik wieder auszuströmen. G. ist hier in zweifacher Hinsicht Programmmusiker: er malt in Tönen, um Aeußerlichkeiten musikalisch nachzubilden, und er fühlt in Tönen, um Stimmungen, ja sogar Gedankengänge zum Ausdruck zu bringen. Seine Ouvertüre zu „Macbeth“ (Streichorchester, Holzbläser, zwei Trompeten, vier Hörner; dazu noch Trompeten und Trommeln auf dem Theater) setzt mit einem 25 Takte langen Largo in Es–dur ein; gewaltige Orchesterschläge leiten zum Allegro hinüber, das zunächst ruhig verläuft, dann zu einem heroischen Marsch gesteigert wird; zwei Mal noch kehrt das erste Thema wieder, allein jedes Mal wird es von dem immer mächtiger ertönenden Marsch überwältigt und geht endlich in den triumphierend einherbrausenden Klängen des Marsches völlig unter; mit kriegerischem Jubel schließt das Stück. Eine Deutung auf Macbeth’s Kampf gegen das Gewissen und das Schicksal wäre gewiß möglich. Deutlicher aber kommt der seelische Gehalt der vier Zwischenactsmusiken zum Ausdruck. Die erste derselben durchklingt das zaghaft-weiche Singen der Holzbläser, in das ein pochendes Motiv der Streicher sich mischt; kaum kräftiger und energischer geworden, verklingt der Satz schon wieder im Pianissimo. Es ist, als zitterte die bange Stimmung Macbeth’s nach, wie sie sich etwa in den Worten ausspricht: „Wenn es uns nicht gelingt?!“ Das zweite Entreact beginnt mit einem Sforzando-Aufstöhnen des Contrabasses; voll Verwirrung bebt es in den Streichern und Holzbläsern empor bis zu einem gellenden Fortissimo-Accord. Unablässig wechseln von da an ff. und pp. mit einander ab; abgehackte, schluchzende Töne der Streicher, Clarinetten und Fagotte vervollständigen das schauerliche Bild gräßlicher Seelenangst. Ohne Zweifel soll uns das Musikstück Macbeth’s Gefühle während der Tafel, an der Banquo’s Geist sitzt, schildern. Dem vom vollen Orchester ausgeführten Presto, das den vierten Act einleitet, geht eine düstere „Introduzione“ voran: 34 Takte hindurch erschallen pp. die Wirbel von fünf auf e, g, es, b und as gestimmten Pauken, darüber die langgezogenen Klänge von vier Hörnern. Das Vorspiel zum fünften Aufzug bringt nach einer warm empfundenen Einleitung ein kriegerisches Vivace, das wohl auf den Schluß des Dramas hindeutet. – Ebenso wirkungsvoll, wenn auch von anderer Art, sind die in das Drama eingestreuten Musikstücke. Die Chöre und melodramatischen Scenen der Hexen sind tonmalerisch hochinteressant. Orchestereffecte der verschiedensten Art finden sich da, vom einfachen Tremolo der Streicher bis zu den verwickeltsten Aufgaben für die Holzbläser. Namentlich durch Flötenläufe sucht G. gern zu wirken und am Beginn des vierten Aufzugs ahmt er das Miauen des Katers durch chromatische Läufe der Violinen, den Ruf des Uhus durch einen absteigenden Gang des Violoncells, das Froschgequake durch das Fagott, das Bockgeschrei durch ein Oboe-Solo glücklich nach. Der vierte Act enthält außerdem einen prächtigen Hexentanz, einen schauerlich mit Hörnern, Fagotten und Pauken einsetzenden Geistermarsch und einen Schlußmarsch bloß von Blasinstrumenten (Oboen, Clarinetten, Fagotte, vier Hörner und Piccoloflöte). – Lassen sich die angeführten, gewiß tief durchdachten Entreacts recht wohl mit Agricola’s ganz der Dichtung angepaßter Musik, von der Lessing in der hamburgischen Dramaturgie spricht, mit Mozart’s [248] programmatischen Zwischenactsmusiken zu Gebler’s heroischem Drama „Thamos, König in Aegypten“, ja selbst mit Beethoven’s Egmont-Musik vergleichen, so ist es anderseits leicht ersichtlich, daß G. mit besonderer Vorliebe bei den Geistererscheinungen und dem Hexenspuk verweilt und daß er all seine Originalität am liebsten in den Dienst einer halb humoristischen Kleinigkeit, wie das Nachahmen der Thierstimmen, stellte. Dabei zeigt uns seine Instrumentation im allgemeinen, welch ein feiner Kenner des Orchesters er war. Bei ihm verschmelzen schon die Klänge der Streicher und die der Bläser zu einer großen Gesammtheit; die Hörner sind selbständig verwendet, die Holzbläser zu entzückenden Solostellen gebraucht, die Pauken völlig aus ihrer sonstigen polternden Sklaverei erlöst. – Schon diese Macbeth-Musik allein sollte G. einen unvergessenen Namen für alle Zukunft sichern. Es ist schade, daß von seinen symphonischen Werken sonst nichts erhalten ist. Eine Symphonie in C–dur, von der man bisher nichts wußte, habe ich in einer Ankündigung des Musikalienhändlers Johann Träg in der „Wiener Zeitung“ vom 7. Juli 1792 angezeigt gefunden. Jedenfalls hat die Nachwelt gesündigt, da sie den genialen Künstler in Vergessenheit versinken ließ. Schon seines Einflusses auf seinen Schüler Grillparzer wegen, den er in der Neigung zum Volksthümlichen, Wunderbaren, Gespenstischen und Unbegreiflichen gar wohl bestärkt haben mag, muß sein Name bekannt und geachtet bleiben.

Wurzbach XVII, 242 ff. – Fétis VI. 51 f. – Eitner VI, 416 f. – „Die Zeit“ (Wiener Wochenschrift) 1903, Nr. 433. – E. v. Komorzynski, Emanuel Schikaneder. Berlin 1901, S. 146 f.