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Artikel „Fliedner, Theodor“ von Georg Fliedner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7 (1878), S. 119–122, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Fliedner,_Theodor&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 19:12 Uhr UTC)
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Fliedner: Dr. Theodor F., Begründer des evangelischen Diaconissenwesens, geb. am 21. Jan. 1800 zu Epstein in Nassau, † am 4. Oct. 1864 zu Kaiserswerth. In einem kinderreichen, armen, aber gastfreien Pfarrhause verlebte er die erste Jugendzeit. Durch seinen Vater, einen Mann von sehr gemeinnützigem Sinn, wurde schon in dem Knaben der Vorsatz angeregt, für Anderer Wohl zu leben. Das Kriegsjahr 1813 brachte die Familie in äußerste Noth, das Haus wurde geplündert, der Vater starb am Lazarethtyphus, aber Frankfurter Freunde vergalten der hülflos dastehenden Wittwe die früher genossene Gastfreundschaft dadurch, daß sie die Erziehung der acht unmündigen Kinder übernahmen. Mit einem älteren Bruder zusammen, bezog F. 1814 das Gymnasium in Idstein, von 1817 an die Universitäten Gießen und Göttingen, 1819 das Predigerseminar in Herborn. Die nothwendigen äußersten Entbehrungen hemmten weder Jugendfrische, noch Wanderlust. Obgleich Mitglied der deutschen Burschenschaft, verhielt er sich kühl gegen die politischen Bestrebungen. 1820, nach bestandenem theologischen Examen, kam er als Erzieher in ein reiches, fein gebildetes Kaufmannshaus in Köln. Fast gegen seinen Willen in den Dienst der rheinischen Kirche gezogen, wurde er, kaum 22 Jahre alt, Pfarrer an der kleinen Gemeinde in Kaiserswerth. Der Untergang derselben schien unvermeidlich, weil alle Existenzmittel fehlten. Das trieb ihn auf die ersten Collectenreisen in die benachbarten protestantischen Städte, dann 1823 nach Holland, 1824 nach England. Der Zweck seiner Reise, Gewinnung eines ausreichenden Kirchencapitals, war erreicht, aber für ihn selbst unendlich viel mehr. Die altbewährten Ordnungen der holländischen reformirten Kirche, vor allen das in den Londoner Mai-Versammlungen frisch pulsirende kirchliche Leben, welches damals in England in seiner ersten Kraft stand, hatte dem in verstandesmäßig gerichteten Kreisen Aufgewachsenen ein Licht über die schöpferische und heilende Kraft des lebendigen Christenthums aufgehen lassen. Der jugendliche Drang, zu [120] helfen, wo und wie er könne, gewann bestimmte Ziele. Durch die Bestrebungen der Elisabeth Fry war sein Auge auf die schauderhafte Lage der Gefängnisse gerichtet worden, in denen schwere und leichte Verbrecher ohne Scheidung, Arbeit und religiöse Pflege zusammengepfercht waren. Nachdem seine durch erbarmende Liebe gestählte Energie die gewaltigen Anfangsschwierigkeiten überwunden hatte, richtete er Ende 1825 den ersten evangelischen Gefängnißgottesdienst in Düsseldorf ein. Zwei Jahre lang wanderte er zu diesem Zwecke alle 14 Tage Sonntag Nachmittags zu Fuß nach Düsseldorf. 1828 wurde hier der erste Gefängnißgeistliche angestellt, von der, durch Fliedner’s Bemühungen gegründeten rheinischwestfälischen Gefängniß-Gesellschaft, welche die Anregung und das Vorbild für zahlreiche ähnliche Vereine in und außerhalb Deutschlands geworden ist. Die zuerst widerwilligen oder bedenklichen Behörden wurden nach und nach thatkräftige Förderer der Bewegung. Im Auftrag dieser Gesellschaft, deren Seele F. jahrelang blieb, besuchte er die Gefängnisse Rheinlands und Westfalens (1826), Hollands (1827), Englands und Schottlands (1832) und trat dabei in nähere Beziehung zu vielen hervorragenden Persönlichkeiten des In- und Auslandes (Oberpräsident v. Vincke, Minister v. Stein, Wilberforce, Elisabeth Fry etc.). Sein Blick in die tiefen Schäden des Volkslebens erweiterte sich und brachte ihn zu der Erkenntniß, daß rettende und bewahrende Liebe, durch freie Vereine und Anstalten geübt, dem Strome des Verderbens entgegentreten müsse. Das ist der Boden, auf dem die Kaiserswerther Liebesanstalten erwachsen sind.

Für entlassene weibliche Gefangene wurde 1833 ein Asyl und Magdalenen-Stift senfkornartig in dem kleinen Lusthause des Pfarrgartens angefangen, welches bis heute über 700 Gesunkene aufgenommen und etwa ein Drittel derselben einem rechtschaffenen Leben wiedergewonnen hat. Die Fürsorge für die kleinsten Kinder des Arbeiterstandes erschien nothwendig, um das sittliche Verderben an der Wurzel zu fassen. 1835 regte er die Gründung der ersten deutschen Kleinkinderschule in Düsseldorf an. 1836 folgte die Eröffnung der Kleinkinderschule in Kaiserswerth (wieder im kleinen Gartenhause), verbunden mit einer Bildungsstätte für christliche Kleinkinder-Lehrerinnen. Daraus erwuchs bald das Lehrerinnen-Seminar, in welchem nicht allein für Kleinkinderschulen, sondern auch für den Unterricht an Elementar- und höheren Mädchenschulen bis zum J. 1877 1450 Lehrerinnen ausgebildet sind.

Auch die meisten Krankenhäuser waren damals in einem traurigen Zustand. Längst hatte F. erkannt, daß für sie, sowie für den Dienst an Armen und Kranken in Familien und Gemeinden, opferwillige Kräfte, und zwar weibliche Kräfte, Noth seien, und lebhaft hatte er den von Anderen, so auch von Stein, ausgesprochenen Gedanken erfaßt, daß ein kirchliches Amt für Frauen, eine weibliche Diaconie geschaffen werden müßte, wie sie in der ersten apostolischen Zeit, hie und da auch im Reformationszeitalter, vorhanden gewesen. Gleichzeitig erkannte er die Nothwendigkeit einer Bildungsstätte, in welcher die geeigneten Personen für das gesammte Gebiet weiblicher Liebesthätigkeit: Armen-, Kranken-, Kinder- und Gefangenpflege, ausgebildet würden. Nach vergeblichen Versuchen, eine solche an anderen Orten und durch andere Männer ins Leben zu rufen, entschloß er sich 1836, in dem kleinen, überwiegend römisch-katholischen Kaiserswerth, ein Haus für ein Kranken- und Diaconissenhaus zu erwerben. Mangel an Geld, Widerspruch von Freund und Feind, alles wurde von seiner liebewarmen Thatkraft überwunden. Am 13. Oct. 1836 wurde das erste Diaconissen-Mutterhaus in ärmlichster Gestalt eröffnet. Bald fand der Gedanke fern und nah lauten Anklang. König Friedrich Wilhelm IV. wandte dem Werk seine warme Theilnahme zu; große und kleine Gaben wurden gesandt, Kranke und Pflegerinnen mehrten sich; schon 1838 ward sein Wunsch, Kaiserswerther Diaconissen als Dienerinnen evangelischer Gemeinden auszusenden, erfüllt. Die Eröffnung [121] eines Mädchenwaisenhauses (1842) vervollständigte den Kreis von Anstalten, in welchen jene vierfache Thätigkeit erlernt und geübt werden konnte.

Bis dahin war Fliedner’s erste Gattin, Friedrike geb. Münster, seine eifrigste und verständnißvollste Mitarbeiterin gewesen. Gleich nachdem ihr Lieblingsgedanke, ein Waisenhaus zu gründen, erfüllt war, wurden durch ihren Tod die Anstalten, wie ihre 3 überlebenden Kinder zu Waisen. Ein Jahr darnach fand F. in Caroline Bertheau den vollen Ersatz für Herz, Haus und Amt. Bis 1849 führte er, neben dem immer wachsenden Anstaltswerk, sein Amt in der Ortsgemeinde fort. Nach Niederlegung desselben wurde seine ganze ungewöhnliche Arbeitskraft für Pflege und Ausbreitung der Diaconissensache frei. Correspondenz und häufige Reisen, durch welche er gleichzeitig die Beschaffung der nöthigen Geldmittel und das Bekanntwerden der Diaconissensache erstrebte, brachten ihn in Verbindung mit gleichgesinnten Männern in Straßburg, Paris, der Schweiz, Holland und Nordamerika; auch in Deutschland entstand durch seine Anregung und Mitwirkung ein Diaconissenhaus nach dem anderen. Durch Bischof Gobat in Jerusalem veranlaßt, durch den König kräftig unterstützt, begann er 1851, mit der Gründung des Diaconissenhauses in Jerusalem, die Diaconissenmission im Morgenlande, welche von Anfang an sowol Krankenpflege, als Erziehung der verkommenen weiblichen Jugend erstrebte. Bis zum J. 1856 schaffte er mit ungebrochener Kraft, obgleich er außerordentlich oft, aber immer nur auf kurze Zeit, von lebensgefährlichen Krankheiten niedergeworfen wurde. Wegen eines ernsten Lungenleidens mußte er den Winter von 1856 auf 1857 in Cairo zubringen. Der Erfolg blieb aus. Die Visitation der damals schon bestehenden Anstalten in Jerusalem, Smyrna und Constantinopel, schien seine letzten Kräfte zu verzehren. Wie ein Todescandidat kam er zurück, durch sorgsamste Pflege, Wohnen im Kuhstall etc., mußte sein Leben gefristet werden. Reisen durfte er nicht mehr machen, aber von seinem Studirzimmer aus leitete und erweiterte er das wunderbar gesegnete Werk. Das durch Muhamedaner angerichtete Blutbad unter den syrischen Christen im J. 1860 war die Veranlassung zur Gründung der Beiruter Anstalten (Waisenhaus, Pensionat und Johanniter-Krankenhaus). Nach dem 25jährigen Jubiläum der Kaiserswerther Anstalt (1861) versammelten sich um ihn die Vertreter der in fast allen evangelischen Ländern entstandenen Diaconissenanstalten, und fort und fort wurde seine Mitwirkung zur Gründung neuer Diaconissenhäuser in Anspruch genommen.

Aus der vollsten Arbeit wurde er abgerufen. Im September 1864 durfte er noch eine große Anzahl seiner Probeschwestern zu ihrem Amte einsegnen, und bereitete die zweite Generalversammlung der Diaconissen-Mutterhäuser vor; aber plötzlich schwanden seine Kräfte. Am 3. Oct. redete er zu seinen ihn umstehenden Kindern, voll heißen Dankes gegen Gott und voll tiefster Demuth, von dem Werke seines Lebens, und hinterließ ihnen, wie allen seinen Mitarbeitern, vor allen seinen „geistlichen Töchtern“, seinen Segen. Am Morgen des 4. October, schon von Todesmattigkeit umfangen, sprach er die letzten zusammenhängenden Worte, welche sein rastloses Wirken charakterisiren: „Ich schäme mich, daß ich noch schlafe, aber ich bin so müde“. Unter den Gebeten der Seinen lispelte er noch einmal: „Todesüberwinder, Sieger“; dann verschied er.

Bei seinem Tode umfaßte die Kaiserswerther Schwesternschaft 415 Diaconissen und Probeschwestern, welche, außerhalb des Mutterhauses, an 100 Orten, von Pittsburg in Nordamerika bis nach Jerusalem und Alexandrien, vor allem aber in Deutschland, in Anstalten und Gemeinden, Arme und Kranke pflegten, Töchter aller Stände erzogen, und in Gefängnissen und Asylen an der Rettung der Verlorenen oder in Mägdeanstalten für die Bewahrung des weiblichen Geschlechtes [122] arbeiteten. Außer den Kaiserswerther Anstalten, zu denen 1852 noch eine Heilanstalt für gemüthskranke Frauen gekommen war, besaß das Mutterhaus einen Erholungsort für kranke Schwestern, zwei Mägdeanstalten in Berlin und Düsseldorf, Töchterpensionate in Hilden, Florenz, Smyrna und Beirut, Waisen- und Erziehungshäuser für arme Mädchen in Altdorf in Oberschlesien (zur Zeit des Hungertyphus 1848 gegründet), in Jerusalem und Beirut, endlich die Hospitäler in Jerusalem und Alexandrien. Die jährlichen Ausgaben für alle diese Anstalten betrugen fast eine halbe Million Mark, der allerdings mit Schulden belastete Vermögensstand in Grundstücken und Gebäuden über anderthalb Millionen Mark.

Noch viel großartiger erscheint die Frucht dieses Lebens beim Blick auf das gesammte Diaconissenwerk. 1864 bestanden 30 selbständige Diaconissenmutterhäuser mit 1600 Schwestern und mehr als 400 Arbeitsstätten; aber mit dem Leben Fliedner’s ist die Lebenskraft des von ihm ausgegangenen Werkes nicht geschwunden; die Kaiserswerther Anstalten stehen unter der Leitung seiner Wittwe und seines Schwiegersohnes Disselhoff in beständigem Wachsthum; in fast allen evangelischen Landeskirchen bestehen mehr als 50 Mutterhäuser mit 3–4000 Schwestern, und die Zeit ist wol nicht ferne, wo ein gesundes Leben der evangelischen Kirche ohne den geordneten Dienst der Frauen in derselben kaum noch denkbar erscheint.

Dieser kurze Blick auf die bisherige Entwicklung des Diaconissenwerkes gehört zu dem gedrängten Lebensbilde des Diaconissenvaters, denn sein Leben und seine Kraft ist vollständig in dieser Arbeit aufgegangen. Auch seine ausgedehnte schriftstellerische Thätigkeit („Liederbuch für Kleinkinderschulen“, „Christlicher Volkskalender“ seit 1842, „Märtyrerbuch“, unzählige Berichte und Broschüren) mußte der Erreichung seines Lebenszweckes dienen, die brachliegenden weiblichen Kräfte in den Dienst der hülfsbedürftigen Menschheit zu locken und dafür auszubilden.

F. war ein strenger, aber überaus liebevoller Erzieher, zuerst seiner jüngern Geschwistern, dann seiner 10 überlebenden Kinder, ein warmer Freund seines Volks und seines Königs, vor allem aber mit Leib und Seele ein Diener seiner evangelischen Kirche, deren Erbauung allein sein Werk gewidmet war.