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Artikel „Ewers, Gustav von“ von Ludwig Stieda in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 454–456, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ewers,_Gustav_von&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:59 Uhr UTC)
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Ewers: Johann Philipp Gustav von E., namhafter Geschichtsforscher und Staatsrechtslehrer, wurde am 4. Juli 1781 zu Amelunxen, einem Dorf des ehemaligen Bisthums Corvey als Sohn eines Landwirthes geboren. Nachdem der begabte Knabe zunächst von dem Dorfpfarrer Schnorr unterrichtet worden war, wurde er auf die Klosterschule zu Holzminden in Braunschweig geschickt, woselbst er sich vor allem mit dem Studium der alten Sprachen beschäftigte. Gut vorbereitet bezog E. 1799 die Universität Göttingen, um Theologie zu studiren. Durch die gründlichen Vorträge Planck’s besonders angezogen, widmete sich E. vorzüglich der historischen Theologie, lernte mit großem Eifer Dänisch, und übersetzte des Bischofs Münster Handbuch der ältesten christlichen Dogmengeschichte aus dem Dänischen ins Deutsche. Allein infolge dieser Arbeiten verlor E. das Interesse an der praktischen Theologie und wandte sich dem Studium der Staatswissenschaften zu, wobei er sich an Heeren und Schlözer eng anschloß. Zu seinen Freunden in Göttingen gehörten Villers (s. A. D. B. XXXIX, 708) und Rühs (ebd. XXIX, 124[WS 1]). Auf den Rath Schlözer’s nahm E. in Livland und zwar auf dem Gute Waimel unweit Dorpat die Stelle eines Hauslehrers beim Landrath v. Richter an. Im Sommer 1803 betrat E. das Land, das ihm zur zweiten Heimath werden und das er nie verlassen sollte. Die Stellung eines Hauslehrers, der Unterricht einiger Knaben, ließ ihm freie Zeit zu wissenschaftlicher Beschäftigung. Die erste Frucht seiner Arbeit, „Vom Ursprung des Russischen Staats“, ein Versuch, die Geschichte desselben aus den Quellen zu erforschen (Riga und Leipzig 1808), war für E. bedeutungsvoll, weil sie ihm den Weg zu seiner späteren Laufbahn ebnete. Infolge dieser Schrift wurde E. mit den Akademikern Lehrberg und Krug in St. Petersburg bekannt und bald darauf zum correspondirenden Mitglied der Akademie (1809) erwählt. Bei Gelegenheit eines Besuchs mit seinen Zöglingen in Moskau machte E. die Bekanntschaft des russischen Geschichtschreibers Karamsin, der ihn zu weiteren Arbeiten anregte. Im Begriff, nach Deutschland zurückzukehren, weil die häuslichen vorbereitenden Studien der jungen Richters ihren Abschluß erreicht hatten, erhielt E. den Ruf, den durch Gaspari’s Fortgang erledigten Lehrstuhl des Professors der Geographie, Statistik und Geschichte Rußlands an der neugegründeten Universität Dorpat zu übernehmen. Wie sonderbar! Ein junger in Deutschland vorgebildeter deutscher Gelehrter wird Professor der russischen Geschichte an einer Universität in Rußland! – E. hat als Professor von 1810–1830 gewirkt und eine ganz ungewöhnlich fruchtbringende Thätigkeit als Lehrer wie als Schriftsteller entwickelt, und überdies als Administrator eine glänzende Rolle gespielt. E. war ein vielseitig gebildeter Gelehrter: er las nicht nur die Fächer seiner eigenen Professur, sondern hielt auch Vorträge über allgemeine Geschichte; denn der Lehrstuhl [455] für allgemeine Geschichte war seit 1812, dem Todesjahr Poschmann’s, unbesetzt und erst 1828 wurde Kruse zum Professor der Geschichte ernannt. Auffallender Weise wurde 1820 der Lehrstuhl für Geschichte Rußlands aufgehoben, aber es wurde ein besonderer Lehrstuhl für die statistischen und geographischen Wissenschaften im allgemeinen gegründet und E. zum Professor dieser Fächer ernannt. Selbstverständlich blieben die Vorlesungen Ewers’ dieselben. Im J. 1826 ließ sich E. auf den schon seit 1823 erledigten Lehrstuhl des positiven Staats- und Völkerrechts und der Politik überführen – er trat damit in die juristische Facultät. Sein Nachfolger wurde Blum. Wodurch E. zu diesem Schritt veranlaßt wurde, ist unbekannt. Allein nur kurze Zeit sollte E. in dieser neuen Stellung wirksam sein; bereits am 8. November 1830 ist er nach schwerem Leiden (Krebs innerer Organe) dahingeschieden.

E. war ein ungemein fleißiger, thätiger und vielseitig gebildeter Mann: sehr fleißig als Lehrer und Schriftsteller, aber auch in anderen Aemtern thätig: er war eine Zeitlang Censor der Tagesblätter Dorpats, auch Director aller Schulen in Dorpat und 13 Mal nach einander Rector der Universität. Das Rectorat in Dorpat war damals ein freies Wahlamt; 1818 wurde E. zum ersten Mal gewählt, und infolge seiner erfolgreichen Verwaltung 13 Mal nacheinander – das letzte Mal, als er bereits auf dem Sterbebette lag, um ihm eine letzte Anerkennung zu bezeigen! Die Thätigkeit Ewers’ sowol auf wissenschaftlichem wie auf administrativem Gebiet blieb nicht unbelohnt. Im J. 1816 erhielt E. einen Ruf nach Berlin, den er in Berücksichtigung der damaligen vortrefflichen materiellen Lage in Dorpat ablehnte; er wurde von der russischen Regierung durch Rang, Orden und Geldbelohnungen ausgezeichnet. F. Busch, Professor der Theologie in Dorpat, gibt in der Abhandlung „Der Fürst Karl Lieven“ eine glänzende Schilderung von E. Er lobt die Gediegenheit seines Wissens, die glänzende Begabung des Geistes, den seltenen und eigenthümlichen Charakter, und sagt dann: „Ein deutscher Gelehrter, aber nicht ‚bücherstaubig‘ und unpraktisch, sondern anstellig und von äußerster Gewandtheit im Leben wie im Amte, bei aller Anspruchslosigkeit doch durch eminente, auch gesellige Gaben die Gesellschaft und ihre Conversation leitend und beherrschend, wie die Debatte am rothen Tische, – schnellen Ueberblicks, raschen Entschlusses, ein Mann der That, ein geborener Administrator, ebenso umsichtig als vorsichtig, nie leidenschaftlich oder zur Aufwallung und zum Zorn zu reizen, weil stets besonnen, und daher im Kampf auch allezeit als Sieger das Feld behauptend, – der feinste und klügste Kopf, ein Meister der Sprache in Rede und Schrift und voll Empfindung des unvergleichlichen Werthes der hohen schönen Muttersprache, die sich in seinem Munde, und fast noch mehr in seiner Feder, gedrängt und kernig, nicht gerade sentenzenreich gestaltete, – ein treues, rechtschaffenes, aufrichtiges, deutsches Herz“. –

Es kann hier auf die Wirksamkeit Ewers’ in seiner Stellung als Rector nicht eingegangen werden; hervorgehoben mag nur werden, daß er zu dem damaligen Curator der Universität, dem Fürsten Karl Lieven, in innigem, freundschaftlichem Verhältniß stand.

E. war ein fleißiger Schriftsteller, doch sind seine Arbeiten, wie es scheint, in der wissenschaftlichen Welt des Westens nicht so bekannt geworden, als sie es verdienten. E. ließ es sich angelegen sein, das große ihm in Rußland zu Gebote stehende urkundliche Material zu verarbeiten und dadurch der deutschen wissenschaftlichen Welt zugänglich zu machen. Was ihn, der damals Hauslehrer in einem deutschen Hause war, zum Studium über russisches Recht [456] und russische Geschichte veranlaßt hat, wissen wir nicht; jedenfalls hat er mit Erfolg die russische Sprache sich zu eigen gemacht und russische Urkunden und Schriften verarbeitet. Die erste größere Abhandlung: „Der Ursprung des Russischen Staats“ (Riga-Leipzig 1808, 271 S.) ist der auch heute noch vielfach in der russischen Welt erörterten Frage gewidmet, wer eigentlich die „Russen“ waren, die den russischen Staat gründeten. E. behauptete nun – im Gegensatz zu Bayer, Thumann und Schlözer, daß die „Russen“ (Waräger) nicht Schweden (Normannen) gewesen seien, sondern Chasaren, die am schwarzen Meere gesessen hatten. Das Ergebniß Ewers’ fand damals Gegner und ist heute, insbesondere infolge der Studien Kunik’s, als ein irriges zu bezeichnen. Ferner verfaßte E. kritische Vorarbeiten zur Geschichte Rußlands (erster und zweiter Band, Dorpat 1814); „Geschichte der Russen. Versuch eines Handbuchs“ (I. Theil, Dorpat 1816); „Des Herzogthums Ehstland Ritter- und Landrecht“ (6 Bücher. Mit erläuternden Urkunden, Dorpat 1821); „Das älteste Recht der Russen und seine geschichtliche Entwickelung“ (Dorpat und Hamburg 1826). – Ferner veröffentlichte E. in den „Beiträgen zur Kenntniß Rußlands und seiner Geschichte“ werthvolle historische Abhandlungen. Doch nicht allein auf diese rein wissenschaftlichen Arbeiten beschränkte sich Ewers’ schriftstellerische Thätigkeit, er gab, als sein ehemaliger Zögling O. F. von Richter in Smyrna gestorben war, dessen Tagebücher heraus („Wallfahrten im Morgenland“, Berlin 1825) und verfaßte ein „Erstes Schulbuch für die deutsche Jugend im Lehrbezirk der K. Universität Dorpat“ (1824), ein Buch, das seiner Vortrefflichkeit wegen noch zwei Jahrzehnte unter dem Namen „Ewers’ Schulbuch“ in allen Schulen der russischen Ostseeprovinzen in Gebrauch war.

Ein genaues Verzeichniß aller Schriften Ewers’ findet sich in Recke-Napiersky’s Schriftstellerlexikon I, 1827, S. 535–540. Man vergleiche auch den Neuen Nekrolog der Deutschen, VIII. Jahrgang 1830, II. Theil (Ilmenau 1832), S. 787–792, und ferner: Der Fürst Karl Lieven und die Universität Dorpat, von Dr. Busch. Dorpat 1846, S. 24 ff. – Rückblick auf die Wirksamkeit d. Universität Dorpat v. 1802–1865. Dorpat 1866.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. korrekt: S. 624