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Artikel „Bergenroth, Gustav Adolf“ von Reinhold Pauli in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 369–372, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bergenroth,_Gustav_Adolf&oldid=- (Version vom 7. November 2024, 19:00 Uhr UTC)
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Bergenroth: Gustav Adolf B., war am 26. Febr. 1813 zu Oletzko in Ostpreußen, nahe der russischen Grenze geboren, wo der freisinnige Vater Justizbeamter war, † 1869. Seit dessen Versetzung nach Lyk besuchte der Sohn, frühzeitig abgehärtet, hochmuthig, abenteuerlustig, die dortige Schule und studirte darauf die Rechte in Königsberg, wo er sich nicht nur der liberalen Geistesart des Orts, sondern auch einem zügellosen akademischen Leben hingab. Nachdem er in Königsberg Auscultator, in Köslin Referendar gewesen und in Berlin das dritte Examen bestanden hatte, ließ er sich 1843 nach Köln versetzen, wo er unter den radicalen Einflüssen der Zeit sogar als socialistischer Jünger St. Simon’s zu schriftstellern begann. Eine italienische Reise und längerer Aufenthalt in Frankreich steigerten, obwol er wieder beim Kammergericht in Berlin zu arbeiten suchte, die Abneigung gegen seinen Beruf und die damalige Politik. Der stattliche, herrlich begabte, jedoch von starken, unklaren Trieben beseelte Mensch, der das Leben nicht so zu genießen vermochte, wie er wünschte, wurde nach dem 18. März 1848 bald revolutionärer Clubführer und Preßleiter, bis ihn der Umschwung im November zur Flucht ins Ausland und die Strafversetzung nach Wittstock den Staatsdienst zu quittiren nöthigten. Aber obwol ein scharfes Pamphlet: „Herr v. Bülow-Cummerow unter den Communisten“, von neuem die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, wagte er sich doch im Herbst 1849 nach Berlin und war an der Befreiung Kinkel’s aus Spandau betheiligt. Im Sommer 1850 ging er als Sendling mehrerer Schicksalsgenossen um eine neue Heimath zu entdecken über Panamá nach Californien. Weder das gelbe Fieber noch die Cholera noch die wüsten Zustände unter den ersten Goldsuchern erstickten den Hang zu ungebundenem Leben. Was er da an der Spitze einer kleinen, das eigene Dasein vertheidigenden Genossenschaft durchgemacht, hat er späterhin anziehend in seinem ersten englisch geschriebenen Versuch: „The first Vigilance Committees“ in Charles Dickens’ „Household Words“ vom 15. November 1856 [370] mitgetheilt. Im Frühling 1851 kehrte er über Westindien und Newyork nach Europa zurück, um, da ihn seine Vollmachtgeber sitzen ließen und seine eigenen communistischen Auswanderungsgedanken stark abgekühlt waren, mehrere Jahre in Deutschland, Frankreich und Italien ein unstetes Leben zu führen. Da faßte ihn der Gedanke, nach London zu gehen und ein Stück englischer Geschichte, die Periode der Tudors, in Angriff zu nehmen. Schon früher hatten ihn vorübergehend statistische, nationalökonomische und selbst diplomatische Studien von seinem ausschweifenden Treiben abgezogen. Jetzt vom Frühling 1857–1860 zählte er zu den eifrigsten Besuchern des jüngst für Nachforschungen aller Art eröffneten Staatsarchivs (Public Record Office). Die erste Frucht geschichtlicher Studien war ein aus den Quellen geschöpfter Aufsatz in Sybel’s „Historischer Zeitschrift“ II. 50: „Der Volksaufstand in England im Jahr 1381“, dessen socialistische Ursachen aufgedeckt werden sollten. Als B. darauf in den „Grenzboten“ vom 20. Januar 1860 den ersten Band von Ranke’s Englischer Geschichte anzeigte und in maßloser Ueberhebung, sich selber aber arge Blößen gebend, sie wie das Werk eines Stümpers heruntermachen wollte, wurde er von deutscher Seite nach Gebühr abgefertigt. Der Gegensatz des politischen Standpunkts und ein anmaßender, leidenschaftlicher Charakterzug, der ihn blind machte gegen andere Verdienste, rissen ihn später noch einmal in einem Aufsatz: „Rivalry between Charles V and Francis“, in Frazer’s „Magazine“, 1866, wie gegen Mignet und Gachard so zu ungerechten Aeußerungen über Ranke fort, doch gestand er guten Freunden, daß er, schon besser mit den Werken dieses Meisters vertraut, sich solcher Aufwallungen schäme. Da ihm die Resultate seiner archivalischen Forschungen nicht genügten, führte ihn sein guter Stern im Sommer 1860 zunächst auf eigene Hand nach Simancas, um dort wie schon Belgier, Franzosen und Amerikaner vor ihm der auswärtigen Politik der ersten Tudors nachzugehen. Mehrere lebendige im September, October und December an das Londoner Athenaeum gerichtete Briefe berichteten über jene unvergleichliche Fundgrube zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts wie über die Mühseligkeit solche Schätze zu heben. Lord Romilly, der Master of the Rolls, der längst für die unter seiner Aufsicht bearbeiteten Regestenwerke zur englischen Geschichte einen den Forschungen in spanischen Archiven gewachsenen Gelehrten suchte, gewann alsbald B. für den Dienst der englischen Archivverwaltung. Fortan kam die ganze Energie seines Wesens zur Geltung. Unter großen Entbehrungen, nur selten sich eine Ausspannung gönnend, widmete er sich uneigennützig und mit eisernem Fleiß seiner Aufgabe. Bald traten die Tudors vor dem Zeitalter Karls V. und selbst die Ausarbeitung eines eigenen Geschichtswerks vor der Sammlung und Entzifferung der Documente zurück, damit er die England und seine europäischen Beziehungen betreffende Correspondenz in eigenen Regesten möglichst vollständig zu Tage fördere. In ausführlichen Schreiben an Lord Romilly berichtete er regelmäßig über den Fortgang der Arbeit wie über einzelne hervorragende Entdeckungen und die Schwierigkeiten, welche ihm die Mißgunst spanischer Beamten bereiteten. Einige Briefe an seine alte Mutter in Ostpreußen erzählen von seinem Leben und seinen Reisen. Denn die Forschungen führten ihn wie nach Madrid so auch nach Paris, wohin einst unter Napoleon I. ein Theil des Archivs von Simancas verschleppt worden, nach Brüssel und Rom. Der Druck erforderte dann wieder seine Anwesenheit in London. Die Hauptarbeitsstätte aber blieb das einsame, unwirthliche Simancas, bis in dem heißen Sommer 1868 das epidemische Fieber auch seine bereits erschütterte Constitution beschlich. Vergebens flüchtete er nach Madrid. Dort starb er am 13. Febr. 1869. Die Mitglieder der preußischen Gesandtschaft, einige englische und spanische Freunde umstanden das Grab des [371] Deutschen, der nach langem Irren die Bahn zu erfolgreichem Schaffen gefunden hatte. Was er hinterlassen, ist nur zum Theil niedergelegt in drei Bänden jener officiellen Sammlung: „Calendar of Letters, Despatches and State Papers relating to the Negotiations between England and Spain, preserved in the Archives of Simancas and elsewhere“. Der erste, welcher 1862 veröffentlicht wurde, umfaßt die Regierung Heinrichs VII. 1485–1509. Eine vortrefflich geschriebene Einleitung führt nicht nur in den reichen Inhalt und Zusammenhang der Actenstücke ein, sondern beschreibt namentlich p. XI. ff. und p. CXXXVII. ff., die B. zur hohen Ehre gereichende Entzifferung sehr vieler Documente. Mit bewunderungswürdiger Geduld und großem Scharfsinn entdeckte er der Reihe nach die Schlüssel zu mehr als einem Dutzend Chiffern, hinter welchen einst die Staatssecretäre Ferdinands des Katholischen die diplomatischen Geheimnisse zu verstecken trachteten. Vergebens suchte ihm der Argwohn der Beamten vorzuenthalten, was sie selber schon aufgefunden. Nachträglich zum Vorschein kommende Reste der ursprünglichen Schlüssel haben glänzend bestätigt, daß er in einem schwierigen fremden Idiom fast tadellos sicher zu lesen gelernt. Im J. 1866 erschien der zweite Band, die ersten Jahre Heinrichs VIII. von 1509 bis 1525 umfassend und, seit England sich eifrig an der allgemeinen Politik betheiligte, dieselbe auch vorzugsweise berücksichtigend. Wiederum liefert eine geistreiche Einleitung durch fesselnde Charakteristik der Persönlichkeiten und Situationen den Commentar, aber noch mehr als schon früher entspringen Uebertreibung und Tadelsucht aus dem Mangel methodischer Vorbereitung, aus einseitiger Benutzung seiner Acten ohne das übrige Quellenmaterial zur Kritik heranzuziehen. Mit blinder Verachtung spricht er sich sogar über die Berichterstatter der Venetianer aus. B. vermochte leider nicht den Hang nach Effect und Sensation zu unterdrücken und wollte nicht nur Karl V., Papst Hadrian VI. oder Cardinal Wolsey in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen als bei Ranke und anderen, die nicht in Simancas gewesen, sondern der Moralität des Zeitalters überhaupt die düstersten Farben abgewinnen. Dieser Sucht fröhnte er bis ins Ungeheuerliche in dem letzten von ihm veröffentlichen Bande: „Supplement to Volume I. and Volume II. of Letters, Despatches etc. I. Queen Katharine. II. Intended Marriage of King Henry VII. with Queen Juana“, London 1868, eine Sammlung vollständig abgedruckter Originalschreiben mit englischer Uebersetzung. Die Einleitung reproducirte B. zum Theil in Sybel’s „Historischer Zeitschrift“ XX. 231. Da soll nach Auslegung einiger Papiere Katharina von Aragon, bevor und nachdem sie Heinrichs VIII. Gemahlin geworden, mit ihrem jungen spanischen Beichtvater in unzüchtigem Verkehr gestanden haben. Würde der König, dessen Spürkraft dergleichen schwerlich entging, in der Folge diesen Scheidungsgrund verschwiegen haben? Daß Heinrich VII. einst die wahnsinnige Mutter Karls V. heirathen wollte, war aus seinen eigenen Instructionen bekannt. Dagegen ist nichts gewagter, als wenn B. aus den Berichten derer, welchen die Hut über Juana la loca anvertraut war, den Nachweis erbringen möchte, daß sie bei vollem Verstande gewesen, zumal als sich die aufständischen Comuneros ihrer bemächtigten, daß sie aber als eigentliche Königin von Castilien und weil ihr Glaube nicht orthodox war, von dem eigenen Sohn in grausamer Haft gehalten und sogar gefoltert worden sei. Beide Schauergeschichten haben weder in England noch auf dem Continent, zumal in Deutschland nicht, die Probe der Kritik bestanden und müssen sammt der Interpretation des Wortes, welches Folter bedeuten soll, und der Willkür, mit welcher aus dem Spanischen übersetzt wird, verworfen werden. Dasselbe geschah mit einer erst nach Bergenroth’s Tode erschienenen Mittheilung über Verhaftung, Anklage, Verurtheilung und Hinrichtung des Don Carlos, die von dem Beichtvater des unglücklichen Prinzen herrühren sollte, B. aber nur in einer [372] Abschrift aus dem J. 1681 vorgelegen hatte. Darnach wäre der dunkelste Hergang endlich in gräßlichster Weise enthüllt. Aber B. hatte noch einmal allen Beweisen des Gegentheils zum Trotz sich und andere mystificiren wollen. Ob sein Nachlaß mehr als Abschriften, nämlich Anfänge des eigenen Geschichtswerks enthält, muß sehr bezweifelt werden.

Die biographischen Notizen, Briefe etc. bei W. C. Cartwright, Gustave Bergenroth, a Memorial Sketch, Edinburgh 1870. Zur Kritik Pauli in Sybel’s Historischer Zeitschrift IV. 475. XI. 49. XXI. 28, Maurenbrecher ebendaselbst XX. 212 und in Preuß. Jahrbücher XXV. 260. Gachard, Sur Jeanne la Folle et les Documents concernant cette princesse qui ont été publiés récemment, Bruxelles 1869. Robert Rösler, Johanna die Wahnsinnige, Königin von Castilien, Wien 1870.