„Wenn du noch eine Heimath hast…“

Textdaten
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Autor: Peter Rosegger
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Titel: „Wenn du noch eine Heimath hast…“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 589–591
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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„Wenn du noch eine Heimath hast …“

Eine Erinnerung von P. K. Rosegger.

Gelegentlich meines fünfzigsten Geburtstages hat die „Gartenlaube“ mich eingeladen, ein weniges aus meinem Leben zu plaudern. Das ist mir schon recht, all meiner Tage habe ich mit der Feder nichts anderes gethan, als aus meinem Leben geplaudert – war es nicht aus dem äußeren, so doch aus dem inneren. Und es müßte schlecht stehen, wenn der Poet seine Dichtungen nicht selber durchlebte. Die Lüge in der Dichtung hebt erst dort an, wo die Leier Dinge singt, von denen das Herz nichts weiß.

Heute aber will ich ein Stücklein erzählen, das nicht nur innerlich, sondern in der That auch äußerlich erlebt worden ist; an sich recht unwesentlich, jedoch für mich von großer Bedeutung. Es kommt auch die „Gartenlaube“ dabei vor, sie, die so manches Gute gestiftet hat in der Welt. Ein Engel, der mir an bedenklichen Lebenswenden stets so freundlich beigestanden, hat auch einmal nach der „Gartenlaube“ gegriffen und sie zu meinem Wegweiser gemacht – nach dorthin, wohin ich gehörte. Und das hat sich zugetragen wie folgt.

Im Winter des Jahres 1865 habe ich eines Tages in der Waldheimath meine sieben Sachen in ein Taschentuch gethan und bin damit in die weite Welt gegangen. „Behüt’ Euch Gott, allmiteinand!“ hatte ich lachend zu den Meinen gesagt. So fröhlich, so unbefangen und gedankenlos wanderte ich fort von daheim, als ob’s zu einer Dorfkirchweih’ des Nachbarortes ginge und nicht weiter. Der zweiundzwanzigjährige Mensch war ja so rührend einfältig und hatte noch keine Ahnung von den jungen Dämonen, die in seinem Herzen nisteten.

Auf dem Weltwege war mir schon vorgearbeitet worden. Ein mir bisher stockfremder Mann, Doktor A. Svoboda in Graz – doch das ist ja bekannt. Er hatte Einsicht genommen in meine ihm geschickten Schriften, die an Papiergewicht nicht weniger als fünfzehn Pfund betrugen, er hatte es durch seine Zeitung, die „Tagespost“. soweit gebracht, daß ein Laibacher Buchhändler, Herr Giontini, brieflich anfragte, ob der „Naturdichter“ aus dem Gebirge zu haben sei; er brauche ihn zwar nicht zum Dichten, denn gedichtet wären die Bücher schon, aber verkauft wären sie noch nicht, und wenn der junge Aelpler sich zu einem Buchhändlergehilfen ausbilden lassen wolle, so könne er in sein Geschäft treten. Im ersten Lehrjahre neben Verpflegung monatlich sechs Gulden, später mehr.

Sonst hatte sich niemand um mich gemeldet, daher ging von der Waldheimath aus meine Straße nach der Hauptstadt im Krainerlande. Unterwegs dahin kehrte ich in Graz bei Doktor Svoboda ein und bei dem von diesem mir erworbenen Gönner Peter Reininghaus, einem um Steiermark hochverdienten Mann.

Reininghaus war aus dem Westfalenlande gekommen und hatte auf dem Steinfelde bei Graz eine Bierbrauerei gegründet oder emporgebracht, die heute zu den größten Etablissements zählt. Eben in den Tagen, da diese Erinnerung aufgeschrieben wird, begeht die Brauerei auf dem Steinfelde das Jubelfest ihres vierzigjährigen Bestehens und ganz Graz feiert es mit, dankbar dem Manne, dessen große Bürgertugenden viel zur Entwicklung der steierischen Hauptstadt beigetragen haben. Diesen Mann, der seither vom Kaiser in den Adelsstand erhoben worden ist, habe ich also damals aufgesucht. Ein armer schmächtiger heimloser Junge aus dem Gebirge stand da und wußte selbst nicht, was er wollte. Reininghaus erkundigte sich freundlich nach meinen Verhältnissen, sprach mir Muth zu für den neubetretenen Lebensweg, ermahnte mich, vor allem ein braver Mann zu werden, ob dieser dann ein Dichter wäre oder etwas [590] anderes, das sei Nebensache – und gab mir fürs erste die Mittel zur Weiterreise nach Laibach in die Hand. Dabei schüttelte er aber den Kopf. Ob sich in der schönen weiten Steiermark denn nicht eine einzige Schule aufthun wolle, in der ein Lernbegieriger umsonst sitzen könne? Ob sich denn die Steirer das anthun lassen mögen, daß ein bildungsbeflissener junger Landsmann zu den Krainern gehen müsse, um sich weiter zu bringen? Derlei glaubte ich aus dem Kopfschütteln des Herrn Peter Reininghaus lesen zu können – oder kam es mir nur so vor? Ich ging gern in die weite Welt, je weiter fort, desto lieber; etwa nach dreißig oder vierzig Jahren gedachte ich einmal zurückzukehren, um zu sehen, ob die steirischen Berge noch alle dastünden.

In Graz war mir mein Taschentuch zu klein geworden. Ich hatte einen schwarzen Festtagsrock geschenkt bekommen und Beinkleider und feine Wäsche – als wohlhabender Mann bin ich in die Fremde gezogen.

Sieben Stunden währte die Fahrt durch den nebligen Wintertag, und als ich in Laibach einzog, brannten zu beiden Seiten der Straße schon die Laternen. Jetzt war ich in der Fremde, das Herz jubelte mir. Ein neues Lebe! Ein neues Leben!

Im Hause des Buchhändlers Giontini wurde ich freundlich aufgenommen und eingetheilt in die Wohnung und in das Geschäft. Die Leute sprachen mit mir eine sehr hochdeutsche Sprache, sie war ganz eckig vor lauter hochdeutsch. Das war schön. Untereinander redeten sie eine fremde Zunge, die ich mein Lebtag nicht gehört, krainerisch, slavisch – und das war noch schöner. Als erste Arbeit im Geschäft erhielt ich krainerische Gebetbücher zu falzen, die Giontini in Druck und Verlag hatte. Da kam mir das erste Mal der Gedanke, daß die Muttergottes und die Heiligen auch slavisch verstehen müßten. Etwas so Gescheites war mir daheim nie eingefallen.

Am andern Tag wurde ich in die Leihbibliothek gestellt die der Buchhändler betrieb. Daheim war ich oft stundenlang gelaufen über Berg und Thal, um ein einziges Buch aufzutreiben, hier war ich buchstäblich eingemauert in Bücher – wie empfand ich mein Glück! Es gab ja auch sehr viele deutsche Werke darunter, ja mehr deutsche als slavische; denn die Krainer hatten damals in ihrer Litteratur nur Gebet- und Traumbücher, die weltliche Unterhaltung mußten sie sich von den Deutschen und Franzosen entlehnen. Es gab stets viel zu thun, um die verlangten Bücher hervorzusuchen und die zurückgebrachten einzureihen. Kaum daß ich Zeit fand, ihre Titel zu lesen und die Nummern am Rücken. Ein oder der andere Band wurde abends mit ins Bett genommen, aber bald war ich müde. Wäre es nur auch weiter so gewesen, daß mir der süße Schlaf treu blieb! Allein es nahten die Nächte da ich wachend lag bis zum Morgen, und die Hausfrau fand, daß meine Augen den Bücherstaub nicht vertrügen, weil sie so geröthet wären.

Zu Mittag war allemal eine Stunde frei, da ging ich an die Lehne des Schloßbergs und schaute gegen Norden hin, wo das Felsengebirge stand; doch zumeist war dieses von Nebel bedeckt. Dann eilte ich nach dem Bahnhof und schaute die Eisenschienen an, und es that mir wohl, zu denken, diese Eisenbänder gehen ununterbrochen bis Obersteier, bis Krieglach, verbinden mich mit meiner Heimath.

Alle Essenslust war dahin; wenn ich slavisch sprechen hörte, ward mir so übel im Magen, als ob ich Speck gegessen und Wasser darauf getrunken hätte. Am liebsten war es mir in der Kirche bei der Messe, denn der Priester sprach nicht krainerisch, sondern lateinisch, genau wie unser Pfarrer daheim zu Krieglach.

Damals ist mir der Knopf aufgegangen, weshalb die Sprache der katholischen Kirche in der ganzen Welt lateinisch ist. Die lateinische Sprache ist nirgends daheim, also auch nirgends fremd; sie ist eine verbindende Kraft. So weit war’s gekommen, daß ich daheim zu sein glaubte, wenn an mein Ohr das „Dominus vobiscum!“ klang.

Im Geschäft gerieth alles, was ich anfaßte, verkehrt und ungeschickt. Mein Hausherr blickte mir manchmal ins Gesicht, das kam ihm bedenklich vor, und so sagte er einmal, ich solle nur spazieren gehen draußen in der frischen Luft, es würde schon besser werden. – Besser werden? Wie sollte es besser werden? Nur einschlafen können und in alle Ewigkeit fortschlafen, das zu denken war die einzige Labe, So oft ich eines meiner Kleidungsstücke betrachtete, das mir die Mutter genäht, die Schwester geglättet hatte, hub die Bestie an zu graben. In der freien Luft wurde es nur ein wenig milder, wenn ich lief und lief; aber immer kann man nicht laufen, und was hilft alles Laufen, wenn es doch nicht heimwärts geht. Wo alles ganz fremd war, da ging es fast eher noch; wo aber irgend etwas nur enfernt an heimathlich Trautes erinnerte, da war der leidige Satan los, da folterte mich die Sehnsucht nach Daheim wie höllisches Feuer.

Eines Tages schickte Giontini mich zum Buchbinder, um einen Armvoll Gebetbücher abzuholen. Der Meister war just allein in der Werkstatt; erst das zweite Mal sah ich ihn und schon sank ich jetzt an seine Brust und hub an so heftig zu weinen, daß er einen krainerischen Schrei that und dann in schlechtem Deutsch fragte, ob ich Zahnweh hätte! Als das verneint wurde, war all sein Mitleid verscherzt – wenn man nicht Zahnweh hat, wozu dann solche Sachen! Und ich hätte ihm meine Noth nicht einmal klagen können, weil kein Name dafür vorhanden, weil nur ein unbeschreibliches Beklemmen und Bangen in mir war, ohne daß ich wußte, was mir fehlte und was ich wollte. Ich konnte es ja nicht wahrhaben, daß ein grauses Heimweh mein Herz zermalmte, so herb, als läge dieses zwischen zwei Mühlsteinen. So namenlos weh! Was die Seekrankheit für den Leib, das ist das Heimweh für die Seele. Noch heute kann ich keinen Buchbinderleim riechen, ohne daß der Wiederschein jenes Seelenleides leise aufdämmert, denn dieser Leimgeruch erinnert mich an Laibach im Krainerlande.

Die Schlaflosigkeit der Nächte war aber nicht das Schrecklichste, noch schrecklicher war endlich der kurze Schlaf, der mir im Traum mein Vaterhaus zeigte und mich der Meinen traute Stimmen hören ließ. Das Erwachen darauf in der fremden frostigen Kammer spottet aller Pein, die ich je in diesem Jammerthal kennengelernt habe.

So litt ich eine Woche lang. Viele Jahre schon vermeinte ich in der Fremde zu sein – was war derweil daheim wohl alles geschehen! Und nur acht Tage vergangen, seit ich mit fast tanzenden Schritten das stille Haus in den Waldbergen verlassen! Die dreißig, vierzig Jahre, bis ich wieder einmal nach den steirischen Bergen sehen wollte, konnten schon etwas länglich ausfallen. Alles kam mir wie ein Gefängniß vor. Von meiner Kammer aus sah ich in einen engen Hof, auf eine Mauer mit Spinnweben und etlichen gelben Striemen. Vom Fenster meines Vaterhauses aus hatte ich meilenweit über die blauen Berge hingesehen – nie war mir beigekommen, das wäre schön; jetzt wußte ich’s aber.

Die Hausgenossen bei Giontini waren nicht unfreundlich, doch floh ich ihre Ansprachen, bis sie sich um mich weiter nicht kümmerten. Am leichtesten war mir noch, wenn’s in der Leihbibliothek recht viel Arbeit gab. Selten that ich in die Bücher einen Blick; als wären sie Holzscheite oder Steine, so legte ich sie hin und her, und nimmer glaubte ich, je einmal an einem Buche Gefallen gefunden zu haben.

Da geschah es am Samstag spät abends. Die Buchhandlung war schon geschlossen, nur in der Leihbibliothek gingen immer noch Leute ein und aus, um sich für den Sonntag Lesefutter auszutauschen. Ich stieg mit der Laterne die Leiter auf und ab an den Bücherwänden. Da kam noch ein Knabe, brachte einen breiten Band zurück und eilte wieder davon. Als ich den Band hoch oben in seine Spalte schieben wollte, entfiel er mir, kollerte die Leiter herab und blieb, die zwei Deckel auseinandergeschlagen, auf den Dielen liegen. Ich ging, das Buch aufzuheben; ein Band der „Gartenlaube“ war’s, und dort, wo einem Blatt im Falle die Ecke geknickt worden war, fiel mein Auge auf ein Gedicht: „Wenn Du noch eine Heimath hast …“

Was war das? Auf der untersten Stufe kauernd, las ich:

„Wenn Du noch eine Heimath hast,
So nimm den Ranzen und den Stecken
Und wandre, wandre ohne Rast,
Bis Du erreicht den theuren Flecken.“

Weiter las ich nicht mehr in dem Gedicht,[1] denn ich war schon erlöst. Heim! Heim! Kein Klagen mehr. Mein Herz war leicht, [591] mein Wille befreit. Unausgesprochen hatte ich die Nothwendigkeit der Umkehr tagelang in mir getragen wie eine Unmöglichkeit. Weltfern war mir die Heimath gewesen, und jetzt war sie nur einige Stunden weit, und es bedurfte nicht einmal des Ranzens und des Steckens. So mächtig ist oft ein einziges Wort – das Wort hat ja die Welt erlöst. –

Ganz gelassen, aber wieder gesund und frisch ging ich der Wohnung zu und theilte dem Herrn Giontini mit, daß ich nach Steiermark reisen würde. Er schaute mich ernsthaft an und sagte: „Gehen Sie mit Gott; ich sehe es ja, ich sehe es ja, Sie leiden!“

Auf herben Vorwurf war ich gefaßt gewesen, das gütige Wort erst hat mir den ganzen Himmel gegeben. Eine Stunde später war ich auf dem Eisenbahnzug, der gegen Steiermark ging.

Geradeswegs nach Krieglach wollte ich fahren, doch in Graz mußte ich aussteigen, um meinen Wohlthätern für die gute Absicht zu danken. Im übrigen wollte ich mich nicht mehr kümmern um die weite Welt, sondern daheim im Waldland still meine Tage verleben bis ans selige Ende.

Meine Angst vor den Grazer Wohlthätern wurde ebenfalls zu schanden. Doktor Svoboda sagte nur: „Gut, daß Sie wieder da sind!“ Peter Reininghaus erklärte mir kurz und schneidig, auch in Steiermark würde sich noch jemand finden, der einem Talente zur Ausbildung verhelfe, und mit der Rückfahrt in den Waldwinkel sei es nichts.

Also haben sie mich in Graz gehalten und gehoben. –

In meiner That- und Hoffnungslosigkeit wäre ich unter einem fremden Volke vergangen wie Alpenschnee auf dem Wüstenstaube. Albert Traegers schönes Gedicht in der „Gartenlaube“ hat mich aufgerüttelt, hat mir gezeigt, was zu thun war.

„Wenn du noch eine Heimath hast,
So nimm den Ranzen und den Stecken
Und wandre, wandre ohne Rast ….“

Nicht Steirer waren es, die meine Stütze und mein Hort gewesen; und doch hat dieses Land „eine eiserne Ketten an’s Herz mir angelegt“. –

Seit jener kritischen Zeit sind achtundzwanzig Jahre vergangen. Das Heimathland, welchem der Dichter mich damals zurückgegeben hat, habe ich seither nicht mehr aus den Augen gelassen, sondern habe mich mit beiden Händen an dasselbe geklammert, wie ein erschrecktes Kind sich festhält an den Rockfalten der Mutter. Dem Stamme und der Scholle treu in Lust und Leid, auch dir, mein lieber Leser, rathe ich es – wenn du noch eine Heimath hast!



  1. Es befindet sich im Jahrgang 1856 der „Gartenlaube“, S. 705
    D. Red.