Zwei Tage in Lourdes
Ein heller Frühlingsmorgen lag über den reizenden Thälern und in blendendem Lichte schimmerten die schneeigen Gipfel der Berge in’s Land hinein, als ich mich in Ausführung eines lange gehegten Planes dem freundlichen Lourdes näherte, diesem durch die vielbesprochenen Wallfahrten in jüngster Zeit so bekannt gewordenen Städtchen in den französischen Oberpyrenäen. Freundlich umsonnt, hoch über der malerischen Felsgrotte, begrüßte uns die schmucke gothische Kirche bereits einige Minuten, bevor der Dampfwagen den Bahnhof erreichte. Die bedeutenden Neubauten, hervorgerufen durch den massenhaften Pilgerzudrang, contrastiren auffallend mit dem an sich so unscheinbaren Städtchen, dessen anmuthige Lage aber auf den Reisenden sofort den wohlthuendsten Eindruck ausübt. Eine kleine Festung, im Mittelalter als uneinnehmbar berühmt, beherrscht die geweihten Stätten. Die Gruppirung der ringsum sich erhebenden Hügel, die Romanik der kühn emporstrebenden Felskuppen, die klaren Wellen der das Thalgelände durchströmenden Gare, die so stolz zum Himmel emporragenden „montagnes“ – ein Fleckchen Erde breitet sich unsern Augen aus, wie es entschieden die heilige Jungfrau nicht
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paradiesischer hätte wählen können, um einer empfänglichen Einbildungskraft in Verklärung zu erscheinen.
Bei unserer Ankunft wimmelten die engen Straßen und Plätze des Städtchens bereits von glaubenseifrigen Pilgern, die in kleinern Gruppen, meist unter Anführung eines Geistlichen, herumbummelten, überall heiterste Feststimmung in den Mienen; Extrazüge in langer Reihenfolge brachten stets neue Colonnen. Wir hatten Mühe, durch die Schaaren bis zum breit und bequem angelegten Wege vorzudringen, der den Wallfahrtsort mit der Grotte verbindet. Hier empfing uns das profane Gewühl und Getriebe des Jahrmarkts; eine Viertelstunde lang reiht sich ununterbrochen Bude an Bude, wo der prosaische Speculationsgeist sich vom frommen Wahne auf’s Reichlichste nähren läßt. Rosenkränze in allen möglichen Spielfarben, Gebetbücher, Bilder, Photographien, Scapuliere, Pilgerflaschen, Stöcke, Nippsachen, Brochen und Medaillons mit der Abbildung der Grotte, Alles in buntester Auswahl, um als theure Angedenken oder ersehnte Geschenke für die Angehörigen vom Pilger heimgebracht zu werden. Zwei in griechischem Costüme phantastisch aufgeputzte Händler boten in reicher Auswahl ihre Waaren edlerer Qualität feil, wie Jerichorosen und Gegenstände, fabricirt aus „Erde des heiligen Landes“, natürlich durch ostensibel vorliegende Urkunden und Siegel als echt bestätigt. In kleinen, auf einer Tafel vereinigten Steinen konnte ein frommes Herz den ersehnten Schauplatz des Neuen Testamentes sich vor Augen führen. Durch diesen Vorhof des Tempels von Jerusalem erreichten wir das Allerheiligste. Ein Eisengitter trennt die Grotte von dem weiten, bis zum Damme des Flusses mit Platten belegten Vorplatze. Die üppig am Felsen emporwuchernden Epheuranken rings um die Höhlung gewähren einen anmuthigen Anblick; aus dem freundlichen Grün lächelt, wie sich die Phantasie der jungen Seherin das Bild der heiligen Jungfrau ausgeschmückt, die Marienstatue von der hohen Nische herab dem Besucher entgegen.
„Je suis l’immaculée conception“ („ich bin die unbefleckte Empfängniß“), diese gleich einem Strahlenkranze im Halbkreise über ihrem Haupte schwebenden Worte in Goldbuchstaben weisen auf die der Verherrlichung des ersten der beiden großen modernen Dogmen geweihte Stätte hin. Zu den Füßen der Madonna aber dampfte der Opferrauch von unzähligen Kerzen empor. Jeder der Neuangekommenen reichte seine Gaben, die in allen möglichen Größen sich vorfanden, dem sammelnden Kirchendiener durch das Gitter hinein. Der Arme hatte sich viel zu bücken, denn aus der vor der Grotte knieenden Menge flogen in fast unaufhörlichem Regen Kupfer- und Silberstücke in diesen weiten Eingang zum bekannten Magen der Mutter Kirche. Sollten diese Spenden dem Bittgebete des Pilgrims mehr Nachdruck verleihen, so zierten die Wände der Höhlung in Masse die gewöhnlichen, so einfach und beredt sprechenden plastischen Gebilde, von welchen der Dichter singt:
„Und wer eine Wachshand opfert,
Dem heilt an der Hand die Wund’.
Und wer einen Wachsfuß opfert,
Dem wird der Fuß gesund.“
Ein Wachsherz von Kevelaer suchte ich indessen vergebens. Es war schwer, durch die vor dem Muttergottesbilde in betende Andacht versunkene Menge sich den Weg zur wunderwirkenden Quelle selbst zu bahnen. Aus einer großen Anzahl von Röhren ergießt sich das heilende Wasser in ein langes, schmales Bassin. Glücklich wer sich dem Quell so nahe brachte, um ungehindert trinken und sich waschen zu können; die Frömmsten zogen gar ihre Schuhe aus, um die Füße im Bassin zu baden. Und wer für sich selbst gesorgt hatte, füllte in heiligem Eifer die Flasche mit diesem frischen, ganz angenehm zu trinkenden Wasser, das die Kraft des Glaubens zum Universalmittel macht – ein ganz einträglicher Handelsartikel, wie die Masse der in einem Nebengebäude aufgespeicherten Flaschen beweist, die gesiegelt zum Verkauf ausgeboten werden und die Runde durch den ganzen katholischen Erdkreis machen. Unvergeßlich wird mir das Bild einer Mutter bleiben, die mit rührender Sorgfalt ihr kränkliches Kind mit dem heilbringenden Wasser wusch, der himmlischen Fürbitterin ihr Liebstes anvertrauend.
Unterdessen hatte der letzte Extrazug die Schaaren der in Lourdes anwesenden Pilger auf die enorme Zahl von ungefähr siebentausend Menschen gebracht, die sich vor der Stadt zum geschlossenen Zuge ordneten, welcher bald in unabsehbaren Reihen an uns vorüber der Grotte zumarschirte. Die Colonnen hatten sich streng nach den Departements, Arrondissements und Ortschaften aufgestellt; jeder Abtheilung voran wehete die Heiligenfahne. Ganz als militärischer Führer, die Ordnung überwachend, schritt der Curé an der Spitze seiner Gemeinde einher; ihm folgten die Spitzen der weltlichen Macht. In langsamem Processionsschritt bewegte sich die gläubige Heerde vorwärts, zum weitaus größten Theile Landleute aus den Pyrenäen, mit den kurzen Blousen, auf dem Kopfe die baskische Mütze, das dunkelblaue Béret, wie wir dasselbe in den Abbildungen aus dem Karlistenkriege zu sehen gewohnt sind, in der Hand oder umgebunden einen Quersack mit Lebensmitteln. Von Andacht oder Begeisterung vermochte ich keine Spur zu bemerken. Die Gesichtszüge verriethen kalte Gleichgültigkeit und gewöhnliche Neugierde, während die Lippen den Rosenkranz abmurmelten, dem vorsingenden Priester im Chore Antwort schrieen oder die zum Theil recht melodisch klingenden Pilgerweisen ertönen ließen. (Die Zahl der durch die Wallfahrten hervorgerufenen Marienlieder ist eine unendliche.) Nur eine größere Gemeinde hatte eine Musikbande mitgebracht, deren lebhafte, höchst unheilige Märsche gar seltsam mit dem Litaneiengeschwirre contrastirten. Sämmtliche Wallfahrer trugen als Brustdecoration ein kleines rothes Kreuz – traurige Epigonen der Eroberer des heiligen Landes! Den Rosenkranz, diese harmlose Waffe unserer Kreuzfahrer, hatten sich viele in riesigen Exemplaren um den Leib geschlungen, sogar Soldaten in voller Uniform, die mitmarschirten, trugen dieses Feldzeichen der heiligen Jungfrau über dem Waffenrock. Den Schluß bildete die Elite der Streiter der Kirche, die Seminaristen, wohl an zweihundert, und die höhere Geistlichkeit in vollem Ornat. Die junge Garde schritt fidel einher, wenn möglich noch andachtsloser als die Heerde, und es wollte mich bedünken, die Augen der angehenden Helden des Cölibats folgten mehr der Anziehungskraft einiger in schmucker Toilette Parade stehender Engländerinnen als der Madonna in der Felsgrotte. Nach einem allgemeinen Gebete zerstreute sich die Menge, um auszuruhen und den Bedürfnissen des Magens Genüge zu leisten. Soweit Platz vorhanden, nahm ein Theil unter einem einfachen für diesen Zweck hergestellten Strohdach an rohen Tischen Platz; andere füllten die unteren Räume der Kirche, vielen aber blieb nur der freie Himmel, unter dem sie denn auch während der Nacht campirten; der geringste Theil konnte in Lourdes selbst Quartier finden.
An interessanten Gruppirungen fehlte es nicht. Sehr gemüthlich berührte das patriarchalische Bild einer im Grase sich lagernden kleineren Pilgerschaar, in deren Mitte der alte geistliche Herr mit seinen Getreuen das frugale Mahl theilte, ein wohlthuender Gegensatz zu den im Sonnenscheine aristokratischer Familiengunst wiederstrahlenden Vollmondsgesichtern unter dem Dreispitz, die im Fremdenhôtel salbungsvoll neben der Frau Mama und den hübschen Beichtkindern an der Table d’hôte saßen und für dieselben das Tischgebet sprachen.
In der geräumigen Kirche waren die Beichtstühle massenhaft umlagert, wie auch an den Wallfahrtsorten Tausende von Hostien bei der Communion gereicht werden; die an so geheiligter Stätte empfangenen Sacramente sind von besonders nachhaltiger Kraft. Das Innere des im gothischen Stile erbauten Gotteshauses ist prächtig geschmückt; die zahlreichen Nischen mit ihren Seitenaltären strotzen von den einem Gelübde zufolge gewidmeten Kostbarkeiten, Täfelchen etc. Die nicht selten hervorschimmernden goldenen Epauletten und Ordenssterne der Ehrenlegion sprechen beredt eine traurige Sprache auf den Fremdling hinab. Ueber unseren Häuptern aber schweben in unendlicher Anzahl reich gestickte, zum Theil prachtvolle Fahnen als Andenken der großen Wallfahrten. Ihre Wappen und Namen weisen auf alle Gegenden Frankreichs und anderer katholischen Länder hin; nicht ohne Ueberraschung begrüßte ich die Farben der Vereinigten Staaten von Nordamerika, recht ostensibel wie ein Triumphzeichen neben der Kanzel aufgepflanzt – das stolze Sternenbanner, die Fahne der Freiheit im Staube zu Füßen des römischen Dogmas! Die zahlreichen Opferstöcke sind für den Pilger ein lebhaftes Memento, daß das Reich Gottes trotz den Worten des Stifters sehr von dieser Welt sei, und wie weit dieses fromme Erpressungssystem für den Peterspfennig, den Unterhalt der Kirche etc. geht, beweist der angeschlagene bischöfliche Erlaß, daß für die bescheidene [604] Summe von fünfhundert Franken (vierhundert Mark) ein Jeder sich den Titel einer „Gründers der Kirche“ (Fondateur, Stifter) erwerben könne, für welche auserwählte Genossenschaft speciell wöchentlich eine Messe gelesen wird. Leider fehlt mir das Material zu einer Statistik dieses „Gründerthums“.
Unterdessen war der Abend hereingebrochen, der uns eine ungewöhnliche Demonstration religiöser Begeisterung vor Augen führen sollte. Die Massen sammelten sich wieder bei der Kirche in bewunderungswürdiger Ordnung, Mann für Mann mit einer Wallfahrtskerze bewaffnet. Langsam und feierlich bewegte sich dieser eigenthümliche Fackelzug zurück durch die Gassen des Städtchens. Verworren ertönte das Absingen der Lieder mit dem Murmeln der Gebete unter dem Klange der Glocken; wie eine unendliche Reihe von Irrlichtern blitzten die brennenden Kerzen in die Ferne durch das Dunkel der Nacht, in majestätischer Ruhe aber glänzten die Sterne herab und lächelten dem Treiben der Pilgerheerde zu, die glaubte, ein wohlgefälliges Opfer darzubringen ihrer milden, jungfräulichen Beschützerin, die weit über den Gestirnen throne als freundliche Fürbitterin beim Allmächtigen.
Eine kurze und harte Ruhe umfing die ermüdeten Wallfahrer meist unter freiem Himmel, in den Straßen oder auf den Bänken und Steintreppen der Kirche.
Vor Sonnenaufgang schon schallten die Glöcklein der Messen in ununterbrochener Reihenfolge; die Altäre waren dicht gedrängt von den Frommen umlagert, welche die Communion empfingen; Schaar um Schaar zog in Procession vor die Grotte, „wo man angesichts der weißen lächelnden Madonna das Kreuz immer wieder besser zu schlagen, die Hände zu falten, die Augen zum Himmel zu erheben, die Perlen des Rosenkranzes unermüdlich durch die Finger gleiten zu lassen, wo man die göttliche Kunst des Betens lernt.“ –
Nahe der Kirche führt ein bequemer Weg bis zur Höhe des kleinen „Calvarienberges“, auf welchem während der größeren Pilgerfahrten, wo die vier Wände natürlich keinen Raum mehr bieten, der allgemeine Gottesdienst gehalten wird. Unter dem mächtigen Kreuze erhob sich der Hochaltar, festlich geziert, unweit davon die Kanzel. Gegen neun Uhr Morgens begann die Ceremonie. Bis in die letzte der weiten, weiten Reihen drang die Stentorstimme des Karmeliters, der mit hyacinthischer Beredsamkeit die Bedrängnisse der Kirche schilderte und die Getreuen zu Beharrlichkeit und Ausdauer anfeuerte, welcher unter den Beistande der heiligen Jungfrau der endliche Sieg nicht fehlen werde. Die Morgensonne strahlte in ihrem hellsten Glanze auf die Tausende herab. Belebend zog der frische Luftstrom über die Häupter hin. Zu den Füßen öffnete sich das ganze Panorama der reizenden Thallandschaft, und in schweigender Majestät beherrschten die Pyrenäengipfel die feierliche Scenerie – selbst die kalte Neugierde des Unberufenen mußte weichen und machte einer unwillkürlich bewegten Stimmung Platz. Ist doch die Natur der erste und schönste Tempel, in welchem das religiöse Gefühl angesichts des blauen und unbegrenzten Himmels sich so gern und so frei entfaltet.
Und diese in ruhiger Andacht knieenden Pilger, theilten sie diese Empfindung? Gewiß, doch bewußt war sie ihnen nicht; das Göttliche, wenn es auf sie wirken soll, muß ihnen in Formen erscheinen, die dem Gefühle leicht faßbar sind; die Ideale der Vollkommenheit müssen sie in deren körperlichen Trägern anschauen.
Darum fühlt sich ihr Herz durch das Bild der Muttergottes, der tröstenden Fürbitterin, so gewaltig angezogen. Jahrhunderte hindurch hat der katholische Cultus dafür gesorgt, daß der hohe Gedanke der leeren Form zum Opfer falle; kein Gott ohne Altar, Weihrauch und Messe. Beim dreimaligen Schalle des Glöckleins pochten mechanisch tausend Hände auf die Brust – es wäre eine Sünde, es nicht zu thun. Hat unser Jahrhundert keine Rettung aus diesen Geistesirrungen? – Von der anderen Seite des Hügels klomm eine muntere junge Schaar heran. Die gallische Lebhaftigkeit und Lebenslust blitzte aus den Augen dieser fröhlichen Zöglinge der Erziehungsanstalt, die zahlreich, alle in schmucker Uniform, sich der Frühlingsferiensonne freuten, welche sie aus den dumpfen Pensionatsräumen hervorgerufen. Düster aber schritten neben ihnen die strengen Mentore. Was unter dem schwarzen Dreispitze hervorblickte, war ein Hohn auf die edle, hohe Aufgabe des Lehrerberufes, war Loyola’s Geist. Ein Blick hieß auf der Anhöhe die Fröhlichkeit verstummen; einige Rippenstöße brachten die wildesten der Jungen in Reih und Glied, und mit dem getheilten Gefühle von Scheu und Andacht im Ausdrucke der frischen Gesichter nahte sich die Generation der Zukunft Frankreichs der Stätte des Gottesdienstes. Daß das großartige Schauspiel seinen Eindruck auf die empfänglichen Gemüther nicht verfehlen konnte, ist sehr begreiflich, denn die jugendliche Phantasie, die hier so reiche Nahrung fand, konnte nicht dem Gedanken Raum geben, daß, was jetzt im Herzen des Knaben als fromme Begeisterung glühte, einst im Manne die Quelle einer verknöcherten Bigotterie und finsteren Ignoranz werden müsse.
Während der Nachmittagsstunden kehrten die Pilgercolonnen wieder zurück an den heimischen Herd, in die Stille und Einsamkeit ihrer Bergdörfer, begleitet von den Erinnerungen an die Wallfahrt, die in den Herzen haften wie die Einzelnheiten der ersten Reise in Gemüthe des Knaben. Der Clerus weiß den Festbummeltrieb sehr geschickt für seine Zwecke auszubeuten; der schlichte Bauersmann, der sonst das ganze Jahr kaum von seiner Scholle wegkommt, sieht die Wallfahrt, an der Theil zu nehmen ihm die bedeutend ermäßigte Fahrtaxe sehr erleichtert, gewiß nicht nur von ihrer religiösen Seite an, schreibt aber den wohlthätigen Einfluß, den das Reisen in seiner Stimmung hervorruft, nur einer übernatürlichen Inspiration zu. Der Katechismus hat ihn gewöhnt, für alles, was sein Gefühlsleben bewegt, überirdische Quellen zu suchen.
Der Anblick der vielen Kranken am geweihten Wasser führt uns auf die sehr materielle Seite dieser Gnadenorte; daß die Heilkraft nicht im Glauben und inbrünstigen Gebete, sondern im rein Aeußerlichen, dem unschuldigen Wasser gesucht wird, beweist der Umstand, daß fromme Leidende, die z. B. in Paray-le-Monial nicht erhört werden, zur concurrirenden Madonna in Lourdes pilgern, wie Patienten, die nach Bedürfniß ihre Curorte wechseln. –
Das Quellwasser muß gegen alle Gebrechen, die des Körpers wie die der Seele, seine Dienste leisten. Die Herzensgeheimnisse heirathsfähiger Mädchen sind nicht zum geringen Theile die Grundlage der Bitten, mit denen die heilige Jungfrau bestürmt wird. Die Resultate aber, die vielgepriesenen Wunder in ihrem Nichts bloß zu legen und mit den Waffen unumstößlicher Wahrheit dem frommen Betruge auf den Leib zu rücken, wäre eine
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Unterdessen dauern die Wallfahrten in zunehmender Stärke fort; kaum vergeht ein Tag, ohne daß größere oder kleinere Processionen am Wunderorte im Triumphzuge der unseligsten Priesterherrschaft ihre Huldigungen darbringen. Unaufhörlich brennen die geweihten Kerzen vor dem Bilde der Madonna, der „unbefleckten Empfängniß“. Im schönen Frankreich wuchert von Tag zu Tag üppiger die verderbliche Saat des Pfaffenthums; der starke und wohlgerüstete Clerus führt mit bestem Erfolge seine bewährten Waffen in’s Feld. Im spöttelnden Indifferentismus der andern Seite findet er keine Gegner; die gegenwärtigen Staatszustände arbeiten seinem Bestreben wirksam in die Hände, und wo allein die Rettung gefunden werden könnte, in einer kräftigen, allseitigen Hebung der Schule, da herrschen fort und fort die alten, verrotteten, faulen Zustände – wozu auch Aufklärung für diese „crétins“? Armes Volk!- ↑ Der Heilungsschwindel in Lourdes dauert lustig fort, und nach wie vor wirft die Pariser Presse Nachrichten in die Massen, welche geeignet sind, dem Wallfahrten-Unwesen immer mehr Vorschub zu leisten. Nur ein Beispiel statt vieler! „Der Pariser ‚Univers‘ erhält aus Lourdes vom 20. Aug. folgende zwei Depeschen: ‚Am Samstage kamen die Pilger der Notre-Dame de Salut glücklich in Lourdes an, wo sie viele Freunde fanden. Die 100 Kranken ertrugen die Reise sehr gut. Des Morgens fand die wunderbare Heilung der Marie Jaspierre aus Rheims statt, die mit unendlicher Mühe nach Lourdes gebracht worden war und welche ihr chronisches Leiden plötzlich verlor und ihre volle Gesundheit wiedergewann. Viele Zeugen für ihr langes Leiden befinden sich in Lourdes. Um 3 Uhr fand die Heilung Goudeman’s aus Lavallois statt, der von mehrern schweren Krankheiten befallen war, die von den Nonnen, welche seine Krankenwärterinnen gewesen, festgestellt waren. Er erhielt zu gleicher Zeit seine Gesundheit und seine Kräfte zurück.‘ Die zweite Depesche lautet: ‚Heute, Sonntag, celebrirte Msgre. Evington die Messe. Des Morgens plötzliche Heilung der Victorine Fournier aus Lille. Es ist die dritte Heilung. Eine Menge Kranker verspürt einen Beginn der Heilung.‘“ Angesichts dieses noch immer blühenden Humbugs dürfte der obige sehr ruhig gehaltene Artikel, welcher aus der Feder eines seit längeren Jahren in Frankreich heimischen Deutschen stammt und authentische Schilderungen über Lourdes und seine kirchlichen Possen bringt, ganz zeitgemäß kommen. Wie wir hören, hat übrigens auch das französische Ministerium die Frage in Erwägung gezogen, wie dem Treiben im Lourdes ein Ziel zu setzen sei.D. Red.