Textdaten
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Autor: F. B.
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Titel: Ein Unikum in Deutschland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 600–602
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Unicum in Deutschland.
Bei deutschen Genossenschaftspionieren.


Wenn man auf der Berlin-Görlitzer Eisenbahn die langweiligen Sandebenen glücklich hinter sich hat und sich nach Durchfahrung des engen Einschnitts bei Ludwigsdorf durch den malerischen Anblick der Stadt Görlitz mit ihren mannigfaltigen Thürmen und dem gebirgigen Hintergrunde für die Entbehrungen der Fahrt entschädigt sieht, so wird das Auge hart vor der Einfahrt in den Bahnhof, falls man es nicht vorzieht, einen Blick nach rechts auf den schönbewaldeten berggekrönten Kegel der Landskrone zu werfen, durch einen in Ziegelrohbau aufgeführten mit Ladungsperron und Dampfesse versehenen umfangreichen Bau festgehalten, der sich auf einem dicht an die Bahn grenzenden Grundstücke erhebt.

Noch vor wenigen Jahren lag an dieser Stelle ein niedriger Hügel, der dem Auge die Aussicht auf die Stadt verwehrte. Der bergeversetzenden Thätigkeit der Eisenbahnbaumeister hat auch er weichen müssen, um mit seinen Erdmassen ein benachbartes Thal ausfüllen zu helfen, und nur an der entgegengesetzten Grenze des Grundstücks ist noch zu erkennen, daß hier erhebliche Abschachtungen stattgefunden haben. An seiner Stelle ist eine ebene Fläche entstanden, auf der sich jener große zweistöckige Ziegelrohbau erhebt – das neue Geschäftshaus des Waareneinkaufsvereins zu Görlitz.

Die Geschichte dieses Vereins, der unter den deutschen Consumvereinen seit einigen Jahren eine hervorragende Stellung einnimmt und mit der Errichtung dieses Gebäudes einen großen Schritt weiter in dieser Entwickelung gethan hat, zeigt einige Aehnlichkeit mit der der ehrlichen Pioniere von Rochdale, jener englischen Arbeitergenossenschaft, deren großartige Erfolge nicht wenig dazu beigetragen haben, die Einführung der Consumvereine in Deutschland zu ermöglichen.

Ein Vortrag über die Pioniere von Rochdale veranlaßte elf Görlitzer Arbeiter am 6. April 1861 zusammenzutreten, um nach dem Vorbilde ihrer englischen Standesgenossen durch wöchentliche Einlagen von einem Silbergroschen die Mittel zu gemeinsamem Ankauf von Waaren zu beschaffen, welche beim Einzelkauf erheblich theurer waren.

Eine Zehntel-Kiste Cigarren, zum Verbrauch auf den Sonntagsspaziergängen bestimmt, war der erste Ankauf, und da die Mitglieder bei Entnahme der Cigarren den in den Kaufmannsläden üblichen Detailpreis zahlten, so ergab sich ein hübscher Verdienst aus diesem „Engrosgeschäfte“. Dies ermunterte die Genossenschaft, den Ankauf noch weiter auszudehnen und neben den Luxusartikeln, Cigarren und Zucker, auch noch Brod, Seife und Streichhölzchen unter die regelmäßig geführten Waaren aufzunehmen.

Das Capital mehrte sich durch die Wocheneinlagen, sowie durch den Erlös aus dem Detailverkauf der Waaren zu höheren Preisen, und der in dem kleinen Vereine erfahrungsmäßig geführte Nachweis, daß sich die Einrichtungen der ehrlichen Pioniere von Rochdale auch auf Deutschland übertragen ließen, wo die Consumvereine zuerst keinen Boden fassen zu können schienen, führte der Genossenschaft aus dem Arbeiterstande bald neue Mitglieder zu.

Schon im Laufe des ersten Jahres war der Verein so gewachsen, daß die Errichtung eines Vertriebslagers als Nothwendigkeit erschien. Da jedoch die knappen Mittel die größte Sparsamkeit zur Pflicht machten, so begnügte man sich zunächst damit, in einem der alten Häuser der Rosenstraße, einer kleinen Nebenstraße der Altstadt, ein kleines dunkles Gewölbe zu miethen, in dem ein Mitglied täglich an einigen Stunden die Waaren vertrieb und das verkaufte Quantum in die Bücher der einzelnen Mitglieder eintrug, um die Vertheilung der Dividende nach Maßgabe der entnommenen Waaren zu ermöglichen. Da der Verein seine Waaren in kleinen Quantitäten bei den einheimischen Kaufleuten entnahm, so konnten die finanziellen Ergebnisse der solidesten Verwaltung auf wohlhabendere Personen einen Reiz nicht ausüben, um so weniger, da bei den hohen Preisen der Görlitzer Colonial- und Materialwaarengeschäfte Viele ohnehin ihre Waaren von auswärts billiger zu beziehen sich gewöhnt hatten. Die Entwickelung des Vereins konnte unter diesen Verhältnissen nur eine sehr langsam sein; ein Theil der Mitglieder trat wieder aus, da der Zusammenbruch eines anderen schlecht geleiteten Consumvereins sie ängstlich machte, und nur hundertundzehn hielten treulich aus.

Bis zum Herbst 1865 hatte der Verein ausschließlich aus Arbeitern bestanden, und ein Theil der Mitglieder war sogar der Ansicht, daß die Consumvereine ausschließlich für den Arbeiterstand bestimmt seien. Auf Rath des Dr. Bernhard Rickert, des leider zu früh verstorbenen begeisterten und thätigen Apostels des Genossenschaftswesens, schlossen sich die Freunde der Consumvereinsbestrebungen an den bestehenden Verein an, der dadurch einen erhebliche Zuwachs aus den wohlhabenden und gebildeten Kreisen erhielt. Die Neueingetretenen, die ihr Capital, ihre Intelligenz, ihre Thatkraft der Genossenschaft zur Verfügung stellten, begegneten bei Einigen dieser Exclusiven deutlich erkennbarem Mißtrauen, und als durchgreifende Reformen der schwerfälligen Einrichtungen vorgenommen wurden, schied der bisherige Leiter mit einer Anzahl seiner Getreuesten aus, um wieder einen reinen Arbeiterverein zu bilden, der indeß nach kurzer Zeit eingegangen ist, weil die Meisten es vorzogen, in den alten Verein zurückzukehren.

Innerhalb des Vereins entspann sich nun ein reger Wetteifer in Förderung der Vereinszwecke. Allen voran leuchtete Dr. Rickert, der unermüdlich thätig seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete des Consumvereinswesens dem Waareneinkaufsvereine zu Gute kommen ließ und mit seiner Begeisterung auch Andere erfüllte, namentlich einen jungen Görlitzer, Otto Bertram, der auf seiner Wanderschaft mit ihm zusammengetroffen war und jetzt von ihm dem aufblühenden Vereine als Geschäftsführer zugeführt wurde und bis heute die Seele des Vereins ist. Aber auch andere der Neueingetretenen suchten dem Vereine durch Auffinden von Bezugsquellen, durch Werbung neuer Mitglieder, durch Verbreitung richtiger Ansichten über das Wesen der Consumvereine Nutzen zu schaffen.

Einen durchgreifenden Erfolg dieser gemeinsamen Bemühungen nahm man indeß erst dann wahr, als im letzten Quartale 1866 unter Aufgabe des bis dahin innegehaltenen englischen Princips der Beschluß gefaßt wurde, bei strengster Festhaltung der Baarzahlung bei Entnahme der Waare – einer für den Verein wie für die Mitglieder gleichwichtigen Norm, deren Einführung in den allgemeinen Geschäftsverkehr ein mächtiger Hebel unserer Industrie sein würde – den Verkaufspreis so festzusetzen, daß der Zuschlag nur reichlich die Verwaltungskosten deckte. Der Verein hatte nämlich die Erfahrung gemacht, daß das Bestreben, hohe Dividenden zu vertheilen, dazu führen mußte, nahezu dieselben Preise zu halten, wie andere Verkäufer, und daß die Gutschrift der meist nicht bedeutenden Dividende, über die ohnehin den Mitgliedern nicht die freie Verfügung zustand, nur geringen Anreiz zur Entnahme von Waaren aus den Vereinsläden bildete. Man glaubte auf diese Weise einmal dem Vereine zu nützen, indem man ihn in den Stand setzte, in größeren Posten einzukaufen, worin die Hauptbedeutung des Waarengeschäfts liegt, und zugleich die Vortheile dieses neuen Princips noch dem übrigen Publicum zuzuwenden, indem man die Kaufleute nöthigte, nun auch ihrerseits mit den Preisen herunterzugehen.

Bei der Annahme des neuen Princips wurde es nun nothwendig, für die Vertheilung des Gewinns eine neue Norm festzustellen, da eine Controle über das Quantum der entnommenen Waaren aufhörte. Man wählte die Vertheilung nach der Kopfzahl, um nicht die Mitglieder mit höheren Einlagen zu sehr zu bevorzugen, und erhöhte, um die darin liegende Unbilligkeit einigermaßen zu mildern, den Zinsfuß für die Einlagen der Mitglieder auf 62/3 %, wodurch man einen neuen Anreiz zum Sparen geben wollte. Jedes Mitglied, das ein volles Jahr hindurch seinen Beitrag von 10 Pfennigen pro Woche, also von 5,20 Mark für das Jahr gezahlt, oder einen Mitgliederantheil von 75 Mark vollgezahlt hat, ist dividendenberechtigt.

Die bisherigen Erfolge des Vereins haben den Vertheidigern des neuen Princips Recht gegeben.

Ende 1865 betrug die Zahl der Mitglieder 197, am Schlusse des Geschäftsjahres 1875/76 2496; das Mitgliederguthaben ist [601] in derselben Zeit von 2733 Mark auf 322,620 Mark gestiegen, der Geschäftsumsatz von 11,511 Mark auf 1,391,242 Mark, der Reservefonds von 312 Mark auf 39,374 Mark, und während 1865 die Gesammtdividende 480 Mark nach Zuschreibung von 66 Mark Zinsen betrug, hat der Verein diesmal über einen Reingewinn von 46,228 Mark zu verfügen, nachdem 62/3 % auf das Mitgliederguthaben an Zinsen gezahlt oder gutgeschrieben sind.

Für die Steigerung des Umsatzes wie für den Umfang des Geschäfts in einzelnen Waaren geben folgende Zahlen einigen Anhalt, welche den Absatz 1865 und 1875 bezeichnen. Der Verkauf des Salzes stieg von 27,50 Centner auf 5773 Centner, des Zuckers von 14 auf 5348 Centner, der Soda von 7 auf 1470 Centner, der Waschseife von ½ auf 1101 Centner, des Reises von 2,35 auf 2168 Centner, des Kaffee von 8,30 auf 1810 Centner, der trockenen Gemüse (Bohnen, Erbsen, Hirse, Linsen, Graupen, Gries) von 16,48 auf 2618 Centner. Von den erst 1866 eingeführten Waaren ist der Verbrauch des Petroleums von 45,45 auf 6250 Centner, der Heringe von 4 auf 411 Tonnen, der Rosinen und Korinthen von 16,60 auf 587 Centner gestiegen, während der erst 1867 eingeführte Weinverkauf seitdem von 385 Flaschen auf rund 100,000 Flaschen angewachsen ist.

Mit der Vergrößerung des Umsatzes und der Steigerung der Zahl der Mitglieder stand selbstverständlich eine Erweiterung und Vermehrung der Geschäftslocale in Zusammenhang.

Das dunkle und enge Local in der Rosenstraße hatte der Verein schon im Frühjahre 1865 aufgegeben und war nach der gleichfalls in der Altstadt gelegenen Nicolaistraße übergesiedelt, wo der Verkaufsraum ein freundlicheres Ansehen hatte, während als Comptoir, Conferenzzimmer und Niederlage ein nur sechs Fuß hoher Raum diente, zu dem man auf einer leiterartigen Holztreppe emporkletterte. Bald wurde die Errichtung eines zweiten Lagers nöthig, 1867 die eines dritten und dann erfolgte in den Jahren bis 1870, in kurzen Zwischenräumen, nacheinander die Eröffnung von noch sechs anderen Verkaufsstellen. Der Vertrieb in diesen Läden, die ohne jeden Luxus eingerichtet, aber zur Bequemlichkeit der Mitglieder in den verschiedensten Stadttheilen errichtet waren, wurde meist früheren Arbeitern übergeben, die auf Wochenlohn und Tantieme gestellt wurden. Da der Einkauf sie Nichts anging, ein großer Theil der Waaren ihnen auch bereits verpackt und abgewogen übergeben wurde, so war Ehrlichkeit, Sicherheit im Rechnen, Schnelligkeit in der Expedirung und Aufmerksamkeit genügend, sie für den Posten zu qualificiren, und eine genaue Controle mußte das Uebrige thun. In weitaus den meisten Fällen hat der Verein mit der Auswahl dieser Detaillisten ohne kaufmännische Vorbildung Glück gehabt, und Verluste durch Schuld derselben sind nicht zu verzeichnen gewesen.

Der Einkauf der Waaren, also die eigentlich kaufmännische Thätigkeit, fiel dem Geschäftsführer zu, der dabei einen jungen Kaufmann und einige Comptoiristen zur Unterstützung erhielt, unter Mitwirkung des Vorstandes bei allen größeren Einkäufen. Das Ziel, den Verein von den einheimischen Kaufleuten zu emancipiren, war schon sehr bald erreicht, und bald zwang das Auftreten der Material- und Colonialwaarenhändler den Verein, für Colonialwaaren auch von den inländischen Grossisten sich großentheils abzuwenden und an den Seeplätzen seine Einkäufe zu machen.

So lange der Bedarf des Vereins bei den größeren Görlitzern Häusern gedeckt wurde und der Verkauf zu Tagespreisen stattfand, hatten ihn die Geschäftsleute unbehelligt gelassen, ja mit einem gewissen vornehmen Wohlwollen diese Bestrebungen zur Hebung des Arbeiterstandes besprochen. Das änderte sich aber mit einen Schlage, als der Verein Miene machte, für das gesammte Publicum die Preise zu reguliren. Von diesem Momente an begann der theils offen, theils geheim geführte Kampf gegen den „Verein“, wie er seit seiner großen Ausbreitung in der Bürgerschaft schlechtweg hieß und noch heißt. Abschneidung der Bezugsquellen und Auferlegung der Gewerbesteuer waren die Hauptwaffen, mit denen die Kaufmannschaft dem Verein zu Leibe ging, aber all diese feindlichen Maßnahmen trugen nur zur Hebung des Unternehmens bei.

Wie das immer zu geschehen pflegt, hatten sich auch diesmal die Genossenschafter, redlich bemüht, ihre Organisation zu verbessern und ihr Geschäft zu consolidiren, im der Zeit des Kampfes nur noch enger aneinander geschlossen. Man fühlte das Bedürfniß, auch außerhalb der Generalversammlungen Vereinsangelegenheiten zu besprechen und gesellig zu verkehren. So entstand das Lesezimmer, in dem für die Mitglieder unentgeltlich eine große Anzahl von Zeitungen und Journalen ausliegt, neben dem Versammlungssaale, an dem während des Winters fast jeden Sonnabend ein populärer Vortrag für die Mitglieder gehalten wird, beide für jetzt noch in gemietheten Räumen eines ehemaligen Privattheaters, da für diese Zwecke das Vereinshaus nicht ausreichte.

Ein Vereinshaus hatte nämlich bereits im Jahre 1867 die Genossenschaft erworben, ein stattliches altes Patricierhaus an der Petersstraße, unmittelbar neben dem ersten Verkaufslager des Vereins in der Rosenstraße. Die Geldmittel zum Ankaufe des für dem Verein sehr werthvollen Grundstücks wurden in kürzester Zeit gegen Ausgabe von Schuldscheinen von den Mitgliedern beschafft, und nun ward allmählich an den Ausbau des Hauses gegangen, in dem die Weinniederlagen, das Magazin, das Comptoir, das Cassenlocal, die Zuckerschneideanstalt sowie das erste Vertriebslager untergebracht wurden.

So sehr man aber auch die für Vereinszwecke benutzten Räume vermehrte, so wuchsen sie doch nicht in dem Verhältnisse, wie der Umfang des Geschäfts, und da überdies die Versendung der Waaren nach außerhalb, namentlich auch an die befreundeten Vereine, zunahm, welche den Vortheil des gemeinsamen Einkaufs mit dem Waareneinkaufsverein einsahen, da die Weinkeller nicht mehr ausreichten, für das Petroleum auswärts besondere Räume gemiethet werden mußten, überdies für das umfangreiche Kohlengeschäft der Erwerb eines Lagerplatzes an der Bahn nöthig wurde und eine baldige Verlegung der vom Vereine in gemietheten Räumen errichteten Bäckerei in Aussicht stand, auch die Anlegung eines Holzgeschäftes maschinelle Einrichtungen neben einem großen Lagerplatze verlangte, so wurde, sobald die Herstellung einer Schienenverbindung mit der Berlin-Görlitzer Bahn gesichert war, der Ankauf eines etwa zehn Morgen großen, später noch vergrößerten Grundstücks an der Rauschewalder Chaussee und der Bahn beschlossen und dort die Einrichtung des neuen Geschäftshauses des Vereins bewilligt. Die Abschachtung der überflüssigen Erdmassen und die Anschachtung der für die Kellereien bestimmten Räume übernahm die Berlin-Görlitzer Eisenbahngesellschaft.

Dieses Geschäftshaus des Vereins ist es, das sich dem Blicke des in den Görlitzer Bahnhof von Berlin her einfahrenden Reisenden darbietet. Einfach und schmucklos im Aeußern, ohne architektonische Zier, ist es doch wegen der außergewöhnlichen Zweckmäßigkeit seiner Einrichtung und der Solidität seiner Ausführung eine Sehenswürdigkeit von Görlitz und, wenigstens vorläufig, ein Unicum in Deutschland, da kein Consumverein und kein Kaufmannshaus Aehnliches aufzuweisen hat.

Man gelangt auf das Grundstück auf einer breiten Straße von der Chaussee her. Erst wenn man bis an den geräumigen gepflasterten Hof vorgeschritten ist, in dessen Mitte in stattlicher Reihe die Brod-, Kohlen-, Roll- und Flaschenwagen aufgefahren sind, bekommt man einen Begriff von der Ausdehnung des Gebäudecomplexes, der aus einem Stall- und Wirthschaftsgebäude als linkem Flügel, dem Mittelhause mit der Böttcherei und dem Magazingebäude mit anstoßendem Comptoirgebäude auf dem rechten Flügel besteht.

Der weiter nach hinten liegende Petroleumspeicher mit geräumigem Bassin zur Aufnahme des Petroleums bei etwaiger Feuersgefahr verräth, daß die den Hof einschließenden Gebäude nicht die einzigen sind, und geht man einige Schritte weit bis hinter das Comptoirgebäude, so erblickt man eine Anzahl kleiner Bauten, die sich an den Hauptbau anschließen, ein sehr zweckmäßig eingerichtetes Badehaus zu Dampf- und Wannenbädern für Beamte und Arbeiter, die Holzspalterei, in welcher mit einer Wiener Holzspaltmaschine dreizehn Klaftern Holz täglich gespalten werden, und neben dem Dampfschornsteine ein Maschinenhaus mit angrenzender Kaffeebrennerei, in der gleichzeitig drei Kaffeetrommeln mit je fünfundzwanzig Pfund Inhalt durch Dampfkraft bewegt werden.

Daneben liegen der Holzplatz und der Kohlenplatz, welche ebenso wie der Ladeperronschuppen an der hintern Seite des Magazingebäudes den Schienenstrang berühren, auf dem die Eisenbahnwaggons unmittelbar zum Entladen herangefahren werden.

[602] Und nun zurück zu den Hauptgebäuden, die alle massiv aus Ziegeln erbaut und mit Häusler’schen Cementdächern gedeckt sind. In dem nahezu einundfünfzig Meter langen Stall- und Wirthschaftsgebäude befindet sich neben den Remisen der helle Pferdestall mit acht getrennten verschließbaren Ständen, aus denen in der Freizeit die Pferde des Vereins, meist Percherons, neugierig ihre Köpfe strecken, wenn ein fremdes eintritt, und neben diesem der Spirituslagerraum mit den Entfuselungsapparaten, während Heu- und Haferböden und vier Arbeiterwohnungen im ersten Stockwerk angebracht sind. Andere Wohnungen enthält der erste Stock des ungefähr siebenundvierzig Meter langen Mittelgebäudes, dessen links gelegene Räume die Essigfabrik und Böttcherei beherbergen und dessen übriges Parterre zum Bereich des Kellermeisters gehört.

Fast die ganze Länge des siebenunddreißig Meter langen Magazingebäudes hat an der Hoffront einen breiten Lagerperron, der durch zwei große Schiebethore mit dem Speicher in Verbindung steht. Von diesem Perron aus erfolgt die Verladung der den Betriebslägern und dem Engroslager in der Stadt zuzuführenden Waaren, welche aus den mächtigen dreifach über einander liegenden Speicherräumen hierher geschafft werden. Zwei Fahrstühle, mit Dampfkraft getrieben, vermitteln den Verkehr zwischen den über einander liegenden Räumen, deren imponirende Balken und Träger das Gefühl der größten Sicherheit gewähren. Die Mitte des untern Raums nimmt ein nach allen Seiten mit Glasfenstern versehener Comptoirraum für den Magazinverwalter ein.

Mit den Speicherräumen stehen die an der Hinterfront gelegenen Nebenräume in Verbindung: die Zuckerschneideanstalt, in der auf zwei Maschinen die Zuckerhüte in Würfel geschnitten werden und wo der gesammte für den Detailverkauf bestimmte Zucker abgewogen und in verklebte Papierbeutel verpackt wird, die Kaffeebrennerei und der Füllraum, in welchem nach den praktischsten Methoden Flüssigkeiten, als Mostrich, Speiseöl, Syrupe etc., in Gläser und Büchsen gefüllt werden. Am oberen Ende stößt der untere Speicher an den Laderaum am Lagerperron, von dem aus auch eine Oeffnung nach den Kellereien führt; am unteren steht er durch eine Glasthür mit dem Comptoir im Verbindung, aus dem man in das Zimmer des Geschäftsführers und das Sitzungszimmer der Verwaltungscommission und des Aufsichtsraths gelangt. Eine besondere Telegraphenleitung setzt diese Räume mit dem kaiserlichen Telegraphenamte in Verbindung und ermöglicht es, Anordnungen nach der inneren Stadt in wenigen Minuten zu ertheilen.

Das sind die oberirdischen Geschäftsräume des neuen Vereinshauses.

Aber auch unter der Erde lagern Schätze und herrscht ein reges Leben. „Vergiß das Beste nicht!“ ruft dem Besucher die Geisterstimme eines Gnomen von unten zu, und wahrlich, wer Sinn für einen trefflichen Weinkeller und eine Zunge zum Kosten hat, würde Mangel an Instinct zeigen, wenn er es versäumte, die Erlaubniß zum Besuche der Kellereien nachzusuchen, die sich in der vollen Länge des Mittelgebäudes, des Magazingebäudes und des Comptoirgebäudes, in den beiden letzteren sogar doppelt, hinziehen.

Man gelangt in dieses unterirdische Reich durch das Mittelgebäude, in dem Expeditionsraum, Gährstube, Kellermeisterstube, Waschküche und Flaschenlagerraum das Parterre einnehmen, auf breiten massiven Treppen zunächst zu dem Flaschenkeller, wo auf hölzernen Regalen hundertsechsunddreißigtausend Flaschen der verschiedenen Weine lagern, Weine aus Ungarn, Sicilien, Spanien, Frankreich und Deutschland, vom leichten Landweine bis zum feinen Cabinetsweine. Aber das ist nur ein Vorspiel. Von dem Vorraume aus führen zwei Thüren in die Lagerkeller. Dreischiffig mit hohen Bogen der eine, zweischiffig gewölbt der andere, liegen sie in scheinbar unergründlicher Tiefe da, und erst wenn man einen Begleiter mit dem Lichte bis an das andere Ende des großen Raumes geschickt hat, oder die Nummern der nebeneinander liegenden stattlichen Fässer zählt, bekommt man von der Größe der Keller und den im ihnen lagernden Quantitäten eine annährende Vorstellung. Zweimal im Jahre sollen die Räume den Mitgliedern bei voller Beleuchtung geöffnet werden; zum ersten Male geschah das bei der Anwesenheit des Anwalts der deutschen Genossenschaften, Dr. Schulze-Delitzsch, im Mai, wo die Keller mit ungefähr sechshundert Lichtern beleuchtet waren. Der Eindruck, den diese Beleuchtung machte, war großartig; namentlich imponirten die in dem großen Keller liegenden Faßriesen von mehr als siebentausend Liter Inhalt.

Von diesen Kellern aus, deren Inhalt die verschiedenen Weinländer Europas, vorzugsweise aber Frankreich, Ungarn und Deutschland liefern, gehen schon jetzt Sendungen nach allen Gegenden Deutschlands und über dessen Grenzen hinaus. Besonders starken Absatz finden außer den kleinen Würzweinen der Mosel, der Pfalz und der ungarischen Weingegenden, der Medoc- und ungarischen Rothweine zu billigen Preisen die süßen ungarischen Ausbrüche, als Tokayer, Ruster, Menescher, die in halben Literflaschen zu ein Mark zwanzig Pfennig bis ein Mark fünfzig Pfennig verkauft werden, und die gezehrten Ober-Ungarweine im Preise von fünfundsiebenzig Pfennig bis ein Mark. Der Umstand, daß der Verein von den Producenten kauft und mit geringem Aufschlage verkauft, erklärt diese Preise. Uebrigens hat der Verein in seinen Kellereien Weine, die er einzig führt, darunter einen Tokayer-Riesling, der mit dem Charakter des Tokayerweins die Blume des Riesling verbindet. Wenn die aufrichtigen und begeisterten Wünsche, welche bei diesen Weinen auf das Gedeihen des Vereins ausgebracht sind, in Erfüllung gehen, dann ist die Zukunft desselben für alle Zeiten gesichert.
F. B.