Zwei Stunden im englischen Parlamente

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Zwei Stunden im englischen Parlamente
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 97–100
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zwei Stunden im englischen Parlamente.

So oft auch in England die Sitzungen der Volksvertreter und Gesetzgeber schon eröffnet wurden – öfter in der That, als in jedem andern Lande der Erde, ruft doch der jährlich wiederkehrende prächtige Zug der Königin zur Vorlesung der Thronrede immer wieder Hunderttausende nach St. James-Park und die angrenzenden Straßen, durch welche die Königin bei dieser Gelegenheit in’s Parlament fährt. Ich hatte mich dies Jahr auch unter die Massen gestellt und wartete nun am 31. Januar von 12 Uhr [98] geduldig und still, wie andere Legionen englischen Volkes, unter den Bäumen des Park-Spaziergangs, die weder Blätter noch Früchte trugen, selbst nicht einmal einen der vielen Jungen, die hinaufkletterten und auf das freundliche Geheiß der höflichen Policemen immer sogleich ebenso freundlich wieder herabstiegen. In der That ein großes Wunder im Kleinen. Die Doppelreihe der Volksmassen war im Park allein eine gute englische Meile lang, und sie warteten zwei Stunden! Zeit und Gelegenheit und Veranlassung genug zu einigen Zänkereien, Widersetzlichkeiten und Arretirungen. Fischblutiges, nüchternes, freies englisches Volk! Nicht eine einzige Widersetzlichkeit? Nicht ein einziger Scandal? Nicht nur dieses nicht, nein auch kaum ein lautes Wort, zwei Stunden lang hunderttausende freier Menschen im Freien oft bis zum Rippenbrechen zusammengedrängt – und kaum ein lautes Wort! In der That konnte man einzelne etwas laute Aeußerungen der 40 Fuß weit gegenüberstehenden Volksmauer auf unserer Seite vernehmen. Hier und da machte man wohl halblaut einen Witz mit den sehr spärlich vertheilten Policemen, die müßig mit ihren „Flöten“ (den kurzen Stöcken, ihrer einzigen Waffe) spielten und kaum etwas Anderes zu thun hatten, als die „Ladies“ in die erste Linie zu bringen, insofern die dadurch zurückgedrängten Herren, die man hier, wenn der Hut nur einigermaßen gebürstet ist, immer „Gentlemen“ titulirt, es nicht vorzogen, auf ihren Plätzen zu bleiben. Sonst passirte während der zwei Stunden gar nichts. Zwar fuhren hinter der linken Reihe öfter prächtige und seltsame Wagen herauf mit dienstbaren Geistern, die buntscheckiger aussahen, als Seiltänzer und Reitkünstler im Dienste, aber das Alles störte die kaltblütigen Massen nicht. Nur einmal wurden sie ganz unten an der Kaserne der Pferdegarde (dem entgegengesetzten Punkte vom Buckingham-Palast, der londoner Residenz der Königin, zwischen welchen sich St. James-Park ausdehnt) ganz ungemein lebendig und lautes Hut- und Taschentuchschwenken und Jauchzen und Jubeln von Oben und Unten um einen einzigen Wagen herum, aus dem zwei Herren mit Schnurrbärten freundlich, aber doch auch traurig und verlegen, herausnickten. Der Eine trug Civilkleider, der Andere, ein älterer Herr mit hoher Stirn und schöner Nase, eine Uniform. Letzterer, hieß es, ist der türkische Gesandte.

Sie erlassen mir wohl die weitere Beschreibung des königlichen Zuges, der ungefähr um 4 Uhr in meine Nähe kam. Die prächtige Leibgarde mit ihren großen kohlschwarzen Rossen, die rothangeputzte Wache des Towers, die jetzt genau noch so aussieht, wie zu Maria Stuarts Zeiten, die kostbaren Staatskarossen, – das Alles ist schon so oft beschrieben worden, daß ich es nicht wiederholen mag. Jetzt endlich erschien in Mitte ihrer Krieger die Königin, deren friedliche Regierung noch durch keine Gewaltthat befleckt ward und welche in der beschränkten Sphäre ihrer politischen Macht für Dichter, Künstler und Gewerbe mehr gethan hat, als unbeschränkte Fürsten für Gefängnisse und Festungen.

An dem Staatswagen der Königin fiel mir Alles auf, erst die Schönheit der Pferde, dann die Pracht ihrer Geschirre, dann die komische Figur auf dem vordersten Paare mit rother Jacke in Gold, der schwarzen Sammetmütze und der ungeschickt hinten in die Höhe klaffenden weißen Perrücke, am Meisten die in ungeheuerer goldener Pracht thronende unmenschliche Fettigkeit des Hauptkutschers auf dem Bocke, der manchen Thron an Goldschmuck übertrifft, dann die goldene Krone auf dem Wagen oben und zuletzt die drei roth und golden überladenen Diener hinten. Alles prächtig und so geschmacklos. Es kann für das edle Paar, die Beide stets bewiesen haben, daß sie wahrhaft ästhetischen Geschmack haben, kein angenehmes Gefühl sein, in dieser altconservativen ungeschickten Pracht, welche den englischen Thron und alle staatsmännischen Akte noch heute umgiebt, öffentlich erscheinen zu müssen. Diese constitutionelle Beschränktheit, welche die Lords nicht antasten lassen, aus Furcht, daß der Thron an Festigkeit für ihre Interessen verliere, mag dem englischen Königspaare eine der empfindlichsten sein, wie die ganze althistorische Hofetikette, welche die der Ludwigs von Frankreich an Steifheit weit übertrifft, ohne den Geist derselben zu erreichen.

Durch einen seltsamen, glücklichen Zufall ward es mir möglich, mich in einen Winkel des Oberhauses einschmuggeln zu lassen, wo ich denn thatsächlich eine englische Parlaments-Eröffnung in ihrer ganzen überladenen Pracht und historisch-conservirten Geschmacklosigkeit vor meinen Augen – freilich zwischen verschiedenen Schultern und Köpfen hindurch – sich entwickeln sah. Wie ich durch das Gedränge und die prachtvollen Gänge und Hallen des neuen Parlamentsgebäudes – des umfangreichsten und prachtvollsten aller gothischen Architecturen (wobei ich wieder vom „Geschmack“ absehe) auf meinen Platz kam, weiß ich noch heute nicht, kurz ich war da und dachte so lange, bis die Königin kam, nichts als: „Dieses Haus der Lords ist ein Monstrum von Pracht! Ließe man für 100,000 Pfund heraus stehlen, würde es sehr gewinnen. Doch darüber vielleicht ein andermal. Jetzt welch ein Anblick! Der maßlose Reichthum der englischen Aristokratie strahlend und blendend aus tausend diamantenen kleinen Sonnen von schönen und häßlichen Hälsen und Köpfen. Die Orden aller Fürsten Europa’s und Asiens auf den Uniformen von Gesandten, Legations-Secretairen, Ministern und Diplomaten aller Art, die sich in der Gesandtenloge in solcher Masse drängen, daß ich mich des gottlosen Gedankens nicht erwehren konnte, Einige davon seien ganz überflüssig. Was den russischen Gesandten betrifft, so sahen bald die Meisten, daß er nicht da war. Das diplomatische Corps erfreute sich trotz des Himmels voller Sterne auf seinen Busen nur beiläufiger Aufmerksamkeit, bis plötzlich alle bewaffneten und unbewaffneten Augen auf sie gerichtet waren und lange einem lebhaften Feuer von Augen und Bemerkungen ausgesetzt blieben. Es galt blos dem türkischen Gesandten Musurus, der mit seinem rothen Fetz und seiner blauen besternten Uniform diesem gehaltlosen Feuer eine sehr ruhige, würdige Kälte in seinem Gesicht entgegenzusetzen schien. Die Herren Collegen in der Loge grüßten ihn zum Theil sehr warm. In meiner Kurzsichtigkeit konnt’ ich nicht bemerken, ob er dadurch erwärmt ward. Der Türke ist im Allgemeinen ein schlechter Diplomat, er hält Wort, da er die Worte für das hält, was sie wirklich bedeuten. Man sieht, die Türken sind halbe Barbaren.

Die Lords, welche nichts vertreten, als sich selbst, spielten um den berühmten Wollsack herum, (vor welchem zunächst die höchsten Gerichtspersonen – natürlich alle in mächtige, weiße Perrücken gehüllt, saßen) mit ihren langen, scharlachrothen, reich verbrämten Roben und fidibusbecherartigen Turbans eine eigenthümliche Rolle. Da das Ganze auf mich den Eindruck einer seltsamen mittelalterlichen Theaterscene machte, konnte ich sie lange für nichts anderes als Statisten halten. Die Minister bewegten sich links vom Throne an einem großen grünen Tische und entfernten sich Punkt 2 Uhr, gerufen von Trompetenstößen, welche die Ankunft der Königin ankündigten. Nach 10 Minuten trat die Königin mit einem glänzenden Gefolge ein, an der linken Hand geführt vom Prinzen Albert und begleitet von zwei Damen. Die ganze Versammlung erhob sich, bis die Königin vom Throne herab höflich bat, man möge Platz nehmen. Sie trug eine Tiare von Diamanten und eine diamantene Halskette, und über einem weißseidenen Kleide einen reichen Ueberwurf von claretweinfarbigem Sammet. Prinz Albert stand zur Linken in einer reichen Militär-Uniform, die er nur in unumgänglichen Fällen trägt, rechts der Marquis von Winchester, vor ihm Marquis von Landsowne, die Krone auf einem Sammetkissen haltend. Vor ihr selbst kniete der alte Premier-Minister Aberdeen, mit Muse das große Reichsschwert haltend. Um sie herum prächtige Militäruniformen, ungemein alte aristokratische Damenköpfe mit Schmucksachen, die nur nach Tausenden von Pfunden geschätzt werden und zum Theil als alte historische Familienerbstücke ihre Geschichte haben, die uns verschlossen, aber im „hohen Leben“ geläufiger ist als die Geschichte von England; ferner viel Scharlach, viel Perrücken, viel Backenbart und nobles Gesicht dazwischen, so viel eben der Backenbart Nobles läßt. Die Königin gab sofort, wie vorgeschrieben, Befehl, daß die Herren des Unterhauses eingeladen würden zu erscheinen. Während der Pause sprach sie mit Aberdeen, aber nicht lange, denn nach zwei Minuten entstand ein so lächerlicher Tumult durch das ungestüme Hereindrängen der Unterhäusler, als wenn sie als muthwillige Buben alle auf einmal aus der Schule heraus wollten. Einige ehrwürdige Gestalten kamen in Gefahr auf die Nasen zu fallen. Alle verbissen ein natürliches Lachen, das Ihre Majestät zuerst brach. In der That lachte sie mitten in diesen steifen Formalitäten ganz natürlich weiblich ziemlich hell auf, zuerst nur mit der neben ihr stehenden Herzogin von Southerland, dann aber wohl ziemlich mit der ganzen auserlesensten Gesellschaft. Diese Natürlichkeit der Unterhäusler und die von ihr elektrisch aus zuckende elektrische Batterie natürlichen Gelächters [99] that mir unendlich wohl, da man jetzt sah, alle diese reichen, theatralisch verkleideten Gestalten auch blos Menschen waren mit Augen und Zwerchfellen wie andere Leute von gar keiner Geburt. Als das Unterhaus endlich placirt war, überreichte der Lord-Kanzler der Königin kniend die Thronrede, die sie mit lauter, schöner, ausdrucksvoller Stimme verlas, nur einige Male durch natürliches „Gedrängle“ und ein zischelndes Privatgespräch zweier Auserwählten gestört und unterbrochen. Nachdem sie gelesen, zog sie sich an der Hand ihres Gemahls mit Gefolge zurück und überließ den Lords und dem Unterhause die Sorge, in- und ausländische Fragen und Interjectionen wieder für sechs Monate zu besprechen.

Lord Palmerston.

Und nun nur noch einige Worte über die Stunde, die ich im Vogelbauer des Unterhauses zubrachte, um zu sehen, wie sie in ihren Nächten tagen. Das Unterhaus hat architektonisch und ökonomisch mehr Gebrechen, als ein Pferd im Vieharzneibuche, auf dem alle Krankheiten deutlich ausgeprägt sind. Unten Sibirien, zu Häupten Sahara. Viel „Zug“ und keine „Ventilation.“ Sehr hoch, aber zu klein. In der Restauration theurer Wein und nicht alle Abende ein reines Tischtuch. Aber alle diese Gebrechen sind nichts gegen den „Vogelbauer,“ eine enge Gallerie mit Gucklöchern für 100 Personen d. h. für das ganze englische Volk, das hier angeblich vertreten wird. Es ist hier in der That mehr verdrängt als vertreten. Der Bau beweist, daß die, welche innerhalb der Verfassungsfestung sich ummauert haben, gar keine Lust spüren, die Millionen außerhalb hineinzulassen. Freilich sie haben draußen viel Arbeit und öffentliche Meinung und freie Presse und keine Gewerberäthe, und Polizei und Soldaten ohne Waffen. Und das ist mehr werth, als alle sechs Jahre eine Stimme und alle Tage einen Polizeisäbel vor der Nase. Doch halt, ich bin im Vogelbauer! Was sah ich nun von da oben? Wie die Herren auf ihren Bänken spärlich umher lagen oder saßen, mit und ohne Hut, in allen möglichen unanständigen Positionen, plaudernd, schlafend, gehend und kommend. Papiere empfangend, vertheilend, und zerknitternd; wie sie Apfelsinen schälten, hineinbissen und mit den Schalen einen Kollegen vor oder hinter sich bombardirten, der seinerseits mit Papier oder Apfelstückchen das Feuer erwiederte; wie Einer den schlafenden Nachbar unter der Nase kitzelte und nun bersten wollte vor Lachen, als der Aufgewachte einen ganz Unschuldigen bedrohte: wie sie sich von dem großen grünen Ministertische Bücher holten oder dieselben hinwarfen, daß es durch die ganze Halle dröhnte; wie bei alle dem Treiben immer Einer dastand und eine Rede hielt und „der Sprecher“ in seiner lang überhängenden Perrücke fortwährend sehr würdevoll auszusehen suchte und unter einem solchen Ungethüm von weißen Haarlocken in meinen Augen immer komischer, immer fabelhafter, immer unmöglicher auszusehen anfing; wie Einige immerwährend halblaut plaudernd, manchmal Arm in Arm hinausgingen und immerwährend Andere wieder hereinkamen, wie der Redner ununterbrochen unterbrochen ward und sich doch gar nichts daraus machte, wie die „reporters“ und Stenographen in ihrem Winkel die Ohren spitzten und das Wenigste verstehen zu können schienen: wie – nun ich denke es ist genug. So sah’s im Unterhause aus, wenigstens als ich im „Vogelbauer“ war. Freilich hat es seinen Haken. Es war eine „langweilige“ Sitzung ex officio, eine gleichsam vorher und amtlich zur Langweiligkeit bestimmte Nacht, sonst [100] wär’ ich gar nicht unter die Hundert im Vogelbauer gekommen. Zu interessanten, wichtigen Sitzungen, wo eine bedeutende Abstimmung, ein interessanter Parteikampf, eine Rede von Palmerston oder Russel u. s. w. erwartet wird, ist der Zudrang „Bevorzugter“ so groß, daß ein Fremder mit’m Bart stundenlang unter einem königlichen Schutzdache auf Zutritt warten muß, um endlich zu hören, daß heute Niemand mehr eingelassen werden könne Dann kämpfen die Herren im Unterhause auch nicht mit dem Schlafe und Apfelsinenschaalen, sondern mit Reden, guten, oratorischen Reden, derben Angriffen und feinen Witzen und Pointen, dann werden dort Wahrheiten und gewichtige Worte in die Öffentlichkeit geschleudert, wie in keinem andern Saale Europa’s, und die Zuhörer beweisen durch häufiges hear! hear! oder Gelächter oder „Groans“ oder Beifallsgetrommel ihre lebhafte Theilnahme.

Im Ganzen genommen entwickeln aber die beiden Herzkammern der englischen Gesetzgebung wenig Ernst und Würde. Es geht ein eigenthümlicher Zug von Ironie und Phrase durch alle Verhandlungen, der von viel Bildung und Freiheit Zeugniß giebt, zugleich aber von dem geheimen Bewußtsein, daß wohl Dieser und Jener hinter den schönsten Perioden und erhabendsten Schwingungen seiner Beredtsamkeit doch nur sein eigenes Interesse gegen die Ansprüche Anderer geltend zu machen sucht. Vielleicht habe ich das Vergnügen, Ihnen nächstens schon eine interessante wichtige Sitzung schildern zu können, einstweilen sende ich Ihnen das Portrait Palmerstons, des vielbelobten und vielgeschmähten Lord Feuerbrands, dessen wahrheitsgetreue und parteilose Charakteristik bei nächster Gelegenheit folgen wird.