Zur Todtenfeier des heimgegangenen Künstlers

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Titel: Zur Todtenfeier des heimgegangenen Künstlers
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 76–80
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zur Todtenfeier eines heimgegangenen Künstlers.

Felix Mendelssohn-Bartholdy! Welchem Leser der Gartenlaube wäre dieser Name unbekannt! Wer hätte nicht schon seine „Lieder ohne Worte“ gehört, seine Ouvertüre zum Sommernachtstraum, sein prächtiges, in allen deutschen Gauen so oft erklungenes Männerquartett: „Wer hat Dich, Du schöner Wald, aufgebaut?“ Wer hat sich nicht an diesen herrlichen Klängen erbaut und den Tondichter gefeiert in dankbarer Erinnerung! Zwar hat auch an seinem Verdienste der Neid zu nagen versucht, aber nur, um sich die Zähne vergeblich daran auszubeißen.

Wenn man die Lebensgeschichten der Künstler nicht blos oberflächlich

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Felix Mendelsohn-Bartholdy.

überschaut, sondern tiefer in ihr inneres Wesen eindringend durchschaut, stellt sich im Ganzen eine lange Reihe von Märtyrern dar. Besonders unterworfen diesem traurigen Geschick sind die Tonkünstler. Von der erschreckend großen Zahl der musikalischen Proletarier an, die den Namen „Künstler“ mit den elendesten täglichen Nahrungssorgen bezahlen müssen, bis zu den schaffenden Genie’s hinauf, die als wirkliche oder nur eingebildete „Zufrühgekommene“ ihrer Zeit geben oder zu geben wähnen, was erst eine spätere genießen kann, ist der äußere Kampf um die leibliche Existenz oder der innere gekränkten Ehrgeizes der Hauptinhalt von der Tonkünstler Erdenwallen. Eine öftere Ausnahme machen die musikalischen Ephemeren. Diese ziehen schnell einen großen Liebhaberkreis an, weil sie es verstehen, dem gemeinen Tages- und Modegeschmack zu huldigen. – Zuweilen kommt denn auch Einer in die Welt, dessen Werth schnell erkannt wird, dessen Ruhm sich sein ganzes Leben hindurch und über sein Leben hinaus in gleichem Grade und Glanze erhält. Unter diese seltenste Art von Tonkünstlern gehört Mendelssohn, dessen funfzigsten Geburtstag wir am 3. Februar feierten, wenn auch das Geburtstagskind längst unter dem kühlen grünen Rasen ruht.

Felix Mendelssohn-Bartholdy wurde am 3. Februar 1809 zu Hamburg geboren. Sein Großvater war der berühmte Philosoph Mendelssohn, sein Vater ein reicher Bankier. Dieser wie die Mutter unseres Felix besaßen eine reiche Bildung und liebten namentlich auch die Musik.

Im Jahre 1812 siedelte die Familie nach Berlin über, wo sich bald ein Kreis von Notabilitäten der Kunst und Wissenschaft in dem gastfreien Hause versammelte. Da wurde denn auch sehr viel gute Musik getrieben. Die angeborene Neigung zur Tonkunst gab sich frühzeitig in dem Knaben kund und die Eltern beförderten dieselbe auf alle Weise. Den ersten Unterricht auf dem Clavier übernahm die Mutter selbst. Bald trat Berger dafür ein, kurze Zeit auch Moscheles. In der Theorie und Composition wurde Zelter sein Hauptlehrer; dazwischen, bei seiner ersten Anwesenheit in Paris, wohin ihn der Vater geführt hatte, bekam der Knabe auch von Cherubini Unterricht im Contrapunkt. Dabei wurde die wissenschaftliche Bildung nicht vernachlässigt. Felix erhielt ausgezeichnete Privatlehrer, ließ sich später als Student auf der Berliner Universität inscribiren, frequentirte die Vorlesungen eifrig und machte sein Studentenexamen in gehöriger Form.

Da Mendelssohn Alles, was er angriff, mit Ernst und Eifer betrieb, so erwarb er sich viele und gründliche Kenntnisse. Er las die lateinischen und griechischen Autoren in den Ursprachen, schrieb und sprach französisch, englisch und italienisch geläufig und las den „Don Quixote“ spanisch. Nebenbei nahm er Unterricht im Zeichnen und Malen und brachte es auch in diesem Fache zu gewandter und leichter Darstellung. Es existirt noch manche gelungene Landschaft von ihm. Auch die Körperbildung des Knaben wurde nicht vernachlässigt. Er lernte Schwimmen, Reiten, erwarb sich große Gewandheit im Turnen und war ein leidenschaftlicher und graziöser Tänzer.

Endlich bereiste er zu verschiedenen Zeiten, theils in Begleitung [78] seines Vaters, theils allein, einen großen Theil von Deutschland, Frankreich, England, Schottland und Italien.

Die Productivität wurde frühzeitig in ihm lebendig. Als er sechzehn Jahre alt war, hatte er bereits drei Quartette für Pianoforte, Violine, Viola und Cello, eine Sonate für Pianoforte, sieben Charakterstücke für dasselbe Instrument, zwölf Gesänge für eine Singstimme mit Pianoforte, die Hochzeit des Camacho, komische Oper in zwei Acten, veröffentlicht. Im Ganzen sind sechsundsechzig Werke mit Opuszahl und fünfzehn ohne Angabe derselben im Druck erschienen, darunter viele sehr umfangreiche, wie seine beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“, seine Symphonien etc.

Im Herbst 1833 übernahm Mendelssohn die Stelle des städtischen Musikdirektors in Düsseldorf. 1835 folgte er dem Rufe als Dirigent der Leipziger Gewandhausconcerte. Am 4. October dirigirte er zum ersten Male daselbst. Von da an begann für Leipzig die Glanzperiode seiner Concerte und musikalischen Zustände überhaupt. Als Anerkennung seiner Verdienste erhielt Mendelssohn von der Universität zu Leipzig das Doctordiplom und von dem Könige von Sachsen den Titel als sächsischer Capellmeister. 1837 verheirathete er sich mit Cécile Jeanrenaud, der Tochter eines reformirten Predigers zu Frankfurt a. M. Der Ruf als königlich preußischer Generalmusikdirector zog ihn nach Berlin, wo er die Compositionen zur Antigone, Athalja, zum Sommernachtstraum und Oedipus lieferte und aufführte, und schien ihn Leipzig für immer zu entführen. Indessen sagten ihm die Verhältnisse daselbst, trotz der königlichen Gunst, der er sich zu erfreuen hatte, nicht zu; er erbat und erhielt die Erlaubniß, nach Leipzig zurückzukehren. Bei der Einrichtung des Leipziger Conservatoriums war er thätig und zog durch seinen Namen viele Schüler herbei.

Mit seinem steigenden Rufe vermehrten sich die Einladungen zur Betätigung an großen Musikfesten; so dirigirte er in London, Birmingham, Köln, Aachen, Lüttich, Frankfurt, Braunschweig, Weimar u. a. O. m. Am öftersten reiste er nach England. Er war sieben Mal dort, führte seine Hauptwerke, Ouvertüren, Symphonien, Oratorien, zumeist in den philharmonischen Concerten selbst auf, spielte auch darin, so wie am Hofe vor der königl. Familie mehrere seiner Claviercompositionen.

Den Sommer 1847 wollte Mendelssohn zur Erholung in Vevey zubringen. Der Tod seiner Schwester, die er zärtlich liebte, verleidete ihm den Plan. Doch ging er einige Zeit nach Baden, dann nach Laufen, endlich nach Interlaken. In einer kleinen Dorfkirche, nahe dem Brienzer See gelegen, improvisirte er vor einigen Freunden wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben auf der Orgel. Denn schon zogen leise Todesahnungen durch seine Seele, diesmal keine vagen Einbildungen, sondern wohl schon Vorboten der nahenden Krankheit, die ihn nach seiner Rückkehr nach Leipzig befiel.

Am 9. October des Nachmittags war er in einem befreundeten Hause zum Besuch und accompagnirte eben einige Stücke aus seinem „Elias“, als ihn ein plötzliches Unwohlsein überfiel, daß er nach Hause gehen mußte. Heftiger Andrang des Blutes nach dem Kopfe, Erstarrung der Hände und Füße traten ein. Kräftige, schnell angewandte Mittel des Arztes schienen geholfen zu haben. Es war leider Täuschung. Am Nachmittage des 28. Oct., nachdem er mit seiner Gattin einen Spaziergang gemacht, traf ihn ein heftiger Nervenschlag. Zwar erhielt er nach einem Aderlasse das Bewußtsein wieder, konnte aber nur in abgebrochener Rede über heftige Kopfschmerzen klagen. Dazwischen hatte er ruhige Momente, auch zuweilen sanften Schlaf. Aber am 3. November wiederholte sich der Schlaganfall, und von diesem Momente an kannte er Niemand mehr. So lag er, umgeben von seiner Familie und einigen Freunden, bis zum 4. November, wo er Abends 9 Uhr seine Seele mit einem tiefen Seufzer aushauchte. – Leipzig ehrte die großen Verdienste des Dahingeschiedenen durch die allgemeinste, tiefste Theilnahme. Ein imposanter Trauerzug und eine ergreifende Todtenfeier gab Zeugniß davon.

Der kurzen Lebensskizze mögen einige Betrachtungen folgen.

Wurde Mendelssohn vom Leben Alles gewährt, was ein Talent schnell bilden kann, so hatte ihm die Natur alle Eigenschaften zu einem großen Künstler in seltenem Verein geschenkt. Ein scharfes Begriffsvermögen machte ihm alles Lernen zum leichten, angenehmen Spiel. Dazu kam ein unglaublich treues Gedächtniß. In Berlin – um nur ein Beispiel anzuführen – hatte er dem Flötisten Guillon ein Concertstück auf dem Pianoforte begleitet. Acht Tage nachher wurde dieser in einer Gesellschaft aufgefordert, es zu wiederholen, was er abschlug, da er die Begleitungsstimme nicht bei sich habe. Mendelssohn erbot sich, dieselbe aus dem Gedächtniß zu spielen, und that es richtig von Anfang bis zu Ende, zur höchsten Verwunderung des Franzosen. Die schwierigsten Sachen von Bach, Beethoven, Hummel etc. spielte er öffentlich ohne Noten, und fast alle größeren Werke, wie die Opern von Gluck, Mozart, Beethoven, Weber u. A. hatte er so fest im Gedächtniß, daß er sie auswendig am Clavier mit völliger Sicherheit begleitete. Eben so glücklich waren seine Anlagen zu körperlichen und mechanischen Thätigkeiten. Zu welcher Virtuosität er es auf Clavier und Orgel gebracht, ist bekannt. Auch Violine und Viola spielte er. Und nie hat es für ihn langer und anstrengender Uebungen dazu bedurft. Die Fertigkeiten bildeten sich bei ihm in reißender Schnelle und wie von selbst aus.

Die einzige Gefahr, welche ihm in der Jugend als Componist drohte, war sein Hauptlehrer in der Composition, Zelter. Zwar wirkte dieser auf die Ausbildung des Kunstverstandes und mehr noch auf die Gewandtheit in allen contrapunktischen Künsten sehr ersprießlich auf den Knaben, aber in Hinsicht auf die blühende Erfindung und die freieren Formen der Musik war der alte Maurermeister weit hinter seiner Zeit zurückgeblieben, nicht fähig, die Werke eines Beethoven, C. M. v. Weber u. A. vollkommen zu begreifen, zu schätzen und seines Schülers Richtung und Streben darauf zu befördern. Ein weniger energischer und selbstständiger Geist wäre durch die markige Entschiedenheit der Ansichten und die Autorität eines solchen Lehrers in dem veralteten Style, den dieser allein liebte, gefangen worden und geblieben. Auch sind Mendelssohn’s früheste Compositionen nicht frei von diesem Einflusse. Aber er wußte das Brauchbare des Lehrers von dem Antiquirten desselben gar wohl zu unterscheiden und ging bald seinen eigenen und besseren Weg.

Die große Anzahl von bedeutenden Werken, welche er in seinem kurzen Leben zu Tage gefördert, würde schon merkwürdig sein, wenn er sich in stiller Muße und ausschließlich nur der Composition überlassen hätte. Wahrhaftiges Erstaunen muß aber diese Fruchtbarkeit erwecken, wenn man an die mannichfaltigen anderen Thätigkeiten denkt, denen er sich unterzog, an die vielen Reisen, die er als Knabe, Jüngling und Mann unternahm, an die vielen Directionsgeschäfte bei auswärtigen Musikfesten und bei den Leipziger Gewandhausconcerten, an die Gesellschaften, namentlich musikalische, denen er sich gern hingab, an die Besuche so vieler Reisender, die ihn persönlich kennen lernen wollten, an die vielen Einsendungen junger Componisten, die um sein Urtheil über ihre Versuche baten, an die fast ununterbrochen einlaufenden Briefe, von denen er, gleich Humboldt, keinen unbeantwortet ließ.

Dabei ist noch zu bemerken, daß er jene Schnelligkeit und Leichtigkeit des Schaffens und jene Sicherheit des Hinwurfs seiner Conceptionen, welche z. B. einem Mozart verliehen war, keineswegs besaß. Er änderte viel an seinen Compositionen, arbeitete manche ganz um und verwarf zuweilen ganze Stücke. Er hat eine ziemliche Menge von Manuskripten hinterlassen, die seinem Willen nach niemals in die Oeffentlichkeit gelangen sollten. Indessen verschwindet das Räthselhafte dieser außerordentlichen Productivität bei näherer Kenntniß seines Wesens. Zuerst besaß er von frühester Jugend an eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit und Reizbarkeit wie des Geistes so des Körpers. Er konnte keinen Augenblick unbeschäftigt bleiben; der Thätigkeitstrieb war in außerordentlichem Grade in ihm vorhanden; – so war ihm das Arbeiten zur gebieterischen Nothwendigkeit geworden. Und obwohl von zartem Organismus, war er doch einer außerordentlichen Ausdauer fähig. Nun sind ja die Geistesoperationen nicht an die Stube und den Arbeitstisch gebunden; das geistige Werkzeug, sein Gehirn, hat der lebende Mensch immer bei sich, er kann also seine Phantasie und seine Gedanken überall, an jedem Ort und zu jeder Zeit, in’s Spiel setzen. So arbeitete Mendelssohn oft in Momenten, wo Andere ihn scheinbar unbeschäftigt glaubten. Wie bei Mozart, waren daher auch bei Mendelssohn die Reisen keine Abhaltungen vom Componiren. Sie beförderten vielmehr dasselbe, und Manches, was er zu Hause schnell niederschrieb, hatte er fertig im Kopfe mitgebracht, da sein eisernes Gedächtniß ihm Alles, was er behalten wollte, treu aufbewahrte.

Die Haupteigenschaft jedoch, welche ihm so viele und so vielerlei abwechselnde Thatäußerungen möglich machte, war die Gabe und Kraft, sich, wo und wann immer er wollte oder mußte, augenblicklich, [79] ganz und ausschließlich nur auf den Gegenstand zu fixiren, den er eben vornahm. Verbindet sich mit dieser Kraft der Wille, jede Stunde zu benutzen, mit irgend einer nützlichen und nöthigen Thätigteit auszufüllen, so ist die enorme Summe von bedeutenden Thaten und Hervorbringungen erklärt, durch welche Geister wie Napoleon, Humboldt u. A. und so auch Mendelssohn die Welt in Erstaunen setzten.

Was nun den Werth der Mendelssohn’schen Werke betrifft, so darf man seine besten unbedenklich unter die besten überhaupt rechnen, welche bis heute die musikalische Welt kennen gelernt hat. Eine Ouvertüre, die das Ohr durch reizendere Klänge, das Gemüth durch tiefere Gefühlseindrücke, die Einbildungskraft durch originellere Bilder erfreute und fesselte, als es seine Ouvertüren zum „Sommernachtstraum“ und zur „Fingalshöhle“ thun, ist unserer Empfindung nach weder vor, noch neben, noch nach ihm erschienen. Ein Oratorium, das man an Gediegenheit und Wirkungskraft über den „Paulus“ setzen dürfte, wüßten wir nicht zu nennen. Und so finden sich unter allen seinen Compositionen Stücke, welche bis heute zu den vortrefflichsten gehören und nicht übertroffen sind.

Aber nicht von allen, ja nicht einmal von der Mehrzahl derselben ist das zu behaupten. Und das wird erklärlich, wenn wir wissen, daß er nicht blos schuf, wenn der Genius in ihm glühte und ihn zwang, sondern daß er auch schrieb, wenn jener nicht aufgelegt war. Mendelssohn theilte nämlich den Glauben, daß der Künstler keinen Tag ohne Pinselstrich vorüberlassen dürfe, um nicht aus der technischen Uebung zu kommen. War er nun zwar im Ganzen sehr streng gegen seine Arbeiten, hielt er manche geringere darunter zurück, so konnte es doch nicht fehlen, daß die formelle Vollendung, welche er jeder seiner Compositionen eben wegen seiner großen technischen Ausbildung zu ertheilen wußte, ihn zuweilen über ihren höheren ästhetischen Werth täuschte, und er mehr hineingeschaffen zu haben glaubte, als Andere davon herauszuhören vermochten. Es versteht sich, daß der Begriff „geringer“ bei seinen Werken nur im Vergleich mit seinen besten Werken gelten soll. Denn im gewöhnlichen Sinn hat er keine geringen Werke veröffentlicht. Seine relativ geringsten haben immer noch mehr Werth, als manche neuere, deren Urheber es ihm gleich zu thun oder ihn gar zu übertreffen meinen. Was Mendelssohn ferner und besonders hoch stellt, ist die Eigenthümlichkeit seiner Musik, die er noch zu offenbaren vermochte, nachdem so viele große Meister alle Seiten der musikalischen Kunst und alle Stylweisen bereits ausgebeutet und erschöpft zu haben schienen. Es ist Mendelssohn kein Meister nachzuweisen, dessen Weise er genau nachgeahmt hätte. Seine Gedanken sind durchaus nur seinem eigenen Kopfe entsprungen, tragen nur sein und keines andern Componisten Gepräge. Die Eigenschaften seiner Compositionen kann man etwa folgendermaßen charakterisiren: Feuer, aber ein verklärtes, nicht jenes wilde, rohe, fessel- und formlos nach allen Seiten hin ausschlagende und prasselnde; Schwung, der in mehrfachen Graden sich steigert, niemals aber in kreischenden Lärm überschlägt; Zartheit und Anmuth, ohne Süßlichkeit; Humor in mäßigem Grade, aber ohne launenhafte plötzliche unvermittelte Uebergänge; ein elegisches Element; viel feine polyphon ausgearbeitete Miniaturzüge; eine blühende Colorirung der Zeichnung, und manche erst durch ihn gebrachte originelle Instrumentalmischungen und Effecte; eine klare, überall faßliche Construction der Gedanken, durch festgehaltene Entwicklung aus wenigen Hauptzügen (thematische Arbeit) leicht und übersichtlich ausgeprägte Form; und endlich – Adel der Gedanken.

Man kann Mendelssohn in gewissem Sinn den letzten Repräsentanten und Anhänger der klassischen Kunstmaximen nennen. Und das muß hoch angeschlagen werden in einer Zeit, wo das Festhalten daran in der Meinung einiger Nachfolger schon als ein zweifelhaftes Verdienst, ja wohl gar als Beweis mangelnder Genialität zu gelten begann, wozu Beethovens letzte Werke den vorzüglichsten Anlaß gaben, die aus dem Gebiete des Classischen heraus schon, wenn auch verhältnißmäßig nur noch in seltenen Momenten, in das Hyperromantische hinüber strebten und streiften. Daher erklärt sich die oft durchstrittene Frage: ob Mendelssohn ein Genie oder nur ein bedeutendes Talent gewesen sei. – Es ist hier nicht Raum zu einer gründlichen Untersuchung dieser beiden so viel gebrauchten Worte. Nur bemerkt sei, daß der Unterschied zwischen beiden, wenn ein solcher überhaupt existirt, noch nirgends so bestimmt und deutlich angegeben ist, um einen sichern Gebrauch davon bei Abschätzung der Meister und ihrer Werke machen zu können. Hat doch einmal ein Kritiker sogar Goethe ein großes Talent, aber kein Genie genannt! Wir meinen: ein Künstler, der, wie Mendelssohn, so viele Werke geschaffen, die noch heute, also nach 30 Jahren, in ungeschwächter Lebenskraft und Liebenswürdigkeit erscheinen, die heute noch Kennern und Laien in allen musikalischen Ländern genußreiche Stunden schenken – ein solcher Künstler muß jedenfalls einen Geist von ungewöhnlicher Kraft und Schönheit besessen haben, und damit wollen wir zufrieden sein. Welche allgemeine Anziehungskraft seine Compositionen besitzen müssen, geht am schlagendsten aus den vielen Nachahmern derselben hervor. Selbst Rob. Schumann, der nächste und begabteste Nachfolger, hat sich Mendelssohn’s Einflusse nicht ganz zu entziehen vermocht.

Was Mendelssohn als Orchesterdirigent geleistet, steht in zu gutem Andenken, um einer breiteren Auseinandersetzung zu bedürfen. Die Sicherheit seiner Taktgebung, das Eindringen in die feinsten Züge der Meister, die Gabe, sie durch Rede, Haltung, Auge und lebendiges Spiel seines geistreichen Antlitzes der ganzen Masse der Ausführenden gleich einem elektrischen Strome mitzutheilen, steht unübertroffen da.

Auch als Claviervirtuos zählte er längere Zeit zu den ersten mit. An Fertigkeit wurde er später von Einigen übertroffen, an geistreicher Wiedergabe der Intentionen hingegen ist er von Wenigen erreicht worden. Wahrhaft bewundernswerth war, was er im Prima vista-Spielen (vom Blatt spielen) zu leisten vermochte. Die vollständigsten Partituren las und spielte er, ohne zu stocken, beim ersten Mal, als läge ein einfacher und leichter Clavierauszug vor ihm.

Es gibt eine Anzahl von Sätzen, die von Geschlecht zu Geschlecht als unbestreitbare Wahrheiten übernommen und ohne Prüfung hartnäckig fortgeglaubt werden, so viele offen vorliegende Thatsachen auch das Gegentheil davon predigen. Darunter gehört unter andern der Ausspruch, daß das wahre Talent sich Bahn breche durch alle Hindernisse, ja, daß diese zur Förderung desselben nöthig seien, indem ohne ihre treibende Kraft die Anlagen ihre volle Ausbildung nicht gewonnen haben würden.

Die kurze Skizze von Mendelssohn’s Leben straft wenigstens die Allgemeingültigkeit dieser Meinung gründlich Lügen. Von ihm hielt das Schicksal alle hindernden Umstände sorgfältig fern, und es ist nicht abzusehen, wie er bei Armuth, mangelnder Lehre und sonstigen widerwärtigen Verhältnissen sein angebornes Talent auf eine höhere Stufe getrieben haben sollte. Man vergißt, daß gleiche Umstände auf verschiedene Charaktere unmöglich gleiche Wirkungen hervorbringen können. „Was dem Einen nützt, schadet dem Andern“, ist auch ein Allgemeinspruch, jedenfalls ein begründeterer als der obige. Welche Hindernisse haben denn Raphaels, Goethe’s u. A. Genie befördert? Daher sagte Letzterer auch von Tiedge: „Und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken.“

Ebenso wie den vorigen, widerlegt das Beispiels Mendelssohns einen andern, bei Vielen in hohem Ansehen stehenden Satz, nämlich den: der Künstler findet Anerkennung erst nach seinem Tode. Von Angriffen des Neides blieb freilich auch er nicht verschont, im Ganzen aber hat er den Ruhm noch bei seinen Lebzeiten in vollen Zügen genossen. Und das ist leicht erklärlich. Seine musikalischen Gedanken und Bilder waren zwar immer neu und eigenthümlich, aber sie erschienen überall in klaren, durchsichtigen und faßlichen Formen. Er componirte nach den besten, allgemein anerkannten Grundsätzen der Kunst, nicht nach neuen Systemen, die in ihren Principien noch zweifelhaft, in ihrer praktischen Ausführung noch unreif sich vorgestellt hatten. Wir wollen das Hinausstreben über die Kunstideen einer Gegenwart nicht verwerfen. Es wäre ja ohne diese bewegende Kraft niemals ein Fortschritt bewirkt worden. Wird das wahre Genie von ihr getrieben, so kann sie Großes leisten. Da sie aber auch von jedem Aftergenie als das Agens seiner unreifen Geburten vorgeschoben wird, da sie selbst das wahre Genie viel öfter auf falsche, als auf richtigere und bessere Wege führt, wie die Geschichte aller Künste lehrt: so ist das Publicum nicht zu schelten, wenn es seinem natürlichen Gefühle folgt, Productionen, die ihm nicht behagen, mit Mißtrauen empfängt, zumal sich solche wohl gleich als überschreitende, aber nicht eben so entschieden auch als schönere darstellen. Daher muß es Geister geben, die inmitten solcher gährenden Epochen das anerkannt Gute festhalten, und zeigen, daß auch innerhalb der gewohnten Formen immerfort neue und schöne Gedanken erzeugt werden können. Zudem ist es noch eine Frage, welche von beiden Strebungen die schwierigere ist, ob die, [80] welche sich von den Regeln entfernt, um originell zu werden, oder die, welche innerhalb der Regeln anmuthige und eigenthümliche Gestalten schafft. Uns scheint es eine genialere Kraft zu bedingen, die Gegenwart in gebräuchlichen Rahmen durch neue Bilder zu fesseln, als nach selbstersonnenen Principien, und mit danach geständlich noch unreifen, gährenden Bildungen, die berechtigt, aber auch nicht berechtigt sein können, aufzutreten. Erreichte nun auch Mendelssohn die Stufe der schaffenden Tonkunst nicht, welche wir bis jetzt durch Beethoven als die höchste kennen gelernt haben, so ist er doch diesem wunderbaren Meister im Ganzen – am nächsten gekommen. Wer daher überhaupt ein Herz hat für die Töne, wird die unsres Meisters verstehen, nachempfinden und stets wahre Kunstfreuden dadurch genießen.

Das Privatleben Mendelssohn’s war, wie seine Compositionen, gediegen und geregelt. Wenn er seine Arbeit verlassen hatte, lebte er seiner Familie und einem kleinen Kreise werther Freunde. Feine Gesellschaft, die geistige Unterhaltung bot, liebte er. Für das Wirthshausleben hatte er keinen Sinn. – Gegen seine Kunstgenossen war er gefällig; Kunstjüngern stand er mit Rath und That jederzeit bei. Mit seinen pecuniären Mitteln hielt er Haus, doch war er weit entfernt, damit zu kargen. Wo es noth that, war er zur Hülfe stets bereit, und scheute selbst bedeutende Opfer nicht. Erst nach seinem Tode sind rührende Züge von Unterstützungen bekannt geworden, die er im Stillen gespendet hatte.

–e.