Zur Entwicklung der Arbeiterversicherung

Textdaten
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Autor: Wilhelm Zeller
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Titel: Zur Entwicklung der Arbeiterversicherung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 116–120
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zur Entwickelung der Arbeiterversicherung.

Jedem redlichen Menschen wohnt das Bestreben inne, über den Erwerb des täglichen Brodes hinaus sich und den Seinen für den Lebensabend eine gesicherte Zukunft, frei von Sorge und Plage, zu bereiten. Für seine Beamten hat der Staat nach dieser Richtung durch Zusicherung von Ruhegehalten sorgen müssen, schon um tüchtige Kräfte in seinen Dienst zu ziehen, während die Angehörigen anderer Berufsstände, wie der Landwirtschaft, des Handels, der Gewerbe, auf die Früchte ihrer Thätigkeit angewiesen, in der Regel im Stande sind, Ersparnisse zurück zu legen oder Lebens- und Sterbeversicherungen abzuschließen. Dagegen leidet der sogenannte kleine Mann, hauptsächlich der unbemittelte Arbeiter, allenthalben wo die moderne Productionsweise das industrielle Leben beherrscht, unter einer gewissen Unsicherheit des Daseins.

Seine Bedürfnisse sind gegenwärtig auf ein Maß zurückgedrängt, das vielfach schon unter der Grenze des zum nothwendigen Lebensunterhalte Ausreichenden liegt. Kommen hierzu noch Krankheit oder Unglücksfälle in der Familie des Arbeiters, so muß er mit wachsender Angst jedem neuen Monat und Jahr entgegen sehen, weiß er doch nicht, in welche Ecke ihn das Schicksal einst werfen wird. Der gemeinsame Grund der Unzufriedenheit eines großen Theiles des Arbeiterstandes und der Verbreitung der socialdemokratischen Anschauungen liegt unstreitig [118] in der Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft des Arbeiters, in dem mangelnden Schutze gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Unter allen Mitteln, die Lage der arbeitenden Classen zu heben und den Gefahren der sogenannten socialen Frage zu begegnen, verdient deshalb wohl keines größere Beachtung, als die Versuche, Versicherungscassen für Arbeiter und deren Wittwen und Waisen zu errichten, und so den Arbeiter über seine eigene Zukunft, wie über diejenige seiner Hinterbliebenen zu beruhigen. Dürfen wir es thatenlos mit ansehen, daß Tausende von Invaliden der Arbeit, denen es nicht gelang, mehr zu erringen, als zum täglichen Lebensunterhalt nothwendig war, am Ende ihrer Tage der öffentlichen Unterstützung anheimfallen? Liegt es nicht im Interesse der Harmonie der bürgerlichen Gesellschaft, erscheint es nicht als eine offensichtige Aufgabe des Volkes, hier einzugreifen? Manche Haushaltung wird bereits durch eine vorübergehende Krankheit ihres Hauptes aus dem Gleichgewicht gebracht und dadurch für alle Zukunft gefährdet, wogegen 1876 die Reichsgesetzgebung durch Regelung des Krankencassenwesens für Arbeiter schützend eintrat. (Vergl. „Gartenlaube“, 1878, S. 556)

Weit wichtiger aber erscheint aus den oben betonten Gründen die Fürsorge für die Zeit der Erwerbsunfähigkeit in Folge von Alter und Gebrechen; sicherlich kann den Arbeiter nichts mehr Herabdrücken als der Genuß von Almosen, und umgekehrt hebt ihn nichts höher als das Bewußtsein, daß er Alles sich und seiner eigenen Kraft verdanke und als vollberechtigtes Glied des Staats- und Gemeindewesens erscheine. Die Bedeutung der Errichtung von Hülfscassen für Arbeiter hat in einem Artikel der „Gartenlaube“ von 1878 (S. 655) ein bewährter Fachmann bereits kurz und schlagend nachgewiesen, und herrscht heute kaum noch ein Zweifel über die Nothwendigkeit, dem Versicherungswesen der arbeitenden Classen mit Hülfe der Gesetzgebung zur weiteren Entwickelung zu verhelfen. Dagegen stehen sich die Ansichten über die Wahl der Mittel zur Erreichung des gewünschten Zieles scharf gegenüber. Die Einen halten die Errichtung der Alters und Invaliden, Wittwen und Waisencassen für Arbeiter nur auf Grund einer gesetzlich einzuführenden allgemeinen Beitritts- und Beitragspflicht der Betheiligten für möglich, während die Gegner dieses sogenannten Cassenzwanges das Zustandekommen aus dem Wege der freiwilligen genossenschaftlichen Vereinigungen der Arbeiter erstreben, deren Bildung die Gesetzgebung nur zu fördern und zu erleichtern hätte.

Seit der Reichskanzler mit Antritt seines neuen Amtes als preußischer Handelsminister die endliche Lösung der Streitfrage in Aussicht gestellt hat, ist der Kampf der Vertreter des Cassenzwangs und der Verfechter der Cassenfreiheit immer heftiger entbrannt, weshalb wir unseren Lesern ein übersichtliches Bild darüber geben wollen, wie das wichtige Problem in den einzelnen Ländern gelöst wurde und was auf dem Wege des Cassenzwangs oder der Cassenfreiheit erreicht werden konnte.

Wie bei allen hervorragenden Erscheinungen auf dem Gebiete des gewerblichen Lebens und der socialen Stellung der Arbeiter richten sich unsere Blicke mich in diesem Falle zunächst auf England, wo besondere wirthschaftliche Verhältnisse den Arbeiterstand zuerst zur Erreichung einer ökonomischen Selbstständigkeit in allen Lebenslagen durch Vereinigungen drängten, welche auf dem echt germanischen Grundsatze der Selbsthülfe beruhten. Solange die Zünfte bestanden und Schutzverbrüderungen für alle Lebensverhältnisse bildeten, fand der Arbeiter in Krankheit und Noth bei der Gesellenverbindung, der er angehören mußte und zu deren Casse er Beiträge zahlte, Hülfe. Als die Gilden mit Ende des achtzehnten Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren, die Beschränkungen der Coalitionsfreiheit und Freizügigkeit zusammenbrachen, entstanden, nach einem vergeblichen Versuche den Cassenzwang einzuführen, überall, durch die Gesetzgebung gefördert, freiwillige Hülfscassen der Arbeiter zur Unterstützung in Krankheitsfällen, für die Zeit eingetretener Arbeitsunfähigkeit etc. und wurden zu einem Institut von wahrhaft nationaler Bedeutung.

Als ferner in der Armenpflege der strenge Grundsatz Annahme fand, alle arbeitsfähigen Hilfsbedürftigen auf Kosten der Gemeinde in Arbeitshäusern zu beschäftigen, mußten die Arbeiter auf’s Aeußerste angespornt werden, aus eigener Kraft sich gegen Unglücksfälle zu sichern. Seitdem gewann das englische Hülfscassenwesen eine noch größere Verbreitung, da auch die Gesetzgebung den Unterstützungscassen der Arbeiter alle Vortheile öffentlicher Verbände und Gesellschaften gewährte, namentlich das Recht Eigenthum zu erwerben, Rechtsgeschäfte aller Art durch ihre Vorstände abzuschließen und klagend aufzutreten.

In allen gewerblichen Hülfscassen Englands besteht vollständige Cassenfreiheit mit Selbstverwaltung; die Arbeiter beschaffen die nöthigen Mittel durch Eintrittsgelder und Wochenbeiträge, und nirgends sind die Arbeitgeber verpflichtet, Beiträge zur Gründung oder Unterhaltung der Cassen zu leisten. Charakteristisch für das englische Arbeiterversicherungswesen aber ist die Unabhängigkeit von jeder staatlichen Einmischung, welche der Rechtsanschauung der Engländer fremd ist. Nach amtlichen Erhebungen soll je eine von drei Seelen in Großbritannien und Irland an je einer Hülfscasse betheiligt sein.

Neben diesen Hülfscassen haben die in den letzten dreißig Jahren von den Gewerkvereinen für ihre Mitglieder errichteten Kranken und Altersunterstützungscassen große Bedeutung gewonnen. Die englischen Gewerkvereine sind nach ihrem wesentlichen Grundzug Verbindungen von Lohnarbeitern derselben Beschäftigung zum Schutze und zur Förderung ihrer Rechte und Interessen. Sie entfalteten sich zur wirklichen Bedeutung in der Zeit, als der kolossale Aufschwung der englischen Industrie dem Capitale ein immer größeres Uebergewicht über die Arbeit verschaffte und die allgemein anerkannten Mißbräuche, wie übermäßige Arbeitszeit, die Frauen- und Kinderausbeutung, Lohnherabsetzungen etc. herbeiführte, Ursprünglich suchten die Gewerkvereine ein Gegengewicht gegen die Uebermacht der Arbeitgeber zu Gunsten ihrer Mitglieder auszuüben und benutzten die Strikes als Hauptmittel zur Durchführung aller Forderungen. In neuerer Zeit ist die Thätigkeit der Gewerkvereine eine friedlichere geworden; an Stelle der Strikes ist die Ausgleichung der Streitigkeiten durch gemeinsame Schiedsgerichte zur Regel geworden, und tritt als hauptsächlicher Zweck der Vereine die Sicherung der Arbeiter in allen Lebenslagen hervor, weshalb auf die Regelung der Krankenunterstützung, Versorgung der Arbeitsunfähigen, Wittwen und Waisen der Mitglieder besondere Sorgfalt verwendet wird.

Den Glanzpunkt der englischen Gewerkvereinsbewegung bilden die „Vereinigte Gesellschaft der Bergleute“ in Manchester und der „Verein der Maschinenbauer“, welch letzterer 1851 seine Thätigkeit mit 5000 Mitgliedern begann und jetzt 390 Ortsvereine mit über 40,000 Genossen umfaßt. Die Einnahmen, welche in die Casse der Centralstelle in London fließen, bestehen aus den Eintrittsgeldern, regelmäßigen Wochenbeiträgen und außerordentlichen Erhebungen, falls für besondere Ausgaben die laufenden Mittel nicht hinreichen. Gehört ein Arbeiter dem Gewerkverein 12 Monate an, so erwirbt er das Anrecht auf eine Reihe von Unterstützungen, welche z. B. bei Krankheit 10 Schillinge wöchentlich, bei unverschuldeter dauernder Arbeitsunfähigkeit 100 Pfund Sterling = 2000 Mark Capitalzahlung, bei einem Alter über 50 Jahre 7 bis 10 Schillinge wöchentlich, je nach der Dauer der Mitgliedschaft, betragen.

Die Beiträge sind mäßig, jedes Mitglied hat verschieden nach dem Alter 15 Schillinge bis 2 Pfund 10 Schilling Eintrittsgeld zu zahlen und als regelmäßigen Beitrag 1 Schilling (= 1 Mark) die Woche, demnach für das ganze Jahr 2 Pfund 12 Schillinge – 52 Mark. Die Leistungen des Vereins sind ganz enorme: es wurden z. B. während der Jahre 1851 bis 1875 bezahlt für Krankenunterstützung 294,950, Altersunterstützung 111,395, Unfallunterstützung 25,900, Begräbnißunterstützung 92260, Wohlthätigkeitszwecke 25197 Pfund Sterling.

Neben den freiwilligen Vereinigungen und Unterstützungscassen der Gewerkvereine giebt es in England noch Hülfscassen, die von Eisenbahngesellschaften für ihre Arbeiter und Beamten, ähnlich wie die deutschen Fabrikcassen, errichtet sind, und welchen die Arbeiter beim Eintritt in den Dienst beitreten müssen. Da neben bestehen Sparcassen und Vereine zur Unterstützung bedrängter Arbeiter, während die Lebens- und Rentenversicherungsanstalten meistens den höheren Schichten der Gesellschaft dienen, wenn auch einzelne derselben in neuerer Zeit die Versicherung der arbeitenden Classe in den Kreis ihrer Geschäfte ziehen.

In der gewaltig aufstrebenden Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika genießt die arbeitende Classe zwar die volle Freiheit der Bewegung, wofür sie aber ausschließlich für ihr Fortkommen und Wohl Sorge tragen muß. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter gegen Unfälle, Krankheit, [119] Erwerbslosigkeit und Invalidität fehlen; auch Fabrikcassen kommen nur hier und da vor. Der Arbeiter sorgt im Wesentlichen aus eigenen Mitteln für die Zeit der Noth, was ihm leichter als in anderen Ländern, da seine Lage eine bessere, die Löhne höher und die Lebensmittelpreise niedriger sind. Die englischen Hülfscassen fanden in Amerika nur vereinzelt Nachahmung, dagegen bestehen eine Menge von Privatunterstützungsvereinen im Anschlusse an die stark verbreiteten Logen und wohlthätigen Gesellschaften.

In Frankreich gelangte das Genossenschaftswesen nicht zu der hohen Blüthe wie in England. Die ältesten Anstalten zur Fürsorge für Zeiten der Noth sind jene über ganz Frankreich verbreiteten Cassen zur verzinslichen Anlage von Ersparnissen, welche den Unbemittelten in den Stand setzen, sich in dem hochentwickelten von der Natur gesegneten Lande nach und nach zum Capitalisten aufzuschwingen und im Alter die Früchte seines Fleißes zu genießen. Daneben gingen aus den mittelalterlichen Zünften und religiösen Bruderschaften freiwillige, hauptsächlich für die arbeitende Classe bestimmte Hülfsgesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung hervor, deren Mittel aus Eintrittsgeldern und Wochenbeiträgen bestehen, und deren Zweck der gleiche ist wie derjenige der englischen Hülfsvereine. Alle diese Gesellschaften entstanden ohne staatliche Mitwirkung als rühmliches Zeugnis eigener Thätigkeit, und wurde das Unternehmen des Einzelnen durch die Wohlthätigkeitsanstalten der verschiedenen Städte unterstützt. Die steigende Bedeutung dieser Gesellschaften erregte selbstverständlich die Aufmerksamkeit der Regierung, und schon im Jahre 1848 befaßte sich die Nationalversammlung mit dem Studium dieser Mittel zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen. Unter den verschiedenen Vorschlägen finden wir hier: Verbindung der Alterspensionscassen mit den Kranken- und sonstigen Unterstützungscassen, obligatorische Beitragspflicht der Gemeinden, Provinzen und des Staates zu den Einkünften der Cassen, Beitragspflicht der Arbeiter und Arbeitgeber. Allein die Idee, dem Staate eine bedeutende Mitwirkung an dem wirthschaftlichen Wohle des Einzelnen zur Pflicht zu machen, fand wenig Anklang, und schließlich drang die Anschauung durch, daß man von der Regierung nicht mehr als Schutz und Aufsicht für die Hülfsgesellschaft fordern dürfe. Die Verhandlungen endeten mit der Gründung einer von dem Staate garantirten nationalen Altersversorgungscasse, bei welcher der Grundsatz festgehalten wurde, das Capital der Leibrenten und Pensionen durch freiwillige Beiträge zu bilden. Im Anfange der 1850er Jahre bemühte sich die Gesetzgebung, die Verbreitung der freiwilligen Hülfsgesellschaften zu fördern, und sicherte allen Vereinigungen, welche gewisse Normativvorschriften erfüllten, neben einer Reihe von Rechten und Vortheilen einen gewissen Zuschuss aus Staatsmitteln zu. Hierbei wurde von jedem Gründungszwange abgesehen; nur wo das Bedürniß nach einer Hülfscasse sich herausgestellt hat, soll der Maire und Gemeinderath die Bewohner des Ortes zu eigenem Vorgehen anregen und belehrend wirken, wobei der Staat bereit ist, allen Cassen, welche um ihre Anerkennung bei der Regierung einkommen, zu Begründung einen Beitrag zu gewähren.

Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens mag an die Gleichgültigkeit und an die Vorurtheile erinnert werden, welche erfahrungsmäßig den Arbeiter davon abhalten, einer Casse beizutreten, die sich noch nicht bewährt, oder gar eine neue Casse gründen zu helfen. Diesem Uebelstande hilft die staatliche einmalige Unterstützung jedenfalls ab, und hat auch die französische Gesetzgebung das Wachsthum der anerkannten Gesellschaften gefördert, ohne die freien Cassen zu verdrängen. Ein innerer Unterschied zwischen beiden Arten besteht eigentlich nicht; die Verschiedenheiten einzelner Einrichtungen werden allmählich verschwinden und die freien Cassen sich Vortheile der anerkannten Gesellschaften sichern.

Wie oben erwähnt, genießt die 1850 errichtete Altersversorgungscasse zu Paris die Garantie des Staates; sie steht unter Verwaltung der Staatscasse für Depositen und Pfanddarlehen und versichert Leibrenten für ein bestimmtes Alter, daneben Pensionszahlungen im Falle vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit durch Verwundung oder Gebrechlichkeit. Die bis heute gewonnenen Resultate beweisen, daß die Versicherungen durch eigne Initiative gering sind im Vergleich zur Zahl der durch die arbeitgebenden Institute vermittelten. Insbesondere sind es die Eisenbahncompagnien, Brücken- und Straßenverwaltungen, die Staatsmanufacturen, welche zu Gunsten ihrer Arbeiter und Beamten die Versicherungscasse benutzen. Die Zahl der jährlichen Einzahlungen beweist eine geringere Betheiligung als bei der staatlichen Sparcasse, welche sechsmal mehr Einlagen empfängt. Der französische Arbeiter legt seine Ersparnisse lieber in den Sparcassen an, von denen er sie in jedem Augenblicke der Bedürftigkeit zurückziehen kann, und diese Erfahrung verwerthen deshalb Manche in Frankreich dadurch, daß sie bei der neuerdings geplanten Errichtung einer allgemeinen Arbeiter-, Alters- und Invaliden-Versorgungscasse an Stelle der Freiwilligkeit nunmehr den Cassenzwang fordern.

In Deutschland sind nur die Cassen, welche ihren Mitgliedern in Krankheitsfällen Unterstützung und ärztliche Hülfe gewähren, zu ausgedehnter Verbreitung gelangt. Das Reichshülfscassengesetz von 1876, welches auf dem Grundsatze des Cassenzwanges beruht, hat es den Gemeinden überlassen, Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter zum Eintritt in Krankencassen anzuhalten, beziehentlich solche Zwangscassen für Arbeiter zu errichten, und Normativvorschriften für die Einrichtungen jener Hülfscassen gegeben, durch deren Annahme jede freiwillig errichtete Krankencasse sich die Vortheile der auf Anordnung der Gemeinde entstandenen Casse sichern kann. Hierher gehört namentlich die Befreiung der Mitglieder der Cassenvereine von der Verpflichtung zum Eintritt in eine Zwangscasse. Die Entwicklung der Alters- und Invaliditätsversorgung, der Unterstützung der Wittwen und Waisen der Arbeiter ist fast noch in den ersten Anfängen begriffen, und gingen die einzelnen Versuche von den Arbeitervereinen und ihren Vertretern aus, welche durch Zuhülfenahme privater Versicherungsgesellschaften und Rentenbanken die Zukunft der Arbeiter zu sichern begannen. Die Erfolge sind keine nennenswerthen. Desto größere Beachtung verdienen die Bestrebungen der nach englischem Vorbilde 1869 von Max Hirsch, Franz Duncker und Schulze Delitzsch in's Leben gerufenen, auf dem Boden der Selbsthülfe organisirten Gewerkvereine. Der Zweck dieser Arbeitervereinigungen geht auf Verstärkung der Selbstständigkeit des ganzen Standes, Verbesserung der materiellen und socialen Stellung und läßt sich in dem treffenden Ausspruche zusammenfassen: „Sie wollen den Arbeiter aus Unsicherheit, Abhängigkeit und Verkümmerung emporheben zur Sicherheit, Selbstständigkeit und zur Theilnahme an den Arbeiten, wie an den Segnungen der Cultur: sie wollen dies erreichen nicht durch Gnade von oben, noch durch Revolution von unten, sondern durch das selbstthätige gesetzliche Zusammenwirken der Betheiligten innerhalb ihrer gewerblichen Berufskreise."

Die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind im Wesentlichen: Regelung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Festsetzung eines angemessenen Lohnes, Errichtung freier Kranken-, Begräbniß-, Altersversorgungs- und Invalidencassen, Organisation der Hülfscassen, Unterstützung arbeitsloser Mitglieder, Vermittelung der Arbeit, Gewährung unentgeltlichen Rechtsschutzes durch Führung der Processe auf Vereinskosten, Förderung der allgemeinen und gewerblichen Bildung durch Volksbibliotheken und Schriften, Vertretung der Mitglieder gegenüber den Arbeitgebern, dem Publicum und den Behörden etc. Auf diesem Felde segensreicher Thätigkeit sind für uns die Hülfscassen der Gewerkvereine, die bereits 1874 — fünf Jahre nach ihrer Gründung — in mehr als 800 Ortscassen (Kranken-, Begräbniß- und Invalidencasse) bei 42,000 Mitgliedern eine Einnahme von 347,671 Mark, eine Ausgabe von 239,677 Mark und einen Vermögensbestand von 296,627 Mark nachweisen, von besonderem Interesse. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es den Gewerkvereinen, neben der Krankenunterstützung nationale Invalidencassen in's Leben zu rufen, und es entstanden die „Verbandscasse der Invaliden der Arbeit“ und die „Invalidencasse des Gewerkvereins der Maschinenbauer und Metallarbeiter“, welche zusammen gegenwärtig circa 12,000 Mitglieder zählen und gegen monatliche Beiträge von 40, 60, 80 und 120 Pfennig Invaliden- und Alterspensionen von monatlich 18 bis 27 Mark an ihre Mitglieder entrichten.

Verglichen mit den englischen Gewerkvereinen und deren Erfolgen, ist die Ausdehnung der deutschen Vereine allerdings eine geringe, jedoch macht sich in ihnen eine stets fortschreitende Bewegung wahrnehmbar, welche den Beweis liefert, daß auch in Deutschland denkende Arbeiter im Stande sind, aus eigner Kraft ihre Zukunft zu sichern. In den letzten Wochen hat die Thätigkeit der Vorstände eine neue Blüthe zum Wohle des Arbeiterstandes gezeitigt und der [120] Centralrath das Statut der „deutschen Verbandscasse für Reisende und Arbeitslose“ angenommen, welche gegen Wochenbeiträge von 10 beziehungsweise 20 Pfennig ihren Mitgliedern Reisegelder und Unterstützungen bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit bezahlt. Daß selbst in der Zeit des allgemeinen industriellen Rückgangs kein Stillstand in der Weiterentwicklung der auf dem Grundsatze der Cassenfreiheit ruhenden Gewerkvereine eingetreten, berechtigt einen Schluß auf deren Lebensfähigkeit.

Dieser kurze geschichtliche Abriß der Entstehung der Alters- und Invalidenversorgung für Arbeiter in Deutschland liefert den Nachweis, daß – von der Krankenunterstützung abgesehen – bei uns das Versicherungswesen ursprünglich auf dem Principe der Selbsthülfe beruhte; nur bei den Bergleuten machte die Gesetzgebung mit Rücksicht auf die Gefahren der Montanindustrie und häufigen Massenverunglückungen eine Ausnahme. Die Berggesetze zwangen die Arbeiter jenes gewerblichen Zweiges, sogenannten Knappschaftscassen beizutreten. Diesen äußeren Zwang will ein Antrag des freiconservativen Abgeordneten Stumm auf die Arbeiter aller Industrien ausgedehnt wissen, und der Plan des Reichskanzlers zielt auf Errichtung eines allgemeinen staatlichen oder Reichsversicherungs-Unternehmens hin, dessen Mittel durch Beiträge der Arbeiter, Arbeitgeber und Gemeinden beschafft werden sollen. Hoffen wir, daß in dem parlamentarischen Kampfe, der nunmehr bald im deutschen Reichstage über das „Unfall-Versicherungsgesetz für Arbeiter“ entbrennen wird, die wichtige Frage im freiheitlichen Sinne zum Wohle des Vaterlandes gelöst wird!

Dr. Zeller.