Textdaten
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Autor: Friedrich Wilhelm Heine
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Titel: Zuflucht unter der Erde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 724
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zuflucht unter der Erde.

Aus einem Briefe unseres Feldmalers F. W. Heine.
Courtry, gegen Ende September 1870.

Soeben komme ich von einer Streifpartie der ersten Compagnie des dreizehnten (königlich sächsischen) Jägerbataillons zurück, die mir doppelt unvergeßlich sein wird, weil sie uns nicht blos auf’s Wasser, sondern sogar unter die Erde, in ein ganz romantisches Höhlenleben führte. Von Letzterem habe ich in der Abbildung ein Stück darzustellen versucht.

Was zunächst die Wasserpartie betrifft, so erhielt am 19. September die genannte Jägercompagnie den Befehl, die Marne von Meaux aus in der Richtung nach Paris bis Pomponne nach Fahrzeugen abzusuchen und alles Aufgefundene dieser Art nach Pomponne zu transportiren. Der ganze Montag verging über dieser nicht ganz leichten Expedition, der ich mich natürlich sofort angeschlossen hatte, und es schien beinahe schon, als hätten wir einen vergeblichen Gang gemacht; aber noch am Abend glückte es uns, in der Nähe des Dörfchens Carnetin eine Baggermaschine und vier große mit Blech ausgeschlagene Kähne aufzuspüren, welche letzteren angebohrt und versenkt waren. Die Hebung dieser Schätze mußte auf den folgenden Tag verschoben werden. Am Dienstag früh Punkt halb Acht rückten wir zu diesem Behufe aus unserem Quartier Annet unter dem Commando des Hauptmanns Walde aus. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, der für uns nicht unwesentlich noch dadurch verschönert wurde, daß auch der Marketenderwagen dem Zuge folgte. Die Hebungsarbeit ging gut von Statten. Bis Mittag waren zwei der Kähne flott; ein dritter, tiefer versunkener kostete mehr Anstrengung, wurde aber doch endlich mit kräftigem Zerren der Mannschaft an den Seilen und unter fröhlichem Gesange zu Tage gefördert. Der vierte, mit Kohlen beladene schwamm noch. Wir banden nun je zwei Stück zusammen, errichteten einen Mast auf jedem und konnten kurz nach drei Uhr unsere Fahrt stromabwärts auf dem herrlichen Flusse und bei schönstem Wetter beginnen. Wer von uns hätte sich’s vor wenigen Monaten etwa in Meißen an der Elbe, das Vielen der Dreizehner wohlbekannt ist, träumen lassen, daß wir so bald auf der Marne „bomätscheln“ würden! Zu den vielen gesprengten Brücken, die wir auf unserer Fahrt passirten, gehörten auch die beiden, den Lesern der Gartenlaube durch meine Abbildung (Nr. 42) bekannten im Städtchen Lagny, das wir gegen sechs Uhr Abends erreichten. Wir sahen noch die Wirkung der Brückensprengung an den Gebäuden des Städtchens; sämmtliche Fenster waren eingeschlagen und große Löcher und Sprünge in das Mauerwerk gerissen. Hier lag württembergische Infanterie als Besatzung, deren Regimentsmusik gerade einige schöne Märsche aufspielte. Unsere Durchfahrt zwischen den Trümmern der zweiten, steinernen Brücke habe ich in dem bezeichneten Bildchen gleich mit dargestellt; sie war nicht leicht, aber sie gelang; wir nahmen von Lagny noch ein fünftes Boot mit und landeten glücklich mit unserer Flotille in Pomponne, als die Nacht, und zwar eine prachtvolle Sternennacht, schon völlig eingebrochen war. Trotz alledem mußten wir nun wieder über Lagny zurück nach unserem Quartier Annet marschiren.

Schon auf dem Wege nach Lagny erfuhren wir von einigen Ulanen und Württembergern, daß sie einer Schaar Nationalgarden

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In der Bauernhöhle bei Annet.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

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Da wir der Stelle nahe waren, so begab ich mich sofort mit einigen Anderen in diese interessante Unterwelt.

Die Entdeckung derselben war an diesem Tage (den 20. September) in folgender Weise gelungen. Die in ihrer Sicherheit übermüthigen Bauern hatten es nicht lassen können, auf vorüberreitende Ulanen zu feuern, und dadurch ihren Schlupfwinkel selbst verrathen. Zur Untersuchung einer verdächtigen Ziegelscheune war von den Württembergern auch die zweite Compagnie unseres dreizehnten Jägerbataillons mit herangezogen worden. Nach langem Suchen und vielen Hindernissen stießen sie auf einen vermauerten Eingang. Nachdem man ein Loch durchgebrochen, groß genug, um einen Menschen durchzulassen, wurden erst einige Schüsse in die Oeffnung abgefeuert, dann band man zwei Bauern, die mit den Waffen in der Hand gefangen worden waren, an eine Leine zusammen und stieß sie als Wegweiser in die unbekannte Gegend voraus, die Soldaten folgten Schritt vor Schritt mit Laternen und Lichtern. Und welch ein wunderbares Bild that sich da vor ihnen auf! In labyrinthartige Gänge vordringend, fanden sie dieselben förmlich vollgepfropft von Lebensmitteln und Hausrath von der erdenklichsten Mannigfaltigkeit. Vorräthe für Monate lagen hier durcheinander, und Leitern und neue Gänge führten zu immer weiteren Verstecken. Endlich gelangte man durch ein zweites Loch in einen größeren Raum, in welchem die Bewohnerschaft dieser Unterwelt, wohl über hundert Männer, Weiber und Kinder sich zurückgezogen hatten, die nun zitternd und bebend um ihr Leben schrieen und heulten. Das war die Gesellschaft gewesen, deren unheimliche Erscheinung uns droben begegnet war. Die ganze Höhle war leer von ihnen und Niemand zurückgeblieben als ein blinder Greis, dem man in seinem äußersten Winkel seine Ruhe vergönnte.

So fand ich die Höhle, als ich mit einigen Cameraden die Schwierigkeiten des Zuganges endlich überwunden hatte. Mit Windlichtern in der Hand durchmusterten wir nun die seltsame Bescheerung. Der Fels starrte an vielen Stellen hoch empor, vorsichtig mit Gebälke gestützt. Aber am Boden und an den Wänden, welches Durcheinander! Da lagen Massen von Kartoffeln, Gemüse aller Art, Mehlsäcke, Weinfässer, da meldeten Ziegen, Schafe, Kaninchen, Hühner und Enten ihre Anwesenheit, dazwischen Unmassen von Hausgeräthen und was eben der Mensch zu seiner Nothdurft braucht und die Eile der Flucht den Leuten in die Hände fallen ließ. Wie ruhig hätten diese Bauern mit den Ihrigen hier vielleicht den ganzen Krieg überdauern können, wenn sie sich nicht zu hinterlistigen Angriffen auf die „Preußen“ hätten verführen lassen! So ernteten sie den traurigen Lohn des Krieges, die bewaffneten Männer wurden erschossen, die unverdächtigen nebst Weibern und Kindern aber bald wieder freigegeben.

Ich brachte, einige Mehlsäcke als Bett und Decke benutzend, in Gesellschaft mehrerer Württemberger, unserer Jäger und des blinden Greises die Nacht in der Höhle zu und entwarf zum Andenken an sie das Bild derselben. Möge es Ihnen gefallen und dazu beitragen, die Leser der Gartenlaube recht innig das Glück empfinden zu lassen, den zahllosen Schrecknissen dieses Krieges so fern zu sein!