Textdaten
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Autor: Wilhelm Marr
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Titel: Zu glücklich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 758–760
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[758]
Zu glücklich.*[1]


Unsere Dichter und Schriftsteller wollten am 25., 26. und 27. September dieses Jahres in Weimar einen „Deutschen Dichtertag“ abhalten und dem Realismus und Materialismus der Gegenwart gegenüber die Fahne der Ideale neu erheben. Die Absicht blieb unausgeführt. Warum? Vielleicht weil sie „Absicht“ war und keine gereifte innere Nothwendigkeit.

Auch ich gehörte zu denen, welche den deutschen Dichtertag äußerlich froh begrüßten, innerlich aber nur ein wehmüthig-skeptisches Achselzucken für ihn hatten. Und gerade für mich sollten sich jene Tage zu den drei fürchterlichsten Leidenstagen gestalten, die ein Menschenleben aufzuweisen im Stande ist. Was ich hier erzählen will, schmerzlich Erlebtes und Erlittenes, wird es in anderen Gemüthern einen Nachhall finden? Sicher nicht bei denen, welche die heilige Weihe des Schmerzes noch nicht empfangen haben; nicht bei der fröhlichen, schäumenden Jugend, aber gewiß bei Allen, welche das Leben gerüttelt und geschüttelt hat, die aber der Welt nicht zeigen können, nicht zeigen dürfen, was sie, wie tief sie empfinden. Das ist das schöne Vorrecht unseres Standes, daß wir mit der Außenwelt eine andere Sprache, als die rein conventionelle reden, der Sprache wenigstens einen idealen Stempel aufdrücken dürfen. –

Ich bin dreiundfunfzig Jahre alt. Hinter mir liegt ein Leben, wie es an Mannigfaltigkeit wohl selten einem Sterblichen zu Theil geworden sein dürfte. Was die Welt Großes und Schönes bietet, ich habe es genossen. Stürme aller Art haben mich umtobt. Nur eins ist mir stets fremd geblieben: die bittere Nahrungssorge. Meine zahlreichen Enttäuschungen waren geistiger und gemüthlicher Art; Trümmer auf Trümmer von Illusionen, die ich mir über Welt und Menschen innerlich machte, während ich äußerlich über sie spottete. Andere jagen nach dem Glück; ich jagte seit achtzehn Jahren nach dem Frieden und fand stets nur den Kampf mit dem Leben.

Das Schlimmste, das mir passirte, war, daß ich – eine reiche Frau heirathete.

Ohne Furcht, meine verehrten Leser und Leserinnen! Ich habe den Verstand noch nicht verloren. Eine reiche Frau ist gewiß kein Unglück, wenn sie uns versteht, wenn die Geister und Gemüther, ohne über einen Leisten geschlagen zu sein, mit einander harmoniren, oder meinetwegen, wenn der männliche Theil hinreichend Mangel an Stolz besitzt, die Ehe nur als eine Sinecure des materiellen Lebens zu betrachten. Beides war bei mir nicht der Fall. Mein Leben gestaltete sich ruhelos in meiner Ehe – zu einer Dissonanz des Gemüths, welche achtzehn lange Jahre klang.

Die Beschreibung einer unglücklichen Ehe ist gewiß eine „sehr pikante“ Lectüre. Sie gehört jedoch nicht hierher, denn es ist weder ritterlich, anzuklagen, noch sich zu entschuldigen, und zwar um so weniger, als in meinem Falle nichts vorlag, als die totale Disharmonie der Organisation der Charaktere.

Endlich sahen wir auf beiden Seiten ein, was wir im ersten Jahre hätten einsehen müssen: – daß unsere Ehe unhaltbar sei. Wir wurden gerichtlich geschieden.

Ich verheirathete mich zum zweiten Male.

Die Beschreibung einer glücklichen Ehe ist gewiß auch eine „sehr pikante“ Lectüre. Sie gehört eben so wenig hierher. Es genügt zu wissen, daß meine Helene weder reich, noch jung, noch eine „Schönheit“ war. Wir kannten uns mehr aus einem literarischen Briefwechsel als durch das Leben, und lange Jahre waren wir Hunderte von Meilen von einander getrennt.

Wie durch einen Zauberschlag aber kehrte mit dieser meiner zweiten Ehe der Friede in meiner Seele ein. Ich hatte eine Frau, welche, ohne alle meine Ansichten und Meinungen ganz zu theilen, mich verstand, meine guten Eigenschaften zu heben, meine schlechten zu sänftigen wußte. Nicht die leiseste Dissonanz störte unser Leben. Wir waren so glücklich, ohne im Rausche des Glückes zu sein, daß wir Beide uns oft des Aberglaubens nicht zu erwehren vermochten, „ein solches Glück könne nicht von Dauer sein“.

Wir lebten in einer großen, geräuschvollen Stadt, welche mir in der Seele zuwider war. Acht Monate nach unserer Verheirathung wurde mir eine ehrenvolle Stellung in der freundlichen Residenzstadt Weimar angetragen, eine Stellung, welche auch den äußeren Frieden mit der Welt in sich schloß und ein sicherer Hafen nach den zahllosen Stürmen meines Lebens werden mußte, so weit man nach menschlicher Berechnung ein solches Prognostikon stellen kann. Ich eilte voraus, um „das Nest einzurichten“. Mein braves Weib blieb unterdessen auf dem Gute unserer Verwandten in Mecklenburg, um ihre Niederkunft zu erwarten, und während ich in Weimar Alles einrichtete, eine reizende Wohnung in schönster Lage erwarb, ging eine von Humor und Witz sprudelnde Correspondenz zwischen uns ihren Gang. Denn, obgleich absolut frei von aller Sentimentalität, freute es mich doch, einen „Dauphin“ zu bekommen, dem ich meinen Namen und meine Ersparnisse hinterlassen konnte. Mein Gemüth war heiter und lachend, wie ein schöner, schöner Sommerabend. Mein Leben lag klar und hell vor mir, wie ein schöner, stiller Gebirgssee. Mein geistiges Leben – – einer unserer ersten Dichter war mein Freund und Dutzbruder geworden. Meine musikalische Tendenzrichtung (Richard Wagner) fand an dem Orte, wo ich lebte, die reichste Nahrung. Die garstige Politik, die mein Leben so oft verbittert hatte und mich so oft „irrlichteriren“ ließ, war wie ein wüster Traum vergessen. Junge, strebsame Kunsttalente zu unterstützen, war mein Beruf, der aufgeblasenen Arroganz entgegenzutreten, meine Kampfesmission geworden; denn ohne allen Kampf geht es ja nun einmal nicht im Leben.

Ich fragte mich mitunter, ob dieses gegenwärtige und das noch zu erwartende Glück nicht ein Traum sei. Ich war an ein ruhiges Schaffen ja so wenig gewöhnt gewesen und sah erstaunt, daß ich die besten Erfolge damit erzielte. Mit keinem Krösus, mit keinem Kaiser und König hätte ich getauscht. Ich fühlte mich vollkommen glücklich. –

Wer aber in der Welt kann die Behauptung wagen, daß er zehn Monate lang in seinem Leben „vollkommen glücklich“ gewesen? –

„Aber auch aus entwölkter Höhe
Kann der zündende Donner schlagen.“

Du sitzst in deinem Zimmer, blickst hinaus in den heitersten blauen Himmel, in den hellen Sonnenschein und siehst die Wolke nicht, welche sich auf der andern Seite Deines Hauses geballt hat. Plötzlich – ein gellend klingender Ton, ein krachender Schlag und ein Wetterstrahl, der Dir die Augen blendet und Dich von Deinem Ruhesitze wie eine Feder in die Höhe schnellt. – – – Dann Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag, Sturm und Regen und nach dem Gewitter ein düster umschleierter nächtiger Nebelhimmel. –

Ich saß an meinem Schreibtische. Ein Brief an einen Freund in G., in welchem ich mit meinem Glücke prahlte, war halb vollendet. Ich bat darin den Freund zum „Gevatter“ bei meinem „Dauphin“ in spe und ließ meiner Laune nach Behagen den Zügel schießen.

Die Klingel an meiner Wohnung wurde heftig gezogen. Ich öffnete. Ein Telegramm. – Was war denn das? Ich glaube gar, der Athem stockte mir, als ich meinen Namen unter die Empfangsbescheinigung schrieb.

„Helene soeben durch zwei Aerzte entbunden. – Kind todt. – Helene sehr, sehr schwach.“ –

Es war der „gellend klingende Ton“ des Wetterstrahls aus heiterm Himmel. Das Telegramm kam von dem Gute meines Schwagers in Mecklenburg, datirte vom Dienstag, 22. September, Morgens neun Uhr. Die energievolle Frau meines verstorbenen Vaters, bei welcher ich interimistisch Quartier genommen, hatte alle Mühe mich zu hindern, daß ich nicht in demselben Augenblicke abreiste und dadurch gerade das störte, was meiner Frau vor Allem Bedürfniß sein mußte: Ruhe. Mein herrlicher Freund, der erwähnte Dichter, schleppte mich in seine Wohnung. Ich mußte dort zu Mittag essen, und er und seine Frau, selbst Eltern von sieben Kindern, beruhigten mich einigermaßen und „bewiesen“ mir, daß das Telegramm nichts enthielt, was auf [759] eine wirkliche Gefahr schließen lassen konnte. Inzwischen hatte ich selbst zurücktelegraphirt:

„Ist Gefahr? Soll ich kommen?“

Am Abend desselben Tages erhielt ich gleichzeitig mit einer schon vom Montag datirten Correspondenzkarte von meiner Frau, auf welcher sie mir einige freundliche Worte sandte, aber verschwieg, daß die Katastrophe sich bereits ankündige, die Antwort auf meine Anfrage:

„Helene fürchtet Aufregung, wenn Sie kommen. Brieflich Näheres.“

Ich war beruhigt. Meine Frau lebte, disponirte mit klarem Verstande. Ich hatte mich unnöthiger Weise beängstigt. Das Kind freilich war todt, doch die Wahl zwischen Frau und Kind fällt in solchen Augenblicken nicht schwer. Meine Helene lebte, das war Alles für mich. Die nächste Nacht verstrich mir schlaflos – aber ich philosophirte mich in die neue Situation hinein. „Sind Dir die Vaterfreuden nicht beschieden, so schließe Dich um so inniger an Dein Weib an! Zur Tagesordnung!“ tönte es entschlossen in meinem Innern. Sie kam, die „Tagesordnung“. Am Mittwoch, 23. September, zwölf Uhr Mittags, schrillte die Klingel abermals:

„Helene in Gefahr, kommen Sie bald!“

lautete das Telegramm. Hatte sich mein erster Schreck und meine Angst am Tage zuvor in Thränen Luft gemacht, so waren jetzt meine Augen trocken und fieberheiß. Der Gedanke an den Tod eines Wesens, das mir mehr war als mein eigenes Dasein, machte mich erbeben. Ich mußte diesem Tode in’s Antlitz starren, und das furchtbare „Muß“ erstickte selbst den lindernden lauten Ausbruch des Schmerzes. Wie betäubt ging ich zum Bahnhofe. Ich signalisirte meine Ankunft per Draht und bestellte mir ein Fuhrwerk für Nachts drei Uhr auf die Eisenbahnstation von H., denn das Gut, wo meine Frau im Sterben lag, befand sich noch drei Meilen weit landeinwärts von dieser Station.

Gegen drei Uhr Nachmittags fuhr ich fort. Ueber Halle und Berlin. Ein Umweg von zehn Meilen, der aber den Vortheil hatte, daß ich unterwegs nicht auf die correspondirenden Züge zu warten brauchte.

Es war ein wunderbar schöner Spätsommerabend, schön sogar in der trostlos flachen Gegend zwischen Saale und Elbe. Der Mond stand majestätisch am Himmel. Ich erschrak bei seinem Anblicke. Morgen war es Vollmond, und ich kannte aus meinen Reisen in den Tropenzonen den Einfluß des Mondes auf Kranke und Sterbende – dieser Sommerabend war fast so lau und warm, wie die Tropen. Umsonst rief ich alle Skepsis zu Hülfe. Umsonst sagte ich mir: Du erzeigst dem armen Monde in unsern nordischen Breitegraden zu viel Ehre. Der Gedanke, daß mein Weib mit dem sinkenden Vollmonde morgen Nacht sterben müsse, ward in mir zur dämonischen Gewißheit. Ich sah in dem Trabanten unserer Erde den Mörder meiner Frau.

Berlin! Ah! Das Geräusch und Getöse in der Kaiserstadt weckte mich aus meinem Hinbrüten. Ich warf mich in eine Droschke und fuhr nach dem Hamburger Bahnhofe.

Hm! alle diese Menschen, die du hier fröhlich und geschäftig gehen siehst, was sind sie im Grunde anders als wandelnde Leichen? – Dort steht die Siegessäule. Dem Andenken vieler Tausende von Todten zugleich errichtet. Freilich! der Tod ist Nichts, wenn er uns selbst trifft. Ich bin ihm oft genug gegenübergestanden. Auf Schlachtfeldern, auf dem stürmischen Ocean, an fieberverpesteten Meeresküsten etc. Aber Andere sterben sehen, Andere, die man liebt, die uns das Höchste auf der Welt sind, das ist schlimmer als Sterben, das ist die scharfe Klinge des erbarmungslosen Fatums, die uns trifft, verwundet. Und wenn die „Zeit“ die Wunden heilt – die Narben heilt sie nicht, und es giebt Narben, welche schmerzhaft wieder aufbrechen als blutende Wunden der Erinnerung.

Um drei Uhr Nachts verließ ich den Zug bei H. Ein offener Jagdwagen, mit einem kräftigen Pferde bespannt, erwartete mich. Der Kutscher brachte mir ein Schreiben meines Schwagers. „Helene’s Zustand noch unverändert. Wir wollen das Beste hoffen,“ hieß es darin. Ich stieg auf den Wagen, und fort ging es in raschem Trabe.

Diese Nacht vom 23. auf den 24. September war eine Sternennacht, wie ich mich nicht erinnere, sie jemals, selbst auf den Höhen der Cordilleren nicht, gesehen zu haben. Fehlten auch die südlichen Sternbilder, das „Schiff des Argo“, das „Kreuz des Südens“, die „Wolken des Maghellan“ etc., so funkelte und flammte der „Orion“, so leuchteten die „Plejaden“ mit einer diamantenen Intensität, als ob sie selber Diamanten wären. Ein leuchtender Baldachin des majestätischsten Friedens wölbte sich das Sternenfirmament über meinem Haupte und – „es kann nicht sein! Es kann nicht sein, daß dir jetzt in dieser Harmonie des Weltalls das Theuerste geraubt wird,“ keuchte es in meiner Seele.

Der Mond sank unter den Horizont; die Sterne erbleichten rasch; das Grauen des Tages begann im Osten. Die Luft wurde kalt, kalt wie eine Leiche. – Eine halbe Stunde vor unserm Gute fuhr der Wagen an einem schwarzgekleideten Fußgänger vorüber. Das bleiche Gesicht eines dem Anschein nach noch jungen Mannes blickte mich an.

„Kennen Sie den Herrn?“ fragte ich den Kutscher und erwartete die Antwort, es sei ein Arzt.

„Nein, ich kenne ihn nicht; er ist nicht hier aus der Gegend,“ wurde mir zum Bescheid.

Wir bogen in einen sandigen Feldweg ein. Am Ende desselben stand die Windmühle des Dorfes, welches unser Ziel war. Sie hatte durch einen Sturm einen Flügel verloren. – Man achtet auf Alles in Stimmungen, wie die meinige es war. Der Glaube schwindet; man klammert sich an den Aberglauben an.

Fünfzig Schritte vor dem Thorwege des Gutes ließ ich den Wagen halten, um meine sterbende Frau nicht durch das Rollen der Räder zu erschrecken. Die Schwestern meiner Helene und mein Schwager erwarteten mich bereits und kamen mir entgegen. Der große Kettenhund bellte nicht freudig wie sonst, wenn er mich sah; er winselte mich an.

„Todt?“ fragte ich mit bebender Stimme.

„Der Doctor meint, wenn keine Entzündung hinzutritt, kann Helene vielleicht gerettet werden. Jetzt schläft sie,“ antwortete mein Schwager.

Dann, während wir in das Haus traten und mein Auge auf einen kleinen Sarg fiel, sagte er mit halblauter Stimme hinzu:

„Wollen Sie das Kind sehen? Ich fahre es gleich nach dem Kirchhof.“ – –

Der rauhe Egoismus der Mannesnatur flackerte in mir auf. Mit einer heftig abwehrenden Bewegung rief ich:

„Schweigen Sie von dem Kinde! Mein Weib, mein Weib! Darum bin ich hier.“ –

Bald darauf erschien der Arzt. Er verhehlte mir das Kritische der Lage nicht. An seiner Hand betrat ich das Krankenzimmer – mit einer Nothlüge. Die „Ungeduld“ hätte mich herbeigeführt, erklärte der Doctor und es hätte keine Gefahr auf sich, wenn ich in der Nähe der Kranken wäre.

Helene drückte mir sanft die Hand. Ich fühlte den Puls. Schwach, aber in dreifach raschern als normalen Schlägen fieberte das entkräftete Blut. Mein Auge, als es sich an das gedämpfte Licht der Wochenstube gewöhnt hatte, fiel auf ein Leichengesicht. Die dunkeln Augen hatten ihr Pigment verloren und stierten in verglastem Hellgrau in die Leere. Die halbgeöffneten Lippen waren hart und erwiderten den leisen Kuß nicht, den ich ihnen aufdrückte. Meine Frau erkannte mich, aber die Worte, die sie sprach, waren zusammenhangslos, verworren.

Ich begriff, daß die größte Ruhe das einzig mögliche Rettungsmittel sei, und entfernte mich leise wieder mit dem Arzte.

„Doctor,“ sprach ich, als wir wieder draußen waren, „zur Entzündung der inneren Theile kommt es nicht; die Entkräftung ist schon zu groß; das reagirende Fieber beschleunigt nur die Auflösung.“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Dennoch gebe ich nicht alle Hoffnung auf,“ sagte er. „Etwas normaler ist der Zustand seit gestern geworden, freilich, nur Etwas.“

Die Stunden dieses Tages jagten dahin. Es ward Mittag; es ward Abend, ehe ich es ahnte. Und ich, der ich so gern nicht eine Secunde vom Krankenbette gewichen wäre, mußte mir Zwang anthun und den Schwestern meiner Frau die bessere, weibliche Pflege überlassen.

Als der Doctor Abends wiederkam, fand er die Kranke [760] noch besser. Vielleicht war es eben nur zum Scheine, daß er erklärte, vor morgen Mittag würde er nicht wieder kommen. Als ich den Arzt an den Wagen begleitete, erhob sich gerade der Vollmond, und das Licht der Mondscheibe strahlte golden durch die Pappeln vor dem Hofe.

Der Vollmond! Mir schien er als ein gewisser Todesbote. Zu oft hatte ich in den heißen Zonen seinen Einfluß auf Kranke und Sterbende beobachtet und der Himmel über uns war heute im hohen Norden klar und duftig, wie der Himmel in den Wendekreisen. Ich zwang mich zu hoffen und griff nur in die Hoffnungslosigkeit hinein. Was ich ersehnte, war ein umwölkter Himmel. Ich berechnete angstvoll die Stunde, wo das Mondlicht ganz und voll auf die Fenster des Krankenzimmers fallen würde. Das mußte gegen vier Uhr Morgens sein, wo der Mond dem Untergehen nahe war.

Bis Mitternacht lag die Kranke in einem verhältnißmäßig ruhigen Schlummer. Meine ganze Umgebung war freudiger gestimmt worden, ja verspottete meinen „Mondglauben“, wie sie es nannten. Nur ich blieb düster und blickte mit ohnmächtigem Grimme in die volle Mondscheibe. – Um Mitternacht – der Mond hatte seinen Höhepunkt erreicht – begann meine Frau irre zu reden. Ein Knecht wurde zu Pferd nach dem Arzte geschickt, der ihr eine leichte Dosis Opium verordnete. Die Medicin blieb wirkungslos.

Jetzt änderte sich das düstere Bild plötzlich, aber nur um noch düsterer zu werden: ein Gewitter zog herauf. Dasselbe Gewitter, welches in der Nacht vom 24. auf den 25. September über Schwerin und Hamburg so furchtbar tobte, daß die ältesten Leute sich eines ähnlichen nicht zu entsinnen vermochten. Ueber unsern Häuptern Blitz und Donner und schwarze Wetterwolken, am westlichen Horizonte der klarste Himmel und die sanft und ruhig sinkende Mondscheibe. Auf dem Gute ward Alles lebendig. Die Pferde wurden, wie es auf dem Lande bei Gewittern Gebrauch, angeschirrt, die Ställe geöffnet; in allen Zimmern wurde Licht angezündet. So stand ich am Sterbelager meiner Helene. Draußen das furchtbare Rollen des Donners, ein Feuermeer von violetten Blitzen und ein wolkenbruchartiger Platzregen, den der Sturm schwer gegen die Fenster des Sterbezimmers schleuderte. Dazwischen der laute Klageruf einer Nachteule – der Gesang des Todtenvogels, wie der Aberglaube behauptet. Im Zimmer aber das matte, bewußtlose Stöhnen meines Weibes.

Ich legte der Sterbenden die Hand auf die feuchte Stirn und sprach sanft:

„Schlafe, Helene – ich will es.“

Als ob das arme Wesen mich verstünde, hörten die Sterbeseufzer auf, und ein regelmäßiges Athemholen trat an die Stelle. Ich warf einen Blick nach außen. Immer tiefer sank der Mond; in einer Stunde mußte er unter der Horizontlinie sein. Der Donner wurde schwächer; das Gewitter nahm von uns mit einem majestätischen Wetterleuchten Abschied. Helene schlief sanft und fest.

Meine Kräfte, meine Willenskraft waren erschöpft. Die Natur mußte sich Luft machen in einem Thränenstrome. Das durfte im Krankenzimmer nicht sein; ich schlich mich hinunter, warf mich auf das Sopha und fiel vor Erschöpfung selber in einen festen Schlaf.

Plötzlich erwachte ich. Die Schwestern meiner Frau standen vor mir. Ich fuhr in die Höhe.

„Schläft Helene?“ rief ich.

„Ja, sie schläft,“ war die Antwort. „Gönnen Sie sich auch Ruhe!“

„Schläft sie fest?“ stammelte ich.

„Ganz fest.“

Man wandte sich ab.

„Todt?“ schrie ich.

„Ja, sie ist sanft entschlafen.“ – –

Ich stand an der Leiche meines geliebten Weibes. Der Mond sank unter den Horizont hinab; ein schwacher, schwacher ferner Donner gab das Requiem und –

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“
*[2]

war das Sterbegebet, welches ich, der „Hölle des Dante“ entlehnend, sprach.

Der Tag nach dem Gewitter war grau und düster wie ein Decembernebeltag. Nur Eins lächelte, und das waren die Leichenzüge meines todten Weibes. Nach einem sturmbewegten Leben hatte ich zehn Monate des Friedens an ihrer Seite gefunden, und nun – todt! – Es lagen noch drei Briefe von mir uneröffnet im Sterbezimmer, drei freundliche, glückstrahlende Briefe, welche zu spät gekommen waren, um gelesen werden zu können. Ich schob sie heimlich der Todten in den Sarg, den Aberglauben, daß „die Todten nachziehen“, trotzig herausfordernd. Meine Briefe sind mitbegraben worden. Nous verrons.

Am Sonntage war die Beerdigung auf dem Kirchhofe des Städtchens W. Ich hatte jedes Gefolge verbeten. Nur die Familie und ich erwiesen der Dahingeschiedenen die letzte Ehre. Wir waren allein an der Trauerstätte. Der Sarg ward in die Gruft gesenkt. Die Träger brachten einen zweiten, kleinen Sarg. Das todte Kind war wieder ausgescharrt worden, um mit der todten Mutter in einem Grabe zu schlummern. Ich blieb am Grabe, bis die letzte Scholle Erde den letzten Theil der beiden Särge bedeckte.

Schlaf wohl, meine Helene! Ich war zu glücklich, denn ich hatte mehr als Glück, ich hatte – den Frieden gefunden.

„Nessun’ maggior dolor
Che ricordarsi de tempi felice
Nella miseria“

W. M–r.
  1. * Wie düster auch die Farben des obigen Stimmungsbildes wirken mögen, so wird in ihm doch nur in treuen Zügen die Schmerzenszeit eines auch unseren Lesern bekannten Schriftstellers geschildert, dessen Leid sicher in vielen Herzen nachklingen wird.
    D. Red.
  2. * Es giebt keinen größern Schmerz, als sich der glücklichen Zeiten im Elend zu erinnern.