Ziehen Raubtiere das Fleisch der Menschen jeder anderen Nahrung vor?

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Ziehen Raubtiere das Fleisch der Menschen jeder anderen Nahrung vor?
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1910, Zehnter Band, Seite 237–238
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Der Artikel erschien fast wortgleich mit dem Titel Die Vorliebe der Raubtiere für Menschenfleisch unter der Verfasserangabe H. Lense in: Die Burg. Illustrierte Zeitschrift für die studierende Jugend, 2. Jahrgang, S. 170–171.
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[237] Ziehen Raubtiere das Fleisch der Menschen jeder anderen Nahrung vor? – Diese Frage wird von den Naturforschern viel umstritten. Tatsache ist, daß man sowohl bei Löwen und Tigern als auch bei Wölfen die Erfahrung gemacht hat, daß sie nach einmaligem Genusse von Menschenfleisch mit der größten Frechheit stets aufs neue versuchen, einen Menschen zu erbeuten. Dies ist einwandfrei durch viele Berichte aus Indien, Südafrika und den russischen Steppen festgestellt worden.

Kein anderer als der große Tierzüchter Hagenbeck, der sein Leben lang den Charakter und die Neigungen der wilden Bestien zu studieren Gelegenheit hatte, und dies hauptsächlich bei seinen weiten Jagdzügen in fernen Ländern, tritt dieser Ansicht energisch entgegen. Hagenbeck meint, daß der Grund, weshalb Raubtiere nach einmaliger Erbeutung eines Menschen dem Herrn der Schöpfung mit anscheinender Hartnäckigkeit immer wieder auf den Leib rücken, nicht der den Bestien besonders angenehme Geschmack des Menschenfleisches ist, sondern der Umstand, daß die Raubtiere eben nach einmaliger Überwältigung eines Menschen die Scheu vor demselben verlieren. Sie sehen dann in dem bisher stets gemiedenen, so anders gearteten Wesen nichts als einen gewöhnlichen Feind, und zwar einen Feind, der nicht einmal mit so feinen Sinnesorganen, wie die Vertreter der Tierwelt sie besitzen, ausgerüstet [238] ist und sich daher bedeutend leichter beschleichen und überraschen läßt.

Man wird zugeben müssen, daß diese Ansicht Hagenbecks vieles für sich hat. Für sie spricht auch folgende Tatsache. Nach dem Feldzuge Napoleons gegen Rußland im Jahre 1812, bei dem ungezählte Mengen von ermatteten Soldaten in den Schneewüsten Rußlands und Polens umkamen, zeigte sich die auffallende Erscheinung, daß die Wölfe in Rußland in den folgenden Jahren jede Furcht vor den Menschen vollständig verloren hatten und sich beutesuchend bis in die Dorfstraßen wagten, wo sie furchtlos Leute anfielen und zerrissen. Ja, es kam so weit, daß kleinere Dörfer von starken Wolfsrudeln tagelang geradezu belagert wurden, so daß zu der Befreiung der Bewohner Militär aufgeboten werden mußte. Ähnliche Beobachtungen konnte man nach dem letzten blutigen Burenkriege in Südafrika bei den Löwen machen.

In beiden Fällen liegt die Vermutung nahe, daß den Raubtieren, denen viele Verwundete, Verirrte und Ermattete mühelos zur Beute wurden, der Respekt vor dem Menschen völlig abhanden gekommen war und sich dadurch ihre Angriffslust gesteigert hatte. Statistisch ist zum Beispiel nachgewiesen, daß in den ersten zwei Jahren nach Beendigung des letzten südafrikanischen Feldzuges die Zahl der durch Löwen zerrissenen Menschen sich genau um das Doppelte vermehrte. Erst dann konnte ein langsamer Rückgang festgestellt werden, woraus wohl der Schluß zu ziehen ist, daß inzwischen dem Könige der Tiere doch wieder die Erkenntnis von dem Übergewicht des Menschen aufgegangen sein wird.

W. K.