Zerstreutheit (Die Gartenlaube 1887/33)

Textdaten
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Titel: Zerstreutheit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 547–548
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[547] Zerstreutheit. Kaum eine andere menschliche Schwäche hat so lächerliche Seiten wie die Zerstreutheit, die man einer verbreiteten Annahme zufolge hauptsächlich bei Gelehrten etc. voraussetzt, obwohl sehr häufig, und sogar häufiger noch bei ganz gewöhnlichen Sterblichen, deren Geist und Phantasie keine Ueberbürdung erduldet, entschiedene Anlagen zum „Konfusionsrath“ zu bemerken sind – nur erfährt die Welt ihre Streiche nicht. Von bekannten Männern erhalten sich solche Anekdoten um so hartnäckiger. Das Muster eines Zerstreuten war der in Berlin in guter Erinnerung stehende Professor Neander. Einmal wurde er auf dem Heimweg in den Straßen Berlins von einem Gewitter überrascht, so daß er zu einer Droschke seine Zuflucht nehmen mußte; aber leider fiel ihm nun nicht ein, wo er wohnte, und der Kutscher, der sich seine eigenen Gedanken gemacht haben mochte, wollte den seltsamen Fahrgast schon nöthigen, auszusteigen. Da nahte der rettende Engel in Gestalt eines ehrerbietig grüßenden Studiosen. Neander ruft ihn heran: „Sie, bitte, sagen Sie mal dem Kutscher, wo Professor Neander wohnt!“ – [548] Ein anderes Mal begegnete ihm bei Verlassen des Hauses vor der Hausthür ein Fremder. Derselbe fragt ihn sehr höflich, ob hier Professor Neander wohne und ob derselbe zu Hause sei? – Neander erwiedert höflich und scheinbar mit allem Bedacht: „Jawohl, er wohnt hier; klingeln Sie nur und fragen Sie, ob er zu Hause ist.“

Dem verstorbenen Komponisten Amilcare Ponchielli wird eine phänomenale Zerstreutheit nachgerühmt. Nach der Erstaufführung seiner „Promessi sposi“ eilte er auf die Bühne, um der Trägerin der Hauptrolle, der Sängerin Brambilla, die er später heirathete, sein Entzücken auszusprechen, und anstatt der Primadonna umarmte er eine alte Choristin. – In einem Koncerte, dessen Programm auch den „Stundentanz“ aus „Gioconda“ enthielt, wurde nach einer Nummer stark applaudirt. Ponchielli, aus seinen Träumen aufgeschreckt, verneigte sich dankend; man hatte aber Wagner’s „Tannhäuser-Marsch“ gespielt. In seiner Zerstreutheit passirte es ihm sogar, daß er einmal ein Polkamotiv orchestrirte und öffentlich aufführte, welches er unter seinen Notizen und Manuskripten fand, in der Meinung, es rühre von ihm her. Es war aber eine Polka von Strauß.

Von einem noch lebenden Staatsmann wird erzählt, daß ihm in Gesellschaften seine Zerstreutheit die ärgsten Possen spielt. So blieb er auf der Soirée in einem fremden Botschafterhôtel, nachdem sich alle Gäste entfernt hatten, allein mit dem Herrn des Hauses zurück, stets bestrebt, denselben zu unterhalten. Viertelstunde um Viertelstunde verging, der zerstreute Diplomat traf keine Anstalten, sich zu empfehlen. Die Unterhaltung wurde immer mühseliger und – langweiliger. Endlich nach einer peinlichen Stunde sagte er: „Wenn Excellenz befehlen, so lasse ich Ihren Wagen vorfahren!“ Der Unselige hatte bis dahin gemeint, er befinde sich in seinem Hause und müsse den Aufbruch des Botschafters in Ruhe abwarten.

Professor Mommsen’s Zerstreutheit, eine Folge seiner Vertiefung in die Arbeit, ist bekannt, man erzählt Wunderdinge davon; er soll z. B. einmal bei einem Friseur eine Kürzung seiner Philosophenfrisur veranlaßt haben, und als der Friseur die Operation für beendigt erklärte, sah Mommsen in den Spiegel und setzte sich wieder hin. Dabei gab er die trockene Weisung: „Sie sind zu kurz, ich wünsche sie länger!“ – Eben so passirt es dem gelehrten Herrn oft, daß er Briefe, die er bei seinen Ausgängen mit sich nimmt, um sie aufzugeben, am Abend in seinem eigenen Briefkasten an der Wohnungsthür wiederfindet.