Wilhelm Jordan (Die Gartenlaube 1889/5)

Textdaten
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Autor: Alexander Tille
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Titel: Wilhelm Jordan
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 74–76
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wilhelm Jordan.
Nach einer Photographie aus dem Atelier Bamberger, Inhaber: C. Böttcher, in Frankfurt a. M.

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Wilhelm Jordan.

Ein Gedenkblatt zu des Dichters siebzigstem Geburtstage.
Von Alexander Tille.

Es war im Sommer des Kriegsjahres 1870, als Rudolf v. Gottschall an dieser Stelle in seinen „Litteraturbriefen an eine Dame“ auch über die Werke seines Studienfreundes Wilhelm Jordan plauderte, der damals rüstig an seinen „Nibelungen“ arbeitete. Seitdem sind achtzehn Jahre ins Land gegangen; das mächtige Doppelepos ist längst vollendet und noch manches andere hat der Dichter geschaffen. Aber auch an ihm sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: er ist unterdessen ein Greis geworden und feiert am 8. Februar seinen siebzigsten Geburtstag.

Mehr als vierzig Bände füllt die Arbeit seines Lebens, und nicht leicht darf sich einer unserer lebenden Dichter rühmen, mit gleichem Fleiße auf gleich vielen Gebieten so erfolgreich gearbeitet zu haben wie Jordan. Neben politischen Sturmgesängen stehen philosophische Dichtungen, neben dem Epos eine ganze Reihe dramatischer Arbeiten: Trauer-, Schau- und Lustspiele, neben lyrischen Sammlungen zwei umfangreiche Romane und bedeutsame Uebersetzungen, und seine litterarisch-ästhetischen Arbeiten finden ihr Gegenstück in Prosawerken historischen, naturphilosophischen und religiösen Inhalts. Aber so verschieden auch alle diese Schöpfungen nach litterarischer Gattung, Inhalt und Form sein mögen, gleichwohl zieht sich durch sie alle ohne Ausnahme ein rother Faden.

Das Centrum, um das sich Jordans Schaffen bewegt, sind die philosophischen und besonders die religiös-ethischen Probleme des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fragen, welche heute die denkenden Köpfe beschäftigen, sind meist solche, von denen man vor hundert, ja vor fünfzig Jahren noch nichts wußte. Die Wissenschaften haben in unserem Jahrhundert eine Reihe von Entdeckungen zu verzeichnen, die bereits allenthalben ins praktische Leben hinübergreifen und berufen sind, die gesammte Anschauungswelt der Gegenwart umzuwandeln. Und die neuen Anschauungen gilt es in Beziehung zu unserem Fühlen und Denken zu setzen, ihnen ein poetisches Gepräge zu geben; das gilt vom Eisenbahnzug wie von der Descendenztheorie und von der elektrischen Maschine wie von den Gesetzen der Zuchtwahl; denn an sich ist nichts poetisch, ebensowenig wie etwas an sich unpoetisch ist.

Namentlich auf geistigem Gebiete mächtig für die Umprägung neuer Errungenschaften zu poetischen Werthen gewirkt zu haben, ist Wilhelm Jordans unbestreitbares Verdienst, und dies sichert ihm einen ehrenvollen Platz in der Litteraturgeschichte der Zukunft. Das Gebiet seines Schaffens lag aber, obwohl es durchaus zeitgemäß und geschichtlich gegeben war, doch etwas abseits von der Straße, auf welche die große Menge durch äußere Ereignisse gedrängt wurde, und vornehmlich daraus erklärt es sich, daß die Werke des Dichters bei den Zeitgenossen noch nicht ihre volle Würdigung gefunden haben. Trotz alledem war es für den Dichter selbst durch eine innere Nothwendigkeit geboten, daß er sich gerade diesem Felde zuwandte; er löste damit eine Aufgabe, welche er gewissermaßen von seinen Vorfahren überkommen hatte, und die ihm überdies sein eigener Bildungsgang an die Hand gab.

Seit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts waren die Jordans in gerader Linie in vier Geschlechtern Pfarrherren in der deutschen Grenzmark im Nordosten. Ihres liebreichen Waltens, ihrer Königstreue und ihrer – Körpergröße und Stärke wegen waren sie in ganz Ostpreußen bekannt, sie gehörten zu den angesehensten Männern der Provinz. Der Großvater des Dichters, der die Pfarrstelle zu Norkitten innehatte, war ein milder und frommer Mann. Sein ältester Sohn, Karl August Jordan, Pfarrer zu Insterburg und nachmaliger Superintendent zu Ragnit, war gleich ihm fromm und pflichtgetreu, aber strenger und mehr in sich zurückgezogen. Dazu war ihm eine hohe poetische Begabung eigen. Seine sinnige, heitere und schöne Gattin war darin sein volles Gegenstück. Am 8. Februar 1819 gebar sie, selbst erst siebzehn Jahre alt, ihrem Gatten den ersten Sohn, den Dichter Wilhelm Jordan, auf den die poetische Gabe und der ernste Sinn des Vaters zugleich mit der Heiterkeit der Mutter übergingen und dem sein ganzes Leben hindurch der lebendige Familiensinn eigen blieb, [75] der die ganze Familie auszeichnete. Wie dies herkömmlich bei den Jordans, sollte auch Wilhelm Geistlicher werden. Die Pfarre seines Großvaters war ihm gewiß. Als er 1838, von dem eigenen Vater und dann auf den Gymnasien zu Gumbinnen und Tilsit vorgebildet, die Universität Königsberg bezog, war er auch entschlossen, den geistlichen Beruf zu ergreifen. David Strauß’ „Leben Jesu“ machte jedoch seinen Glauben wanken, und schweren Herzens und zum Schmerze der Seinen und namentlich seines Vaters sagte er der Theologie für immer Lebewohl. Die politische Bewegung der vierziger Jahre, Hegels Philosophie und die Naturwissenschaften zogen ihn mächtig an. Mit Eifer gab er sich dem Studium derselben hin, und von ihnen angeregt, entstanden noch während seiner Studentenzeit die beiden Dichtungen „Glocke und Kanone“ und „Irdische Phantasien“. Nachdem er promoviert hatte, ging er nach Berlin, wo er 1843 „Litthauische Volkslieder und Sagen“ herausgab. Bald wandte er sich jedoch nach Leipzig, erwarb sich in Lindenau ein kleines Haus mit Garten und führte nach siebenjähriger Verlobung 1844 seine Braut dorthin als Gattin heim.

In Leipzig hatte der junge Dichter den harten Kampf ums tägliche Brot zu führen. Uebersetzungen aus dem Französischen und Englischen, Aufsätze für Zeitschriften, Herausgabe einer Galerie merkwürdiger Rechtsfälle und nachmals einer eigenen populärwissenschaftlichen Zeitschrift: „Die begriffene Welt“ ernährten ihn und seine Familie nothdürftig. Daneben arbeitete er emsig auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und bekümmerte sich auch angelegentlich um politische Fragen. Sein Haus mit seinen Lieben war für ihn der Inbegriff des Glückes. Aber dieses Glück war von kurzer Dauer.

In den politischen Verwicklungen, die dem Jahr 1848 vorangingen, wurde er, nachdem er eine sechswöchige Gefängnißstrafe verbüßt, 1846 aus Sachsen ausgewiesen, ein Schlag, der ihn um so härter traf, als er ihn zugleich um sein Brot brachte. Er wandte sich zunächst mit seiner Familie nach Bremen, wo er sich mühsam als Privatlehrer und politischer Schriftsteller seinen Unterhalt erwarb und von wo aus er auch seine Jugendgedichte unter dem Titel „Schaum“ herausgab, die sein Freund Ernst Keil verlegte.

Mit Richard Andree, dem damaligen Redacteur der „Bremer Zeitung“, befreundet, wurde er beim Ausbruch der Februarrevolution 1848 als Berichterstatter nach Paris geschickt, kehrte aber, als es sich um Einberufung eines deutschen Parlamentes handelte, schleunigst zurück. In Berlin trat er mehrfach als Volksredner auf, und der zündende „Schlachtruf“, den er dort ergehen ließ, machte ihn schnell in weiteren Kreisen bekannt. Als Vertreter des oberbarnimschen Kreises trat er 1848 in das Frankfurter Parlament. Gleichzeitig mit ihm siedelte seine Familie nach einer kleinen Miethswohnung in der Mainstadt über. Das Parlament nahm seine ganze Zeit und Kraft in Anspruch und die Diäten reichten nur nothdürftig zum Unterhalt hin. Von Anfang an sich eine eigene politische Ueberzeugung wahrend, schloß er sich doch im allgemeinen der Linken an, auf der alle die deutschen Poeten saßen. Mit seiner gewaltigen Beredsamkeit kämpfte er manchen Kampf. Der Septemberaufstand, bei dem sein Freund, der Fürst Lichnowski, ermordet wurde, veranlaßte seinen endlichen Uebertritt zur erbkaiserlichen Partei, und die weiteren Ereignisse schoben ihn noch weiter nach rechts. Später wurde er sogar in das Reichsministerium berufen und zum Marinerath ernannt. Mit der Auflösung des Parlamentes und der Versteigerung der deutschen Flotte durch Hannibal Fischer ging seine politische Thätigkeit zu Ende; aber das ansehnliche Ruhegehalt sicherte ihm wenigstens eine sorglose Zukunft.

Während der nun folgenden Bundestagszeit war in Frankfurt ein glänzendes Leben rege. Selbst eben erst vom politischen Schauplatz abgetreten, verkehrte der Dichter oft in Diplomatenkreisen, und viele der angesehensten Bundestagsgesandten gingen in seinem Hause ein und aus, unter ihnen auch der heutige Reichskanzler. Der eigentliche Mittelpunkt des geselligen Verkehrs war das Haus der greisen Frau von Günderode, einer Tochter der Frau von Stein, und wenige standen der edlen Frau so nahe wie der Dichter.

Jordans nächste poetische Arbeit war das gedankenreiche dreibändige Mysterium „Demiurgos“, das aber, weil die Gedanken nicht in lebensvolle Gestalten umgesetzt waren, niemals in weitere Kreise gedrungen ist. In demselben suchte er den Entwickelungsgedanken zum Ausdruck zu bringen, zugleich mit der Vergangenheit poetisch abzurechnen und mit der Wiederaufnahme der Kaiserhoffnung einen Ausblick in eine lichtere Zukunft zu thun. Nach Vollendung dieses umfangreichen Werkes beschäftigten ihn außer naturwissenschaftlichen Studien Arbeiten für die Bühne. Mehrere seiner Lustspiele erblickten auch das Lampenlicht der Bretterwelt, und 1858 erhielt er vom König Maximilian II. von Bayern einen Preis für sein Trauerspiel „Die Witwe des Agis“. Von den Lustspielen haben „Die Liebesleugner“ und „Durchs Ohr“ einige Berühmtheit erlangt, ja „Durchs Ohr“ gehört zu den besten Lustspielen, welche wir überhaupt besitzen. Es verdankt seine Entstehung einem Streit in einer Gesellschaft, in welchem der Dichter den Gedanken verfocht, daß das Ohr ein feinerer Sinn sei als das Auge. Um diesen Gedanken poetisch durchzuführen, schrieb er das Stück. Von seiner Thätigkeit als Marinerath her mit dem Herzog Ernst von Sachsen-Koburg-Gotha befreundet, weilte der Dichter mehrmals als Gast an dessen Hofe. Später trat er auch zu König Maximilian II. in nähere Beziehung, und nur dessen rascher Tod im Jahre 1864 verhinderte es, daß Jordan die Intendanz der Münchener Hofbühne übernahm.

In Frankfurt hatte sich in jenen Tagen ein Kreis geistig bedeutender Männer zusammengefunden. Der rheinische Novellendichter Herm. Presber, Friedrich Hornfeck, Theodor Creizenach, Friedrich Hebbel, Arthur Schopenhauer, der Komponist Eduard Rosenhain und später Friedrich Kreyßig standen mit Jordan in lebhaftem Verkehr, und er war ein allezeit heiterer und liebenswürdiger Gesellschafter, wenngleich er ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein besaß. In der Folgezeit zog er sich mehr aus der Gesellschaft zurück, da ihn ein neuer großer Gedanke beschäftigte, für den er selbst im Freundeskreise nicht sofort Verständniß fand.

Während seiner Studienzeit von Franz Liszt persönlich dazu angeregt, hatte Jordan nämlich schon kurz vor seinem Abschied von Königsberg mit seinem Freunde Rudolf Gottschall ein öffentliches Deklamatorium veranstaltet, bei dem er sich des Zaubers, den das freie, gesprochene Wort ausübt, vollends bewußt geworden war. Jetzt faßte er den Gedanken, den Nibelungenstoff der nationalen Heldensage in einem großen Epos zu erneuern und das Epos selbst in allen deutschen Gauen, ja über die Grenzen des deutschen Sprachgebietes hinaus, als wandernder Sänger vorzutragen. Nachdem er sich mit dem alten Sagengold vertraut gemacht, schritt er an dessen Ausmünzung. Jahrelang arbeitete er für sich im Stillen. Endlich, 1862, als ein guter Theil vollendet war, unternahm der Dichter seine erste Rhapsodenfahrt. Der Erfolg war ein über Erwarten günstiger. Bis 1876 war er in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, in Rußland, England und Holland und jenseit des Weltmeeres vom Erie- und Michigansee bis zur Mündung des Mississippi, vom Hudson, Schuylkill und Ohio bis zum Goldenen Thor der Bai von San Francisko zusammen in 160 Städten aufgetreten, und seitdem hat er noch manche andere Sängerfahrt unternommen. Auch der klingende Lohn blieb nicht aus. Durch seine unermüdliche Arbeit hatte er sich bald ein ansehnliches Vermögen erworben, und er konnte sich ein eigenes Haus mit Garten am Taunusplatz zu Frankfurt am Main kaufen.

In den sechziger und siebziger Jahren gab der Dichter außer einer Sophokles- und Homerübersetzung mehrere litterarisch-ästhetische Schriften heraus sowie eine lyrische Sammlung „Strophen und Stäbe“. Außerdem schuf er eine Reihe Dichtungen religiös-philosophischen Inhalts, zunächst für sich und die Seinen. Erst den Bitten seines Freundes Emil Rittershaus gelang es, ihn zur Herausgabe derselben zu bewegen. So erschienen im Jahre 1878 die „Andachten“, vielleicht Jordans bedeutendste Leistung. Sie entsprechen am meisten von allen seinen Dichtungen seiner natürlichen Anlage. Der Dichter macht in ihnen den Versuch, die Ergebnisse neuzeitlicher Wissenschaft mit den Sätzen des kirchlichen Glaubens in Einklang zu bringen, indem er den Bildern derselben einen zeitgemäßen Ideengehalt giebt. Das Buch erfuhr von mehreren Seiten scharfe Angriffe, und er vertheidigte es in einer weiteren Schrift, „Die Erfüllung des Christenthums“.

Es fußt auf dem Gedanken:

„Zertrümmert scheint, zermalmt zu losem Staube
Des Menschenglückes Grundbaufels, der Glaube.“

Aber, fragt der Dichter weiter:

„Erschlossen denn schon Wage und Retorte
Zu Psyches Heiligthum die letzte Pforte?
Ist das den Sinnen Unerlängliche
Nicht doch in uns das Unvergängliche?“

[76] Als auch diese Rufe in der Weite verhallten, griff der Dichter zu einem zeitgemäßeren Mittel, seine Anschauungen zur Geltung zu bringen, zum Romane. Die neuzeitliche Weltanschauung und ihre Einflüsse auf das Leben der Zukunft darzustellen, ist das Thema der „Sebalds“ wie der „Zwei Wiegen“; nur betont das erstere Buch mehr die religiöse und das zweite mehr die ethische Seite.

Schon in den siebziger Jahren vereinsamte der Dichter, indem alle seine literarischen Freunde in Frankfurt in rascher Folge dahinstarben, und so zog er sich noch mehr in den Kreis der Seinen, in das stille Haus am Taunusplatz, zurück, in dem er an der Seite eines geliebten Weibes, umgeben von erwachsenen Kindern und blühenden Enkeln, ein stilles und glückliches Leben führt, bis ihn einmal die alte Wanderlust ergreift und er nicht mehr täglich dichtend unter den Schatten der Kastanien seines Gartens auf- und abschreitet, sondern hinaus zieht in die Fremde, um die Schöpfungen seines eigenen Geistes lauschenden Hörern vorzutragen.