Wie ich Großmutter wurde
Wie ich Großmutter wurde.
Es ist nicht ganz natürlich zugegangen, daß mir der Himmel diesen reizenden kleinen Bengel, der mich Großmama nennt, einbeschert hat; denn – ich will’s nur gleich gestehen – ich bin ja eine alte Jungfer. Meinen süßen Dani kümmert es freilich nicht, ob meine Würde echt ist. „Aber soll ich meine großmütterlichen Ansprüche vor dem strengen Richterstuhle der Welt nicht rechtfertigen?“ fragte ich meine lieben Kinder. Die Eltern des kleinen Kerls lachten. „Ja, erzähl’s doch den Leuten!“ meinte der glückliche Papa, und die liebe Mama umschlang mich zärtlich. „Ach ja, erzähl’s!“ sagte sie; aber sie sagte es leise – ganz leise.
Ich besitze also die Erlaubniß und so schreibe ich denn.
Es ist nun schon zwanzig Jahre her. Ein dicker gelbgrauer Nebel lag schwer auf der Stadt, die Straßenlaternen brannten trübe und über einer jeden stieg ein Schattenkegel auf. Der Schnee fiel in großen breiten Flocken, die, sobald sie die Erde berührten, ihre zarte Form und glänzende Weiße zu häßlichem Straßenschmutze umwandelten.
Eine feuchtkalte Luft umspannte mit hartem Drucke die Kehle, und zu seinem Vergnügen hielt sich gewiß niemand im Freien auf; heute aber, am 24. Dezember, waren die Straßen noch mehr als sonst belebt. Aus den Schaufenstern strahlte die Pracht der Weihnachtsausstellungen, und die Leute drängten zu den überfüllten Läden hinein und wieder heraus. Wer seine Einkäufe noch nicht beendet hatte, mußte sich beeilen. Regenschirme geriethen in ärgerliche Konflikte. Entschuldigungen von höflichen Leuten wie ungeduldige Ausrufe der Eiligen flogen hin und her; aber wer wollte sich an einem solchen Abend ärgern? Ein jeder versuchte, sich möglichst schnell aus dem Gedränge zu winden und weiter zu hasten. Hinter einigen mit einem feuchten Hauch überzogenen Fenstern glitzerten schon die brennenden Lichterbäume.
Ich saß wohlgeborgen neben meiner Freundin Luise in einem Wagen und uns gegenüber ihr guter Mann. Meine Freunde fuhren zur Bescherung ihrer Mama; doch zuerst sollte ich an dem kleinen Hause auf dem Johannisplatze abgesetzt werden.
„Sei doch nur einmal inkonsequent, Anna, und begleite uns; Mama würde sich so freuen, wenn wir Dich als Weihnachtsüberraschung mitbringen würden,“ bat meine Freundin.
Der vernünftige Ehemann bemerkte dagegen: „Wie kann man seine Freunde mit Bitten quälen! Du weißt längst, daß Fräulein Anna es vorzieht, ihr Weihnachtsfest allein zu feiern; der Geschmack ist nun einmal verschieden.“
„Sie will nur ihren alten Erinnerungen einen Lichterbaum anzünden und das ist sentimental; ich wenigstens nenne diese Laune sentimental,“ grollte Luise.
„Ich überlasse es Deiner Freundschaft, mich sentimental oder eigensinnig oder ein Gewohnheitsthierchen zu nennen, liebstes Herz; jedenfalls wirst Du mich unter allen den lieben Menschea heute abend nicht vermissen.“
Der Wagen hielt. Freund Weber sprang hinaus, um mir behilflich zu sein, die vielen Päckchen, die Luise hinausreichte, ins Haus zu tragen.
„Noch einmal schönen Dank für Eure reizenden Geschenke und viel Vergnügen heute abend! Morgen mittag sehen wir uns bei Professors wieder.“
Luise zog sich mit schmollender Miene zurück. Wie oft sich diese kleine Scene schon abgespielt hatte! Jedes Jahr, nachdem mich meine Freunde mit reichen Gaben überschütteten, wurde sie von Luise aufgeführt.
Bis ich das zweite Stockwerk erreichte, hatte ich, beladen mit den vielen Päckchen, auf den steilen Treppen des altmodischen Hauses beinahe den Athem verloren.
Da oben aber, ans Treppengeländer gelehnt, stand schon einer mit keuchender Brust; es war Daniel Brun, der Gerichtsschreiber, der über mir in einer Dachstube wohnte. Seit bald dreißig Jahren war ich daran gewöhnt, ihn um diese Stunde in derselben Stellung zu treffen; bei seinem verwachsenen Körper fiel ihm das Steigen schwer, heut war er noch dazu mit Paketen beladen.
„Sie wollen sich heut wohl selber großartig einbescheren, Herr Brun?“ fragte ich, indem ich die Vorthür aufschloß.
„An so ’nem Abend will man doch nicht gern mit leeren Händen heimkehren, Fräulein Möller,“ entgegnete er, höflich den Cylinder abnehmend; er trug stets einen Cylinder. „Wir einsamen Leute wollen auch unser Weihnachten feiern. Sie bringen sich ja ebenfalls einen heiligen Christ nach Hause.“
Mir lag nichts daran, die Unterhaltung zu verlängern, denn ich wünschte noch allerhand Vorbereitungen zu treffen. Unser Gespräch dauerte niemals lang; ein paar Worte über das Wetter oder eine flüchtige Frage nach seiner Gesundheit, wenn das Pfeifen aus der verkümmerten Brust mich peinlich – ich möchte sagen unästhetisch – berührte, das war alles. Allein gegen seine sonst so bescheiden zurückhaltende Art trat heute der Schreiber näher.
„In unserm Hause werden nicht alle Leute glückliche Feiertage haben; der Ullmann“ – er deutete mit dem Finger nach oben – „hat seine Entlassung bekommen.“
„Nun, die hat der Mensch gewiß auch verdient; er ist ja dem Trunke ergeben.“ Ich sprach abweisend, hart und ließ die Vorthür nicht aus der Hand. Wenn Daniel Brun auf mein Mitleid rechnete, hatte er falsch spekuliert. Der Statist da oben mit seiner kupferigen Nase erregte stets mein Mißfallen. Sein Weib, das in schmutzigen, schleppenden Röcken die Straße fegte, war vor Jahresfrist gestorben; seit der Zeit führte der Mann sein einziges Kind, ein theaterhaft aufgeputztes Mädchen, stets selbst an der Hand; er schien demselben große Liebe zu erweisen, aber trotzdem mochte ich weder ihn noch das Kind leiden.
„Wenn der Mensch einmal so tief gesunken ist, kommt er nie wieder herauf; solchen Leuten ist nicht zu helfen,“ fügte ich streng hinzu.
„Ja, leider, leider!“ – in Bruns Stimme zitterte ein tiefes Mitgefühl. „In letzter Zeit soll er sogar zu den Proben betrunken gekommen sein.“
„Gute Nacht, Herr Brun!“
Ich wollte die Vorthür schließen, aber das bucklige Männchen trat abermals näher.
„Das Kind – wissen Sie – Cillchen, möchte doch gern seine Weihnachtsbescherung haben. Es versteht ja noch nichts von all dem Jammer. Das Bäumchen ist auch schon geputzt …“
Ich fiel ihm herb ins Wort. „Für solch unnöthige Dinge hat der Mann noch Geld? Da muß die Noth aber nicht groß sein.“ – Und ich schloß unsanft die Thür.
Ich glaubte, etwas von einer „sittlichen Entrüstung“ zu spüren, und fand es „abgeschmackt“ von Daniel Brun, mir die Weihnachtsstimmung mit seiner traurigen Geschichte zu verderben. Aber meine gute Laune hatte durch den Gerichtsschreiber nur vorübergehend gelitten. Sobald ich die Lampe angebrannt und mein Straßenkleid mit einem molligen Schlafrock vertauscht hatte, ergab ich mich mit Eifer den Vorbereitungen zu meinem Weihnachtsabend, und jede Erinnerung an den verwachsenen Schreiber wie an die Familie des Statisten war ausgelöscht.
Bei meinem Alleinleben hatte sich in mir ein gewisses Raffinement des Genießens ausgebildet; ich bereitete nicht nur jede Speise aufs vorzüglichste zu – mein Auge verlangte zugleich eine geschmackvolle Anordnung des Eßtisches; es war mir zur Gewohnheit geworden, ihn auch für mich allein stets mit Sorgfalt zu decken. Der Salat, den ich schon angerichtet hatte, der kalte Aufschnitt, die Butter, das Weißbrot – alles war erster Güte. Auch eine Büchse mit Gänseleberpastete stellte ich geöffnet hin; ich hatte sie wie auch die kleine Schale des feinsten Konfektes, die großen gelben Nüsse und den Nürnberger Lebkuchen soeben von meinen Freunden erhalten. Das Wasser in dem kleinen Theekessel von blankem Kupfer summte bald, und ich brauchte nur [842] noch die Lichter an dem Christbäumchen anzuzünden. Alle erhaltenen Geschenke hatte ich zierlich darunter ausgebreitet, und von meinem Platz am Eßtische konnte ich die hübsche Bescherung anschauen. Selbst für geistige Nahrung war ich besorgt gewesen; der neueste Roman sollte nach dem Abendessen mich unterhalten. Alles war vorbereitet; ich goß den Thee auf, warf einen prüfenden Blick über meine kleine Tafel und nahm Platz.
Menschenscheu war ich nicht; im Gegentheil, ich lebte äußerst gesellig, und ein stiller Abend in meinem Heim gehörte zu den seltenen Genüssen. Ich gratulierte mir, dem Drängen der Freunde widerstanden zu haben. Ein Weihnachtsabend mit massenhaft aufgebauten Geschenken, die man anschauen und bewundern mußte, erregte in mir stets einen gewissen Widerwillen der Uebersättigung; dazu die in heißen Zimmern zusammengedrängten, laut schwatzenden Menschen, das Nöthigen an der mit Gerichten überladenen Tafel – und gar der Kinderlärm! Das alles war nicht nach meinem Geschmack. Mit welchem Behagen konnte ich hier mein Mahl verzehren. Das Tannenbäumchen, ohne das wir Deutschen nun einmal kein Weihnachten zu feiern vermögen, verbreitete einen lieblichen Wald- und Wachsduft. „So ein Lichterbaum ist verkörperte Poesie,“ dachte ich und knackte eine Nuß.
Da war mir’s auf einmal, als trippelten über mir Kinderfüßchen, als hörte ich ein jauchzendes Kinderstimmchen. „Das muß Cillchen sein!“ überlegte ich und horchte. Im nächsten Augenblick schalt ich meine Einbildung. Ueber mir wohnte ja nicht der Statist Ullmann, sondern der Schreiber Brun.
Aber ich wurde den Gedanken an das kleine Mädchen nicht wieder los. Ich sah das blondköpfige rosige Ding, wie es um den Baum herumtanzte und mit den dicken Patschhändchen nach dem Zuckerwerk langte; dabei schauten mich die Aeuglein so bittend an … Wer hat geseufzt? Ich blicke mich erschreckt um. Nein, wär’s möglich, daß ich selbst geseufzt hätte? Nun, das ist arg! Ich leide doch sonst nicht an sentimentalen Anwandlungen. Das Weihnachtsbäumchen ist schuld an solchen einfältigen Phantasien. Ich stehe auf und lösche die Lichter behutsam aus. „Möchte nur wissen, was ich mit einem Kinde anfangen sollte!“ – ich beginne das Geschirr abzuräumen – „reich bin ich nicht; meine Einnahmen reichen gerade aus, daß ich ein recht angenehmes und sorgenfreies Leben führen kann.“ Aber wenn man in eine Einbildung hineingerathen ist, wird man sie schwer gleich wieder los; es ist mir noch immer, als höre ich das kleine Mädchen da oben schwatzen. Ich muß stehen bleiben und horchen. Natürlich – alles nur Einbildung.
Der zweite Theil des Abends soll nun beginnen; ich drehe meinen bequemen Lehnsessel so, daß der Lampe Schein gerade auf das Buch fällt, das ich jetzt zur Hand nehme. Die Füße in Pelzpantoffeln auf der gestickten Fußbank, spinne ich mich so recht behaglich ein; das Schälchen mit Konfekt steht so, daß ich von Zeit zu Zeit ein wenig Marzipan naschen kann. Von der Johanniskirche tönt die neunte Stunde; auf der Straße scheint der Lärm sich allmählich zu verlieren, und der Wind singt leise im Schornstein. Der von dem Roman gehoffte Genuß tritt aber leider nicht ein; enttäuscht klappe ich das Buch zu. Das sind ja nur Figuren und keine Menschen; der Abwechslung halber hat sie der berühmte Verfasser einmal in altdeutsches Kostüm gesteckt, doch mit ihren modernen Empfindungen und Gedanken passen sie nicht in diese Tracht. Die Hand mit dem geschlossenen Buche liegt im Schoße; meine Gedanken nehmen ihren eigenen Weg. Ich sehe die Stube, wie sie vor einundzwanzig Jahren eingerichtet war.
Es ist mein Geburtstag. In der „guten“ Stube steht der mit einem weißen Damasttuch überhangene Tisch, auf dem die bescheidenen Gaben ausgebreitet sind; eine selbstgebackene Torte, mit siebzehn Lichtchen umsteckt – die Anzahl meiner Jahre – krönt die Mitte, und obwohl man damals mit Blumen noch nicht verschwenderisch war, fehlt’s doch nicht an Hyazinthen und Veilchen. Unruhig gehe ich im Wohnzimmer umher; die Mutter huscht noch mit irgend einem vergessenen Paketchen geheimnißvoll durch die Stube – meine Schwester überblickt noch einmal den gedeckten Eßtisch. Alles ist bereit, nur die Hauptperson, mein Bräutigam, fehlt noch; ich erwarte ihn mit brennender Ungeduld.
Mein Bräutigam war Schriftsteller und wurde als aufgehender Stern gefeiert. Unsere Verlobung war nur den nächsten Freunden bekannt: die Veröffentlichung derselben hing von dem Erfolge eines Romans ab, an dem Eduard Tausig noch arbeitete.
Diese Arbeit schien ihn völlig in Anspruch zu nehmen; es gab Abende, an denen er ganz in Gedanken dasaß und kaum ein Wort mit uns wechselte. Mutter sagte dann entschuldigend, daß Dichter nun einmal wunderliche Leute seien und daß ich mich in seine Launen fügen müsse. Mich aber machten diese Launen nur ärgerlich, ungeduldig, zornig. An anderen Tagen zeigte sich Eduard dafür lebendig, geistreich und entzückte unseren kleinen, ihm andächtig lauschenden Kreis. Dann war ich stolz, von einem so ausgezeichneten Manne geliebt zu werden, ich sah mich als die Frau eines gefeierten Dichters und träumte, einst an seinem Ruhme theilnehmen zu dürfen.
Wie ich nun so erwartungsvoll auf jeden Laut von draußen horche, wird die Klingel gezogen – scharf, hastig, laut – wie es seine Art war. „Eduard ist da,“ rufe ich der Mutter zu, die nun eilig die Lichtchen um den Kuchen anzuzünden beginnt, und ich laufe in den Flur ihm entgegen.
Dort aber steht ein junger Mensch, der Sohn der Wirthin Eduards – bleich und verstört steht er da, und ohne jedes vorbereitende und mildernde Wort ruft er mir mit heiserer Stimme entgegen: „Herr Tausig hat sich eben in seiner Stube erschossen!“
Ich wurde nicht ohnmächtig, denn ich begriff die Worte nicht; ohne zu wanken kehrte ich in die Stube zurück, die von den Lichtern im Tagesschein eigenthümlich beleuchtet wurde; aber als ich der Mutter sagen wollte, was geschehen sei, versagte mir die Sprache, ich war wie erstarrt.
Nachdem ich endlich so weit zur Besinnung gekommen war, um den Schlag, der mich so unvorbereitet getroffen hatte, zu begreifen – weinte ich nicht Thränen des Schmerzes, sondern Thränen des Zornes. Ich war empört; Eduards Selbstmord, dessen Ursache für mich nie aufgeklärt worden ist, erschien mir als ein Akt der Feigheit; ich konnte ihm nicht vergeben, daß durch ihn auch mein Name plötzlich im Munde aller Leute war; daß er meine Jugend schwer getroffen und meine Zukunft zerstört hatte. Jetzt erst fühlte ich, daß ich ihn gar nicht geliebt; mein Stolz und Ehrgeiz hatten die Wunden empfangen, nicht mein Herz. Jedes Wort der Theilnahme wies ich schroff zurück, ich wollte nicht beklagt sein. Und als ich mich wieder in Gesellschaften zeigte, waren meine Wangen nicht bleich, und ich ging nicht mit niedergeschlagenen Augen, sondern mit stolz erhobenem Haupte einher. Ich sprach mehr als früher, kokettierte und lachte mit den Herren und flocht in meine Unterhaltung satirische Bemerkungen ein; man unterhielt sich mit mir, doch einen Verehrer fand ich nicht. Von den Flügeln der Psyche war der schillernde Staub abgestreift; ich war auf dem besten Wege, eine verbitterte alte Jungfer zu werden. Da bot sich mir die Gelegenheit, eine reiche alte Dame auf Reisen zu begleiten, und später fand ich eine ähnliche Stellung in England. Als ich nach elf Jahren, nach dem Tode meiner Mutter und Schwester, mit einem kleinen ersparten Kapital zurückkehrte, hatte ich das kleinstädtische Wesen völlig abgestreift, und an Welt- und Menschenkenntniß bereichert, trat ich wieder in den Kreis der Jugendfreunde ein. Ich fand dieselben Menschen wieder – nur äußerlich verändert; doch fühlte ich mich ihnen jetzt überlegen. Ich hatte gelernt, in verschiedenen Sprachen mich zu unterhalten, von meinen Reisen und Erlebnissen wußte ich mit Humor zu erzählen, mein Aussehen war so frisch, daß niemand an mein Alter glauben wollte. Bald wurde ich der Mittelpunkt eines geselligen Kreises – überall gesucht und mit Freuden empfangen.
Bei mäßigen Ansprüchen konnte ich mein Leben ganz nach meinen Wünschen gestalten. Den Sommer verlebte ich meist auf Reisen; während des Winters verkehrte ich viel in Gesellschaft und genoß Theater und Konzerte. Die kleinen häuslichen Arbeiten – ein Dienstmädchen hielt ich mir nicht – fand ich für meine Gesundheit sehr zuträglich. Ich musizierte gern, las die neuesten Romane und richtete die altmodischen Stuben meiner Mutter, die ich bezogen hatte, nach meinem Geschmacke ein. Meine Freunde beneideten fast mein Talent, das Leben in der angenehmsten Weise zu genießen, und ich selbst fühlte mich äußerst behaglich.
Die Aufforderung, meine Zeit einigen wohlthätigen Vereinen zu widmen, schlug ich dagegen grundsätzlich ab und erklärte lächelnd, daß ich dazu weder Geschick noch Neigung besäße.
Freilich vermochte ich nicht, mich der Theilnahme für meine Freunde zu entziehen, sobald sie von Krankheit oder Unglück betroffen wurden; doch versuchte ich, sobald wie möglich diese mich störenden Gedanken los zu werden. „Wo hätte man noch eine [843] freie Stunde, wenn man den Kummer anderer Leute zum eignen Kummer erheben wollte? Ich habe auch mein Theil gehabt und bin damit fertig geworden. Die Hauptsache ist, daß man sich mit frischer Luft und kaltem Wasser gesund erhält; sie sollten sich an meiner Lebensweise ein Beispiel nehmen!“ – War mein Mitgefühl aber einmal mehr als sonst in Anspruch genommen, so beruhigte ich mich mit der Phrase, daß man, um glücklich zu leben, ein Stück gesunden Egoismus besitzen müsse – –
Was mir da alles für Gedanken durch den Kopf geschossen waren! Ich bildete mir ein, den Schlüssel zu den alten Erinnerungen in das Meer der Vergessenheit versenkt zu haben, und doch hatten sie sich wie Gespenster zu mir hereingeschlichen.
Aber daran war nur schuld, daß mich das Buch langweilte. Ich nahm es auf, um noch einen Blick hineinzuwerfen – doch es lohnte nicht, mit dem Lesen von neuem zu beginnen, es hatte schon zehn Uhr geschlagen, und ich liebte es nicht, bis spät in die Nacht aufzubleiben.
Da wurde draußen die Klingel gezogen, gerade wie vor einundzwanzig Jahren – scharf, hastig, ungestüm. Ich fuhr mit jähem Schrecke auf. Es war mir, als hätte ich seit jenem furchtbaren Tage die Klingel nie mehr so laut, so grell ertönen hören.
Ehe ich mir den Wachsstock angebrannt hatte, wurde das Klingeln schon wiederholt, nur noch heftiger, noch ungeduldiger. „Ich komme schon,“ rief ich und war überzeugt, daß es in unserm Hause brenne. Vor der Thür stand Daniel Brun – bleich und verstört, gerade wie damals der junge Mensch, der mir den Tod meines Bräutigams zu melden kam.
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie so spät noch störe“ – jedes Wort kam schwer aus seiner keuchenden Brust und doch ersparte er sich keines, um mich nicht zu erschrecken. „Ich war schon unten beim Hausmann und habe ihn nach dem Arzte geschickt.“
„Ich dachte schon, es wäre Feuer.“
„Nein, ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht ein Hausmittel für Herzkrämpfe haben – oder wenigstens eine warme Tasse Thee – der arme Mann oben ist sehr übel dran.“ Und leiser setzte er hinzu: „Der Ullmann wird’s wohl nicht mehr lange treiben.“
Natürlich erstarrte ich bei dieser Nachricht nicht wie vor einundzwanzig Jahren; doch mein Denken – wenn auch minder tief berührt – war ungefähr das gleiche. Meine Lebenshoffnungen wurden durch das Sterben des Statisten freilich nicht vernichtet; aber mein Behagen war gestört, meine Nachtruhe bedroht, und das empörte mich. Nicht das Unglück meines Mitbewohners stand vor meiner Seele, nur die Folgen desselben, soweit sie meine Kreise störten.
„Der Mensch hat seine Gesundheit durch das Trinken ruiniert,“ rief ich laut. „Es ist empörend, daß er nicht einmal nach dem Tode seiner Frau sich gebessert hat.“
„Es mag wohl sehr schwer sein, eine böse Angewohnheit wieder abzulegen, Fräulein Möller. Es mag dazu eine große sittliche Kraft gehören.“
„Nun, er hätte doch an sein Kind denken sollen; aber wahrscheinlich ist’s für das arme Kind nur ein Glück, wenn’s in andre Hände kommt.“ – Ich sprach gegen meine sonstige ruhige Art erregt und wunderte mich zugleich, daß ich mich von Verhältnissen, die mich im Grunde gar nichts angingen, zu so lebhaftem Unwillen fortreißen ließ.
Daniel Brun entgegnete mit seiner klaren Stimme, deren Wohlklang ich zum ersten Mal empfand: „Gegen sein Kind ist der Ullmann immer gut gewesen, das muß man ihm lassen; Cillchen hat’s an nichts gefehlt. Jetzt wird er sie freilich vor Noth nicht mehr schützen können, und das hat ihn vollends krank gemacht; er ist ganz zerknirscht und geistig wie körperlich in einem recht trostlosen Zustande. – Aber ich muß doch gleich wieder hinauf. Verzeihen Sie nur, Fräulein Möller, daß ich Sie so spät noch beunruhigt habe; ich dachte, eine Tasse warmen Thees würde ihm den Krampf erleichtern – der Doktor ist ja an so ’nem Abend auch nicht gleich bei der Hand. Aber wenn Sie keinen Thee mehr haben, Fräulein Möller …“
Ich fiel ihm fast ärgerlich ins Wort: „Sie können sich doch denken, Herr Brun, daß ich eine Tasse Thee kochen werde; in ein paar Minuten ist sie fertig; ich bringe sie gleich selbst hinauf.“
Es schien ihn zu freuen, daß ich seine Bitte erfüllte; wenigstens kam mir’s so vor. –
Ach, was für ein Elend predigten die kahlen Wände der niedrigen Dachstube! Was für eine bittere Noth war hier heimisch! Und ich, nur eine Treppe tiefer, hatte nie etwas davon erfahren, weil – nun weil ich nichts davon erfahren wollte.
Der unglückliche Mann stand trotz der kalten Winternacht am offnen Fenster, an das er sich mit einer Hand klammerte, mit der andern tastete er angstvoll umher; bald strich er sich durch das wirr herabhängende Haar, bald versuchte er, die ohnehin lose Jacke aufzureißen, denn es fehlte ihm an Luft. Die mageren ausgehungerten Glieder klapperten vor Kälte, trotzdem litt er nicht das wärmende Tuch, das Brun mit unermüdlicher Ausdauer ihm über die Schulter zu hängen versuchte. Mit stets steigender Qual rang sein keuchender Athem nach Luft, eine furchtbare Seelenangst lag in seinem hilfesuchenden Auge. Aber sobald er meine Gegenwart merkte, war er bemüht, sich zusammenzunehmen; er zog die Jacke zusammen und fing an, eine Entschuldigung zu stammeln. Doch gleich begann wieder das Keuchen der schwerarbeitenden Brust und die Hand fuhr von neuem krampfhaft umher. Es war eine schreckliche, eine hoffnungslose Pein.
Der Anblick traf mich ins Herz; zum ersten Mal stand ich dem Elend in seiner ganzen Furchtbarkeit gegenüber, und meine Anklagen verstummten. Indeß versuchte Daniel Brun mit großer Ausdauer und Geschicklichkeit, dem Kranken ein paar Tropfen Thee einzuflößen und während dieser Bemühungen zugleich des Mannes Seelenqual zu beschwichtigen. Seine Augen schienen eine Fülle des Mitleids und erbarmender Liebe auszuströmen, seine Worte aber waren auch an mich gerichtet oder doch für mich bestimmt, wie ich bald bemerkte; er war bemüht, den Kranken durch seinen Zuspruch zu ermuthigen und die wahrscheinlich kurz zuvor ausgesprochenen Selbstanklagen desselben zu entkräften, zugleich jedoch wollte Brun mir beweisen, daß der Arme meiner Theilnahme gar nicht so unwürdig sei, wie es wohl den Anschein habe, und daß neben dem traurigen Laster, das zu bekämpfen der Mann nicht mehr die Kraft besaß, seine Seele für edle Regungen nicht unzugänglich wäre. Ich fühlte in dieser Stunde, wie gewaltig der Einfluß eines Geistlichen sein muß, der es versteht, mit dieser hingebenden, alles begreifenden Menschenliebe wie Daniel Brun zu einem verzweifelten Menschen zu reden.
Der Kranke schien ihn zu verstehen; öfter nickte er wie bestätigend; einmal aber kam’s ganz laut aus seiner heiseren Kehle: „Wie sind Sie so gut! Gott vergelt’s Ihnen!“
Dreißig Jahre hatte ich mit Daniel Brun in demselben Hause gewohnt, und doch war mir niemals eingefallen, daß der bucklige Schreiber in dem abgetragenen Röckchen ein guter, ein edler Mensch sein könne; er erschien mir stets als ein viel zu unbedeutender Gegenstand, um meine Gedanken länger als für einen flüchtigen Augenblick mit ihm zu beschäftigen. Jetzt schämte ich mich darüber, ja mir traten die Thränen in die Augen, und wenn ich nur Zeit gefunden hätte, an mich selbst zu denken, ich wäre mir diesem Manne gegenüber klein und jämmerlich vorgekommen. Wie war’s nur möglich, daß ich erst jetzt den bedeutenden Kopf des unscheinbaren Schreibers bemerkte! Mir war, als werde ein Vorhang vor meinen Blicken weggezogen, und nun erkannte [846] ich das große Herz und die geläuterte schöne Seele, die in diesem elenden Körper wohnte.
Da ließ sich draußen ein müdes Stimmchen hören, das weinerlich „Papa, Papa“ rief, und kleine Fäuste schlugen an die Thür. Der Kranke fuhr auf, seine Seelenangst schien sich zu steigern; des Kindes Stimme war für ihn die Stimme des anklagenden Gewissens. „Lassen Sie das Kind nicht herein!“ stieß er angstvoll hervor. „Ich kann Cillchen jetzt nicht sehen – barmherziger Gott, sei mir gnädig und erspar’ mir, daß ich in dieser Stunde auch noch das Kind sehen muß!“
„Beruhigen Sie sich nur, Herr Ullmann,“ mahnte Brun. „Fräulein Möller wird Cillchen mit hinunternehmen.“ Und sein Blick traf mich, bittend und zugleich befehlend; wenigstens wußte ich, daß ich diesem Blicke gehorchen mußte.
Schon war ich vor der Thür; ich hob das weinende und sich sträubende Kind auf den Arm und trug es die schmale Treppe hinunter, während Brun, sich weit über das Geländer beugend, uns mit seinem kleinen Studierlämpchen leuchtete.
Ich war nicht gewohnt, mit Kindern umzugehen; laut und heftig schreiende Kinder waren mir besonders verhaßt, heut aber fand ich die rechten Worte, das kleine Mädchen zu beruhigen; ein Bonbon verstärkte die Wirkung, und bald hatte sich Cillchen auf dem Sofa, wo ich sie gebettet, in Schlaf geweint. Eine Puppe, die sie nicht aus der Hand gelassen hatte, drückte sie auch jetzt noch zärtlich an ihr Herzchen.
Ich rückte den Lehnstuhl an das Sofa, denn ich erwartete, noch einmal hinaufgerufen zu werden; deshalb hatte ich auch die Vorthüre nicht abgeschlossen, vor fremden Eindringlingen war man ja in dem Hause sicher. Aber Stunde auf Stunde verkündete die Johanniskirche, und niemand kam, mich zu holen.
Allmählich kehrten meine Gedanken von den soeben empfangenen Eindrücken zu den eigenen Verhältnissen zurück. „Natürlich werde ich morgen Migräne haben und muß bei Professors absagen lassen; eine gestörte Nacht taugt für mich nicht. Es ist auch wirklich eine recht peinliche Lage; ich bin wahrhaftig nicht abergläubisch, aber angenehm ist es nicht, gerade diese Nacht in der Nähe eines Sterbenden zu verleben.“
Mein Blick fiel auf Cillchen; nun, da sie des häßlichen Theaterputzes entledigt war, sah ich erst, was für ein liebliches Geschöpf das kleine Mädchen war. Die blonden, von Thränen feuchten Härchen schmiegten sich um das blasse Gesichtchen; von Zeit zu Zeit wurde der kleine Körper noch von Schluchzen durchbebt und das Mündchen verzog sich, als wollte es wieder weinen. Etwas von dem Zauber, der von einer reinen Kinderseele ausgeht, schlich sich in mein Herz. Armes Wesen, dachte ich, was für einer traurigen Zukunft schläfst Du ahnungslos entgegen!
Ohne daß ich’s bemerkte, war ich endlich auch eingenickt; bei einem Geräusch schreckte ich auf, es wurde leise an die Thüre geklopft, und Daniel Brun trat in die Stube.
Ich sah’s ihm gleich an, daß er aufs äußerste erschöpft war, schob ihm einen Sessel hin, und ohne ihn erst zu fragen, ob er etwas bedürfe, lief ich hinaus, goß Wasser in den Theekessel, that Thee in die Kanne und stellte alles Nothwendige auf ein Brettchen, das ich in das Zimmer trug.
Diesen Mann zu erquicken machte mir eine Freude, an die ich vor wenigen Stunden noch nicht geglaubt hätte. Anna Möller, morgens vier Uhr in einer kalten Winternacht bemüht, einem buckligen Schreiber in ihrem Wohnzimmer einen Imbiß zu bereiten! Und das auch noch mit Vergnügen! Nein, so was hätten mir meine besten Freunde nicht zugetraut!
Er saß da, den ernsten Blick meist auf das schlafende Kind gerichtet; meinen Eifer schien er wohl zu bemerken, doch war er zu erschöpft, um sich nach seiner bescheidenen Art gegen diese Vorbereitungen zu sträuben. Erst nachdem er einen Schluck heißen Thee, in den ich etwas Rum gegossen, über die bleichen Lippen gebracht hatte, deutete er nach dem Kinde hin und sprach: „Cillchen ist nun ganz verwaist.“
„Sie wollen sagen, daß der Mann gestorben ist?“ rief ich erschrocken, obgleich ich den Ausgang erwartet hatte.
„Der Arzt hat mir gleich mitgetheilt, wie es kommen werde,“ fuhr er fort. „Wenn der Herzkrampf noch länger andauere, oder wenn er sich nach ein paar Stunden wiederhole, dann werde es mit ihm aus sein. Eine Weile war er nun ein bißchen ruhiger geworden; auf einmal aber schrie er auf – nein, Fräulein Möller, es hätte nichts genützt, Sie noch einmal hinauf zu bemühen. Er hat auch nicht lange mehr gelitten; es kam ein Herzschlag, und er war erlöst.“ Dann blickte er wieder nach dem Kinde. „Wenn nur die ersten Tage vorüber wären; es wird schwer sein, Cillchen zu trösten; sie hat sehr an dem Vater gehangen.“
„Jetzt müssen Sie noch ein Glas Wein trinken, Herr Brun,“ bat ich. „Sie brauchen wirklich eine Stärkung. Was haben Sie auch in dieser Nacht mit dem fremden Manne alles durchlebt!“
„Mir ist der Mann nicht so fremd wie Ihnen, Fräulein Möller; wenn man so einsam lebt wie ich, kümmert man sich um die Menschen, mit denen man durch Zufall näher in Berührung kommt. Cillchen und ich, wir sind schon lange gute Freunde; ich habe ihr ja auch ein Bäumchen geputzt; und während sich das Kind an den Lichtern und dem bißchen Spielwerk erfreute, trat der schreckliche Zustand bei dem Manne schon ein.“
Erst nach einer Weile nahm er in anderem Tone die Unterhaltung wieder auf; sein Blick wanderte mit einer Art kindlicher Neugierde durch die Stube. „Es ist vielleicht keine passende Gelegenheit, das auszusprechen, Fräulein Möller, aber sehen Sie, ich habe mir immer gewünscht, einmal in diese Stube zu kommen, in der Sie wohnen. – Eine sehr schöne Einrichtung“ – er nickte befriedigt – „gebildet und geschmackvoll, gar kein unnöthiger Prunk; aber ganz anders, als es hier bei der seligen Frau Mutter gewesen ist. Sie müssen einen sehr feinen Geschmack besitzen, Fräulein Möller.“
„Wenn Sie soviel Werth auf die Einrichtung legen, Herr Brun, dann haben Sie Ihr Zimmer wohl auch nach Ihrem Geschmacke eingerichtet?“
Das Abgespannte in seinen Zügen hatte sich verloren; ich schob ihm ein mit schottischer Marmelade bestrichenes Weißbrot hin; die Nahrung, vielleicht noch mehr meine unerwartete Freundlichkeit, thaten ihm sichtlich wohl, auch schien’s ihm ganz recht, einmal mit jemand von den eigenen Angelegenheiten zu reden; seine matten Augen belebten sich.
„Sie können selbstverständlich andere Ansprüche machen wie ich, darum würde Ihnen meine Stube vielleicht ärmlich erscheinen; aber ich muß gestehen, daß ich mich sehr wohl darin fühle. O, ich habe auch meinen Luxus, Fräulein Möller! Ich besitze eine kleine, doch, wie ich mir schmeichle, recht gewählte Bibliothek, und meine Augen sind, Gott sei gedankt, noch so leidlich. Wenn ich abends vom Bureau komme, brenne ich mir Feuer an, und wenn das Täßchen Thee fertig ist, dann ist’s unterdeß in dem Zimmerchen auch hübsch warm geworden. Da komme ich mir so zufrieden wie ein König vor – ich meine natürlich einen Märchenkönig, Fräulein Möller, denn ob die wirklichen Könige sich so glücklich fühlen wie ich, bezweifle ich. Ich bin ja von Jugend auf gewohnt, meine Ansprüche zu beschränken, und darum ist mir manche Entbehrung leicht geworden. Für Bücher habe ich freilich immer eine ganz besondere Neigung [847] verspürt; aber bei meiner Kränklichkeit und den geringen Mitteln meiner Eltern war das Studieren von vornherein ausgeschlossen. Na – und daß sich jemals ein junges Mädchen in mich verlieben würde“ – ein Lächeln zuckte um den feingeschnittenen Mund – „nein, daß ich mir so was einbilden könnte, das trauen Sie mir gewiß nicht zu. Aber mir ein Ideal zu schaffen und es, natürlich ganz aus der Ferne, anzubeten – das hat mir ja niemand gewehrt. Und ich war dabei vor Enttäuschungen sicher – beinahe sicher. Und so hat sich mit der Zeit mein Leben recht angenehm gestaltet. Auf dem Bureau sind die Herren ausnehmend freundlich und rücksichtsvoll mit mir, und ich thue doch nur meine Pflicht. Ja, wenn ich nicht eine recht einfältige Eigenschaft besäße, könnte ich mich wirklich sehr zufrieden fühlen. Jeder vernünftige Mensch wird sich sagen, daß die Welt nun einmal nicht vollkommen sein kann, und das sage ich mir selbst auch vor; aber wenn ich was Schlechtes höre, besonders wenn mir das Gemeine näher tritt, sehen Sie – das ist mir ganz unerträglich. Ich kann den Zustand nur mit einem körperlichen Schmerz vergleichen, wie wenn man sich recht empfindlich schneidet oder stößt. Doch ich darf nicht undankbar sein; wenn ich einem besonders guten, feinfühligen Menschen begegne oder von einer guten That höre, oder wenn einem meiner Bekannten ein Glücksfall begegnet – es kommt ja auch so was vor, Fräulein Möller – dann fühle ich mich gleich ganz neubelebt. Sie werden mich vielleicht auslachen, daß ich bei diesen Dingen immer nur von meinem körperlichen Befinden rede; aber das ist’s eben, daß seelische Zustände solchen Einfluß auf mein Befinden haben; gerade in letzter Zeit hatte ich viel darunter zu leiden. Freilich, was waren meine Leiden gegen die des unglücklichen Mannes, der fast stumpf von all dem Elend geworden ist! Ja, Fräulein Möller, es giebt Zeiten, wo einem die Armuth recht drückend wird. Wenn ich nur das Kind dem Elend entreißen könnte!“ – Ein tiefer Schmerz malte sich in seinen vergeistigten Zügen, und liebevoll strich seine magere Hand über die Decke, unter der das Kindchen schlummerte. „Cillchen ist ein ungewöhnlich gescheites Ding, man sollte es gar nicht glauben, was das Kind für Einfälle hat; das versteht’s, einem Menschen die Langeweile zu vertreiben; so ein verständiges Geschöpf trifft man nicht alle Tage, Fräulein Möller!“
„Aber lieber Herr Brun, Sie können doch unmöglich daran denken, das Kind in Pflege zu nehmen?“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Fräulein Möller, ein solches Glück ist einem einsamen alten Manne versagt; allein eine Frau, die noch keinen Beruf hat und die keine Pflichten abhalten und der das Herz auf dem richtigen Flecke sitzt“ – auf einmal richtete er seinen Blick mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf mich; in seiner Seele schien ein Gedanke zu erwachen – „es ist ein schöner Lebensberuf, so eine Waise zu erziehen, es ist die herrlichste Aufgabe, die einer Frau werden kann.“
Unter seinem Blicke krampfte sich mein Herz zusammen, als ob eine gewaltige unsichtbare Hand danach fasse; mir wurde ordentlich Angst vor der Macht dieses Auges, denn ich hatte ihn verstanden, und unwillkürlich, um mich seinem Einflusse zu entziehen, stand ich auf und trat in den Schatten.
„Ein solches Kind zu erziehen, Herr Brun, würde jeder Frau, deren Leben in bestimmte Bahnen eingeengt ist, große Opfer auferlegen. Mir wenigstens würden diese Opfer zu groß erscheinen. Was sollte mich auch veranlassen, fremder Leute Kind, das durch ein unglückliches Verhängniß in meine Wohnung gekommen ist, zu behalten? Ich müßte den Umgang mit meinen Freunden sofort aufgeben …“
„Nur beschränken, Fräulein Möller, nur beschränken!“
„Ach, wie wollen denn Sie das beurtheilen?“ fuhr ich auf. „Meine Freunde, meine Reisen, alle meine Vergnügungen müßte ich einfach aufgeben! Glauben Sie, daß ich ein Krösus bin?“
„Aber Sie würden mehr, als Sie aufgeben, dafür eintauschen, Fräulein Möller.“
„O ja, da haben Sie ganz recht; schlaflose Nächte, Sorgen und Mühen würde ich dafür eintauschen – und schließlich läge auf mir noch eine schwere Verantwortung; wer weiß, was aus dem Kinde wird, es kann ja geistig und körperlich erblich belastet sein.“
„Um so größer ist die Gefahr für Cillchen, und um so höher würde Ihr Verdienst sein, sie aus dem Sumpfe in eine reinere Atmosphäre versetzt zu haben.“
„Ach gehen Sie! Ich glaube, Sie legen es darauf an, mich zu quälen, Herr Brun.“ – Wer mir gesagt hätte, daß ich mit einem Schreiber in diesem Tone verhandeln würde!
„Aber Fräulein Möller, ich spreche doch nur aus, was Sie selbst viel besser fühlen und denken. Und nachdem Gott Sie einmal zu dem Amte berufen hat, können Sie sich der Verantwortung ja gar nicht mehr entziehen.“
„Wie wollen Sie das beweisen?“ rief ich hart und laut. Das Kind bewegte unruhig die Händchen, aber es erwachte nicht.
„Sie saßen hier behaglich in Ihrer Stube, Fräulein Möller, und feierten nach Ihrer Art das Weihnachtsfest; und Sie dachten gewiß nicht mehr an die Ullmanns, als ich Sie zu dem armen Manne um Hilfe rief. Aber nicht wahr, es wäre Ihnen doch nicht möglich gewesen, diese Hilfe nicht zu gewähren? Und ebenso wenig konnten Sie abschlagen, das Kind unter Ihren Schutz zu nehmen.“
„Ja, für ein paar Stunden – ein paar Tage.“
„Freilich, so denken Sie jetzt. Aber glauben Sie denn, daß Sie, wenn Sie das Kind fortgegeben, ins Waisenhaus geschafft haben, befriedigt wie bisher weiterleben können? Nein, Fräulein Möller“ – und seine Stimme erhob sich – „von heute an werden Sie sich an jedem Abend fragen: wofür lebe ich eigentlich? Ist es denn ein würdiger Lebenszweck, nur für meine eigene Person zu schaffen und zu sorgen? Ist es denn eine Lebensaufgabe, meine guten Freunde zu amüsieren? Und von heute an wird Ihr Leben Ihnen schal und öde und unbefriedigend vorkommen. Und denken Sie nur, wenn Sie einmal hörten, daß Cillchen auf abschüssige Bahnen gerathen wäre! – Fräulein Möller, wollen Sie diese Verantwortung auf sich nehmen? Könnte Ihre Reue jemals gut machen, was Sie in dieser Stunde zu thun unterlassen haben?“
„Ach, reden Sie nicht weiter!“ rief ich heftig. „Ich bin selbstsüchtig, ich will’s offen bekennen: allein wie soll ich mich von heut auf morgen ändern? Ich bin nicht imstande, mein Leben, so wie ich es zu führen gewohnt bin, eines fremden Kindes wegen aufzugeben. Ein solches Opfer übersteigt meine Kräfte.“
„Ja, Opfer verlangt so ein Kind, das ist wahr, – recht viele, recht große Opfer; aber wie kann es auch diese Opfer belohnen! Es ist ein Kapital, das sich zu hundert Prozent verzinst. Was für Herrlichkeiten in so einer Menschenknospe schlummern, davon haben Sie noch gar keine Ahnung, Fräulein Möller; wenn sich jedoch Blatt nach Blatt entfaltet, bis die junge Seele in ihrer ganzen Pracht vor ihnen steht – dann, Fräulein Möller, werden Sie es selbst einsehen, daß in dieser Stunde sich Ihnen das größte Glück geboten hat, das einem Menschen zu theil werden kann.“
Aber noch immer sträubte sich mein Herz. „Daß dieses Kind zu dieser Stunde und unter diesen Verhältnissen zu mir gekommen ist, verpflichtet mich zu nichts,“ sagte ich hart.
Er stand auf. „Ich habe von einem Glück gesprochen, Fräulein! Glauben Sie vielleicht, daß dieses Glück, das Sie heute von Ihrer Thür fortgewiesen haben, ein zweites Mal wiederkehren wird?“
Und darauf ging er geräuschlos, wie er gekommen war; ich sah ihn nicht gehen, denn ich stand am Fenster und starrte in das Dunkel hinaus. Die Straße war ganz leer; da und dort schimmerte durch den Nebel eine müde Flamme in den Laternen; kein Schritt nah und fern, alles still; aber in meinem Herzen tobte ein leidenschaftlicher Kampf. Es war, als ob feindliche Gewalten meine Seele zerreißen würden. Doch eines war mir jetzt schon klar: Meine Ruhe, mein Behagen, alle Lebensfreude, [848] die ich bisher genossen – alles war vernichtet; unmöglich konnte ich so weiterleben. Ich klammerte mich an meine Selbstsucht und rief: „Rette du mich! Ich will nicht! Ich kann es nicht thun!“ – Gott allein weiß, wie schwer dieser Kampf gewesen ist. Und wie ich noch mit gerungenen Händen am Fenster lehne, erhebt sich vom Sofa her ein dünnes Stimmchen: „Papa!“ Dann lauter und herrischer: „Papa! Papa!“ Cillchen hat sich aufgesetzt und guckt sich erschreckt in der fremden Umgebung um.
Da bin ich auch schon neben ihr und umschlinge das kleine Wesen mit meinen Armen und sage ihm süße Trostworte, bei denen es sich beruhigt und wieder sanft einschläft.
Ich aber blieb an seinem Lager auf den Knien. Von draußen klang das Festtagsgeläute herein, das jubelnd die Geburt des Christkindes verkündete. Ja, auch mir war ein Christkind geboren worden; unwillkürlich faltete ich meine Hände und blickte fast andächtig auf das blasse Gesichtchen meiner kleinen Tochter. Die Selbstsucht war gestorben und die Menschenliebe zum Leben erwacht. Ein heiliger Friede hatte sich in mein Herz gesenkt. – –
Als am andern Morgen meine Aufwartefrau erschien, schickte ich sie hinaus und ließ Herrn Brun bitten, das Frühstück bei mir einzunehmen. Cillchen auf dem Arme, ging ich ihm entgegen in der Absicht, ihm mitzutheilen, daß das Kind in mir eine zweite Mutter gefunden habe; aber die Stimme versagte mir und ich brachte kein Wort hervor. Doch merkwürdigerweise verstand mich Daniel Brun auch ohne Worte. „Fräulein Möller,“ sprach er, „darf ich mir eine große Gunst ausbitten? Darf ich wagen, Ihre Hand zu küssen?“
So, nun ist meine Geschichte zu Ende.
Wie? Ich soll weiter schreiben? Aber was wäre da noch zu erzählen? Von mir habe ich gerade genug gesprochen. Doch von Dir, mein Cillchen, könnte ich erzählen … das willst Du mir nicht erlauben? Aber ich werde mich von meiner eignen Tochter nicht tyrannisieren lassen! Das sollte mir einfallen! Die Geschichte muß doch noch einen richtigen Schluß bekommen, und da sie mit meinem Enkel anfängt, scheint mir, daß Dir darin auch ein Platz zukommt. – Du bist davon nicht überzeugt, Cillchen? Ich soll nicht einmal sagen, daß Du jedes Opfer tausendfältig vergolten hast, daß Du … Ja, wenn Du mir den Mund zuhältst, kann ich freilich nicht reden. – Aha – das also erlaubst Du mir: von Daniel Brun soll ich sprechen, von unserem besten Freunde. – Ach, Kinder, da fällt mir ein, als ich heute nachmittag an seinem Grabe war, lag noch kein Kranz darauf. Ihr werdet mir doch am Weihnachtstage zum ersten Male nicht vergessen haben, sein Grab zu schmücken! – So – das beruhigt mich; Dein Professor hatte eine Abhaltung, früher hinzugehen, und er wollte sich’s doch nicht nehmen lassen, Dich an das Grab zu begleiten, ehe Ihr zu mir zur Bescherung kämet. Ja, meine theuren Kinder, ihn, der mich von der Selbstsucht zur Liebe erweckt und durch Dich zur stolzesten Großmama gemacht hat, Daniel Brun, dürft Ihr niemals vergessen! – Komm her, Dani! das ist sein Bild; Du mußt mit den kleinen Patschhänden nicht gleich so derb zugreifen, mein Junge; aber sieh Dir sein Bild an, Dani! Das war ein guter, ein sehr guter Mann. Wenn Du erst groß geworden bist, wird Deine Mutter Dich belehren, warum wir Daniel Bruns Andenken heilig halten und seinen Namen segnen.