Wie das erste Deutsche Parlament entstand/Märzstürme und Märzerrungenschaften

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Autor: Johannes Proelß
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Titel: Wie das erste Deutsche Parlament entstand - Märzstürme und Märzerrungenschaften
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5–6, S. 147–151, 186–191
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß.
Mit Illustrationen nach gleichzeitigen Lithographien und Holzschnitten.
III.0 Märzstürme und Märzerrungenschaften.

Das Bild vom anbrechenden Völkerfrühling, das kurz vor der Pariser Februarrevolution Welckers Rede über die Notwendigkeit eines Deutschen Parlaments vor den badischen Abgeordneten entrollte, drängt sich auch heute der rückschauenden Vorstellung auf, wenn sie sich den wunderbaren Umschwung der deutschen Zustände im März des Jahres Achtundvierzig vergegenwärtigt. Von welchem politischen Standpunkt aus der heutige Deutsche auch die sich überstürzenden Vorgänge betrachten mag, er wird inne, daß der erlösende Lenzhauch jener Tage in der That ein Befreier war, daß Rechte und Freiheiten, die er jetzt als selbstverständlich ausübt und genießt wie er die freie Gottesluft atmet, im Wirbelsturm jener Tage für ihn miterrungen wurden von einem Geschlecht, welches diese Errungenschaften entbehrt hatte wie der Gefangene die freie Luft. Wer aber gar als Veteran jener Kämpfe vor fünfzig Jahren auf sie zurückblickt, dem rötet sich in freudiger Erregung die Stirn unterm weißen Gelock und sein Auge strahlt hell – Frühlingsherrlichkeit vor sich!

Das war ein März, in dem sich der Frühlingsglaube des Uhlandschen Liedes auf alle Lebensverhältnisse übertrug: „Die Welt wird schöner mit jedem Tag, man weiß nicht, was noch werden mag – nun muß sich alles, alles wenden!“ Man sah in Erfüllung gehn, was das Seherwort Ferdinand Freiligraths vier Jahre vorher verkündet, als er den Hoffnungen und Beschwerden des deutschen Volkes in seinem „Glaubensbekenntnis“ die Glutsprache seines Genius lieh:

„Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
Regt sich’s im Schoß! Dem Bersten scheint sie nah’ –
Frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,
Frisch, wie sie Luther auf der Wartburg sah!
Ein alter Trieb! Doch immer mutig keimend,
Doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
Doch immer Frühling, immer Freiheit träumend –
O, wird die Knospe Blume nicht einmal? – –

Der du die Blumen auseinanderfaltest,
O Hauch des Lenzes, weh auch uns heran!
Der du der Völker heil’ge Knospen spaltest,
O Hauch der Freiheit, weh auch diese an!
In ihrem tiefsten stillsten Heiligtume
O küss’ sie auf zu Duft und Glanz und Schein –
Herrgott im Himmel, welche Wunderblume
Wird einst vor allen dieses Deutschland sein!“

Man muß den ganzen Druck der vorausgehenden Winterstarre nachempfinden können, um den Jubel, den die ersten „Märzerrungenschaften“ allüberall im deutschen Volke weckten, wirklich zu begreifen. Man muß den Ueberschwang, den Enthusiasmus dieses Frühlings- und Freiheitsrauschs sich abheben lassen von der Trostlosigkeit, mit welcher Heinrich v. Gagern in die Metternichsche Zeit hineinfragte: „Wo ist bei uns, was der Freiheit gleicht?“ Man muß in den Enthüllungen von Märtyrern der Censur, wie Struve und Held, in den Reden der Vorkämpfer der Preßfreiheit, wie Welcker und Mathy, nachlesen, bis zu welch empörendem Gemisch von Tyrannei und Dummheit die Bevormundung des geistigen Lebens entartet war, um den Jubel zu begreifen, mit dem nicht nur in der Presse, von Schriftstellern und Gelehrten, sondern im ganzen Volke die endliche Gewährung der Preßfreiheit begrüßt wurde. Als im badischen Landtag bereits am 1. März Minister Bekk die Preßfreiheit verkündigte, da war das Karlsruher Ständehaus von einer nach Tausenden zählenden Menge umlagert, in der sich auch zahlreiche Bauern aus dem Schwarzwald und vom Bodensee befanden. Sie waren nach Karlsruhe gekommen, um durch ihre Anwesenheit für die Abschaffung von Robot und Zehnten zu wirken; aber auch für sie war „Preßfreiheit“ ein goldnes Wort; sie waren längst darüber aufgeklärt, was es wert sei, ungestraft drucken lassen zu können, was man von Sorgen und Beschwerden auf dem Herzen hat. Und als nun das erlösende Wort feierlich vom Ministertisch aus in den Ständesaal klang, da „pflanzte sich der Jubel über die Freudenbotschaft aus dem Saal durch die zum Erdrücken vollen Gänge fort und hallte wie ein Echo von der außen harrenden Masse zurück“. Der Vorsitzende Mittermaier sprach sich los von der Geschäftsordnung; mit Thränen im Auge rief er, nach dem Bericht W. Zimmermanns: in solch heiligem Augenblick dürfe man dem Ausbruch des Gefühls nicht wehren! In Wien weckte das kaiserliche Manifest, welches Oesterreich in die Reihe der konstitutionellen Staaten erhob, „eine Begeisterung ohnegleichen, wahre Volks- und Völkerverbrüderungsfeste! Menschen, die sich nicht kannten, umarmten sich weinend vor Freude. Aller Nationalhaß war weggezaubert, es gab keine Böhmen, Ungarn, Italiener, Polen, Deutsche – nur Oesterreicher, ein Herz und ein Sinn!“ Die vor der Universität versammelten Studenten knieten auf offnem Platz zu einem Dankgebet nieder. Als in Berlin, kurz vor dem unglückseligen „Mißverständnis“, das in zwölfter Stunde doch noch den Straßenkampf entfesselte, die beschleunigte Einberufung des Landtags, die Absicht der Bundesreform und das liberale Preßgesetz verkündigt wurden, ergoß sich alsbald aus den Häusern eine jubelnde Volksmenge auf die Straßen, vom Bedürfnis nach gemeinsamer Aeußerung der Freude getrieben. „Einer rief dem andern die frohe Botschaft zu,“ berichtet Rellstab, „eine Umarmung, ein Händedruck folgte dem andern. Selbst Fremde reichten sich die Hand zum warmen Druck, umarmten einander herzlich in diesem alle verbindenden Gefühl höchsten vaterländischen Glückes.“

Da und dort ließen Standesherren sich vernehmen, die freiwillig auf altererbte Privilegien zu Gunsten der Bauern verzichteten; die engen Zirkel der Beamtenwelt öffneten sich einem freieren Verkehr mit dem Bürgertum. Es war die Freude, von der Schiller singt, daß sie die Menschen verbrüdere, daß sie wieder vereine, was die Mode streng geteilt, deren Zauber man auf den tausend Jubelfesten empfand, auf denen die bisher verbotenen Vaterlandslieder nun frei und hell erklangen und die Teilnehmer sich wie neugeboren fühlten im Vorgenuß der Freiheitsrechte, die ihnen so plötzlich gewährt waren! Sie leuchtete durch die Reden, welche in den Bürgervereinen, den Sänger- und Turngemeinden, den nun entstehenden politischen Klubs die neue Zeit dankbar begrüßten; die neue Zeit mit ihrer Gleichberechtigung der Stände und der Konfessionen, mit ihrer Erlöstheit von der unerträglichen Polizeiwillkür, die bisher in Handel und Wandel jede freie Bewegung gehemmt und den Professor und Journalisten, der das „zerstückelte“ Deutschland beklagte, ebenso als Verbrecher hatte behandeln dürfen wie den braven tüchtigen Handwerksburschen, der sein Brot in der Fremde suchte und in jedem deutschen Land, das er außer der Heimat betrat, ein mißtrauisch bewachter „Ausländer“ war.

Und welche schwärmerischen Hoffnungen knüpften sich nicht im Volke an das Symbol der einstigen und der nahenden neuen Reichsherrlichkeit, an das Schwarz-rot-gold, das jetzt ungehindert in den Sälen und an den Häusern als freudig bestaunter Schmuck sich hervorwagte! Noch lebten in der Schweiz, England, Belgien und Amerika viel hundert Deutsche unter dem Drucke des Flüchtlingselends, die nur deshalb zu ihm verdammt worden waren, weil sie ein schwarz-rot-goldnes Band als Zeichen ihrer Sehnsucht nach einem freien einigen Deutschland getragen hatten. Noch bis ins Jahr Achtundvierzig saßen auf deutschen Festungen patriotische Männer gefangen wegen ihrer Teilnahme am Hambacher Fest, auf welchem voreiliger Uebermut eine schwarz-rot- [148] goldne Fahne mit der Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“ gehißt hatte. Und jetzt: wenig Tage nach dem Sieg der Februarrevolution bekamen die vierhundert Mannheimer Bürger, welche als Deputation mit der ersten Sturmadresie nach Karlsruhe zogen, bei der Abreise auf dem Bahnhof von begeisterten Frauen die Brust mit schwarz-rot-goldnen Schleifen geschmückt, ohne daß die Polizei eingriff. Am 9. März wehte bereits vom Frankfurter Bundespalais eine mächtige Fahne in den vom selben Bundestag so schwer verpönten Farben hernieder, und dieser erklärte dieselben für das Abzeichen der neuzubegründenden Nationaleinheit. Am 21. März ritt dann gar der preußische König in schwarz-rot-goldnem Schmuck durch die Straßen Berlins, das preußische Militär erschien mit der in unserem Initial abgebildeten deutschen Nationalkokarde am Helm, und nun stolzierten mit ihr auch alle einher, die bisher die hartnäckigsten Reaktionäre gewesen waren und das Auftauchen der Kokarde zuerst als revolutionären Greuel grimmig verabscheut hatten. Und nach dem Verlauf weniger weiterer Tage konnte das Volk von Wien ein vom Stephansdom herabwallendes Riesenbanner in Schwarz-rot-gold jubelnd als Zeichen begrüßen, daß auch Kaiser Ferdinand seine Zustimmung zu dem Einigungswerk erteilt habe, von dem das Wiener Regierungsblatt jetzt selbst erklärte, daß es von den Vertretern des deutschen Volkes auszugehen habe.

J. B. Bekk.

Großherzog Leopold von Baden.
Nach der Lithographie von J. Grund.

Der wunderbare Siegeszug, den die deutsche Reichsidee in dieser Zeit der Märzstürme und Märzerrungenschaften durch sämtliche Länder des in seinen Grundfesten wankenden Deutschen Bundes vollführte, läßt sich nicht besser verdeutlichen als an diesem Triumph ihres Symbols, des Schwarz-rot-golds der deutschen Burschenschaft. Von diesem Siegeszug schrieb am 19. März Gervinus in der „Deutschen Zeitung“ mit Recht, daß etwas Aehnliches in der Geschichte noch nie erlebt worden sei. Denn was sei der Sieg der Revolution in Paris gegen „diesen unblutigen Triumph des Geistes in dreißig bis vierzig Staaten, wo nicht Eine Form und Ein Geist der Regierung, sondern dreißig bis vierzig ganz verschiedene Elemente von Menschen und Zuständen zu überwinden waren, und wo trotz dreißig Abweichungen der Stammsitte und der herkömmlichen staatlichen Isolierung der Eine Volksgeist Herr geworden ist über allen Partikularismus und den kleinen Kranz von Forderungen überall durchgeführt hat, zu denen Bedürfnis, Einsicht und Ehrgefühl das deutsche Volk reif und fähig gemacht.“

So schrieb Gervinus in stolzer Freude, während die Nachricht von dem nun doch noch in Berlin zum Ausbruch gelangten Straßenkampf nach dem deutschen Süden bereits unterwegs war, den Jubel über den „unblutigen Triumph des Geistes“ zu dämpfen.

Die Deputation der Mannheimer Bürger wird bei der Abreise von Damen
mit schwarz-rot-goldnen Schleifen geschmückt.

Geschwankt zwischen dem Ausbruch des Bürgerkrieges und der friedlichen Lösung hatte aber das Zünglein der Wage überall in Deutschland, bevor es zu den Jubel- und Eintrachtsfesten kam. Nach den ersten Nachrichten vom Sturz des „Julithrons“ wurde in den Residenzstädten die Garnison konsigniert, die Schloßwache verstärkt, mehr Truppen wurden in die Hauptstadt gezogen, an die Soldaten scharfe Patronen verteilt. Im Volke kam es zu stürmischen Auftritten; in den ersten Versammlungen erklang der Ruf Republik; das Verlangen nach Volksbewaffnung führte hier und da zu Angriffen auf Zeughäuser und Waffenläden, in den Wohnungen verhaßter Minister wurden die Fenster eingeworfen, auch in Brandstiftungen äußerte sich der Fanatismus des Pöbels. Auf dem Lande machten in einzelnen Gegenden, namentlich in Franken, dem Schauplatz des großen Bauernkriegs von 1525, darbende Bauern gewaltsame Angriffe auf die Rentämter ihrer Fronherren. Aber das erste Ueberschäumen der Volksleidenschaften fand überall sogleich seine Grenzen in einer zielbewußten Aktion des Bürgertums von zwar drohendem, aber doch gesetzmäßigem Charakter. Dieselben Ereignisse in Frankreich, welche überall in deutschen Landen die vorhandene Unzufriedenheit zu dem Verlangen entflammten, jetzt endlich auch die so lange vergeblich erbetenen Rechte und Erleichterungen mit Gewalt zu ertrotzen, beschworen ja gleichzeitig für das gesamte Vaterland Kriegsgefahren herauf. Und diese mäßigten im Bürgertum den revolutionären Drang zu dem patriotischen Verlangen: zugleich mit der Freiheit im Gesamtvaterland einen Zustand herbeizuführen, kraft dessen es „in Eintracht stark“ ohne fremde Hilfe dem drohenden Angriff Frankreichs siegreich begegnen könnte.

Nicht mit Waffen, sondern mit Adressen wandte man sich, nach dem sofort in Baden gegebenen Beispiel, gegen die Regierungen zur Abschüttelung des längst unerträglichen Joches. In Versammlungen von gewaltigem Umfang, zu denen das erregte Landvolk von allen Seiten herzuströmte, wurden die Forderungen des Volkes unter Hinblick auf die Kriegsgefahr stürmisch geäußert. Die bewährtesten Wortführer der Volksinteressen in den Kammern und in der Presse gaben denselben Form und Richtung. Es trat in Erscheinung, was Welcker in seiner Rede vom 12. Februar offen verkündigt hatte: daß in allen Teilen Deutschlands Männer des öffentlichen Vertrauens bereit seien, beim Ausbruch der unausbleiblichen Krisis im Sinne der Bundesreform durch ein Deutsches Parlament [149] sowohl die Bewegung des Volkes zu leiten als auch den Fürsten mit Rat und That zur Seite zu stehen. Auf der ersten dieser Volksversammlungen, welche bereits am 27. Februar im Mannheimer Aulasaal unter Vorsitz Adam v. Itzsteins stattfand, einigte man sich dahin, zunächst nur die vier dringlichsten Forderungen aufzustellen, um, wie Mathy betonte, durch solches Maßhalten ein gleichmäßiges Vorgehen in allen deutschen Staaten möglich zu machen.

K. Braun.

L. v. d. Pfordten.

Mit Recht sagte man sich: nur wenn der Sieg der Freiheit ein allgemeiner in ganz Deutschland ist, kann die ersehnte Einheit errungen werden – nur die Bundesreform und eine deutsche Reichsverfassung sichern den Errungenschaften Bestand; und so setzten Welcker und seine Freunde alles daran, daß der gesetzmäßige Charakter der Bewegung durch nichts gefährdet werde und sie sich nicht in dem einen Lande zu Begehren versteige, deren Erfüllung in anderen deutschen Ländern nicht zu erhoffen war. Dieses Ziel ward erreicht; die vier „Mannheimer Forderungen“ – Preßfreiheit, Schwurgerichte, Volksbewaffnung und Nationalparlament – gaben bald der Aktion in allen übrigen Staaten einen gemeinsamen Charakter. Und die Schnelligkeit, mit der in Baden das Ministerium Bekk diesen Forderungen entgegenkam und ihre Genehmigung bei dem Großherzog Leopold durchsetzte, gereichte der Durchführung der Reform im Gesamtvaterlande zum nicht geringen Vorteil. Auch die dann weiter in Baden geltend gemachten Wünsche, vor allem der nach Ablösung der noch bestehenden Feudallasten, nach staatsbürgerlicher Gleichstellung aller Konfessionen und Amnestie für alle politisch Verfolgten, fanden seitens der Regierung schleunige Genehmigung und begannen danach einen Siegeszug durch ganz Deutschland.

G. Duvernoy.

Wo, wie in Karlsruhe und Darmstadt, die Kammern tagten, wurden diesen die Adressen meist direkt überbracht, oft in Sturmpetitionen, welchen Tausende das Geleit gaben, um vor den Ständehäusern durch ihre Anwesenheit auf die Beschlüsse einen Druck auszuüben und des Erfolges zu harren. Wo aber, wie fast überall, die Kammern keine Verhandlungen hielten, da trat an die Spitze der Forderungen das Verlangen nach schleunigster Einberufung derselben. Meist zog man mit den Adressen im Chor aufs Rathaus und übergab sie den Vertretern der Stadt zur Uebergabe an den Landesherrn; auch die Sprecher des Magistrats wurden von einem Massenaufgebot zum Schloß begleitet, vor dem man wartete, die Luft mit den Kernworten der hauptsächlichsten Wünsche erfüllend. Besonders in München und Leipzig, in Köln, Breslau, Berlin wurde die in den Rathäusern versammelte Stadtvertretung das Organ der Forderungen des Volkes und der Träger ihrer Vermittelung an die Person des Königs. Immer größeren Umfang nahm die Bewegung an. Aus nah’ und fern liefen im Schloß, beim Magistrat und in den Kammerausschüssen unzählige ähnliche Adressen ein, aus jeder Landstadt, jeder Dorfgemeinde, so daß kein Zweifel blieb, daß das ganze Volk, und nicht nur eine Partei an der Bewegung beteiligt war. Auch die Hochschulen und Akademien, sowohl die Professoren wie die Studenten, nahmen überall aufs lebhafteste teil an diesem Adressensturm.

F. Zitz.

Th. Reh.
Nach der Lithographie von Ph. Winterwerb.

Der Ton in diesen Schriftstücken war überall dringlich, oft auch drohend, immer aber von echter patriotischer Empfindung durchwärmt. „Der Sturm, der in die Zeit gefahren ist,“ hebt eine derselben an, die wir als Beispiel aus Tausenden herausgreifen, die „Tübinger“ von Ludwig Uhland verfaßte – „hat die politischen Zustände in ihrer ganzen unseligen Gestalt, allen erkennbar bloßgelegt. Es ist nötig in dieser bewegten Zeit, daß Deutschland gerüstet dastehe, nicht um herauszufordern, gewiß aber zu Schutz und Schirm seiner Grenzen. Allein es soll die Rüstung anlegen, den wunden Fleck auf der Brust. Jetzt eben schmerzt er tief und es thut not, daß er rasch geheilt werde … Einem Volke, das von der heiligen Pflicht durchdrungen ist, seinem vielgefährdeten Boden nicht eine Spanne weiter entreißen zu lassen, mangelt die Sicherheit, daß es nicht als ein willenloses Werkzeug diplomatischer Verwicklung die Waffen ergreife; versagt ist ihm das begeisternde Bewußtsein, für eine auch politisch würdige Stellung unter den gebildeten Völkern mit Gut und Blut einzutreten … In geistiger und sittlicher Bildung keinem andern nachstehend, hat das deutsche Volk noch immer nicht von dem Geiste, der in ihm lebt, die Ordnung seiner Geschicke zu erwarten.“ Aus diesen Vordersätzen, denen die Begründung nicht fehlt, ließ Uhland dann das festgefügte Gebäude seiner sieben Forderungen erstehen: 1) Ausbildung der Gesamtverfassung Deutschlands im Sinne eines Bundesstaats mit Volksvertretung durch ein Deutsches Parlament am Bundestage, 2) Allgemeine Volksbewaffnung, 3) Preßfreiheit im vollen Umfang, 4) Aufhebung der Beschränkungen, welche gegen Vereine und Versammluugen zur Beratung öffentlicher Angelegenheiten bestehen, 5) Vollständige Durchführung des Grundsatzes der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege mit allen sich daran knüpfenden Konsequenzen, 6) Vollkommene Herstellung einer wirklichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Bezirkskörperschaften, 7) Revision der Verfassungsurkunde nach den während ihres achtundzwanzigjährigen Bestehens gemachten Erfahrungen, namentlich zum Zwecke der Herstellung einer ungemischt aus der Volkswahl hervorgehenden Abgeordnetenkammer.“

A. Hergenhahn.
Nach der Lithographie von Ph. Winterwerb.

Das Ergebnis der ersten Adressen war nur in wenigen Fällen, wie in Baden, die Bewilligung der Forderungen, in den meisten brüske Ablehnung von seiten der Fürsten. Fast alle lehnten es auch ab, persönlich irgend eine Deputation zu empfangen: das „Volk“ sollte [150] sie nicht in ihren Kabinetten belästigen, die Kabinettsminister sollten den Verkehr mit der Unterthanenschaft auch weiter vermitteln. Das aber lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit gerade auf den Punkt, dessen Durchführung nun zur Hauptsache wurde.

Uebungen der Hanauer Turner.

Diese Minister trugen ja die Schuld, daß die Fürsten in Unkenntnis von den Bedürfnissen und Leideil des Volks dahinlebten, sie waren ja die eigentlichen Organe der Reaktion gewesen: man forderte jetzt Beseitigung der mißliebigen Minister und deren Ersatz durch Männer des allgemeinen Vertrauens. Auch diese Forderung erklang in der Karlsruher Kammer zuerst.

Wohl zeigte sich hier der leitende Minister sowie der Landesherr den Reformen geneigt; aber noch befanden sich im Ministerium Männer, die früher Jahre hindurch der Reaktion gedient hatten und deren plötzlich hervortretende liberale Gesinnung unmöglich für echt angesehen werden konnte; Welcker, Itzstein und Hecker betrieben mit Eifer ihren Sturz und erreichten denselben. Schon am 5. März waren in Baden die beiden Reaktionsminister durch liberale Vertrauensmänner, Brunner und Hoffmann, ersetzt.

O. v. Wydenbrugk.
Nach der Lithographie von F. Hickmann.

C. Wippermann.
Nach der Lithographie von Schertle.

In anderen Staaten, wo die Kammern nicht tagten und die feindlichen Minister deren stürmisch verlangte baldige Einberufung hintertrieben, ließ sich der beabsichtigte Ministersturz keineswegs so glatt ausführen. Dort mißbrauchten die in ihrer Stellung Bedrohten das Vertrauen ihrer Fürsten, um sie in ihrer Hartnäckigkeit zu bestärken, ja um sie aufzureizen, daß den „Empörern“ mit Waffengewalt entgegengetreten werde. An hohen Offizieren fehlte es nirgends, die in dieser Richtung gleichfalls ihren Einfluß zur Geltung brachten. Der sächsische Kabinettsminister veranlaßte sogar, als die Ablehnung der ersten Leipziger Deputation unter Biedermann dort starke Erregung hervorrief, daß preußische Truppen in der Nähe Leipzigs an der Grenze aufgestellt wurden, um die aufrührerische Stadt einzuschüchtern. Das Gegenteil aber wurde damit bewirkt; der Volkswille siegte. In einer großen Volksversammlung verwies Robert Blum die tobende Menge auf die Verantwortlichkeit der Minister des Königs, und noch war die von ihm vorbereitete Massendeputation nicht zur Abreise nach Dresden gekommen, da hatte der König nachgegeben, die „Reform“ bewilligt und hatte die „Märzminister“ Braun, v. d. Pfordten, Georgi und Oberländer (letzteren für den ablehnenden v. Watzdorf) in die Regierung berufen. Auch in Württemberg, wo sich der König persönlich den zuerst von Römer formulierten Wünschen des Volkes geneigt zeigte, rief die Zähigkeit, mit der sich Schlayer und Maucler im Amt zu erhalten wußten, eine bedrohliche Spannung hervor, die erst wich, als den altbewährten Kämpen der Volksrechte G. Duvernoy, Friedrich Römer, Paul Pfizer und Goppelt das Staatsruder anvertraut wurde.

Fürst Karl von Leiningen.
Nach der Lithographie von Schertle.

König Maximilian von Bayern.
Nach dem Gemälde von Franz Krüger.

Dasselbe Schauspiel vollzog sich in Hessen-Darmstadt, wo das auf seinen Karneval verzichtende Mainz sehr kräftig unter der Führung von Zitz in die Bewegung eingriff und Th. Reh im Landtag die Mannheimer Forderungen begründete; hier wurde Heinrich von Gagern, der wie Römer und Goppelt in Heppenheim mitgetagt hatte, der Nachfolger seines alten Gegners, des starrsinnigen Reaktionärs du Thil. Auch in Nassau führte einer der „Heppenheimer“, Hergenhahn, die Volksbewegung zum Siege. Eine Massenversammlung auf dem Theaterplatz in Wiesbaden nahm eine um so drohendere Haltung an, als der Herzog abwesend war. Da er gerade in Berlin weilte, so verbreitete sich das Gerücht, er wolle dort bewaffnete Hilfe erbitten. Doch nach seiner Heimkehr kam alles in glattes Geleis. Hergenhahn wurde Minister. In Weimar war es der Rechtsanwalt v. Wydenbrugk, welcher Führer und Herr der Bewegung blieb; nach einem Tumult vor dem Schloß wurde die Adresse dieses Abgeordneten angenommen und er selbst mit dem Ministerium betraut. Auch in den anderen thüringer Staaten, in Braunschweig, in den beiden Mecklenburg, in den freien Reichsstädten war der Verlauf ähnlich; Oldenburg, das einzige Land, das noch überhaupt keine Verfassung besaß, hatte den Märzstürmen eine solche zu danken.

Einen viel stürmischeren Charakter aber nahm die Bewegung in Kurhessen an, wo Marburg sehr energisch vorging, ja die Stadt Hanau und ihr Bezirk einen förmlichen Kriegszug ausrüstete, um ihren abgewiesenen Forderungen in Kassel Nachdruck zu verleihen. Schon [151] waren die Freischaren, voran die zu einer wohlausgerüsteten Truppe vereinigten Turner, im Begriff nach Kassel zu ziehen, als die Nachricht von dem noch friedlich errungenen Sieg in Hanau eintraf. Nach dem Sturz des Reaktionsministers Scheffer ward dem bisherigen Bürgermeister von Hanau, Eberhard, und dem altbewährten Führer der Liberalen in Kassel, Wippermann, die Leitung des Staatsschiffs anvertraut. In München kam es am 5. zum Zeughaussturm, der zwar unblutig verlief, aber doch dahin führte, daß die bewaffnete Bürgerschaft und das Militär, das übrigens wenig Kampflust zeigte, sich stundenlang zum Schlagen bereit gegenüberstanden. Es waren Leute aus allen Ständen, Studenten, Künstler, Arbeiter, die in der Erregung zur Waffe gegriffen hatten, der Feingekleidete ging neben dem im Scharwerkskittel. „Man sah Waffen hier, die vielen Jahrhunderten angehört hatten, neben Gewehren und Säbeln: Piken, Streitäxte, lange und breite Schwerter, wie man eben solche im Zeughaus vorfand. Prinz Karl selbst brach in ein herzliches Gelächter aus, als er einem kleinen jungen Tambour begegnete, der eine alte Trommel umhängen hatte, mit einem Schlägel aus uralten Zeiten.“

v. Thon-Dittmer.

F. J. Willich.

Doch wenn auch König Ludwig mit seinem Volke grollte, weil es ihn kurz zuvor genötigt hatte, die schöne Unruhstifterin Lola Montez aus München zu verbannen – zum äußersten ließ er es nicht kommen. Was der in seinem Schwachsinn gutmütige Kaiser Ferdinand in Wien naiv heraussagte: „Ich laß nit schießen“, blieb auch der Grundsatz der anderen Fürsten; ihm hat auch Friedrich Wilhelm IV bis zum „Mißverständnis“ des 18. März nachgehangen. In München mußte der verhaßte Minister v. Berks, ein Schützling der Montez, dem Unwillen des Volks schließlich doch weichen: der allgemein beliebte Bürgermeister von Regensburg, v. Thon-Dittmer, ein bewährter Führer der Opposition im bayrischen Landtag, trat an seine Stelle. Von besonderer Wirkung auf die Entschlüsse des Königs waren die Vorstellungen des freisinnigen Fürsten v. Leiningen, des Präsidenten der Kammer der Reichsräte, gewesen. Im Sinne der Mannheimer Forderungen hatte ein Petitionssturm aus der Rheinpfalz unter Willichs Leitung gewirkt. Doch als sich Ludwig I nicht in die neue Regierungsweise zu finden vermochte, zog er es vor, abzudanken; sein den liberalen Ideen geneigter Sohn Maximilian übernahm die Regierung. Und auch der hartnäckigste Reaktionär unter den deutschen Fürsten, der König von Hannover, mußte schließlich seinen Trotz beugen. Der Urheber des verhängnisvollen Verfassungsbruchs vom Jahre 1837 hatte sich zu nichts verstanden, auch als am 17. März die Studentenschaft Göttingens ihre Auswanderung antrat – man hatte vorher ihre Zusammenkünfte mit Waffengewalt auseinandergesprengt. Als er aber vernahm, daß Metternich gestürzt und auch in Wien nachgegeben worden sei, da sagte der entsetzte Volksverächter in seinem gebrochenen Englisch-Deutsch resigniert: „Was soll ich machen? Wenn mein kaiserlicher Bruder in Wien hat nachgegeben, ich auch muß nachgeben!“

Ja, auch Metternich mußte dem „Märzsturm“ weichen. Sein System riß im Fallen ihn mit sich nieder. Das war der höchste Triumph im großen „Siegeszug des Deutschen Geistes“, der von Baden seinen Ausgang genommen hatte.

[186] Die Wiener Märztage, die erst nach den Erfolgen des deutschen Südwestens – am 7. – begannen, zeigten den Frühlingscharakter der nationalen Bewegung in seiner ganzen frischen Jugendlichkeit.

Es war die deutsche Studentenschaft, von der in Wien der Antrieb zur zielbewußten Volkserhebung ausging. Eine von hinreißender Leidenschaft durchglühte Rede des ungarischen Volksmannes Ludwig Kossuth, die dieser am 5. März in der zu Preßburg versammelten Ständetafel gegen Metternichs System der Völkerbedrückung gehalten hatte, fand gleichzeitig mit den „Mannheimer Forderungen“ in der akademischen Jugend der österreichischen Hauptstadt begeisterten Wiederhall. Dem eisgrauen Großmeister der Reaktion, der die deutsche Jugend von 1813 um ihr Vaterland betrogen hatte, dem grausamen Verfolger der deutschen Burschenschaft war es vom Schicksal bestimmt, durch die geschlossene Schar der Wiener Studenten aus Amt und Würden zu kommen.

Wohl fehlte es dem Gewaltigen nicht an Gegnern in der Wiener Bürgerschaft und Beamtenwelt, ja es gab deren in der nächsten Umgebung des Staatskanzlers, wo Graf Kolowrat, Metternichs Kollege in der „Staatskonferenz“, und die Erzherzogin Sophie, die einflußreiche Mutter des Thronfolgers Franz Joseph, im geheimen auf seinen Sturz sannen. Aber der bürgerliche Freisinn, der sich in der Adresse des Niederösterreichischen Gewerbevereins an den Erzherzog Karl Franz, sowie in der vom Politisch-juridischen Leseverein veranlaßten „Eingabe österreichischer Bürger“ an die niederösterreichischen Stände wandte, war viel zu zahm, um Metternichs „System“ ins Wanken zu bringen; erst die Adresse der „Aula“ an den Kaiser selbst, die, von mehr als 2000 Unterschriften bedeckt, durch die Professoren Endlicher und Hye am 11. in der Hofburg überreicht ward, brachte die Bewegung in Fluß.

Mit Kossuths Forderung einer konstitutionellen Verfassung für alle Länder der Monarchie verknüpfte sie das „Mannheimer“ Verlangen einer Volksvertretung am Bundestag für die deutschen Landesteile. Von den Studenten ging dann auch der Ruf nach Entlassung Metternichs aus. Und als am 13. die Eröffnung der üblichen Frühjahrssitzung der niederösterreichischen Stände, für welche Anton Schmerling eine Adresse entworfen hatte, stattfand, da gab das kühne Auftreten der Studenten das Signal zu jenen stürmischen Scenen, welche von außen her die Stände zu einem energischen Eintreten für ihre Forderungen zwangen.

Die gewaltige Wirkung des Redners der Studenten, Dr. Fischhof, und ihr zähes Festhalten an dem Verlangen sofortiger Hilfe durch die Ständekammer bewirkten allein, daß noch an demselben Tage die Abgeordneten mitsamt dem Landtagsmarschall Grafen Montecuccoli sich zu ihrem Zug in die Hofburg aufrafften.

Als das Militär gegen die Zusammenrottungen vor dem [187] Ständehaus eingriff, als es zwischen den aus den Vorstädten herandrängenden Arbeitermassen und den Truppen bereits zu blutigen Zusammenstößen gekommen war, erhielt die zielbewußte Selbstbeherrschung der Studenten den Volksaufstand, dem gegenüber der Magistrat und die Bürgerwehr sich machtlos erwiesen, in der Bahn friedlichen Protestes.

Und als am Abend der Rektor Jenull als Abgesandter der „Aula“ in der Hofburg erschien, mit der Bitte der Studenten um Bewaffnung zur Aufrechterhaltung der Ordnung, da wurde er mit seinen Begleitern Zeuge eines Siegs, den so schnell, so voll niemand in Europa erwartet hatte: Metternich dankte ab. Das Erzhaus hatte ihn auf Betreiben der Erzherzogin Sophie und des volksbeliebten Erzherzogs Johann fallen lassen, nachdem diese beiden unter dem Eindruck der drohenden Revolution den Widerstand des Erzherzogs Ludwig, der den schwachsinnigen Kaiser in diesen stürmischen Stunden völlig vertrat, zu überwinden vermocht hatten.

„Die Saalthüren thaten sich auf,“ berichtet Scherr, „und die Abordnungen der Bürgerwehr und der Hochschule wurden hineingerufen. Aus dem Kreise der Erzherzöge, Staatsräte u. s. w. trat Fürst Metternich hervor und ließ sich, zu den Bürgerwehroffizieren gewendet, mit ‚ruhigem Anstand‘ also vernehmen: ‚Es ist die Aufgabe meines Lebens gewesen, von meinem Standpunkt aus für das Heil der Monarchie zu sorgen. Glaubt man, daß das Beharren auf jenem Standpunkte dieses Heil gefährde, so kann es für mich kein Opfer sein, meinen Posten zu verlassen. Sie haben erklärt, nur mein Rücktritt vermöge die Ruhe wiederherzustellen. Ich effektuiere denselben also mit Freuden. Ich wünsche Ihnen Glück zur neuen Regierung, wünsche Oesterreich Glück.‘ – ‚Durchlaucht,‘ entgegnete einer der Bürgeroffiziere, ‚wir haben nichts wider Ihre Person, aber alles wider Ihr System, und darum müssen wir wiederholen: nur durch Ihre Abdankung retten Sie den Thron und die Monarchie. Wir danken Ihnen also für Ihren Rücktritt. Vivat Kaiser Ferdinand!‘ Das Vivat hallte wieder im Saal, scholl in das Vorzimmer hinaus und wurde von dort durch die ganze Hofburg weiter gerufen.“

Kaiser Ferdinand I. von Oesterreich.

Metternich faßte noch einmal, nicht ohne Würde, seine Abdankung in bündige Worte, dann verlor er sich unter den Anwesenden, glitt unbemerkt aus der Burg und suchte heimlich im Palais Liechtenstein Zuflucht, da sein eigenes am Ballplatz von einer erregten Menge umlagert war, ebenso wie sein Landhaus, das noch in der folgenden Nacht vom Pöbel demoliert wurde. In einem Gepäckwagen der Prager Bahn entfloh er aus Wien, wo er 38 Jahre lang nahezu unumschränkt geherrscht hatte. Gleich Louis Philipp und Guizot fand er in London eine Zufluchtsstätte. Und zwei Tage später war durch Kaiser Ferdinand, den jetzt auf einer Umfahrt durch die Straßen von Wien das Volk umjubelte, auch der Sturz des Metternichschen Systems für ganz Oesterreich besiegelt, die Zusage von Preßfreiheit, Volksbewaffnung und einer konstitutionellen Verfassung für sämtliche Kronländer wurde feierlich verkündet. Das Militär war aus den Straßen gezogen und die Aufrechterhaltung der Ordnung in Wien besorgten die Bürgerwehr und die Studentenlegion.

Groß aber war die Wirkung von Metternichs Fall nicht nur auf Wien, auf Oesterreich – es war ein welterschütterndes Ereignis. Ueberall weckte die Nachricht hellen Jubel und kühnes Hoffen im Volke, an den Fürstenhöfen Erschrecken, Erstaunen, auch Aufatmen, nirgends aber wirkte sie so aufreizend wie in den Straßen Berlins, nirgends so niederschmetternd als im Berliner Königsschloß.

A. Fischhof.

A. Schmerling.
Nach der Lithographie von Schertle.

Am längsten hatte es in der preußischen Hauptstadt gedauert, bis der zündende Funke vom Pariser Revolutionsherd zur offenen Flamme ausschlug. Der dumpfen Unzufriedenheit, die sich hier im stillen immer weiteren Kreisen – bis in die Umgebung des Königs – mitgeteilt hatte, fehlte zunächst jedes Organ für gemeinsames Handeln. Erst die Nachrichten von den Vorgängen in Baden, Württemberg, Hessen, Bayern entfachten auch in Berlin einen Adressensturm, der vom 6. März an in täglich stärker anwachsenden Volksversammlungen unter den „Zelten“ im Tiergarten, dann auch vom Rathaus aus in Bewegung gesetzt ward, wo der Magistrat die erste Adresse noch „in Demut ersterbend“ unterschrieb. Friedrich Wilhelm IV nahm diese Petitionen anfangs nicht ernst; er konnte es nicht glauben, daß dem Thron seiner Väter von „seinen lieben Berlinern“ irgendwelche Gefahr drohe. Den Verfassungskonflikt mit den Ständen glaubte er am 5. beim Schluß der Sitzungen des Landtagsausschusses durch die feierliche Zusage periodischer Einberufung des Landtages beseitigt, die Anhänglichkeit „seiner Preußen“ an den Thron durch einen energischen Hinweis auf die drohende Kriegsgefahr und die stolzen Erinnerungen der Befreiungskriege befestigt zu haben. In dieser wiederum sehr „schwungvollen“ Thronrede rief er: „Man muß der Welt zeigen, daß in Preußen der König, das Heer und das Volk dieselben sind von Geschlecht zu Geschlecht!“ Auch die Tumulte, die ihm gleich in den ersten Tagen des März aus Köln und anderen Städten des Rheinlandes, sowie aus Schlesien gemeldet wurden, erschienen ihm noch nicht gefährlich. Die Meldungen des Polizeipräsidenten v. Minutoli, daß sich in Berlin ein bewaffneter Aufstand vorbereite, das Drängen seiner militärischen Ratgeber zu energischem Vorgehen beantwortete er mit halben Maßregeln: er ließ die Wachen verstärken, Volksaufläufe durch Militäraufzüge auseinandertreiben – an den Ernst der Lage glaubte er nicht. Doch gerade diese halben Maßregeln, gegen die sich Prinz Wilhelm, der Bruder des Königs, sehr energisch aussprach, erregten böses Blut in der Bürgerschaft, ohne den Geist der Volkserhebung irgendwie einzuschüchtern. Es entstand eine Stimmung in Berlin, die das völlige Gegenteil von jener Eintracht war, die zur Zeit der Befreiungskriege zwischen König, Heer und Volk in Preußen geherrscht hatte.

Die wirklich ernste Gefahr, gegen die sich Friedrich Wilhelms absolutes Herrscherbewußtsein mit aller Kraft aufrichtete, erblickte dieser in der Aufeinanderfolge der unerhörten Siege, welche die revolutionäre Bewegung der „Mannheimer und Heppenheimer“ mit ihrer Forderung eines Deutschen Parlaments in den deutschen Staaten des Südens und Westens errang. Während dort die Führer des Volks die Ministersessel einnahmen und die „Mannheimer Forderungen“ zu Beschlüssen der Regierungen machten, wußten die Anhänger der Bewegung in der preußischen Rheinprovinz den Oberpräsidenten Eichmann zum Organ derselben zu gewinnen. Hinter den Adressen, die aus Königsberg und Breslau einliefen, sah der König wieder die „Volksaufwühler“ Johann Jacoby und Heinrich Simon am Werke. Und neben die „Mannheimer Forderungen“ war bereits am 5. März, noch bevor Römer, Gagern, Hergenhahn und ihre Gesinnungsgenossen Minister wurden, die „Heidelberger Erklärung“ getreten, in welcher diese Männer nebst vielen anderen – 51 an der Zahl – es als Recht der Nation in Anspruch nahmen, für die baldige Einberufung eines Deutschen Parlaments selber zu sorgen.

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Die Abdankung des Fürsten Metternich.
Nach der Lithographie von Rauh.

Es waren meist Mitglieder der Ständekammern von Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen und Nassau, welche zu diesem Zwecke in der Neckarstadt zusammenkamen; auch Frankfurt a. M. und Oesterreich waren vertreten – letzteres durch den in Heidelberg weilenden Dr. Wiesner. Die alten Führer der badischen Opposition hatten gleich nach dem Siege der Revolution in Paris ihre zunächst wohnenden Gesinnungsgenossen zusammengerufen. Eine Vertretung der Ständekammern beim Bundestag genügte jetzt nicht mehr der Stimmung der Zeit – ein Parlament, durch freie Wahlen direkt herbeigeführt, wurde zur Losung. Und so war denn noch in der ersten Woche der Bewegung die Erklärung der „Einundfünfzig“ von Heidelberg aus in die deutsche Welt hinausgegangen: „Die Versammlung einer in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählten Nationalvertretung ist unaufschiebbar, sowohl zur Beseitigung der nächsten inneren und äußeren Gefahren wie zur Entwicklung der Kraft und Blüte deutschen Nationallebens! Um zur schleunigsten und möglichst vollständigen Vertretung der Nation das ihrige beizutragen, haben die Versammelten beschlossen: ihre betreffenden Regierungen aufs dringendste anzugehen, so bald und so vollständig als nur immer möglich ist, das gesamte Deutsche Vaterland und die Throne mit diesem kräftigen Schutzwalle zu umgeben. Zugleich haben sie verabredet, dahin zu wirken, daß baldmöglichst eine vollständigere Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme zusammentrete, um diese wichtigste Angelegenheit weiter zu beraten und dem Vaterlande wie den Regierungen ihre Mitwirkung anzubieten. Zu dem Ende wurden sieben Mitglieder ersucht, hinsichtlich der Wahl und der Einrichtungen einer angemessenen Nationalvertretung Vorschläge vorzubereiten und die Einladung zu einer Versammlung deutscher Männer schleunigst zu besorgen... Bei besonnenem treuen und mannhaften Zusammenwirken aller Deutschen darf das Vaterland hoffen, auch in der schwierigsten Lage Freiheit, Einheit und Ordnung zu erringen und zu bewahren, und die Zeit einer kaum geahnten Blüte und Macht freudig zu begrüßen.“ Die sieben Mitglieder des Ausschusses waren Itzstein und Welcker für Baden, Willich für Bayern, Binding für Frankfurt a. M., Gagern für Hessen, Stedmann für Preußen und Römer für Württemberg. Der Entwurf eines Programms im besonderen ward Welcker, das Einladungswerk Itzstein übertragen. Frankfurt a. M., die alte Kaiserkrönungsstadt, ward zum Ort der geplanten Versammlung gewählt.

Volksversammlung unter den „Zelten“ in Berlin.
Mit Benutzung eines gleichzeitigen Bildes der „Illustrierten Zeitung“ gezeichnet von A. Wald.

Friedrich Wilhelm IV sah durch dieses kühne Vorgehen, das in seinen Augen die helle Revolution war, sein ganzes Reformwerk in Frage gestellt. Er hatte die Gefahr kommen sehen, gleich nach den Heppenheimer Beschlüssen, und Metternich vergeblich für eine Gegenbewegung von seiten der Fürsten, eine Reform des Bundes durch den Bundestag selbst, zu gewinnen versucht. Jetzt sandte er seinen Vertrauten Radowitz aufs neue nach Wien, damit dieser dort unter den so veränderten Umständen die sofortige Einberufung eines deutschen Fürstenkongresses nach Dresden beantrage, zum Zwecke der Beratung seiner Vorschläge zur Bundesreform mit Rücksicht auf die drohende Kriegsgefahr. Gleichzeitig ließ er am Bundestag, wo in Abwesenheit der beiden österreichischen Gesandten Preußen das Präsidium führte, im Sinn seiner Pläne wirken. Während der Heidelberger Aktionsausschuß seine Einladung an alle deutschen Kammerdeputierten zu einer Versammlung in Frankfurt a. M. für die Vorbereitung eines Deutschen Parlaments ergehen ließ, während in Berlin die Nachrichten einliefen, wie die Forderung einer Nationalvertretung beim Bundestag von einer Regierung nach der andern bewilligt wurde, harrte der König ungeduldig auf das Ergebnis der Radowitz’schen Mission. Am 10. März hatte Metternich der Einberufung des Fürstentags zugestimmt; als Friedrich Wilhelm im Besitz dieser Nachricht war, empfing er endlich, am 14., eine Deputation der Berliner Stadtvertretung. Ihre Wünsche vertröstete er auf die Zukunft. Er versprach, an die „allmähliche Entwicklung des Verfassungslebens zu denken“, er rühmte noch einmal die „Gliederung der Stände“ als die „alte deutsche Ordnung“; was die in ihrer Adresse erwähnte deutsche Einigung betreffe, so liege sie „nicht in seiner Hand“.

[189] Inzwischen war das Unerhörte geschehen: Metternich hatte in Wien der Revolution weichen müssen, der gewaltige Staatskanzler war gestürzt und mit ihm sein ganzes Regierungssystem. Die neuen Zustände in Wien ließen den König alle Hoffnung auf einen Fürstentag aufgeben. Der Fortbestand von Metternichs „System“ war all seiner Pläne Voraussetzung gewesen. Er war in Verzweiflung. Der geplante Kongreß hatte nicht nur den deutschen Fürsten das Recht sichern sollen, die für nötig erkannte Bundesreform selbst auszuführen; er hätte auch für ihn ganz persönlich die Handhabe geboten, mit seinem Volk in der nie zur Ruhe kommenden Verfassungsfrage endlich die Verständigung zu finden.

Noch war ja nicht ein Jahr vergangen, daß er in feierlicher Rede vom Thron herab dem Verlangen nach einer Konstitution sein „Nie und nimmermehr!“ entgegengeschleudert hatte. Jetzt dennoch sie schlechthin bewilligen, nur weil das Volk es verlangte, das hieß für ihn, sein verpfändetes Wort preisgeben, das hätte sein stolzes Herrscherbewußtsein unter ein Joch gezwungen, gegen das es sich mit Macht aufbäumte. Der Fürstenkongreß dagegen hätte seiner Fürstenehre die Deckung geboten. Würde dieser um der Einheit willen die Durchführung des Verfassungswesens in ganz Deutschland gefordert haben, so hätte er dasselbe auch für Preußen gewähren können, ohne seiner königlichen Würde etwas zu vergeben. Der Sturz Metternichs hatte diese Brücke zerstört. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses wirkten die Vorstellungen von gerade jetzt eintreffenden Deputationen aus Breslau und Köln, die den Abfall von Schlesien und dem Rheinland in Aussicht stellten, wenn nicht die Forderungen des Volks Bewilligung fänden, mit niederschmetternder Wucht. Dagegen konnte er die Nachricht, daß die Regierungen mehrerer süddeutschen Staaten ihm gern die Leitung des deutschen Einigungswerks anvertraut sehen wurden, falls Preußen nun auch unter die Verfassungsstaaten träte, wie eine Erlösung begrüßen. Daß die Aktion gerade von denjenigen Höfen ausging, wo jetzt die „Heppenheimer“ am Ruder saßen, verschlug ihm nichts mehr. Er entschloß sich jetzt, offen mit seinen Bundesreformplänen vor sein Volk zu treten und „um der deutschen Einheit willen“ im Sinne der siegreichen Volksbewegung das Zugeständnis einer Verfassung für ganz Preußen zu machen. In einem Patent, das er am 17. März erließ, wurden als Hauptpunkte einer von ihm geplanten Reform die Umwandlung Deutschlands aus einem Staatenbund in einen Bundesstaat, eine allgemeine deutsche Wehrverfassung, ein allgemeines deutsches Heimatrecht, ein deutscher Zollverein bezeichnet. Dem Volke freilich fehlte die Einsicht in des Königs Gründe für die jähe Wandlung. Es hatte ja nie vorher von seinen Reformplänen erfahren. Die endliche Bewilligung der Verfassung in der verklausulierten Form, daß die von ihm angestrebte Neugestaltung des Deutschen Bundes eine konstitutionelle Verfassung in allen deutschen Ländern notwendig mache, war wiederum nur etwas Halbes. Aber im gebildeten Bürgertum war schon über des Königs „deutsche“ Politik die Freude groß. Und als am 18. März gegen Mittag die Patente bekannt wurden, welche auch noch ein freisinniges Preßgesetz, das die Censur abschaffte, und die sofortige Einberufung des Landtags zusagten, als man erfuhr, der König beabsichtige, Männer aus der liberalen Kammeropposition ins Ministerium zu berufen, da strömten die entzückten Bürger in Scharen vors Schloß, um dem König durch stürmische Hochrufe ihren Dank darzubringen.

Die Freudenkundgebung vor dem Schlosse zu Berlin.

Nun konnte auch Berlin seine Märzerrungenschaften bejubeln. Wohl war es schon in den Tagen vorher zu blutigen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Volksmassen und dem gegen sie einschreitenden Militär gekommen, wohl war im stillen in weiten Volkskreisen die Empörung bis zum bestimmten Entschluß, dem Beispiel der Pariser zu folgen, gereift – jetzt schien dies vergessen. Am 17. hatten erregte Volksversammlungen beschlossen, durch eine Massendemonstration vor dem Schloß das Zurückziehen des Militärs aus den Straßen und die Bildung einer Bürgergarde vom Könige zu erwirken. Um Mittag am 18. sollte sie stattfinden. Die geplante Drohdemonstration wurde nun zur Freudenkundgebung, welche wuchs und wuchs. Um 2 Uhr erschien der König auf dem Balkon; er begann zu sprechen, doch er war zu bewegt. Der neben ihm stehende Bürgermeister Naunyn trat vor und rief mit lauter Stimme den Versammelten zu: „Der König will, daß Preßfreiheit herrsche; der König will, daß der Landtag sofort einberufen werde; – der König will, daß eine Konstitution auf freisinnigster Grundlage alle deutschen Länder umfasse; der König will, daß eine deutsche Nationalflagge wehe; – der König will, daß alle Zollschlagbäume in Deutschland fallen; – der König will, daß Preußen sich an die Spitze der Bewegung stelle!“

Die jubelnden Vivatrufe wollten nach dieser feierlichen Verkündigung kein Ende nehmen. Der König winkte dazu mit dem Tuche herab, bis er sich zurückzog. Er hatte sein Ziel, den Frieden mit seinem Volke, erreicht. So meinte er – und von der friedlichen Lösung des langjährigen Konflikts, der in den letzten Tagen auch in Berlin zur Volkserhebung geführt hatte, waren alle Anwesenden überzeugt.

Da führte ein „Mißverständnis“ zu einem entsetzlichen blutigen Nachspiel der Friedensfeier. Der König hatte durch Bodelschwingh vom Balkon herab den Wunsch aussprechen lassen, die Demonstrationen möchten nun aufhören. Da immer neue Volksmassen herandrängten, war dies nicht möglich. Es wurden jetzt Stimmen laut, daß die so froh bejubelten Bewilligungen der Not des Volkes nicht abhülfen. Es drängten sich Elemente aus den Arbeitervierteln ans Schloß, in denen ein tiefer Groll gegen den König bestand. Wahrscheinlich glaubte gar mancher der jetzt erst Anlangenden, es handle sich um die geplante Demonstration für die Bürgerbewaffnung. Der König, erzürnt über den Lärm, gab schließlich Befehl, die in den Schloßhöfen den Nachtdienst versehenden Truppen ausrücken zu lassen, um Ruhe zu stiften. Es waren Dragoner und Grenadiere, die von verschiedenen Seiten auf den [190] Platz hervordrangen. Die Mannschaften thaten dies in ungeschickter brutaler Weise, die dem Grimm entsprach, der sich in ihnen während der letzten acht Tage, wo man sich ihrer gegen die Volkskrawalle bediente, aufgespeichert hatte. Der Angriff wirkte auf die in Jubel schwelgende Menge wie ein Blitzschlag aus heiterm Himmel. Man rief empört: „Zurück!“ „Militär fort!“ „DerKönig soll sich unter den Schutz der Bürger stellen.“ Ein furchtbares Gedränge entsteht. Da plötzlich fallen zwei Schüsse. Der Lärm stockt. Ein jäher Schreck ergreift alle. Dann wilde Flucht. – „Wir sind verraten!“0 „Waffen!“0 „Rache!“ gellt’s durcheinander. Die Schüsse waren aus den Reihen der Grenadiere gekommen. Später hat sich herausgestellt, daß das eine Gewehr durch das Ungeschick eines Soldaten, das andere durch den Stoß eines Arbeiters auf den Hahn sich entladen hatte. Beide Schüsse waren in die Luft gegangen. Damals wußte das niemand, jeder glaubte an ein Einschreiten der Truppen mit der Schußwaffe, das Gerücht vergrößerte im Nu den Vorfall – die zwei Schüsse waren das Signal zu einem vierzehnstündigen Straßenkampf zwischen Volk und Heer, der in kurzer Zeit eine gewaltige Ausdehnung annahm und noch die ganze Nacht durch dauerte.

Barrikadenkampf am Köllnischen Rathaus in Berlin.
Mit Benutzung eines gleichzeitigen Bildes der „Illustrierten Zeitung“ gezeichnet von A. Wald.

Die Erbitterung der Tausende, die sich jetzt am Bau von Barrikaden in allen gegen das Schloß hin mündenden Straßen beteiligten, war so groß, daß kein Vermittelungsversuch mehr Macht hatte über die erzürnten Gemüter. Wie durch Zauberschlag wuchsen die Barrikaden empor, das aufgerissene Steinpflaster, Droschken und Omnibusse, Tonnen, Warenballen, Brunnengehäuse, Verkaufsbuden boten das Baumaterial. Die Waffenhandlungen gaben auf den ersten Ruf alles, was zur Verteidigung dienen konnte, dem Begehren des Volkes preis. Auch Beile, Aexte, Brechstangen dienten als Waffe, die Studenten erschienen mit ihren Rapieren. Während der König, über den Ausbruch dieses Kampfes ganz entsetzt, nur mit Widerwillen die Befehle für die Erstürmung der Barrikaden erteilte, wurde auf diesen mit wilder Begeisterung gekämpft. Die Umgebung des Königs, der bald bitterlich weinte, bald in dumpfe Apathie versank, suchte ihm beizubringen, daß nur eine Rotte fremder Aufwiegler den Kampf veranstaltet habe. Inwieweit und von wem der Straßenkampf thatsächlich vorbereitet war, ist nie sicher festgestellt worden. Es waren aber echte Berliner, Handwerker, Studenten, Arbeiter, auch Bürger gelehrten Berufs, die da zur Waffe gegriffen hatten; die Namen der unglücklichen Opfer des Kampfes wie die der hervorragendsten Führer, des Mechanikers Siegrist, des Drechslers Hesse, des Tierarzts Urban, des Stadtverordneten Behrends, die Beteiligung zahlreicher Bürgerschützen sind dafür bezeichnend. Ein starkes Kontingent stellten die Arbeiter der großen Maschinenbau-Werkstätten am Oranienburgerthor. Wie tapfer sich das Volk schlug, geht aus allen Darstellungen, auch denen von militärischer Seite, hervor. Besonderer Heldenmut ward auf dem Alexanderplatz, in der Breitenstraße beim Köllnischen Rathaus, an der Ecke von Oberwallstraße und Hausvogteiplatz und in der Taubenstraße entfaltet. Als schier uneinnehmbar erwies sich der feste Barrikadenbau, welchen der Maschinenbauer Siegrist am Köllnischen Rathause aus dicken Holzmassen in der Höhe von 8 Fuß aufgeschichtet hatte. Vergeblich stürmten die Gardegrenadiere immer aufs neue das Bollwerk, bis ihnen ein starkes Bombardement mit Granaten genügende Bresche schlug.

Der Zug mit den Bahren der Gefallenen im Schloßhof.

Als auf Wunsch des Königs gegen Morgen von den Truppen das Feuer eingestellt wurde, war zu gunsten derselben der Kampf keineswegs entschieden. Die Barrikaden auf den nach dem Schloß mündenden Straßen waren freilich alle gestürmt. Doch hatte General v. Prittwitz, der gegen 13000 Mann und 36 Geschütze befehligte, die eigentlichen Arbeiterquartiere noch nicht in Angriff genommen. Der König aber wollte keinen Kampf mehr. Er hatte in der Nacht ein Manifest niedergeschrieben, in dem er „seine lieben Berliner“ beschwor, das furchtbare „Mißverständnis“ einzusehen und die Barrikaden zu räumen, wogegen er sogleich alle Truppen aus Straßen und Plätzen zurückziehen werde. „Hört die väterliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlins, und vergesset das Geschehene, wie Ich es vergessen will und werde in meinem Herzen, um der großen Zukunft willen, die unter dem Friedenssegen Gottes für Preußen und durch Preußen in Deutschland anbrechen wird! Eure liebreiche Königin und wahrhaft treue Mutter und Freundin, die sehr leidend darnieder liegt, vereint ihre innigen, thränenreichen Bitten mit den Meinigen.“

Was nun folgte, waren lauter weitere Demütigungen des Königs. Er [191] gab trotz der lebhaften Einsprache des Prinzen Wilhelm nach, als eine Deputation von Bürgern in ihn drang, er solle die Truppen aus der Stadt ziehen, sobald mit Räumung der Barrikaden begonnen sei. Er bewilligte die Einrichtung einer Bürgerwehr, zu der sich die Stadtvertretung und die Studentenschaft gleich beim Ausbruch bedrohlicher Unruhen vergeblich erboten hatten, um dem aufreizenden Einschreiten des Militärs Einhalt zu thun. Damals wäre damit die Möglichkeit eines Straßenkampfes beseitigt gewesen, jetzt war es zu spät. Und schon trug man die Opfer des furchtbaren Kampfes heran, indes die Sonntagsglocken zur Buße mahnten und die helle Frühlingssonne auf die blutgeröteten Straßen schien.

Auf blumengeschmückten Bahren hatte man die gefallenen Barrikadenkämpfer gebettet; ein düsterer Trauerzug bildete sich und nahm seinen Weg zum Schlosse. „Die Volksmenge, durch welche die Träger hinschritten, stand lautlos; ehrfurchtsvoll nahm ein jeder den Hut ab, die Lippen bebten, in den Augen zitterten Thränen, nur die festen Schritte der Träger hallten im Schloßhof wieder und von Zeit zu Zeit der Name eines der Gefallenen, von einem der Träger ausgerufen.… Schon hatte sich der innere Hof,“ berichtet weiter ein Augenzeuge, „in welchen die Wendeltreppen zu den königlichen Gemächern führen, mit Bahren und blutigen Leichen gefüllt, als das Volk nach dem König zu rufen begann. Der Fürst Lichnowsky, welcher, nachdem der Kampf vorüber war, mit einigen der Barrikadenhäupter fraternisiert hatte, versuchte es, seine guten Freunde zu bedeuten, daß Se. Majestät sich zurückgezogen hätte und daß man ihr einige Ruhe gönnen möge. Aber der Ruf: ‚Der König soll kommen!‘ erscholl mit verzehnfachter Gewalt, daß die Schloßfenster davon erzitterten. Schon nahmen die Träger die Leichen wieder auf und schickten sich an, dieselben die Wendeltreppen hinauf in die königlichen Gemächer zu tragen, da erschienen oben auf der Galerie die Grafen Arnim und Schwerin, um zu beschwichtigen, vermochten aber nicht gegen die höher und höher schwellende Flut aufzukommen. ‚Der König! Der König soll kommen!‘ gellte und grollte es immer drohender. Da trat auf die offene Galerie heraus der tiefgebeugte Monarch, an seinem Arm die vor Angst und Entsetzen bleiche Königin. ‚Mütze ab!‘ Er entblößte das Haupt. Die Träger nahmen die blutigen Leichen wieder auf, sie hoben die Bahren hoch zu dem König empor unter schrecklichem Zuruf der Männer und dem Wehklagen der Frauen: ‚Gieb uns unsere Brüder! Unsere Väter, unsere Söhne, unsere Männer gieb uns wieder!‘ Der König und die Königin vermochten nur mit Thränen das tiefgefühlte Beileid des gebrochenen Herzens zu bezeigen. Da plötzlich stimmte das Volk den Choral an: ‚Jesus, meine Zuversicht‘ – der König verweilte mit unbedecktem Haupt, bis der feierliche Totengesang geendet, und führte dann die kaum sich noch aufrechthaltende Königin in ihre Gemächer zurück.“

Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0191.jpg

Umritt König Friedrich Wilhelms IV durch die Straßen von Berlin.
Mit Benutzung eines gleichzeitigen Bildes der „Illustrierten Zeitung“ gezeichnet von H. Binde.

Was in diesen Stunden Friedrich Wilhelm gelitten, er, der bisher mit dem Stolz eines Coriolan den berechtigtsten Volksforderungen gegenüber gestanden, hat sicher jedes Maß des Ertragbaren überstiegen. Er fand seine Aufrichtung in dem Gedanken, daß er auch diese Demütigung als Opfer dem gewaltigen Umschwung aller Verhältnisse in Deutschland habe darbringen müssen, der ihn jetzt nach seiner Ueberzeugung an die Spitze eines neuzugründenden Deutschen Reiches berief. Seine Phantasie berauschte sich, wie Sybel es ausdrückt, „mit glänzenden Bildern von der Wiederherstellung des heiligen römischen Reiches in seiner ganzen Pracht“. Es drängte ihn, die Aufmerksamkeit seiner Berliner, wie Deutschlands, der Welt, von dem Jammer des unseligen Straßenkampfes auf die neue Zeit zu lenken, die jetzt unter seiner Leitung für Deutschland anbrechen sollte. Das neue Ministerium, in das neben den genannten Grafen Arnim und Schwerin noch einer der Führer der Opposition im „Vereinigten Landtag“, A. v. Auerswald, und Heinr. v. Arnim eintraten, unterstützte ihn darin. Am 21. erließ er eine neue Proklamation und erklärte: „Rettung aus unseren Gefahren kann nur aus der innigsten Vereinigung der deutschen Fürsten und Völker unter Einer Leitung hervorgehen. Ich übernehme heute diese Leitung für die Tage der Gefahr. Mein Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird mich nicht verlassen, und Deutschland wird sich mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und mein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf!“

Das wollte er aber auch aussprechen in feierlicher Rede, persönlich, öffentlich! Er that es noch vor der Ausgäbe der gedruckten Proklamation. Durch den neuen Kultusminister Grafen Schwerin ließ er am Morgen des 21. den in die Aula zusammenberufenen Studenten verkünden, der König werde noch am selben Vormittag zu Pferde im Schmuck der „alten, ehrwürdigen Farben deutscher Nation“ in den Straßen Berlins erscheinen, um damit zu bezeugen, daß er sich an die Spitze des Gesamtvaterlandes zur Rettung desselben gestellt habe. Gegen 11 Uhr begann der Umzug. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. Vorm Schloß erwartete die Menge den König. In Gardeuniform, ein breites schwarz-rot-goldnes Band um den Arm geschlungen, sprengte er aus dem Schloßhof hervor, in der Hand eine schwarz-rot-goldne Fahne. Mit dem gleichen Abzeichen am Arm geschmückt, folgten ihm Prinzen, Minister, Generale. Ein Bürgerschütze in Civil übernahm die Fahne, um sie voranzutragen. Auch die Bürgerschaft hatte schwarz-rot-golden geflaggt. Der Zug bewegte sich über die Schloßfreiheit, durch die Behrenstraße und über die „Linden“ zurück. Ueberall sah sich der König umjubelt. An der Königswache redete er die Bürgerwehr an, am Universitätsgebäude die Studenten. Er betonte, daß er „nichts usurpieren“ wolle, nur deutsche Einheit und Freiheit wolle er schützen! Als jemand ein Hoch auf den neuen „Kaiser von Deutschland“ ausbrachte, sagte er ablehnend: „Nicht doch, das will, das mag ich nicht!“ Und wieder betonte er seine Ueberzeugung, daß ihm die Herzen der Fürsten entgegenschlagen und der Wille des Volkes ihn unterstützen werde.

Es war eine furchtbare Selbsttäuschung. Hatte ihn die blutige Nacht vom 18. März weitum im deutschen Volk um frisch grünende Sympathien gebracht, so brachte dieser Umritt vom 21. mit seinen Reden ihn um das Vertrauen auch jener Fürsten, die ihn sonst willig als Oberhaupt eines neuen Deutschen Reiches begrüßt hätten.