Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 126–127
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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44. Wie Muliän seine Mutter aus der Hölle holte

Muliän war ein berühmter Buddhist aus der Tangzeit. In früher Jugend ging er ins Kloster und erwachte zur Erkenntnis des Sinns und ward zum Buddha. Seine Mutter aber war roh und neidisch in ihrem Wesen. Sie mißachtete die Gottesgaben, trat das Brot mit Füßen; Nahrungsreste lagen allenthalben bei ihr auf dem Boden umher. Und wenn ein Bettler kam und um Essen bat, so achtete sie seiner nicht. Darum bekam sie Schlingbeschwerden und mußte lange Tage Hunger leiden. Dann starb sie. Zwei Teufel schleppten sie fort. Auf dem Wege ins Jenseits gings über den Totenberg und den Fluß der Unterwelt, und die Teufel quälten sie auf jegliche Weise. Als sie in der Unterwelt ankam, war der Totengott sehr zornig und befahl, sie in die Hungerhölle zu sperren. Vor Hunger knurrten ihr die Eingeweide wie der Donner; aber kein Körnchen bekam sie zu essen. Jedesmal, wenn sie vor Hunger schrie, so stimmten alle hungrigen Geister ein. Darum hefteten die Schergen ihr die Zunge mit einer eisernen Ahle fest, daß sie keinen Laut mehr von sich geben konnte, und zündeten ihr zwei Lampen vor den Augen an, daß sie nichts mehr sah. Gerne wäre sie noch einmal gestorben; aber es ward ihr nicht zuteil. Zu jener Zeit hatte Muliän die Stufe des Buddha erreicht. Er wußte, daß seine Mutter tot war. So stieg er hinunter in die Unterwelt und trat vor den Totengott. Er wollte seiner Mutter eine Almosenschüssel voll Reis zum Essen bringen. Der Totenfürst gab die Erlaubnis, doch sagte er: „Ich fürchte, sie wird essen wollen, aber es wird ihr nicht gelingen. Der Strafe, die man sich selber zugezogen, entgeht man nicht.“

Muliän ging nun zu der Hungerhölle und verlangte seine [127] Mutter zu sehen. Da löschten die Schergen die Lampen vor ihren Augen und lösten ihre Zunge. Als Muliän seine Mutter erblickte, warf er sich schluchzend vor ihr nieder, und auch die Mutter weinte und sprach: „Ich bin sehr hungrig.“ Muliän brachte ihr in seiner Almosenschale Essen dar. Aber wie sie es schlucken wollte, da schlug das Feuer in ihrem Leib ihr zum Munde heraus, so daß sie nichts zu sich nehmen konnte. Darauf schleppten die Schergen sie wieder in die Hölle zurück und schlossen die Tür hinter ihr zu.

Muliän war schmerzlich ergrimmt und schlug aus aller Kraft mit seinem Eisenstabe gegen die Kerkertür, bis sie barst. Dann nahm er seine Mutter auf den Rücken und trug sie zum Himmel empor. Aber hinter ihm drängten sich Hunderttausende von hungrigen Teufeln nach, die sich nach allen Richtungen zerstreuten und sich wieder ins Leben stahlen. Der schrankenlosen Kraft eines Buddha wagte der Totengott sich nicht entgegenzusetzen; doch ließ er durch den Gott des Großen Berges dem Herrn des Himmels Meldung machen. Der entschied: „Muliän hat seine Mutter gerettet. Dabei zeigte er eine lobenswerte kindliche Gesinnung. Deshalb soll seiner Mutter verziehen sein. Er hat aber auch die eingesperrten Verbrecher alle herausgelassen, die über die lebenden Menschen Unheil bringen. Darum muß Muliän auf die Erde hinunter, um alle die hungrigen Teufel wieder zur Hölle zu bringen; dann erst darf er wieder in den Himmel zurück.“

Am Ende der Tang-Zeit brach der Aufstand Huang Tschaus aus, in dem viele Hunderttausende von Menschen ums Leben kamen. Das waren die hungrigen Teufel, die sich in die Welt gestohlen hatten. Huang Tschau aber war Muliän, der seine Aufgabe auf diese Weise erfüllte.

Anmerkungen des Übersetzers

[397] 44. Wie Mu Liän seine Mutter aus der Hölle holte. Quelle: mündliche Überlieferung.

Die Hungerhölle, aus der Mu Liän seine Mutter holte, ist im vorigen Stück schon erwähnt. Die Sage selbst ist ein Gegenstück zur Orpheussage.