Textdaten
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Autor: Karl Müller
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Titel: Wer wird siegen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 362-365
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[362]

Wer wird siegen?

Von Karl Müller.

Beim Schauspiele eines Kampfes wirken in uns nicht blos individuelle Sympathien und Antipathien für die Kämpfenden mit, sondern auch eigenthümliche Situationen der Gegner, begleitende Umstände und Verhältnisse, welche selbst den schlimmen Ruf des Bedrängten zu mildern und den Bann der Vernichtung zu lockern vermögen, in welchen die richtende Welt den Uebelthäter gethan hat. Und diesen Zug der Besänftigung, welcher unser Herz beherrscht, nenne ich einen echt menschlichen. Handelt es sich nun aber nicht um die Selbstvertheidigung, sondern um den todesverachtenden Schutz hülfloser Opfer, dann gehen all’ unsere Empfindungen in Bewunderung über, und unser Herzschlag folgt mit der bangen Besorgniß um die Bedrohten jedem Schritte der sich entwickelnden Handlung!

Freund Deiker hat es verstanden, in einem lebensvollen Bilde uns das erste Entbrennen eines Kampfes aus dem Thierleben vorzuführen, das wir oft mit dem Künstler besprochen haben und das in der wahrheitsgetreuen Darstellung jeden Beschauer unwillkürlich zum Mitbetheiligten der Scene machen wird. Welchen Ausgang wird sie nehmen?

Noch stehen wir vor einem großen Fragezeichen, welches ich je nach den Standpunkten einzelner Beschauer hier beantworten möchte.

[363]

Edelmarder und Habicht. Originalzeichnung von C. F. Deiker in Düsseldorf

[364] „Werde ich endlich die verhaßte Brut vernichtet sehen?“ – So würde der Gutsbesitzer auf dem einsam liegenden Gehöfte denken, wenn er die Hühnerhabichtfamilie von dem Räuber Edelmarder bedroht fände. „Welche Aergernisse hat mir das alte Paar nicht schon bereitet! Erst vor Kurzem rekrutirte ich meinen Taubenschlag durch auserlesene Exemplare werthvoller Taubenarten, und heute ist die anmuthige Stätte verwaist. Auf die listigste Weise wußten die befiederten Feinde sich der Tauben zu bemächtigen. Bald sauste wie ein Pfeil aus der Höhe der Habicht nieder und schlug mit seinen furchtbaren Fängen das wehrlose Opfer, bald saß er stundenlang auf der Lauer, sich den Anschein des Harmlosen gebend, bis eine arglose Taube ihm die ersehnte Gelegenheit zum erfolgreichen Stoß bot.

Aehnliche schlimme Erfahrungen habe ich an meinen Hühnern gemacht. Nicht nur auf den Wiesen abseits des Gehöftes hat mir das starke Habichtweibchen das eine und andere Huhn geraubt, sondern sogar im Hofe selbst, trotz des bewegten Verkehrslebens der Arbeiter, griff der verwegene Räuber friedenstörend ein, schlug hier einem Huhn tödtliche Wunden und trug dort ein anderes mit Aufbietung aller seiner Kräfte davon, um es an einem nahegelegenen, verborgenen Plätzchen bei lebendigem Leibe in Stücke zu zerreißen. Der Sieg, welchen der tapfere Hahn zum Schutze und zur Rettung einer von ihm angegriffenen Henne über ihn errang, indem Flügelschläge und Sporenhiebe ihre Wirkung nicht verfehlten, hat ihn wohl zur Vorsicht gemahnt, aber seine Mordgier nicht gedämpft. Und stets waren die Eingriffe der Habichte unverhoffte, plötzlich tauchten sie auf, und im nächsten Augenblick waren sie nach vollbrachter That verschwunden. Ihr scharfer Sinn unterschied jede gefährliche Erscheinung, jeden verdächtigen Auftritt von dem erfahrungsmäßig gefahrlosen Thun und Treiben um sie her.“

Aus voller Seele stimmen dem verdammenden Urtheile gewiß alle Freunde unserer nützlichen Vögel und der edlen Sänger bei, mögen sie an die Züge der Lerchen im Herbste und Frühling denken, die durch die Fänge der Unholde stark gelichtet werden, oder an die Schaaren der Finkenarten, die neben dem bitteren Kampfe mit den rauhen Elementen auch noch den mit diesem Schrecken aus den Lüften zu bestehen haben, oder endlich an die friedlichen Brutstätten, in welche diese heißblütige Mörder oft Tod und Verderben tragen.

Aber nun kommt der Besitzer eines anderen Gehöftes, mit Groll im Herzen gegen den diebischen Marder, und beschaut sich die Lage der Gegner auf dem Bilde. Der denkt: „O löschte der Habicht dir mit dem ersten Schlage seiner Fänge das Leben aus! Vom Walde bist du zur Nachtzeit gekommen und fandest den Hühnerstall offen und mordetest alle Hennen sammt dem stolzen Spanierhahn. Der Schrei der Verzweiflung und der Todesangst hemmte nicht dein blutdürstiges Rasen: er schürte nur noch mehr die wilde Gluth in dir. Draußen an der Hecke lag das letzte Huhn, und in der Hecke selbst trafen dich andern Morgens vorübergehende Leute in schlafsüchtigem Zustande, in einer Art Berauschtheit in Folge des Genusses von Blut an und ließen dich langsam der schutzbietenden Fichtendickung im Walde zustreben.

Doch damit ist der Fluch, den ich auf dich schleudere, noch nicht vollends begründet. Gar manches Rehkälbchen hast du an der Seite der zärtlich besorgten Mutter angefallen nicht wie der Fuchs auf dem Boden, welchen die entsetzte Ricke mit den Vorderläufen todesmuthig abschlägt, nein, auf den Bäumen bist du der Rehfamilie gefolgt bis zu der Stelle, wo die Aeßung unter dem herabhängenden Geäste der Eiche oder Buche zur Rast einlud. Schattenhaft schleichend bist du herniedergekommen und hast den Satz, den verhängnißvollen Sprung von dem untersten Ast in den Nacken des zusammenbrechenden, laut fiependen Kälbchens gethan, dein schneidendes Gebiß ihm in die Schlagader hauend. Die alte Ricke konnte dir keine Prügel geben, weil das Muttergefühl naturgemäß das Kälbchen schonte. Aber nicht blos Kälbchen im Frühling, auch Schmalrehe und alte Rehe, denen du im schneereichen Winter als wuthverbissener Reiter im Nacken der verzweiflungsvoll Dahinrennenden wenigstens einen Fetzen der ‚Decke‘ (Haut) als Trophäe abgerissen, zeugen von deinen Frevelthaten in meinem Jagdrevier, und wenn die Vögel des Waldes reden könnten, sie würden dich mit Vorwürfen überhäufen und es käme an die Sonnen, was alles du in dunkler Nacht oder im Schatten düstrer Tannenhorste fein gesponnen.

Die Turteltäubchen hatten sich am Abend auf dem Neste neben einander gedrückt und waren eben in Frieden eingeschlummert. Da regte sich’s leise über ihnen, und wie eben der Kopf eines Turteltäubchens sich zur Sicherung ausreckte, fuhr jäh der Marder aus dem Versteck des Fichtengezweiges nieder und packte das eine Täubchen, während das andere erschreckt davonflatterte. Nicht anders ist es manchem eingeschwungenen Waldhuhn ergangen. Amsel und Drossel harrten des Tags, wo ihre Eier gesprengt und die Jungen unter der treu gespendeten Brutwärme auskriechen würden. Da trug ein Zug der Morgen- und Abendluft dem vorbeischleichenden Marder die ‚Witterung‘ des Brutvogels unter die Nase, und aus war es mit aller Sorge, Pflege und Seligkeit der lieben Sängerfamilie. Meisen und Spechte, Staare und Wiedehöpfe, Höhlenbrüter aller Art in unseren Wäldern, wo der Edelmarder haust, könnten von Nachstellungen und mancherlei Ueberlistungen, von Eingriffen der Vernichtung in ihr Familienglück erzählen.

Dennoch würde der Edelmarder vor meinen Augen Gnade finden, weil er nicht nur die zarten kleinen Vögel, sondern auch die verderbenbringenden Mäuse und das der Forstcultur schädliche Eichhörnchen mordet. Wie sehr er dessen Fleisch und Blut liebt, wird offenbar, wenn wir ihn mit bewundernswerther Ausdauer und heißer Leidenschaft das flinke Thierchen verfolgen sehen. Die Jagd geht stammauf, stammab, von den obersten Zweigen der Buchen und Eichen, Fichten und Kiefern bis hinab auf den Laub- oder Moosboden in Bogensätzen, die kaum unterbrochen werden, von der Krone eines Baumes zu der des andern. Abgehetzt und gefoltert von andauernder Todesangst, ermüdet allmählich das Eichhörnchen vor dem muskelstarken Verfolger und muß sich ihm schließlich ergeben. Noch öfter aber erschleicht er es beim Schmauß der jungen Lärchenblüthentriebe oder der mannigfachen Waldsämereien, oder wenn es zur Zeit des Mangels an letzteren im Vorsommer, die Stämmchen der jungen Fichten- und Föhrenschonungen und der Lärchen spiralisch oder in Rechtecksform abringelt. Auch in seinem Winterneste oder in seiner Familienwohnung überfällt er es sammt den niedlichen Jungen. Grausam quälend erscheint aber das Edelmarderpaar dem Eichhörnchen gegenüber, wenn die Alten mit den Jungen die Jagd zur Ausbildung dieser letzteren im Rauben unternehmen. Im Nadelhochwalde war die Marderfamilie am Tage aus ihrem Schlupfwinkel hervorgekommen, vielleicht nur zu behaglichem Spiele im Freien, und wohl war die Begegnung zweier jungen, schon recht rüstigen Eichhörnchen rein zufällig. Die Marder verfolgten die Thierchen mit regem Eifer. Voran kletterten und sprangen von Ast zu Ast, von Baum zu Baum auf und nieder die erfahrenen alten Jäger. Dabei sprang der Plan unverkennbar in die Augen, den Jungen die ängstlich fliehenden Hörnchen zuzutreiben. Plötzlich rückte der eine alte Marder einem der Hörnchen so dicht auf den Pelz, daß dieses einen wahren salto mortale in die Tiefe zu Boden unternahm. Der Marder, hinter ihm drein, packte das quiekende Thierchen, tödtete es jedoch nicht, sondern lockte mit eigenthümlich murksendem Tone die mordlustigen Jungen herbei, dann ließ er das mattgedrückte Hörnchen los, und die verständigen Schüler hatten nun leichte Mühe, es zu fangen. Durch störendes Dazwischentreten des Beobachters erschreckt und ernüchtert, stiebte die ganze Mörderbande auseinander.“

Lassen wir nun noch einen Dritten in das Proscenium treten, einen alten Förster, der schon manchen Edelmarder aus dem hohlen Aste „ausgepocht“ oder herausgehauen und in der Brechfalle oder im Schwanenhals gefangen hat, um ihm den kostbaren Pelz abzustreifen und diesen zu fünfzehn bis achtzehn Mark zu verwerten.

Sein Herz ist auf der Seite des Marders, dessen Leben nach seinem Urtheile im Sommer unter allen Umständen geschont werden muß, weil vom März bis zum November sein Kleid werthlos ist. Versunken in Erinnerungen, die der Poesie des Waldlebens angehören, und in Gedanken, welche an Plänen der Zukunft arbeiten, betrachtet der ergraute Jäger die Scene, welche den Leser so lange in Spannung und Ungewißheit erhielt. Ich sehe schon, daß der Alte über den Ausgang der Scene nicht im Zweifel ist und bei der Frage über den erwarteten Kampf zwischen dem Marder und Habicht im [365] Bewußtsein seiner Erfahrung völlig beruhigt dreinschaut. Wie? und der Habicht, welcher sein Leben für seine bedrohten Jungen mit der innigsten, treuesten Anhänglichkeit preisgiebt, sollte unterliegen?

Ob es früh am Tage, ob es zur späteren Stunde ist, wir wissen es nicht – ob der Marder zufällig in den Horst der flaumbedeckten jungen Habichte schaut oder als Kundiger der Begebenheiten im Reviere die Zeit der Abwesenheit der alten Vögel zu seiner Raubthat sich ausersehen hat, – wir wissen auch das nicht. Aber Eines wissen wir zuverlässig: im Augenblicke, wo er das alte Habichtweibchen mit entscheidender Haltung, bereit, den Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen, sich gegenüber sieht, beschleicht ihn das Gefühl des Unbehagens, und man sieht es an dem zurückgezogenen „Gehör“, daß es ihm unheimlich geworden und die Situation ihm peinlich ist. Für seine eigene Sicherheit besorgt und ein Feind aufsehenerregender Scenen am hellen Tage, so lange er noch nicht, von hinreißender Mordwuth befallen, in Scene getreten ist, zieht er klug und weise den Kopf hinter den Ast zurück und denkt sich salvirend: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“.