Wer heilt? Arznei oder Natur?

Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Wer heilt? Arznei oder Natur?
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 151-153
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Zukunfts-Medicin.

Wer heilt? Arznei oder Natur?

Menschheit! willst Du denn wirklich niemals klug werden und Dich nie aus den Fesseln des Aberglaubens, nämlich in Bezug auf Dein Gesund- und Kranksein, erlösen lassen? Willst Du denn wirklich Deinen Verstand, der sich doch sonst nicht gar so schwach und erbärmlich zeigt, in dieser Beziehung niemals richtig gebrauchen lernen?

Du fragst ganz ernsthaft in Deiner Kindischheit: „aber warum hat denn der liebe Gott die Arzneimittel erschaffen, wenn sie nicht gebraucht werden sollten?“ Kannst Du Dir denn wirklich nicht selbst darauf antworten: der Mensch hat ja erst jene große Menge theils pflanzlicher und thierischer, theils unorganischer (salziger, metallischer, steiniger, erdiger, gasförmiger) Schöpfungsproducte zu Arzneimitteln gestempelt und künstlich zugerichtet. Und daß sich dies wirklich so verhält, das geht recht deutlich daraus hervor, daß die Anzahl derselben tagtäglich in Folge der Entdeckungssucht mittelsüchtiger Heilkünstler und geldsüchtiger Charlatane fortwährend so wächst, daß bald kein einziger Gegenstand in irgend einem Welttheile mehr von der Heilverpflichtung verschont bleiben wird.

Oder meinst Du wirklich, daß der liebe Gott Stoffe zum Heilen von Krankheiten erschaffen hat, wie: gebrannte Schuhsohlen, pulverisirte Edelsteine und Mumien, Pfauendreck und weißen Hundekoth, gedörrte Bienen, Kröten und Schlangen, getrocknete Regenwürmer, geraspeltn Menschenhirnschädel und Rhinoceroshorn, Eselsklaue und Wildschweinszahn, Hechtszähne und Aalraupen-Rückgräten; [152] gräten; Aal-, Hunde-, Biber-, Katzen-, Storch-, Wachtel-, Pferde-, Hühner-, Hasen-, Hecht-, Murmelthier-, Schlangen-, Dachs-, Ratten-, Bären-, Fuchs-, Bocks-, Ziegen-, Hirsch- und Menschen-Fett; Spinnweben, Moos von Menschenhirnschädeln, eingetrocknete Hecht-, Rebhühner- und Ochsengalle; Bockshaare und Rebhühnerfedern u. s. f.? – Von Pflanzensamen, Wurzeln, Hölzern, Kräutern, Schwämmen, Blumen, Früchten, Harzen u. dgl. haben aber fast alle schon und in allen nur möglichen Formen als Arzneimittel herhalten müssen.

Denkender Leser! Denkst Du Dir denn wirklich gar nichts dabei, wenn Du tagtäglich siehst und hörst, daß dieselbe Krankheit bei den verschiedenartigsten Heilmethoden, durch die verschiedenartigsten Mittel und Hokuspokuse geheilt wird; – daß ganz ungebildete Menschen ohne den geringsten Begriff von Heilkunst ebenso gut Kranke herstellen, wie die gelehrtesten Doctoren; – daß Mensch und Thier ohne Arznei und Arzt gesundet; – daß sehr oft bei Krankheiten alle die dagegen gerühmten Mittel nichts helfen und daß dem Reichen trotz aller seiner Schätze bei vielen Krankheiten ebensowenig geholfen wird, wie dem Armen; – daß ein und dieselbe medicinische Autorität bei ganz derselben Krankheit bald dieses bald jenes Arzneimittel als ausgezeichnet empfiehlt; – daß verschiedene medicinische Größen bei ganz derselben Krankheit ganz verschiedene Mittel empfehlen; – daß schließlich bei allen Fortschritten der Heilkunde doch im Ganzen eben noch so viele Menschen sterben, und daß bei den verschiedenartigsten Heilmethoden die Zahl der Sterbenden, ebenso wie der Genesenden, ziemlich dieselbe bleibt, wie ehedem?

Wolltest Du nur ein kleines Bischen über diese Thatsachen nachdenken, so müßtest Du doch endlich auf den Gedanken kommen, daß hier wohl etwas Besonderes im Spiele sein und wahrscheinlich im kranken Körper Etwas geschehen muß, was vom Heilkünstler und seinen Heilmitteln unabhängig ist. Und so Etwas existirt auch wirklich; es ist der sogen. Naturheilungsproceß (s. Gartenl. 1855 Nr. 25), dem bis auf sehr wenige fast alle Heilungen zu verdanken sind. Dieser Proceß (wie schon oft gesagt, bestehend in heilsamen, auf krankmachende Einflüsse und Entartungen folgende Veränderungen der flüssigen oder festen Bestandtheile unseres Körpers) wird leider von allen unwissenschaftlichen Heilkünstlern ganz ignorirt, und was immer Gutes während der Krankheit passirt, schreiben diese sich zu, während es doch jenem zukommt.

Was der Naturheilungsproceß leisten kann, zeigt sich am deutlichsten bei der homöopathischen Heilkünstelei mit ihren ganz unwirksamen Nichtsen. Denn Nichtse in Bezug auf ihre Wirksamkeit sind und bleiben die wirklich homöopathisch gereichten Arzneien, auch wenn sie noch durch die Spektralanalyse nachzuweisen wären. Diese Nichtse sind nämlich dem naturgemäßen Gange dieses Processes ganz gewiß nicht hinderlich, während das sicherlich gar nicht so selten bei Darreichung der wirksamen allopathischen Arzneien der Fall sein dürfte. Deshalb ist es auch stets gerathen, beim Krankwerden in Ländern, wo mit Kühnheit und kräftigen Medicamenten in den Krankheitsproceß eingreifende Heilkünstler wirken (und das findet in den meisten außerdeutschen Ländern statt), zur Homöopathie seine Zuflucht zu nehmen, vorausgesetzt nämlich, daß man überhaupt noch so abergläubisch ist und ohne Arzt und Arznei nicht zu gesunden glaubt. Jedoch soll mit dieser Empfehlung der Homöopathie ja nicht etwa auch behauptet werden, daß dieselbe in allen Fällen unschädlich sei, denn es giebt deren, wo sie durch Unterlassung oft sehr schadet.

Daß übrigens die Ansicht des Verf. über den Naturheilungsproceß und die Entbehrlichkeit der allermeisten Arzneimittel nicht vereinzelt dasteht, beweisen die Aussprüche von bekannten Männern der Wissenschaft. So spricht sich z. B. Wunderlich in folgender Weise aus: „Es giebt keine Krankheitsform, die nicht ohne sogenannte Medicamente geheilt werden kann und bei welcher dieselben nicht durch tausend andere Hülfsmittel, welche dem rationellen Arzte zu Gebote stehen, ersetzt werden könnten, und in der Mehrzahl der Fälle ist die Verordnung von Medicamenten geradezu Nebensache, in einer nicht kleinen Zahl entschieden nutzlos und bloße Concession, welche bei dem Aberglauben des Patienten und zur Befestigung seines Vertrauens oft unerläßlich ist.“ – Oesterlen sagt: „So lange wir in Arzneistoffen oder Heilmitteln, die bei einem Kranken in Anwendung kommen, die wesentliche, fast zureichende Ursache seiner Heilung gesehen, ließ sich nicht leicht erklären, warum diese Heilung so häufig ausgeblieben, trotz der Anwendung jener Mittel, oder warum Heilung oft genug zu Stande kam, obgleich keine solchen Mittel angewendet wurden, und warum dieselbe Krankheit beim Gebrauche der verschiedenartigsten Mittel gleich schnell und gleich sicher heilen konnte. Dies Alles werden wir aber leicht begreiflich finden, sobald wir uns einmal davon überzeugt haben, daß die sogen. spontane Heilungstendenz unter Mitwirkung günstiger Lebensverhältnisse bei den meisten Kranken die eigentliche und nächste Bedingung ihres Genesens ist.“

Daß die jetzigen Aerzte nicht mehr so viele und große Bullen voll Medicin verordnen, wie ehedem, rechnen Viele der Homöopathie zum Verdienste an. Allein das ist eine nur von Unzurechnungsfähigen ausgehende Anrechnung und total unrichtig. Ganz allein die Fortschritte in der Heilkunde (medicinischen Wissenschaft) sind es, welche diese Aenderung in der Heilkunst veranlaßt haben, und deshalb verschreiben auch Heilkünstler, die mit der Wissenschaft nicht fortgeschritten sind, gerade noch so viel wie früher. – Es ist überhaupt ganz merkwürdig, welchen Grad von Arroganz und Ignoranz die Homöopathen in der Lobhudelei ihrer Heilkünstelei entwickeln. Sie ignoriren die Naturheilkraft gerade so wie ihres Meisters Worte und möchten es gern todtschweigen, daß Hahnemann, nachdem er 12 Jahre lang seine Anhänger mit den noch jetzt üblichen homöopathischen Heilmitteln an der Nase herumgeführt hatte, plötzlich in einem vierbändigen Werke nachzuweisen sucht, daß bis dahin die homöopathische Behandlung von sieben Achteln der chronischen Krankheiten eine nutzlose gewesen sei. – Ist es ferner nicht eine Arroganz sonder Gleichen, daß die Homöopathen fortwährend mit ihrem Aehnlichkeitsgesetze um sich werfen, gerade als wäre dasselbe wirklich ein vernünftiges Naturgesetz, obschon es nichts als pure Lüge ist? Denn niemals, – und das sei hiermit den Anhängern der Homöopathie, die in ihrem Fanatismus für diese Heilkünstelei nicht geradezu unzurechnungsfähig geworden sind, sondern ihre fünf Sinne und ihren Verstand noch gebrauchen können, gesagt und zum Versuchen empfohlen, - niemals läßt sich bei einem gesunden Menschen durch Chinarinde ein Zustand künstlich erzeugen, der einem Wechselfieberanfalle nur im Entferntesten ähnlich wäre. Und gerade darauf gründet sich doch die ganze Homöopathie. Aber: „und wenn du einen Narren im Mörser mit dem Stämpfel stießest wie Grütze, so ließe seine Narrheit doch nicht von ihm!“

Da nun die Naturheilkraft und nicht die Arzneien die Krankheit curiren (denn die Tilgung oder Linderung einzelner Krankheitserscheinungen mit Hülfe von allopathischen Arzneien kommt hier gar nicht in Betracht), so wird auch jeder rationelle Arzt vor allen Dingen die Processe kennen und fördern zu lernen suchen, welche bei jeder Krankheit zur Genesung führen können. Es versteht sich aber ferner wohl ganz von selbst, daß der Arzt, will er den Naturheilungsproceß kennen und womöglich unterstützen, auch im Stande sein muß, die Veränderungen im Körper des Patienten, welche der Krankheit zu Grunde liegen, auffinden zu können. Das Erkennen (Diagnosticiren) einer Krankheit ist nun aber durch die Symptome, welche für den Homöopathen zum Ausdüfteln seines Nichtsmittelchens vollständig hinreichen, ganz und gar unmöglich. Dazu bedarf der Arzt nicht nur einer genauen Kenntniß von allen überhaupt vorkommenden krankhaften Veränderungen der festen und flüssigen Bestandtheile unseres Körpers (der pathologischen Anatomie), sondern auch einer jahrelangen Uebung seiner Sinne (besonders des Gehörs, Gesichts und Gefühls) zum Ergründen von Abweichungen der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften eines erkrankten Organs (der physikalischen Diagnostik), so daß er sich dann am Krankenbette nach genauer Untersuchung (Besichtigen, Befühlen, Beklopfen, Behorchen u. s. f.) des Patienten sofort in seiner Phantasie ein Bild vom kranken Innern desselben entwerfen kann. – Also ohne diese beiden Lehren (von denen auch nicht ein einziger Homöopath[1] etwas Ordentliches versteht) ist ein richtiges Erkennen weder der Krankheiten, noch des einer jeden Krankheit zukommenden Naturheilungsprocesses möglich. Leider ist nun aber auch der gebildetste und erfahrenste Arzt gar oft, trotz der genannten Doctrinen und [153] trotz der genauesten Untersuchung des Kranken nicht im Stande, eine Krankheit mit Sicherheit zu erkennen, und dann quält er sich (wenn er nämlich ein menschliches und wissenschaftliches Interesse für den Kranken und überhaupt für seinen Beruf hat) nicht selten Tag und Nacht mit dem Gedanken an die unsichere Diagnose ab. Diese Qual kennen die unwissenschaftlichen Homöopathen bei ihrem Altweiberkrankenexamen freilich nicht, und deshalb konnte auch kürzlich ein homöopathischer Arzt, Herr Dr. Schüßler,[2] schreiben: „Also Herr Prof. Bock quält sich ab, wenn er Diagnosen macht. Le pauvre homme!! Habt Mitleid mit ihm. Ich hatte gedacht, ein Professor, ein Mann der Wissenschaft (für einen solchen will er doch gelten) brauche nicht grübelnd die Stirne zu runzeln, um mit Hülfe der diagnostischen Instrumente und gestützt auf physiologische und pathologische Kenntnisse eine Krankheit zu erkennen. Wie man sich doch täuschen kann!“

Den Naturheilungsproceß bei Krankheiten zu fördern, ist demnach die eine Aufgabe eines rationellen Arztes. Sodann theilt ihm die Wissenschaft aber auch noch eine andere zu und zwar die: Krankheiten von seinen Mitmenschen abzuhalten. Nur solche Aerzte, welche diese beiden Aufgaben erfüllen, wird es in der Zukunft, wenn die Menschheit mit Hülfe naturwissenschaftlichen Unterrichts vernünftiger denken gelernt hat, noch geben können. Wie aber die Naturheilungen zu unterstützen und Krankheiten zu verhüten sind, soll später besprochen werden.

Bock.




  1. Meiner Behauptung: „daß es unter den Homöopathen auch nicht einen einzigen Mann giebt, dessen Name in den Natur- und Heil-Wissenschaften rühmlichst genannt würde“, tritt der homöopathische Arzt, Herr Dr. Schüßler, mit den Worten entgegen: „erst hätte Bock beweisen müssen, daß es keinen solchen Mann giebt; dann erst wäre seine Frage statthaft gewesen.“ Ich glaube, Herr Dr. Schüßler hätte, um meine Behauptung zu widerlegen, besser gethan, wenn er mir auch nur einen einzigen in der Wissenschaft rühmlichst genannten homöopathischen Mann genannt hätte.
  2. An Herrn Dr. Schüßler! Ich empfehle Ihnen angelegentlichst meine vierte Auflage der medicinischen Diagnostik zum eifrigen Studium, damit Sie nur wenigstens einmal einen Begriff von der Schwierigkeit des wissenschaftlichen Diagnosticirens bekommen.