Textdaten
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Autor: Gustav Rasch
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Titel: Der Märtyrer von Oland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10–11, S. 149–151; 167–170
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[149]
Vom verlassenen Bruderstamme.
Nr. 4. Der Märtyrer von Oland.

Es war auf der Insel Föhr, einem jener siebenzehn Frieseneilande, welche zwischen Neutief und Listertief liegen, und die sogenannte Nordseeinselkette bilden. Die Inselkette dehnt sich sechzig deutsche Meilen Weges aus. Früher waren diese siebenzehn Inseln weit größer. Vor dem zwölften Jahrhundert hingen mehrere derselben noch zusammen; am kleinsten sind die Inseln zwischen dem Dollart und der Elbe geworden. Seit vielen Jahrhunderten pflegt alle 35 bis 40 Jahre nach einem uns unbekannten Naturgesetz eine ungewöhnlich hohe Sturmfluth einzutreten, welche, wenn sie sich bei einem wirklichen Nordseeorkan oder im Winter ereignet, die ganze friesisch-deutsche Nordwestküste unter Wasser setzt. Die Sturmfluthen und die Nordwestorkane haben in den verflossenen Jahrhunderten die siebenzehn Frieseneilande in Brocken verwandelt; aber diese Brocken sind die Außenbollwerke für die binnenliegenden 70 Meilen langen Marschstrecken mit goldenem Boden, ein Bollwerk von Sand, die goldenen Ringe um die Goldfelder der Nordwestküste Deutschlands. Die ganze Nordseeinselkette ist dem allmählichen Untergange durch die Sturmfluthen der Nordsee geweiht. Was gewesen ist, kann wiederkommen und wird wiederkommen. See und Sturm bleiben immer, was sie waren, und wie sie waren, aber die Gewalt der Winde wird stärker, wie die Gewalt der Wogen.

Die Wohnung des Märtyrers.

Es war ein heller, leuchtender Septembermorgen. Neben mir auf dem Bogen der Brücke in Wyk, wo die Dampfschiffe zu landen pflegen, welche nach Föhr und nach Silt während der Badesaison fahren, saß heute ein lieber Freund, Dr. jur. Petermann, Advocat in Alt-Strelitz in Mecklenburg. In dem in ganz Deutschland berühmt gewordenen Rostocker Hochverrathsproceß hatte er sich des Verbrechens der „Mißlichkeit“ schuldig gemacht, welches man in Mecklenburg, wie in Schleswig begehen kann, und war seiner [150] Stelle als Gerichtsdirector entsetzt worden. Am Horizont hoben sich die friesischen „Halligen“ wie ganz schmale Streifen Landes von der Meeresfläche ab. Sie erschienen wie schwimmende Inseln mit Besten und Burgen. Das Meer hatte heute eine helle Farbe, so hell, wie die Nordsee überhaupt aussehen kann, welche nicht so bläulich abgeklärt ist, wie die Ostsee. Gerade uns gegenüber hob sich Oland über den klaren Meeresspiegel empor, die kleinste, ödeste und verlassenste der friesischen Halligen. Am Strande lag der „Nautilus“, der beste Schooner im Hafen von Wyk, segelfertig, und der brave Moritz Petersen, mit dem ich manche Fahrt über die Nordsee gemacht habe, befahl seinem Steuermann die Segel aufzuziehen. Oland sollte das Ziel unsers heutigen Ausflugs sein. Man hatte mir erzählt, daß einer der würdigsten deutschen Prediger nach dieser öden Insel verbannt sei, und diesen verbannten Pastor wollte ich besuchen. Die Gründe seiner Verbannung konnte mir Niemand angeben; aus den Erzählungen des verschiedenartigsten Inhalts schloß ich nur, daß sein Verbrechen gegen die dänische Regierung auch unter die weite Kategorie der „Verbrechen der Nützlichkeit“ falle, deren ein Deutscher sich in Dänemark schon durch stumme Demonstrationen schuldig machen kann.

Der Wind blies aus Südost und kräuselte die Meeresfläche leicht auf. Die Danebrogfahnen, welche am Strande an drei hohen Masten befestigt sind, blähten sich stolz auf, die dänische Musik begann die ihre melodische Schwester an Schönheit noch übertreffende Melodie „vorn tappern Seesoldaten“ zu spielen, der Wind füllte das Segel, der Nautilus flog wie eine weißbeschwingte Möve über die grünen Wogen, und nach einer Viertelstunde lag die ganze dänische Herrlichkeit mit ihrer Bademusik, Danebrogsfahnen und Badekarten weit hinter uns. Schweigend bewunderten wir die Herrlichkeit und Majestät des Meeres. Hie und da erhob sich der schwarze Kopf eines Seehundes aus der schimmernden Fläche, schaute uns neugierig an und verschwand dann wieder ebenso schnell unter dem Wasser. Es war eine interessante und merkwürdige Tiefe, über welche wir hinfuhren, welche vielleicht zu den interessantesten Meerestiefen an den europäischen Küsten gehört. Jetzt deckte diese Tiefen ein schimmernder Schleier spiegelnden Wassers. Aber mein Freund zog eine Seekarte hervor und breitete sie auf der Bank aus, auf der wir saßen, und auf dieser Seekarte sahen wir nun Alles, was der schimmernde Wasserschleier, in dem der Kiel des Schiffes eine lange, in allen Farben des Prisma’s im Reflex der Sonnenstrahlen glitzernde Furche zog, verbarg. Da erkannten wir in den tieferen Wasserstreifen den Lauf der Flüsse, welche ehemals hier durch das Land zum Meere strömten, da blühen an ihren Ufern farbenstrahlende Blumen, da wogten gelbe Kornfelder, da erblickten wir die versunkenen Dörfer mit ihren uralten, viereckigen Kirchthürmen, da sahen wir die versunkenen Wiesen und Fluren, welche noch heute alle ihre alten Namen haben, wie sie vor vielen hundert Jahren hießen. Heute haben sie sich in Sandbänke verwandelt, und die Sandbänke bezeichnet der Schiffer noch nach den Namen der Dörfer, welche einst zwischen diesen Wiesen und diesem Ackerlande standen, und vermeidet sie mit derselben Sorgfalt, wie einst der Wanderer sie suchte. Hie und da zog sich eine leise Brandung in langen Windungen durch die grünschimmernde Oberfläche des Meeres, und die Sonnenfunken spielten mit einander in dem weißen Gekräusel. In der Ferne erscheinen diese leisen Brandungen wie lange, gefärbte Streifen. „Kapplings“ nennt sie der Seefahrer; sie sind die verschiedenen Strömungen der Nordsee, welche sich gegenseitig treffen und sich am Rande in die Höhe heben. Und diese Strömungen entstehen weit unten aus den höher liegenden Sandbänken, welche einst Ackerland waren. Alles das sahen wir auf der Seekarte, und dann blickten wir hinunter über den Rand des Schiffes, auf das spiegelnde, durchsichtige Wasser, und oft glaubten wir auf dem Grunde des Meeres alle die weißen Dörfer und die altersgrauen Kirchthürme und die grünen Wiesen und die gelben, wogenden Kornfelder und die farbenstrahlenden Blumen wiederzuerkennen; die Sagen und die historischen Erinnerungen, welche sich hier an jede Tiefe, an jede Sandbank knüpfen, reihten sich in unserm Gedächtniß aneinander; sie sprachen von Liebe und traulichem Stillleben, von gebrochenen Herzen friesischer Mädchen, deren langerwartete Geliebten in den Sturmfluthen der indischen Meere versanken, von flackernden Heerdesflammen und fröhlichen Sonntagen, und wir glaubten oft tief da unten die Kirchenglocken läuten zu hören, welche zum Gottesdienst riefen, und wir sahen die Häuser und die Steintrümmer, welche noch heute da unten im Sande versteckt liegen und unter denen die Knochen der Unglücklichen bleichen, welche in einer jener immer wiederkehrenden, angstvollen friesischen Nächte voll Sturmgeheul und Nothgeschrei mit den Wogen kämpfender Menschen ihren Tod fanden. Ja, es giebt noch Orte – so erzählte man mir auf der Hallige Langenneß – wo diese Trümmer noch in ihrer wirklichen Gestalt über der Fläche des Meeres, wie körperliche Gespenster der Vergangenheit, erscheinen, wenn die langanhaltenden Ostwinde alle Wasser in die hohe See Hinaustreiben und weite Strecken Meeresboden bloßlegen. Dann ist die alte Verbindung der Halligen unter einander wiederhergestellt, und die „Halligmänner“ und die „Halligfrauen“ von Oland und Langenneß und Amram besuchen sich unter einander, über den „Schlick“ laufend, bis die Fluth wiederkommt und den alten Meeresboden von Neuem mit ihren dahinströmenden Wellen bedeckt. So erzählte auch unser braver Petersen, als wir über die schimmernde Tiefe, den Flug der Möven kreuzend, welche sich die weißen Flügel in den Wellen netzten, vor dem stärker wehenden Ostwinde dahin flogen, während er das Steuer direct auf Oland hielt, welches sich in scharfen Contouren am Horizonte abzeichnete, und wo wir bereits die einzelnen Häuser und die alte Kirche ganz deutlich unterschieden.

„Hier sind es die Wasserströmungen, welche über die blühende, lebendige Gegenwart einst dahin tobten. Alles verderbend und in ihre Strudel niederreißend,“ sagte mein Freund mit traurigem Blick, die Seekarte zusammenfaltend; „bei Neapel waren es die Lavaströme, welche aus dem Krater des Vesuv niederstürzten und Städte und Fluren mit ihren feurigen Armen umschlangen. Sie sahen ja diese versteinerten Lavaströme, jetzt vor einem Jahre; vielleicht gerade heute. Wasser und Feuer! In den Resultaten der Zerstörung ist es ganz dasselbe. Aber wir sind ganz nahe an Oland. Der Nautilus wird gleich auf dem Sande festsitzen. Sehen Sie, ich sehe ganz deutlich den Meeresgrund!“

Ungefähr zweihundert Ellen vor uns erhob sich Oland kaum um einige Fuß über der Meeresfläche. Es war halbe Ebbe. Zur Fluthzeit ragen die Halligen nur wenige Zoll über die Oberfläche des Wassers hervor. Wahrscheinlich ist die Höhe des Halliglandes die mittlere Höhe der Fluthen, welche sich in fünfzig Jahren ereignen. Das Meer hat das Land gerade so hoch aufgeworfen, um es ein anderes Mal wieder verschlingen zu können. Beim Anblick des Landes dachte ich unwillkürlich an das Bild eines Schiffes, welches bis an den Rand in das Wasser gesunken ist. Rund herum war das Ufer von den Wellen abgenagt und abgerissen. Der ganze Umfang der kleinen Insel mochte kaum eine halbe Stunde betragen. Einst war Oland größer; man nannte es im Friesenlande sogar „das reiche Oland“. Jene Zeit ist lange vorüber. Jetzt ist Oland die ödeste und verlassenste unter allen Halligen. Die große Sturmfluth im Jahre 1825 riß einen großen Theil der Insel hinunter auf den Grund des Meeres und verschlang ein ganzes Dorf. Hunderte von Menschen ertranken in den brausenden Fluthen. Eine alte Frau auf der Hallige Langenneß schilderte mir jene Sturmnacht, welche sie als junges Mädchen auf dem Dache ihres väterlichen Hauses zugebracht hatte.. Die Fluthen hatten die Gräber des Friedhofes aufgewühlt, die Särge kamen in die Stube geschwommen, und die Todten fielen aus den morschen Bretern, und ihre grinsenden Köpfe starrten die Lebenden an, welche bereits halbtodt vor Angst und Entsetzen waren. Auf der ganzen Insel erblickten wir nicht einen einzigen Baum. Ein warmer Sonnenschein lag aus den grünen Wiesen, auf denen Schafe weideten und die Bewohner beschäftigt waren, das Heu in Sicherheit zu bringen. Auf einem ungefähr zwanzig Fuß über der Fläche der Insel sich erhebenden Walle standen an einander gedrängt ein Dutzend Häuser, neben ihnen die Kirche, ein weißes, schmuckloses Gebäude mit einem Schieferdache. Nirgends war die Insel durch einen Damm oder Deich geschützt. Die Halligmänner von Oland sind zu arm, um Deiche zu bauen. Mit größter Vorsicht lenkte der Schiffer den Schooner mit dem Steuer, ihn immer in dem tiefern Fahrwasser haltend. So fuhren wir noch einige hundert Ellen langsam am östlichen Ufer der Insel entlang. Ueberall sahen wir die zerstörende Wirkung der Fluthen. Brockenweise waren die höheren Ränder in’s Wasser gestürzt. Oland bot einen überaus traurigen und melancholischen Anblick. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß die nächste Sturmfluth die Insel verschlingen würde. Mein Freund recitirte die Rückert’schen Verse:

[151]

„Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach –
Und abermals nach fünfhundert Jahren
Kam ich wieder des Weges gefahren,
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei – –“

„Fünfhundert Jahre?“ rief der Schiffer, „nein, nur zwanzig. Alle fünfzig Jahre kehren die großen Sturmfluthen wieder. Vor dreißig Jahren war die letzte Sturmfluth. Oland hat noch zwanzig Jahre auf der Erde zu leben.“

Da erfolgte ein Ruck, dann noch ein Stoß. Der Nautilus saß fest auf dem Meeresboden. „Jetzt geht’s ans Reiten,“ rief Petersen, und sprang in’s Wasser, welches ihm fast bis an die Hüften reichte. Auf seinen Schultern trug er uns an’s Land. Dann zogen wir, da es keinen Pfahl und keinen Baum zum Anbinden des Schooners gab, denselben vermittelst eines langen Taues mit vereinten Kräften auf’s Land.

Wir standen auf festem Boden und nahmen unsern Weg über die Wiesen nach dem Wurtdorfe. Ueberall zogen sich schmale Canäle durch die Wiesen hin, sich vielfach verzweigend. Oft waren sie so schmal, daß wir sie überspringen konnten; die breitern Canäle überschritten wir auf darüber hingelegten Baumstämmen, welche an der obern Fläche platt behauen waren. Die Friesen nennen diese Canäle „Schlote“. Sie hatten schroff abfallende Ufer, welche, völlig parallel laufend, bei ihrem Ursprunge sich in einer ganz schmalen Spitze im Grase verloren. In diese Spitze mündete dann ein anderer Schlot wiederum mit seiner Spitze, und in dieser Gestalt verbreiteten sich die Schlote über sämmtliche Wiesen, wie die Zweige eines Flußsystems. Die Schlote sind die Kinder der Ebbe und der Fluth. Zur Fluthzeit sind sie bis oben an den Rand voll Wasser; während der Ebbe laufen sie stellenweise ganz aus. Jede neue Fluth erweitert sie, und drückt die Risse nach und nach tiefer in den Boden hinein. So setzt das Meer sein Zerstörungswerk gegen die Halligen unaufhörlich von zwei Seiten fort. Während die Wellen die Ufer von außen benagen, und sie stückweis abbröckeln, höhlt es auch von unten den Boden fortwährend aus, ihn mit Hunderten von Schlotarmen umfassend. Heute wehte auf diesen Wiesen, welche der fortwährenden Zerstörung geweiht sind, eine warme Sommerluft. Aber im Herbst und Winter streichen beständig die Meeresstürme darüber hin, und täglich bedeckt sie zweimal die salzige Woge. Und doch lieben die armen Halligbewohner ihr trauriges, ödes Vaterland, wie der schweizerische Hirt seine schimmernden Schneefelder und seine eisstarrenden Gletscher, wie der Araber seine sandige Wüste und wie der Kirgise seine öde Steppe. In den Meeren Westindiens, an den Goldküsten von Guinea, an den Inseln des atlantischen Oceans, dessen Wellen er auf englischen und Hamburger Schiffen als Matrose oder als Steuermann durchfährt, überall, in den Palmenwäldern und in den Lorbeerhainen, im Duft der Lotosblumen des Ganges und an den orangengeschmückten Gestaden des mittelländischen Meeres fühlt sein Herz die schmerzliche Sehnsucht des Heimwehs; und das Heimweh führt ihn nach Jahren zurück nach seinem vom salzigen Seewasser triefenden Wohnsitz, um wieder in seinem ärmlichen Wurtdorfe zu wohnen und von Neuem den Kampf mit den mitleidslosen Wogen zu beginnen, bis eine neue, wilde Sturmnacht ihn in sein nasses Grab hinunterreißt. Was ist der Grund dieses eigenthümlichen Heimwehs? Niemand hat es bis jetzt ergründet. Es ist eins von den Geheimnissen des Menschenherzens, eins jener Räthsel, welche kein Psychologe jemals lösen wird. Auch der Zigeuner sehnt sich aus den goldgeschmückten Gemächern des Palastes nach seiner ärmlichen Hütte auf der windumrauschten Haide. Ich war nie im Stande, über den Grönländer zu lachen, der, als er in Kopenhagen am Strande stand und traurig auf das Meer blickte, wie die Wellen einen Seehund an’s Land spülten, über den Leichnam des Thieres herstürzte, es umarmte und in Thränen ausbrechend die Worte rief: „O, mein theures Vaterland!“

Die Halligmänner und Halligfrauen von Oland waren mit dem Einbringen des Heus auf einer nahe am Wurtdorf belegenen Wiese vollauf beschäftigt. Es ging dabei ganz still und ruhig zu, geschäftig rannten sie, die Heubündel in große weiße Laken gepackt auf den Köpfen, nach dem Wurtdorfe hinauf, um eiligen Laufes zurückzukommen und das Geschäft zu wiederholen. Wir hörten kein Gelächter, kein Singen, kein Gespräch; schweigend wurde die Sache abgemacht. Nur die eilig nach dem Dorfe und rückwärts trippelnden Füße zeigten an, wie wichtig hier die Zeit sei. Es schien ein warmer Tag zu werden, und im Westen thürmten sich einige verdächtige Wolkenberge auf, ein Zeichen, daß es heute noch eine Springfluth geben und das Meer über seine Ufer steigen könne. Deshalb waren die Halligbewohner so eilig in der Arbeit. Eine einzige Springfluth konnte sie um die Ernte eines Jahres bringen. „Der blanke Hans“, wie man hier das Meer nennt, ist ebenso listig, wie gewaltthätig. Deshalb besitzt man in jedem Hause eine Fluthtabelle, auf der für jeden Tag des Jahres die Stunde der Fluth und der Ebbe, sowie die außergewöhnlichen Springfluthen bezeichnet sind. Fluth und Ebbe, Wetter und Springfluthen sind hier die bewegenden Kräfte, um die Jahr aus Jahr ein sich die Beschäftigung und die Eintheilung der Zeit der Halligbewohner dreht. Oft kommt die Springfluth um Mitternacht; dann steigen sie eilig aus ihren Betten, stürzen aus den Häusern halbbekleidet auf die Wiesen und entreißen das Heu den heranstürmenden Wogen; oft schleicht sie während der Predigt heran; dann steigt ein Halligmann leise auf die Kanzeltreppe, zupft den Pfarrer am Priesterrock und flüstert: „Herr Pastor, das Wasser kommt.“ Dann hört der Pfarrer mitten in der Predigt auf und eilt an der Spitze seiner Gemeinde auf die Wiese, um das Heu zu bergen, welches eine Stunde später der Raub des Wassers gewesen sein würde. Das Heu ist ja der Haupterwerb dieser Armen, welche außerdem nur von der Wolle ihrer Schafe, von dem Verkauf ihrer Lämmer und der Butter und dem Käse leben, den ihre wenigen Kühe liefern. Und deshalb waren sie auch heute so eilig, so still und so geschäftig. Wir gingen mitten durch ihre Reihen. Sie sahen frisch und gesund aus. Die Seeluft und der Seewind auf den Halligen conserviren vortrefflich. Ich habe Frauen auf den Halligen gesehen, denen ich höchstens ein Alter von vierzig Jahren gegeben hätte, obschon sie über die Mitte der Fünfzig hinaus waren. Pferde haben sie nicht, um das Heu einzufahren; deshalb müssen sie es selbst in ihre Häuser tragen. Mancher Halligbewohner hat niemals ein Pferd gesehen, wie die Einwohner von Venedig. Auf den größern Halligen werden während der Heuernte einige Pferde vom Festlande eingeführt, welche dann nach Beendigung derselben zurückgebracht werden.

[167] „Ist denn Euer Pastor zu Hause?“ fragte ich eine alte Frau, welche einige Minuten ausruhte, um nach Westen zu sehen und die Wolkenberge zu beobachten, die eine immer drohendere Gestalt anzunehmen schienen.

„Der Pastor ist im Wurtdorfe. Er muß im Pfarrhause sein; Sie wollen ihn wohl besuchen? Unser Pastor ist erst seit zwei Monaten auf der Hallig. Er war früher auf Silt. Da haben die Dänen ihn hierher geschickt; er ist ein großer Deutscher.“

„Er ist ein großer Deutscher,“ wiederholte mein Freund. „Sehen Sie, nun sind wir auf einmal im Klaren, weshalb der Pastor Müller nach Oland verbannt ist. Oland ist das Cayenne für die Deutschen auf den friesischen Inseln.“

Und dann erzählte uns die alte Frau, daß sie noch nie auf dem Festlande gewesen, daß sie noch niemals einen Berg, nie ein Pferd, nie einen Fluß oder einen Baum gesehen habe. Die alte Frau sprach das Hochdeutsch recht rein und gut. Plattdeutsch verstand hier Niemand. Das Hochdeutsche ist die Sprache des Predigers und der Bibel. Die gewöhnliche Sprache ist das Friesische. Auf den kleinen Inseln, welche an der schleswigschen Westküste wie Brocken im unendlichen Weltmeere schwimmen, hat sich die friesische Nationalität am reinsten bewahrt. So fand ich es auch in den schleswigschen Marschen. In den Marschen an der Elbe, an der Weser, im Bremischen und Oldenburgischen giebt es dagegen nur wenige Striche, wo Friesisch gesprochen wird. Dort haben die Friesen Plattdeutsch gelernt, was hier Niemand verstand.

In Gesellschaft der Halligbewohner, welche ihre Arbeit beendigt und das Heu geborgen hatten, gingen wir nun in das Wurtdorf. Ein aus einem Baumstamme bestehender Steg führte über den letzten, breiten Schlot, welcher von dem einen Ende der Insel zum andern reichte, und durch den die Wellen des Meeres lustig hindurchplätscherten.

Ich muß jetzt für einige Momente meine Darstellung unterbrechen, um das Wurtdorf zu beschreiben. Ueberall an der Nordsee findet man Wurtdörfer; sie hängen mit dem Leben am Meere eng zusammen, und haben viel Sonderbares und Eigenthümliches. Ich erwähnte, daß die Halligen, aus der Ferne gesehen, schmalen Streifen Landes gleichen, welche auf dem Meere zu schwimmen scheinen, und über deren Flächen sich Burgen und Vesten erheben. Die Burgen und die Vesten sind die hochgelegenen Wurtdörfer. Die Wurten sind künstlich angelegte, längliche Hügel, 20, 30, 40 Fuß hoch. Die Höhe der Hallige ist die mittlere Höhe der Meeresfluthen. Bei jeder Fluth überströmt das Meer die ganze Insel, und nur die Wurt ragt mit ihren Häusern und mit ihrem Kirchthurm über die Wasserfläche hervor. Deshalb giebt es auch auf [168] den Halligen keine Aecker. Zwei Mal an jedem Tage würden die salzigen Wellen diese Aecker zerstören und umwühlen. Um sich vor diesen Fluthen zu schützen, bauen die Halligbewohner ihre Wurten dicht an einander. Eine Wurt schützt und stützt die andere; Pfähle und eiserne Klammern halten die Hügel zusammen. Die Kirche hat eine besondere Wurt, auf der auch gewöhnlich das Pfarrhaus steht. Aber auch diese besondere Wurt ist mit den andern Wurten, auf denen die Häuser stehen, fest verbunden. In der Regel kosten die Wurten weit mehr Geld, als sämmtliche Gebäude, welche sich auf denselben befinden und dicht aneinander geschaart stehen. Der Raum ist auf den Halligen kostbar; er ist mit großer Mühe gewonnen. Deshalb muß man sparsam mit demselben umgehen. Bei jedem Hause sind einige kleine Räume durch Pfahl- oder Gitterwerk eingezäunt, ein kleiner Garten, in dem einige Stachelbeerbüsche, einige Kohlpflanzen und einige Rüben wachsen, und ein oder zwei Räume für den Viehbestand des Hauses, für ein halbes Dutzend Schafe oder Schweine; den größten und schönsten Garten hat regelmäßig das Pfarrhaus; neben den Stachelbeerbüschen, zwischen den Kohlpflanzen und Rüben blühen dort zuweilen Rosen und Lilien. Die größte Noth auf den Halligen besteht aber darin, daß es keine Süßwasserquellen giebt. Die Halligbewohner leiden eine doppelte Wassersnoth. Während sie immerfort mit den salzigen Wellen des Meeres auf ihren Wiesen kämpfen, müssen sie oft Durst leiden, weil sie kein Trinkwasser haben. Statt rieselnder Bäche hat die Natur sie mit salzigen Meereswogen beschenkt, statt des Brodes, das auf den Feldern und Marschen des Festlandes wächst, hat sie ihnen Heu gegeben. So müssen sie sich statt des Trinkwassers mit dem Regen begnügen, welchen ihnen der Himmel herabsendet, und wenn es Wochen lang nicht regnet, oder wenn die salzigen Meereswellen in ihre Cisternen strömen, dann müssen sie durch Sturm und Wellen nach dem Festlande segeln und sich dort Trinkwasser erbitten, um nicht vor Durst zu sterben.

Wohl hatte der alte Plinius Recht, wenn er von der „Misera gens“ sprach, welche an der Nordsee in ihren Wurtdörfern wohne. Deshalb hat jedes Haus seine Cisterne, in der das Regenwasser vorsichtig gesammelt und aufbewahrt wird, wie ein kostbarer Schatz. Bei meinem ersten Besuche auf einer Hallige bemerkte ich neben den Häusern im Boden eine Oeffnung, welche einen Durchschnitt von ungefähr vier Zoll hatte und mit einem Steine oder auch mit einem runden Holze zugedeckt war. Wozu diese Röhre diene, konnte ich nicht errathen. Da nahm ein Halligmann den Stein von der Oeffnung, zeigte mir, daß das Loch sich nach unten erweitere, und daß dieser Raum zum Auffangen von Regenwasser bestimmt sei, welches durch Röhren und Rinnen aus der nächsten Umgebung hineingeleget werde. Diese Art von Cisterne nenne man „Soth“, sagte er mir, und das auf diese Weise gesammelte Regenwasser diene als Trinkwasser für die in dem Wurtdorfe wohnenden Menschen. Ich war erstaunt. „Und Euer Vieh, Eure Kühe, Schafe und Schweine, wie tränkt Ihr denn diese?“ fragte ich. „Für den Viehbestand ist doch das im „Soth“ enthaltene Trinkwasser nicht ausreichend?“

Und dann führte er mich zwischen die auf dem höchsten Punkt des Wurtdorfes liegenden Häuser und zeigte mir mehrere tiefe, mit Rasen ausgelegte Bassins, in denen sich das Regenwasser ebenfalls sammele, wie in den Cisternen.

„Aber wenn nun die Wellen des Meeres über das ganze Dorf hinwegströmen, wenn die Fluth bis in Eure Häuser und Stuben steigt, dann wird doch das in den Cisternen befindliche Trinkwasser so versalzen, daß es nicht mehr zu trinken ist?“

„So ist es. Ja, wir haben viel Noth und Sorge mit dem blanken Hans.“

Ich dachte unwillkürlich an die Gefangenen, welche zu einer Freiheitsstrafe, geschärft durch Wasser und Brod, verurtheilt sind, und mußte mir sagen, daß eine solche Gefängnißstrafe bei Wasser und Brod oft dem Leben auf einer Hallige vorzuziehen sei.

Das Wurtdorf auf Oland glich in Allem den Wurtdörfern, welche ich auf den andern Halligen gesehen hatte. Nur war es noch ärmlicher, enger und kleiner. Dreizehn Häuser standen eng an einander gedrängt und umschlossen einen kleinen Raum, den mittlern Raum der Wurt, durch den zwei Stege hindurch führten. Zwischen den ärmlich aussehenden, aber sehr reinlich gehaltenen Häusern lagen kleine, nur einige Fuß breite Gärten, welche kaum einen solchen Namen verdienten, die mit dünnem, hölzernem Pfahlwerk eingezäunten Ställe für das Vieh und drei mit Rasen ausgesetzte Regenwasserbassins oder „Fadings“, wie man hier sagte. Zwischen mehreren Häusern standen hohe, massive Heuschober, fast so hoch, wie der Kirchthurm, der neben dem Pfarrhause die eine Ecke des Wurtdorfes bildete. Diese Heuschober waren mit einem Netz von Stricken umgarnt, an denen schwere Steine befestigt waren, welche das Heu fest aufeinander preßten. Die Heuschober sind die festesten Punkte auf der Hallige. Das vom Meerwasser getränkte Heu preßt sich durch den Druck der Steine und der Stricke und durch die eigene Schwere eng und fest aneinander. Mitten zwischen den brandenden und schäumenden Meereswellen hält ein solcher Heuschober unerschütterlich Stand. Das Gebälk und die Mauern der Häuser reißen die Wogen auseinander; dann besteigen die Halligmänner mit ihren Frauen und Kindern die Gipfel ihrer Heuschober, und erwarten dort das Zurücktreten der Fluth – oder den Tod.

Wir gingen nun zurück zum Pfarrhause, um den „großen deutschen Mann“, wie die bei der Heuernte beschäftigten Halligfrauen ihn nannten, zu sehen, der von den Dänen auf dies wüste Eiland geschickt war, um in diesem nordischen Cayenne des dänischen Regiments in Schleswig-Holstein seine Charakterfestigkeit, seine Consequenz und seine erhabenen Tugenden zu büßen. Er ist ein Märtyrer für die Freiheit und nationale Unabhängigkeit Nordfrieslands in dem beginnenden Kampfe mit dem Dänenthum.

Auf dem kleinen Flur des Hauses war Niemand zu sehen. Wir klopften an die Stubenthüre, welche in die Wohnung führte, und traten ein. Ein großer, hochgewachsener Mann mit gelbblondem Haar, das Haupt etwas gebückt, kam uns entgegen. Sein Gesicht hatte scharfe, markirte Züge, seine blauen Augen blickten mild und gütig, auf der hohen Stirn thronten Geist und Verstand. Ich überreichte ihm die Karte eines Freundes vom Festlande, dessen Name in ganz Schleswig mit Hochachtung und Verehrung genannt wird, und mit der Tournure eines Mannes von Welt hieß er uns willkommen und ersuchte uns, Platz zu nehmen. „Die Sonne und der Sommer“, sagte er lächelnd, „haben Oland heute in den Festanzug gekleidet, aber die arme Hallige trägt diesen Festanzug selten, bald setzt sie die Nebelkappe auf und zieht den nassen Regenrock an. Wir bringen deshalb schnell die Heuernte in Sicherheit.“

„Schon vor einigen Tagen sah ich Oland aus der Ferne in Nebelkappe und Regenrock, Herr Pastor,“ erwiderte ich lachend; „ich war unterwegs zu Ihnen, aber Sturm und Wetter trieben meinen kleinen Schooner an die Küste von Föhr zurück. Stand das Wasser hier hoch bei Ihnen?“

„Die Springfluth ging über die ganze Insel und stieg bis zur Höhe der Wurt, auf der die Häuser stehen. Es sah gefährlicher aus, als es war. Sie wissen wohl, die gefährlichen Fluthen und die Stürme kommen erst im November. Aber meine arme Frau und meine Kinder, welche erst seit drei Wochen auf Oland sind, fürchteten sich sehr. Wir sahen die Springfluth zum ersten Male so in der Nähe.“

„Und wie lange sind Sie auf Oland, Herr Pastor?“

„Erst seit drei Monaten. Meine Frau blieb zwei Monate länger in Silt, um unsere Hauseinrichtung zu verringern und die Mobilien, welche wir in diesem kleinen Hause stellen konnten, herüberzuschaffen.“

Ich blickte unwillkürlich in dem Zimmer umher und warf einen Blick in die beiden anstoßenden Gemächer, deren Thüren geöffnet waren. Die Decke war recht niedrig. Wenn die hohe Gestalt des Predigers aufrecht stand, mochte zwischen seinem blondgelockten Haupte und der niedrigen Decke kaum der Raum eines Fußes sein. Die Wände sahen uns ärmlich und dürftig an. Die Mahagonymöbels bildeten mit der ärmlichen Umgebung einen sonderbaren und traurigen Contrast.

„Waren Sie lange Pfarrer auf Silt, Herr Pastor?“

„Eine lange Reihe von Jahren. Es war eine schöne und reiche Pfarre. Hier ist es anders.“

„Und darf ich Sie fragen, weshalb die dänische Regierung Sie auf dies armselige Eiland schickte, auf dessen Wiesen die Meereswellen alle Tage spazieren gehen und das die nächste große Springfluth in die Tiefe reißen kann?“

Der Märtyrer von Oland sah mich mit einem langen und traurigen Blicke an. „Die nordfriesischen Inseln kämpften bis jetzt nur mit dem Sturme und mit dem Meere,“ sagte er; „vor Kürzern hat der Kampf um ihre nationale Selbstständigkeit mit dem [169] Dänenthume begonnen. Hier wiederholt sich nur die Geschichte der vertriebenen Prediger auf den: Festlande – wenn …“

„Ja, wenn man nicht ein Renegat an der Nationalität und Freiheit seines Landes werden und in das Lager der Dänen überlaufen will,“ unterbrach ihn mein Freund; „ich weiß, auf Föhr hat man schon vollständig aufgeräumt, und die Pastoren und Beamten, welche sich nicht zur Danisirung der Insel hergeben wollten, in’s Elend gejagt. Aber man sagte mir doch“ fügte er lachend hinzu, „Sie hätten einen Fehler gemacht, Sie hätten den Danebrog einmal nicht zu rechter Zeit aufziehen lassen, oder sonst so Etwas.“

In den blauen Augen des Pastors erschien wieder jener Blick des Ernstes und der Wehmuth. „Das sind so Dinge, die man sich im Lande umher erzählt, weil man nach einem Grunde meiner Verbannung sucht und ihn nicht finden kann. Niemals habe ich einen Fehler gemacht. Ich erhielt plötzlich ein Decret der dänischen Regierung, daß ich meines Pastorats in Silt entsetzt sei und mich binnen vierzehn Tagen hierher zu begeben habe. In dem Decret war gar kein Grund für ein solches Verfahren angegeben. Mir ist der Grund aber recht wohl bekannt. Auch kennt ihn auf Silt Jedermann. Ich that, was meine Pflicht war. Ich widersetzte mich den Danisirungsversuchen in der Communalverwaltung, in der Kirche und in der Schule. Da schickte man mich fort, um mich zu bestrafen und um meine Wirksamkeit zu brechen.“

„Ja, ja,“ rief mein Freund lachend, „das ist der Mythus, der im Laude umhergeht. Als meine Regierung mich absetzte, da flüsterten sich die Leute in die Ohren, ich sei nicht streng genug gegen die Wilddiebe verfahren.“

„Und Ihre Pfarre, Herr Pastor? Nun, ich kann mir das Weitere denken. Ein Däne hat sie bekommen, der mit Minister Monrad in Kopenhagen in dasselbe Horn bläst. Mein Freund kennt die dänischen Prediger auf dem Festlande, welche die Stellen der braven Pastoren eingenommen haben, die man in’s Elend jagte. Er hat mir wunderbare Dinge davon erzählt.“

„Der neue Pfarrer auf Silt ist ein ganz unbedeutender Mensch; er wird Alles thun, was man in Kopenhagen verlangt.“

„Ist Ihre Stelle hier schlecht auf Oland, Herr ,Pastor?“ fragte ich.

„Sie ist mit einem Gehalt von einigen hundert Thalern dotirt,“ erwiderte er lächelnd. „Doch darauf kommt es nicht an. Aber meine Frau und meine Kinder leben fortwährend in einer entsetzlichen Angst vor diesen Fluthen, welche täglich die Insel überströmen. Noch ist das ja nicht gefährlich. Aber der Herbst und der Winter werden mit ihren Nordweststürmen und mit den großen Springfluthen kommen. Sie wissen ja, die ganze Nordseeinselkette ist dem allmählichen Untergänge geweiht. Und da wird Oland zuerst in die Tiefe des Meeres hinabgerissen. Alle fünfzig Jahre kehren die großen Springfluthen wieder. Bald ist das halbe Jahrhundert wieder um. Olands Tage sind gezählt, und mit ihnen die unsrigen. Vielleicht schon eine Decembernacht im kommenden Winter! Doch, wie Gott der Herr es will! Aber meine Frau, meine armen Kinder werden gleich von der Wiese kommen. Sprechen wir dann nicht mehr davon.“

„Aber weshalb sind Sie nicht auf das Festland gegangen, Herr Pastor? warum kamen Sie nicht nach Deutschland? Es haben viele von den vertriebenen schleswigschen Predigern bei uns Brod und Arbeit gefunden.“

Da erhob sich der Prediger von seinem Sessel. Hoch richtete er sich auf. Seine blonden Locken berührten beinahe die Decke des niedrigen, ärmlichen Gemachs. Seine blauen Augen strahlten; die harten Züge seines charakteristischen Gesichts überflog ein Schimmer hoher, geistiger Verklärung. Er sah us, wie einer jener Apostel des Christenthums, welche erhobenen Hauptes und mit blitzenden Augen im Colosseum zu Rom den Sprung des Löwen erwarteten, welcher bereits an dem Eisengitter seines Käfigs tobte.

„Warum nicht?“ sagte er mit fester und sonorer Stimme. „Ich besitze hinreichendes Talent und genügende Kenntnisse, um in Deutschland den Lebensunterhalt für mich und meine Familie erwerben zu können. Aber ein braver Soldat kämpft auf seinem Posten weiter und stirbt – selbst wenn der Posten ein Verlorner ist. Ich bleibe hier und, wenn es sein muß, sterbe ich mit Oland in den Wellen.“

Stumm blickten wir den Mann an. Wieder dachte ich an die Märtyrer des Christenthums auf dem blutigen Sande des Colosseums. Die Nachmittagssonne blickte durch die kleinen Fenster in die ärmliche Stube, und wob um die blonden Locken des Priesters eine strahlende Aureole. Mein leidenschaftlicher Freund sprang auf, reichte ihm die Hand und erging sich in heftigen Ausrufen gegen die hirnverrückte Partei in Kopenhagen, welche in wirklich toller Weise im Lande regiere, und gegen Deutschland, welches sich eine so tolle Wirthschaft auf eigenem Grund und Boden von einem halben Dutzend verrückter Schulmeister gefallen lasse. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild eines andern Mannes, der kürzlich in Schleswig dieselben Worte zu mir sprach: „Das Bestreben der Dänen geht seit zehn Jahren dahin, die Intelligenz aus dem Lande zu treiben; denn sie wissen, daß der Widerstand gegen ihre Danisirungsversuche in der Intelligenz sich verkörpert. Deshalb verbannten sie auf einmal allein in der Stadt Schleswig 68 den ersten und intelligentesten Ständen angehörige Familien. Mit dem kleinen Bürger und dem Bauer, denken sie, wollen wir allein schon fertig werden. Darum ist es Ehrensache, hier zu bleiben, und so lange im Kampfe mit diesem Gesindel von Beamten und Polizisten auszuhalten, wie es irgend angeht. Auch ich verlasse deshalb das Land nicht.“ So sprach jener Mann in Schleswig. Sein Haar ist grau geworden, das Gesindel hat sein Vermögen und seine ganze bürgerliche Stellung ruinirt. Vielleicht hat kein Mensch in Schleswig so viel von den fortwährend angewandten kleinlichen Tracasserien, von den feigen und heimtückischen Streichen, in denen die dänischen Polizisten und Beamten so zähe und so unerschöpflich sind, zu leiden gehabt, wie dieser Mann. Aber standhaft und muthig hat er ausgehalten auf seinem Posten im Kämpfe mit dem Dänenthnm. Dahier wird man in der traurigen Geschichte des unglücklichen Landes seinen Namen immer mit Hochachtung und Verehrung nennen. An diesen Mann dachte ich, als die Nachmittagssonne durch die kleinen Fenster blickte und um die blonden Locken des Pastors die goldene Aureole zeichnete.

Da öffnete sich die Thüre, und herein trat die Gattin des Pastors. Ihr voran stürzten die Kinder, zwei hübsche blonde Mädchen und ein kräftiger Knabe, sämmtlich in dem Alter von zehn bis fünfzehn Jahren. Sie sprangen auf den Vater zu, kletterten an ihm hinauf und umarmten und küßten ihn. Der Pastor stellte uns seiner Gemahlin vor. Sie gehörte einer der vornehmsten dänischen Familien an, und ich sprach mit ihr von ihrer Cousine, deren Verlobung mit einem unserer berühmtesten Aerzte ich kürzlich gelesen hatte. Dann kam das Gespräch, wie von selbst und wie immer in Schleswig, auf die Zustände oder, wie man dort zu sagen pflegt, auf „das Unglück im Lande“. Jedes lebendige Wesen von den windumrauschten Inseln der Nordsee bis zu den mit Eichen- und Buchenwäldern gekrönten Küsten des Ostens sprach mit mir von „dem Unglück im Lande“, der Kutscher, der mich in dem hochrädrigen holsteiner Wagen fuhr, der Schiffer, der mich durch den „Schlick“ auf seinen Schultern aus dem leichten Schooner auf die weißen Dünen von Ameram trug, der Edelmann im mit Marmor und Bildwerk geschmückten Saale seines alterthümlichen Schlosses in Angeln, der Bauer, dem ich auf der Landstraße begegnete, der Flensburger Holzhändler, mit dem ich auf das Deck des Dampfschiffes stieg, um nach Kopenhagen zu fahren, die Kinder, wenn sie aus der Schule kamen und Unterricht in der dänischen Sprache gehabt hatten, das Hausmädchen, welches mir Morgens im Wirthshause den Kaffee brachte. Ich konnte es zuweilen nicht mehr aushalten, und als zwei junge Damen aus Kiel mich während eines Concerts unter den schattigen Buchen von Düsternbrock auch vom Unglück im Lande unterhielten, da entfloh ich auf drei Tage nach Hamburg – um dann dieselbe Unterhaltung in dem Staatszimmer eines Hofbesitzers in Angeln auf’s Neue zu beginnen. Das Leid ist zu groß in Schleswig. Die Presse, welche übrigens auch nur aus einigen unbedeutenden Wochenblättern besteht, hat einen Knebel im Munde, der ihr jedes Wort unmöglich macht. Der Unglückliche findet einen Trost darin, wenn er sein Leid klagen kann. So sprach auch die Frau des Märtyrers von Oland von dem Unglück im Lande.

Am meisten fürchtete sie sich vor dem Aufenthalt auf der armseligen Insel während der stürmischen Wintermonate. Sie war erst seit wenigen Wochen mit den Kindern auf der Hallig. Der allerdings sehr starke Contrast mit Silt war ihr noch zu neu. Silt ist durch mächtige Dünen vor den Wellen des Meeres geschützt, und ist eine große, mehrere Meilen lange Insel. Um den ganzen Strand von Oland kann man in einer starken Viertelstunde gehen, und bei einer heftigen Fluth bespülen die Wellen die Schwelle [170] des Pfarrhauses. Die hohe Springfluth, welche die Wellen der Nordsee vor einigen Tagen über die ganze Insel hinweggeführt hatte, war der armen Frau eine ganz neue und abschreckende Erscheinung. Entsetzen blickte aus ihren Augen und aus den Augen der Kinder, als sie uns erzählte, wie das Meer immer und immer höher gestiegen sei, wie nach und nach die Wellen die ganze Fläche der Insel in eine schäumende See verwandelt haben, wie mit dem dunkeln Schatten des Abends die Wasser wiederum gewachsen seien, wie gegen Mitternacht der Sturm geheult und getobt und die ganze Wurt erschüttert habe, auf der das Pfarrhaus und die Kirche steht.

Dann sei der blanke Hans über die Wurt gestiegen und habe mit seinem nassen Finger an die Schwelle ihres Hauses geklopft. Nun wäre sie mit ihren Kindern auf das Dach des Hauses gestiegen. Die Kinder hätten geschrieen vor Angst und vor Entsetzen. Und alle die entsetzlichen Bilder, die schrecklichen Nächte mit den untergegangenen Dörfern, mit den im Mondlichte schwimmenden Leichen in den schäumenden Wogen, von denen ihr die alten Leute auf Silt so oft erzählt hätten in den langen Winterabenden, seien wieder aufgestiegen in ihrer Erinnerung; wie Gespenster hätten die Leichen sie angeblickt mit den weit geöffneten Augen und den bleichen Todtengesichtern, und die langen Haare hätten getrieft von salzigem Meerwasser, und seien durchflochten gewesen mit dem grünen Seetang und mit weißen Wasserblumen, und dann hätte sie rund um Oland alle die versunkenen Friesendörfer mit ihren weißen Häusern und gothischen Thürmen, mit den gelben Kornfeldern und den grünen baumlosen Wiesen aus den Fluthen steigen sehen – und dann sei ihr vor Entsetzen das Bewußtsein geschwunden.

„Es war eine schreckliche Nacht,“ rief sie, „und diese Nächte werden im Winter häufig wiederkehren, bis – –

Sie vollendete den Satz nicht. Wir schwiegen. Ich wußte, was sie sagen wollte, und was sie nicht auszusprechen wagte.

„Und ist es nicht grausam,“ begann sie von Neuem, „es ist kein Arzt auf der Insel, und während des Winters sind wir Wochen lang ganz abgesperrt vom Festlande; wenn die Kinder krank werden, sie werden sterben ohne jede Hülfe. Und wenn die salzigen Wellen in unsere Cisternen strömen, dann haben wir kein Trinkwasser. Kein Brod und kein Wasser! Es ist grausam.“

Mein Herz war voll von Wehmuth und Schmerz. Ich schwieg. Worte konnten diese Schreckbilder der Phantasie nicht verscheuchen, welche vielleicht in der nächsten Nacht wieder aus der Tiefe des Meeres hervorstiegen und auf den Stürmen und Wolken heranzogen.

Ich kenne an der orangengeschmückten Küste Siciliens nicht weit von Trapani eine ähnliche Insel, wo der König Bomba die politischen Gefangenen verwahrte, welche ihm als seiner Regierung besonders gefährlich erschienen. Es ist die Insel Favignana, auf der sich der berüchtigte Bagno der heiligen Catharina befindet. In diesem Bagno war bis zum 4. Juni 1860, wo die bourbonischen Truppen den Soldaten Garibaldi’s Trapani überließen, der junge Baron Nicotera eingesperrt, der Freund Carlo Pisacane’s, Herzogs von San Giovanni, welcher vor mehreren Jahren in einem Aufstande in Calabrien den Heldentod für Italien starb. Nicotera war durch die Kriegsgerichte in Salerno zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurtheilt und in den Bagno von Favignana eingeschlossen worden. Während der ersten sechs Monate befand er sich in einem der unterirdischen Gefängnisse. Für einige Sous Brod bildete seine tägliche Nahrung. Alle Tage mußte in den Regentagen das in das Gefängniß eingedrungene Regenwasser ausgeschöpft werden, wenn der Gefangene nicht in seinem Kerker ertrinken sollte. Es befanden sich oft an hundert Eimer Wasser in demselben. Der Gefangene des grausamen und blutdürstigen Königs beider Sicilien brauchte aber weder vor dem Hungertode, noch vor dem Tode durch Ertrinken zu zittern. Er wußte, daß ihm regelmäßig Brod und Trinkwasser, um sein Leben zu erhalten, gereicht wurden; er wußte, daß seine Kerkermeister das Regenwasser ausschöpften, das zuweilen einige Fuß hoch an den Wänden seines Gefängnisses hinanstieg.

Und der Märtyrer von Oland? Er weiß nicht, ob in den kalten und stürmischen Nächten des Monat Januar nicht die Wogen der Nordsee bis zum Giebel seines einsamen Hauses hinansteigen und ihn und seine Frau und seine Kinder in die Tiefe des Meeres hinabreißen; er weiß nicht, ob ihm nicht Tage lang das Brod und das Trinkwasser fehlen wird; er weiß nicht, in welcher Sturmnacht die letzte Stunde für Oland vom Thurme seiner einsamen Kirche schlägt

G. Rasch