Textdaten
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Autor: Victor Blüthgen
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Titel: Weil die Amsel pfiff
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 215–219
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[215]

Weil die Amsel pfiff.

Eine Ostergeschichte von Victor Blüthgen. Mit Abbildungen von Fritz Bergen.


„Nun, mein Sohn, wenn Du denn satt bist, so wollen wir uns in aller Gemüthsruhe an das Feuerchen da setzen und bei einem guten Tropfen von alten und neuen Dingen schwatzen. – Franz, hol’ ein paar Flaschen 1875er Rauenthaler herauf, Berg-Auslese mit Goldkopf, und dann räum’ ab! – Du hast ja einigen Weinverstand, Heinz, oder besser gesagt: eine Weinzunge ... denn der Verstand kommt erst mit den Jahren und der Erfahrung; beim Wein geht Probiren über Studieren, oder vielmehr, es läuft beides auf dasselbe hinaus. – Was ist das für ein närrisches Frühjahr heuer! Gestern zwölf Grad Wärme, heute wieder Ofen- und Kaminfeuer. Es giebt weiße Ostern morgen, paß auf!“

Der Onkel ist ein kleiner fetter Herr; er nimmt sein bequemes Lodenjackett, das er als Hausrock trägt, über der grauen Plüschweste zusammen und steuert von dem Tisch mit den Ueberresten des Abendessens zu dem lodernden Kaminfeuer hinüber. Dort steht ein niedriger Tisch, darauf eine offene Cigarrenkiste, daneben zwei niedrige Lehnstühle. Er wirft ein paar Scheite aus [216] dem Holzkasten in das Feuer, stochert mit einer Zange durch die glühende Masse und setzt sich dann gemächlich, indem er sich und den Neffen mit einer Cigarre versorgt.

Das alles thut er mit einer gewissen behaglichen Sicherheit, die vergnüglich wirkt. Er ist ein leidlich wohlhabender Junggesell in den Fünfzigen, der sein Delikateßwarengeschäft bereits seit zehn Jahren verkauft hat, sich seinen Diener hält und das Leben anständig genießt – vorwiegend nach seiner eß- und trinkbaren Seite hin. Als Vormund seines Neffen Heinz – es gab da nicht viel zu verwalten – hat er durch einigen Zuschuß zu den Kosten des Studiums der Familie ein gelehrtes Mitglied gewonnen, was ihn mit Genugthuung erfüllt. Heinz ist ein tüchtiger Philologe; im Herbst war seine Studienzeit zu Ende, er hat sich keck sofort zum Staatsexamen gemeldet, hat den Winter auswärts, bei der Mutter, mit den Vorarbeiten dafür zugebracht – nun, seit ein paar Tagen ist das Examen bestanden, seit heute ist Heinz sogar Doktor.

Die Familienehre steht in leuchtendem Glanze!

Heinz hat seine Cigarre angezündet und prüft sie auf ihren Gehalt. Der Onkel betrachtet den hübschen brünetten Jungen mit dem schwarzen Schnurrbärtchen und der kurzen Quartschmarre auf der Wange mit versteckter Zärtlichkeit, indeß er sich selber ein paar Züge Rauch langsam gegen die Nase bläst. Er ist der richtige kleine Rentier, wie er so zurückgelehnt liegt, die Hände über dem Leibe gefaltet, die schwarzseidene Hausmütze mit langer Quaste auf dem Kopf, drunter im Flammenreflex glänzend das volle Antlitz mit kurzem Backenbärtchen …

„Also – Junge – mit dem Doktor ging das glatt ab?“

„Natürlich. Das ist nur ein Spaß nach dem Staatsexamen.“

„Na na! Nun bin ich doch neugierig, wo Du ankommst. Da Du die Fakultas für die oberen Klassen in Deinen Fächern hast und Oberlehrer werden kannst, so wird Dir’s doch nicht fehlen. Hast Dich großartig gemacht, Heinz; in den ersten Semestern warst Du ein bißchen ein Windhund ... na na, so ein ganz klein bißchen meine ich ... weiß schon, gerade so viel wie die meisten Studenten. Ich habe Dich ja auch nicht einschränken wollen; das siehst Du daraus, daß ich Dich nicht zu mir nahm, unter väterliche Aufsicht, sondern Dich Deine eigene Bude miethen ließ.“

Heinz lachte gutmüthig. „Hand aufs Herz, Onkel: wen hast Du da nicht einschränken wollen.“

„Was, Junge, Du willst Deinem braven Onkel aufs Gewissen knieen ... Franz, die Gläser her! Na, prosit, Herr Doktor, und recht bald einen netten Anfangsposten ...“

Die Römer trafen einander, dann tranken Onkel und Neffe bedächtig; der Feuerschein flackerte vom knisternden Kamin her über die Trinker. Drüben, unter der Deckenlampe, mühte sich Franz mit seinem Kellnergesicht, so geräuschlos wie schnell zusammenzupacken. In wenig Minuten war alles in einem Korbe untergebracht, das Tischtuch mit einer Decke vertauscht, der Onkel schielte wie erwartungsvoll hinüber.

„So! In einer halben Stunde bring’ Cognac, und nun verschwinde wie die Wurst im Spinde! – Ich wollte den Menschen erst nicht behalten, wie Du Dich erinnern wirst – aber er hat sich gemacht; bei solchem Volk kommt viel auf die richtige Erziehung an. Wenn bloß die Liebschaften nicht wären! Kaum hat man so einen Geist, wie man ihn haben will, dann geht er einem durch und heirathet. Apropos – Liebschaft: was die Deine betrifft, die ist doch nun hoffentlich aus? Mit dem kleinen Musikantenfräulein, wie? Wenn da noch etwas hängt … ich kann Dir bloß väterlich rathen: gieb sie auf!“

Heinz sah zur Seite, in die Kaminflammen, in welche der sausende Frühlingswind eben mit starkem Anlauf stürmte. War es davon, daß seine Wange sich tiefer färbte? Die kleine Quartnarbe glühte. Das rasselte, brummte und knisterte eine Weile, wahrend die beiden Männer schwiegen.

„Ich bin noch nicht bei ihr gewesen, seit ich wieder hier in der Stadt bin,“ sagte Heinz endlich langsam. „Ich habe ihr sogar während des ganzen Winters nicht geschrieben.“

„Auch zu Neujahr nicht?“

„Auch zu Neujahr nicht.“

„Hast ihr auch nichts zu Weihnachten geschickt?“

„Auch das nicht.“

„Famos, Junge! So gefällst Du mir. Prosit! Die Sache hat mir ordentlich auf dem Herzen gelegen. Verlaß Dich darauf: die Kleine wird sich trösten, vielmehr schon getröstet haben. Alte Geschichte, die Studentenliebschaften: er jung, sie jung; er grün, sie grün – zu Anfang bildet sich das beides ein, es muß geheirathet sein, und im Grunde ist die ganze Liebschaft nichts als sozusagen ein erster Versuch. Man ist auf die Liebe eingerichtet in den Jahren, hat das Gefühl: irgendwo mußt Du hin damit – und die erste beste passende oder unpassende Gelegenheit wird benutzt, um das Herz unterzubringen. Die jungen Männer sind ja meist die vernünftigeren, sind sich schon nach einem halben Jahre klar, daß das geliebte Wesen doch eigentlich keine richtige Frau für sie abgiebt, und wer da ein bißchen Schneid’ hat, macht zeitig ein Ende. Ueber das Ach und Weh kommen dann schließlich auch die jungen Dinger fort, und nach zwei, drei Jahren haben sie den Rechten und lassen sich einsegnen. Das giebt dann so eine schöne und rührende Erinnerung an den Ungetreuen, und wenn sie ihn zufällig einmal wiedersehen, werden sie noch nach fünfundzwanzig Jahren roth. Na – das ist so, wie es sein soll. Aber es fehlt auch nicht an überzarten Jünglingen, die möchten los und können nicht recht ... eines Tages sind sie ja doch in Amt und Würden und können allenfalls eine Frau ernähren, die nichts hat ... das Fräulein ist wohl inzwischen ein bißchen altbacken geworden ...“

„Das wenigstens ist die Edith sicher nicht geworden in dem halben Jahre ...“

Der Onkel zieht die Stirn hoch und zwinkert. „Du, so ganz kuriert scheinst Du mir doch nicht zu sein.“

„Und wenn ich’s dennoch wäre?“ Ein Schatten fliegt über das Gesicht des jungen Doktors, indeß er ein Stückchen Asche von seiner Cigarre abstreift und in den Kamin schleudert.

„Vernünftig wär’s und mir um Deinetwillen lieb, Junge. Es fallen nicht umsonst neun Zehntel Blüthen taub vom Kirschbaum. Ich habe recht, glaube mir! Eins will die Jugend nicht kapieren, was einem, je älter man wird, desto deutlicher einleuchtet: daß nämlich lieben und heirathen zwei grundverschiedene Dinge sind. Was ist man in der Jugend? Ein junger Mensch, das ist alles. Und ein liebebedürftiger dazu. Man hat weder einen ausgebildeten Geschmack – nur die reine Natursympathie führt da zwei zusammen – noch ein Gefühl für das, was man einer künftigen Stellung schuldig ist. Ihr junges Volk solltet nur wissen, wie wählerisch Ihr nach zehn Jahren, nach zwanzig Jahren sein würdet!“

„Ja, Du bist so wählerisch geworden, Onkelchen, daß Du zuletzt Junggeselle geblieben bist,“ lächelt der Neffe.

„Richtig, Heinz,“ schmunzelt jener, „das stimmt, und ich raufe mir die Haare darum auch nicht aus. Aber alles mit Maß – so um die Mitte der Dreißig weiß man gerade hinlänglich, was für eine Frau man braucht ...“

„Fünfunddreißig? So lange möcht’ ich doch nicht warten!“

„Eh, das ist schließlich auch nicht nöthig. Wenn Du jetzt ein bißchen vordenkst, kannst Du immer schon so wählen, daß Du einigermaßen sicher sein darfst, es nicht zu bereuen.“

[217] Heinz seufzte. „Es bleibt Lotteriespiel, Onkel. Ich kann mich beim Rechnen verrechnen, und ich kann mit meinem bloßen Dummen-Jungen-Gefühl das große Los ziehen.“

„Da haben wir’s wieder“ – der Onkel hob in einer Art von Verzweiflung die Arme weit auseinander.

„So heirathe meinethalben Deine geliebte Edith!“

Heinz schlug langsam die Lider auf und blickte den Onkel ein paar Augenblicke steif an.

„Ich werde sie nicht heirathen, Onkel!“

„Hm – dann hast Du wohl gar irgend einen Privatgrund für Dich… Heraus mit der wilden Katz’!“

„Das allerdings; und es hat dieser Grund den Ausschlag gegeben, wenngleich Erwägungen wie die Deinigen den Hebel angesetzt haben, mich schwankend zu machen. Ich habe mir gesagt, daß nur eine dauerhafte, im tiefsten Wesen gegründete Liebe zu Edith den zureichenden Grund für mich bilden könnte, um dieses Studentenverhältniß mit einer Ehe abzuschließen. Sie ist arm, und sie ist in nichts so außergewöhnlich, daß jedermann um deswillen meine Heirath mit ihr begreiflich finden müßte. Ihr eigener Vater hat uns immer mit Mißtrauen bewacht, weil er ganz ausgesprochen überzeugt war, mit meinem Weggang von hier würde ich Edith aufgeben ...“

„Der Mann gefällt mir,“ schaltete der Onkel ein.

„Als ich von hier zur Mutter ging, war ich entschlossen, die Trennung zu einer Prüfung meiner Neigung auf ihre Echtheit zu benutzen. Ein halbes Jahr ohne jede Verbindung mit dem Mädchen sein, nichts von ihr sehen und hören ... wenn mein Herz nach Ablauf dieser Zeit mich noch zu ihr zwingen würde, ja, dann sollte mich nichts abhalten, unsere Verlobung vor aller Welt zu verkündigen. Dann wollte ich alles dransetzen, auch Dich für den Gedanken dieser Heirath zu gewinnen.“

„Gut! Dann hätte ich am Ende auch die Aussteuer für die Kleine besorgt. – Und mit der Dauerhaftigkeit Deiner Liebe war es nichts?“

Heinz zögerte. „Nein!“ sagte er endlich fest und herb.

„Hat die Kleine denn nicht ein einziges Mal schriftlich angefragt, was Dein Schweigen zu bedeuten habe? Oder hattet Ihr die Prüfung mit einander verabredet?“

„Keines von beiden. Zu Anfang quälte mich die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr, plagte mich die Erinnerung an die Vergangenheit dieser Liebe … dann wurde das alles über meinen angestrengten Studien blasser und blasser … ich hatte ein Gefühl, als ob ich eine Fieberkrankheit überstanden hätte und in der Genesung wäre. Eine gesunde Nüchternheit überkam mich, mir wurde so hell zu Muth, als wäre mir die Welt um mich herum neu geschenkt, nachdem sie mir eine Zeit lang genommen gewesen. Nur ganz vereinzelt überfiel mich eine Stunde der Sehnsucht und Reue – bald darauf war das wie weggeblasen. Und heute kann ich völlig ruhig an sie denken – das einzige, was mich noch peinlich berührt, ist die Möglichkeit, ihr zufällig zu begegnen. Ich wehre den Gedanken daran mit beiden Händen ab. Du siehst, ich habe höchst vernünftig gehandelt, und ich bin dahin gekommen, daß ich es für ein Verbrechen an dem Mädchen halten müßte, sie aufs neue an mich zu ziehen.“

„Richtig, richtig, ganz meine Meinung. Famos, Heinz, das hast Du großartig gedeichselt … dafür mußt Du mal eine Frau kriegen, die sich gewaschen hat … Prosit auf die zukünftige Frau Doktor!“

Heinz trank ohne sonderlichen Enthusiasmus. „Und doch –“ sprach er halb für sich.

„Na – und doch?“

„Ich wollte, es wäre anders gekommen. Das Mädchen dauert mich, ganz frei von Gewissensbissen bin ich nicht.“

„Ach, Unsinn …“

„Ja, wenn ich wüßte, daß sie ebenso denkt wie ich, innerlich ebenso frei ist … schließlich habe ich ihr doch etwas weisgemacht und habe sie sitzen lassen.“

„Junge, das sind Jugendthorheiten, das wird alles überwunden. Sei froh, daß Du glücklich drüber weg bist … Weißt Du, komm mit, ich gehe noch ein paar Stündchen ins Kasino, wir feiern Deine Genesung mit einem Partiechen.“

Der behagliche kleine Mann erhob sich; aber Heinz blieb sitzen.

„Laß mich hier, Onkel; ich bin etwas schlaff nach der Aufregung von heute früh und werde mich lieber zeitig hinlegen.“

„Wie Du willst!“

Der junge Doktor blieb einsam am Kamin sitzen. Das Feuer sank zusammen, blaue und goldene Flämmchen tanzten auf der Asche und verschwanden wieder. Dann und wann sauste ein Windstoß durch den Schlot hernieder …

„Im Sommer blank,
Im Winter krank,
Im Frühling begraben – –“

murmelte Heinz vor sich hin und dachte an seine Studentenliebe. Er war nicht zufrieden mit sich, aber er hatte abgeschlossen, fest und bewußt!

Morgen ist Ostern …

*               *
*

„Weißt Du, nun laß endlich den Unsinn!“ Der Musikus Sonnemann, ein mittelgroßer Mann mit auffallend blutlosem, doch vollem Gesicht und starkem blonden Schnurrbart, brummte es verdrießlich. Er saß am Tisch in dem kleinen bescheidenen Stübchen mit dem alten dünnen Urväterhausrath und hatte seine Posaune zwischen die Kniee geklemmt – eben tauchte er den Putzlappen frisch in den Napf auf dem Tische und rieb an dem Instrument weiter.

Die Mutter auf dem Sofa, eine kleine gealterte Frau, ließ den Strickstrumpf sinken. „Gott, das kannst Du doch dem Mädchen nicht verdenken, jetzt, wo sie weiß, daß Tausing in der Stadt ist. Das rührt doch natürlich wieder alles bei ihr auf. Er geht schlimmstenfalls schließlich fort und dann ist’s gut. Sie wird sich schon wieder fassen.“

Edith lehnt in einem hochlehnigen Korbstuhl abseits vom Tische, wohin das Licht der grünschirmigen Lampe nur mit schwacher Dämmerung dringt. Der Korbstuhl knarrt, wie sie hastig das Taschentuch hebt und über die Augen fährt.

„Der Vater hat recht, Mutter. Heinz ist die Thräne nicht werth. Der Vater hat in der ganzen Sache recht gehabt.“

Sie ist ein schlankes, feingliedriges Mädchen, mit einem jener blassen Gesichter, welche die Dämmerung verschönt. Sie ist sicherlich auch sonst hübsch, ohne Dämmerung.

„Ich hatte selber gehofft, er würde nun kommen und sein Schweigen aufklären,“ meinte die Mutter nach einer Pause. „Ich [218] hatte eine andere Meinung von ihm und gebe sie auch jetzt noch nicht auf.“

Der Musikus stieß ein spöttisches Murren aus.

„Mich lehrt die Studenten kennen! Das ist müßiges Volk, die möchten gern etwas fürs Herz haben, machen den Mädels was weis, und wohl sich selber auch – auf den Augenblick meinen es ja manche ganz ehrlich ...“

„Manche auch länger,“ schaltete die Mutter kopfnickend im selben Tonfall ein.

„Auch! – Habe gar nichts dagegen. Aber das sind weiße Raben; ich mißtraue jedem, und es wäre besser gewesen, Ihr hättet dasselbe gethan, dann brauchte das Mädel jetzt nicht herumzusitzen und zu flennen; aber gegen Euch Weiber kommt keine Vernunft auf.“

„Du hast wohl nöthig, hinterher, wo nichts mehr zu ändern ist, dem Kinde mit übler Laune das Herz noch schwerer zu machen, statt ihr gut zuzureden.“

Sie sagte das nicht heftig. Sie hatte doch etwas Gedrücktes, wie eine Art Schuldgefühl, an sich. Edith schwieg – der Musikus schwieg gleichfalls und rieb mit gleichmäßiger Bewegung sein Instrument, das morgen in der Nikolaikirche sollte Ostermusik machen helfen.

„Sonderbar ist’s doch,“ brach die Mutter das Schweigen. „Wie seid Ihr zwei denn zuletzt auseinandergegangen? Habt Ihr Euch gar nicht ausgesprochen, Ditha?“

Edith schüttelte mit dem Kopfe. „Es war ein Abschied wie immer; er meinte: ‚Hoffentlich auf Wiedersehen gegen das Frühjahr hin.‘ Ich sagte ihm: ‚Du schreibst mir doch?‘ Darauf küßte er mich, antwortete aber nichts. Doch nun ist’s gut und vorbei, und nun laßt mich’s vergessen! Ich will schlafen gehen, das ist das beste.“

Sie sprang auf und reichte den Eltern nach einander die Hand. „Gute Nacht!“ – dann ging sie auf ihr Zimmer, nahm da im Dunkeln ein Tuch um die Schultern und setzte sich an das Fenster.

Ihr Gesicht suchte den Himmel, der war voller Sterne; und der Wind draußen gebärdete sich wie ein wilder Thauwind: das zog aus allen Fugen, und dann und wann fauchte oder heulte es und machte die Flügel im Rahmen schüttern. Sie hielt die Augen starr offen, bis sie thränensatt waren, dann neigte sie rasch den Kopf und ließ ihn auf die über dem Fensterbrett gekreuzten Arme sinken.

„Treuloser ...“ sagte sie vor sich hin.

Das war ein Wind, just wie damals! Nur wenig später die Jahreszeit ... eine jener kleinen Gesellschaften, wie sie unter der Bürgerjugend größerer Städte sich zahlreich bilden, hatte einen Landausflug gemacht, gescherzt, getanzt. Sie mit, und er auch. Ein Jugendbekannter von ihm, der Mitglied war, ein Photograph, hatte ihn bereits im Winter eingeführt, damit er in einer Liebhabertheater-Vorstellung mitwirke. Er hatte Edith schon nach der ersten Umschau bevorzugt.

Und in jener Mainacht waren sie beide Arm in Arm heimgekehrt, die Eltern immer fünfzig Schritt hinter sich lassend ... wenig redend, thörichte gleichgültige Worte. Eine so dunkle, dunstige Mainacht mit sausendem Wind! Das Tuch flog ihr immer von der Schulter; er nahm es und schlug es auseinander: ein so großes Tuch. weit genug für zwei ... und sorglich legte er es um sie beide und schlang seinen Arm um sie. Sie bebte und er bebte; sie hatte eiskalte Hände, sie fühlte es, und sah ihn an ... und er sah sie an ... ein paar Zoll Luft waren noch zwischen ihnen, und die waren leicht übersprungen.

Ach ja, das war eine Nacht, ein Weg!

Er kam am andern Tag, nach ihr zu fragen, und die Mutter lud ihn ein, zuweilen den Abend zu kommen. Studenten sind so kurzweilige Herren! Aber er kam nur selten – der Vater sagte ihm ohne Worte, daß er kein Gefallen an den Besuchen fände. Sie sahen sich dennoch oft ... bei dritten oder in größerer Gesellschaft; dergleichen ließ sich veranstalten.

„Ach Gott, wär’s doch nie gewesen!“

Aber es war eben doch gewesen!

Einen Winter lang hatte er sich nun vor ihr versteckt, ohne Abschied fürs Leben, ohne Aufklärung ... nie konnte sie ihm schreiben, das war doch zuerst seine Sache! Daß er nicht krank ist, weiß sie von dem Photographen, dem er geschrieben hat ... nun ist er wieder hier, seit Wochen, sie weiß es, und sie sind einander nie begegnet, und er ist nicht zu ihr gekommen!

Er kann jetzt heirathen, jetzt muß er sich entscheiden ... ah, er hat’s ja schon gethan, er hat sich gegen sie entschieden, sie fühlt es, trotz der Hoffnungen der Mutter. Manchmal hofft sie wohl auch plötzlich; aber dann zuckt es wieder schmerzvoll durch ihre Seele: „Nein! es ist nicht möglich.“

„Nicht möglich mehr.“

Sie fröstelt schaudernd zusammen, nimmt das Tuch fester um, erhebt sich sacht und blickt in das kleine Gärtchen hinunter.

Da sieht man über die niedrige Mauer, sieht die Straße mit den nächsten Gaslaternen, von denen die eine ihr Licht auf den großen Aprikosenbaum im Garten wirft. Ein guter alter Bursche das, der jedes Jahr pünktlich seine Last trägt!

Seit zwei Tagen sind die Blüthen aufgesprungen, karminrothe Blüthen über und über. Das junge Mädchen späht unwillkürlich durch die feucht überhauchten Scheiben, ob sie die Blüthen im Laternenlicht zu erkennen vermag, und sie glaubt, daß sie dieselben sieht.

Dann blickt sie wieder zum Himmel, und der ist stark verschleiert. All die Sterne fort!

„Meinethalben,“ sagt sie. „Es mag immer ein dunkles Ostern werden. Mein Glück ist begraben ... das weckt kein Ostern auf. ... Ja – ja, es soll begraben sein! Es soll nicht wieder aufwachen! Auch wenn er wirklich noch käme.“

In diesem Augenblicke haßte sie Heinz.

*               *
*

Die Osterglocken läuteten so feierlich in der Früh, das erste Läuten zur Vormittagskirche. Himmel und Erde sonnig; und vorhin war’s auch warm, aber jetzt streicht eine so kalte dicke Luft, eine recht frostige Luft.

Heinz hatte schlecht geschlafen und war dabei, mit einer Morgenpromenade seine Lebensgeister aufzufrischen.

„Paßt auf, es wird gleich schneien,“ rief einer von zwei Leuten, die sich in seiner Nähe begegneten. dem andern zu. Und plötzlich donnerte es ein wenig!

„Das Wetter weiß auch nicht, was es will,“ denkt Heinz, fast verächtlich. Er freilich, er weiß genau, was er will. Er weiß zum Beispiel ganz bestimmt, daß er die hübsche Edith einem Würdigern überlassen wird.

Wahrhaft unheimlich ist das doch, wie gleichgültig er bei dem Gedanken an sie sein kann! Nicht gerade immer; zum Beispiel im Augenblicke klingt ihm etwas im Ohr, was sie ihm einmal mit ihrer süßen Stimme gesagt hat: „Willst Du mir den Laufpaß geben? Dann muß ich weinen.“ Etwas so Gewöhnliches ... man muß aber gehört haben, wie sie das sagte; so raffinirt wie eine kleine geschickte Schauspielerin!

Und sie ist doch gar keine Schauspielerin von Natur, sondern ein klares, munteres, natürliches Mädchen. Eben diese Klarheit ohne Mache und Phrase läßt den Reiz des Weiblichen bei ihr ganz unverkürzt wirken. Im Grunde braucht ein „höherer“ Schulmeister sich keineswegs ihrer zu schämen, wenn er sie heirathet; es giebt genug unbedeutende und dabei viel reizlosere Lehrersfrauen ...

Aber es ist doch nicht nöthig, Edith zu heirathen! Man kann gleichgültig werden, wenn man fern von ihr ist; das ist ein sichrer Wink der Natur: thu’s nicht!

Er ist ja auch entschlossen, es zu unterlassen.

Heinz ist in die Nähe des Hauses gelangt, in welchem Edith wohnt, und der Gedanke reizt ihn, den Weg durch diese Straße – um die Ecke dort – zu wählen. Eine Wolke, ein einzelner grauer Koloß mit blendend weißen Rändern und weißen Ballenhäuptern, schwimmt über ihm, überschattet ihn, und im Augenblick beginnt sie, Flocken niederzustäuben ... er thut wohl daran, auf dem kürzesten Wege heimzukehren.

Ein kurzes Besinnen noch, die Flocken vermehren sich, dichter, dichter, es wirbelt und kreiselt um ihn mit einem Hauch wie von Gletschern.

Vorwärts, man wird ihn nicht sehen! In dieser beweglichen wirbelnden Verschleierung kann er ruhig am Hause vorüber wandeln.

Er biegt starken Schrittes in die Straße. Wie das lustig weiter schneit! Da ist die Gartenmauer, und er hat Herzklopfen.

Ei – vom Garten her pfeift es. Das ist eine Amsel.

[219]

Wie das so geht: in diesem Augenblick läßt das Schneetreiben nach, goldiges Sonnenlicht bricht in das Flockenwirbeln. Heinz sieht die Amsel, sie sitzt auf einem Baume.

Auf dem alten Aprikosenbaume!

Vor ihm malt sich plötzlich ein Bild hin mit der Unterschrift: Frühlingsidylle. Ein so süßes Bild, daß man ein Eisklumpen von Gefühllosigkeit sein müßte, um nicht stehen zu bleiben und das Herz aufspringen zu fühlen.

Eine Mauer, darüber aufragend ein alter Aprikosenbaum, um und um blühend wie mit Rosen auf den blatkahlen Zweigen – auf einem der blühenden Zweige die Schwarzamsel mit dem orangegelben Schnabel. Durch den Baum, um die Schwarzamsel her wirbeln lustig die weißen Flocken, und die Schwarzamsel pfeift dazu, so hell, so flötenweich, so aus voller, frühlingsseliger Brust ...

Dazu Glockenläuten!

Heinz bleibt stehen ... seine Brust ist in Aufruhr, und das steigert sich – nicht zu beschreiben. Ein Sturm von Liebe und Glückseligkeit durchtobt sein Inneres; er kehrt das Unterste zu oberst, es ist an gar keinen Widerstand zu denken! Da ist ein Baum, drin jubelt die Liebe: Die Flocken stäuben, aber ich bin Sieger; der Frost umhaucht mich, aber die selige Brautzeit ist da: was da läutet, sind Auferstehungsglocken, ich weiß es ... ich weiß es ... denn der alte Aprikosenbaum blüht. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Was ist so süß wie ich?

Heinz wird’s weich ums Herz. Was ditt ich für ein Narr! Ich liebe sie nicht mehr? Ich? Da oben sitzt sie vielleicht am flockenverschneiten Fenster und schaut nach mir aus, mit dem blassen zarten Mädchengesicht, mit den großen dunklen Augen und dem süßen Munde ...

Weil es in mir winterte, habe ich den Frühling aus meiner Rechnung gestichen? Als ob es kein Ostern gäbe!

O, ich überkluger Narr – ich liebe sie nicht mehr?

Er stürmt vorwärts, um das Haus herum, er reißt die Thür auf – kaum nimmt er sich Zeit, den Schnee vom Ueberrock zu schütteln. Auf der Treppe begegnet ihm der Musikus, die frischgeputzte Posaune im Ueberzug unter dem Arm. Er sieht Heinz mit großen Augen an, finster und fragend ...

„Ich muß zu Edith, ... Herr Sonnemann ...“

Heinz ist vorüber, und der andere bleibt murrend stehen, zaudernd und mit sich kämpfend; aber er muß ja fort, es ist hohe Zeit, daß er sich in die Kirche verfügt. Das Amt geht vor, er ist im Orchester unentbehrlich.

Heinz klingelt oben – die Mutter öffnet. „Ach, Herr Tausing ...“

„Ich muß zu Edith – sie ist drinnen, nicht?“

Er wartet gar keine Antwort ab. In der Stube ist Edith aufgesprungen vom Fenster, sie hat seine Stimme gehört. Sie will nicht flüchten, sie haßt ihn plötzlich nicht mehr, ein Frühlingsrausch überfliegt sie, durchschüttelt sie ...

„Edith, Edith“ ... „Heinz“ ... er hat die Arme ausgebreitet und sie auch, und nun schluchzen sie beide und ihre Thränen fließen ineinander.

„Sprich nichts – gar nichts,“ haucht sie, „ich will nicht wissen, wie es gekommen ...“

„Edith, unten auf dem Aprikosenbaum, mitten im Flockentreiben, sang die Amsel,“ stammelt er. „Ich mar todt, und nun bin ich auferstanden.“

Die Glocken läuten nicht mehr. Es ist still um sie, die Sonne scheint ins Fenster, und in der Thür steht schweigend die Mutter.

*               *
*

„Onkel,“ sagt Doktor Heinz Tausing, „entschuldige, daß ich so spät komme. Weißt Du, wo ich war?“

„Wo es fidel war, denn Du siehst höchst vergnügt aus. Oder etwa in der Kirche? Du hast nebenbei so etwas Frommes an Dir.“

„Beinahe,“ sagt Heinz. „Ich war bei Edith, und nun kannst Du mich hinauswerfen, wenn Du Lust hast.“

Ein kurzer Blick mitleidigen Entsetzens. „Unglaublich, aber wahr!“ bringt endlich der so über alle Möglichkeit hinaus Enttäuschte langsam hervor. „Und gestern ganz auf der Höhe! Na, da liegt wirklich Charakter drin. Sag’ mal: Du bist wohl sehr zugänglich für Witterungseinflüsse?“

Heinz ist doch etwas pikirt über die boshafte Stimmung des Onkels; seine Antwort kingt gereizt.

„Na, soviel weiß ich, mein Junge, in meinem ganzen Leben rathe ich keinem Menschen unter fünfunddreißig Jahren wieder zur Vernunft ... Hm, hm, also verlobt ... Heinz, offen und ehrlich gesagt: fühlst Du Dich jetzt glücklich, bist Du durchdrungen davon?“

„Unbeschreiblich.“

„Glaubst Du, daß dies Glück anhalten wird in der Ehe? Ich denke, Du hattest alles Gefühl für das Mädchen verloren, seit Du es nicht mehr zur Hand gehabt? Und das war Dir doch ein Beweis, daß Deine Liebe nicht echt war?“

„Onkel, zu Ostern stehen die Todten auf! Nein, ich will anders reden; ich weiß es jetzt: ich habe von der Liebe etwas verlangt, was man nicht von ihr verlangen kann. Es ist naturwidrig, zu fordern, daß ein leidenschaftlich gesteigertes Empfinden sich ohne Anregung von selbst auf der Höhe halten soll. Ein jedes Feuer erlischt, wenn ihm alle Nahrung verweigert wird. Und das habe ich grundsätzlich gethan, habe selbst meiner Phantasie verboten, Holz zuzutragen. Ich habe nicht meine Liebe auf die Probe gestellt – ich habe sie systematisch umzubringen versucht!“

„Das scheint Dir aber richtig mißlungen zu sein. Also Du glaubst, sie wird Dich dauernd glücklich machen, diese Edith?“

„Ja – ja – ja!“

Der Onkel wanderte dreimal auf und ab; endlich blieb er mit eingekniffenem Auge vor Heinz stechen und legte ihm gemüthlich die Hand auf die Schulter.

„Ja? – Na dann sollst Du meinen Segen, und Deine Braut eine anständige Aussteuer haben.“