Textdaten
<<< >>>
Autor: Heinrich Beta
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Weihnachten in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 30–31
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[30]

Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

Weihnachten in London.


Weihnachten! Es liegt eine Weihe in diesem Worte, die sich an kalten Tagen und öden Nächten warm über die ganze Christenheit ausbreitet mit Engelsfittigen, aber in London zunächst in der Gestalt von Preismastochsen und Falstaffs von Schweinen. Es ist eben ganz vollenglisch, daß in London die Weihnachtsfreuden mit der großen aristokratischen Thierschau in Bakerstreet anfangen, wo Lords und Herzöge (der von Richmond an der Spitze) über die lebendige Mastkunst, über die thatsächliche Fleisch-Poesie Englands, in der man Shakspeare und Milton längst überwunden hat, zu Gericht sitzen und den künstlerischsten Meistern animalischer Pädagogik goldene Preise zuerkannt werden. Diese Thierschau ist jedesmal ein nationales Fest, zu welchem die Omnibusse besondere Zettel drucken lassen und Mitglieder des Oberhauses mit Familie Hunderte von Meilen weit herkommen, damit die feinste, zarteste Hand der höchsten Lady gemeinschaftlich mit der fettigen, feisten Faust des Fleischers und Farmers das ehrwürdig in seinem Fette schlummernde Preisschwein liebkose und mit dem gekrönten Kurzhorn-Mastochsen verliebte Blicke wechsele. Doch „vorüber, ihr Schafe, vorüber!“ wir haben mehr zu sehen.

Die gekrönten Thiere sind unter einem periodischen Wahnsinnsfieber der Fleischer verkauft. Die von Falstaff persiflirte Ehre glüht unter der blauen Schürze des Thierschlächters eben so hoch, wie unter dem diamantenen Stern des Generals. Entschlossen, im bevorstehenden Carneval (das ist Weihnachten in London) eine Rolle zu spielen, kauft er für 150 Pfund ein Preis-Thier, das ihm, wie er sicher voraussieht, nicht mehr bringt als 75. Was schadet’s? Nicht blos die englische Flotte in der Türkei hat Ehrgefühl, auch Mr. Johnson oder Johnston zahlt mit Stolz 500 Thaler blos für die Freude, sein Licht, statt es unter einen Scheffel zu stellen, leuchten zu lassen vor seiner dicht mit Fleisch, Stechpalmen und Mistelzweigen behangenen Ladenthür auf einem, wenn nicht mit Blumen, so doch mit reinlichen Sägespähnen bestreuten Platze. Er weiß es wohl, was ein fetter Ochse den ausgebildetsten Fleischessern der Welt, den Engländern, ist. Seht, wie sie dort drängen um das ausgestellte Wunder, angethan mit bunten Bändern und Blumen, wie sie zu ihm wallfahrten in ungeheuern Massen, andächtiger, wie weiland die Griechen zu dem Zeus des Phidias oder die Kunstreisenden zur medicäischen Venus, wie sie das ehrwürdige Thier (ganz altägyptisch) ehrfurchtsvoll anstaunen und es hätscheln und liebkosen! Dort der musterhaft feine aristokratische Herr, der vielleicht vorgestern erst aus Italien zurückkam und 3 Minuten auf Raphael und 11/2 Minuten auf Tizian’s und Correggio’s blickte, was fesselt ihn hier mitten in der Kälte auf der Straße? Er studirt eine musterhafte Hinterkeule, wie sie dort hundertweise bis in’s zweite Stockwerk am Fleischerladen hangen, musterhafter und flammender beleuchtet, als der ganze Fackelzug zu Ehren eines deutschen Universitäts-Prorectors. Thierschau und Fleischschau sind die höchsten Freuden des Engländers und streiten sich nur mit den Genüssen Homerischen und Nibelungenschen Fleischvertilgens um den ersten Rang in seinem Herzen d. i. Magen. So nehmen auch die Geflügelhändler neben dem Fleischer die höchste Stellung ein und entwickeln um Weihnachten eine Ausstellungs-Manie, die man sehen muß, um daran zu glauben. Zunächst einen Blick auf die lebendigen Geflügelmärkte.

Seht dort den grünen Herrn im Jagdfrack. Herrscher von 50 oder 100 Enten um ihn herum, die er selbst lebendig aus der Provinz hereintrieb. Um sich ihrer Treue und Anhänglichkeit versichert zu halten, streut er dann und wann homöopathische Dosen von Gerste aus seiner Tasche unter sie, vielleicht in der Ueberzeugung jenes berühmten Staatsmannes, daß ein mäßig hungerndes Volk sich am Leichtesten regieren lasse. Seht, wie die unmäßig hungrigen Enten die ganze Welt um sich her vergessen und ihre breiten Schnäbel und kleinen runden Augen immer nach der homöopathischen Kornkammer ihres Staates richten! Und seht, was der Ernährer nun mit ihnen vornimmt. Er schlachtet sie ab je nach dem Wunsche des Käufers oder verkauft sie auch lebendig als Sklaven. Durch eine Seitenstraße, in welcher wir den millionenfach getretenen und zu Vogelleim geknetenen Schmutz der Hauptstraßen vermeiden wollten, kommt uns eine andere fleischliche Weihnachtsausstellung entgegen, eine unabsehbare Phalanx todtenstill watschelnder, von Unten bis Oben schmutziger, nach Luft gapsender Gänse. Unähnlich ihren berühmten Vorfahren auf dem Capitole von Rom wissen sie auch kein Sterbenswörtchen zu sagen. Ueber 15 Meilen müssen sie zurücklegen, um hier endlich den Weihnachtsfreuden zum Opfer zu fallen. Und dann wissen die Engländer noch nicht einmal eine Gans zu braten. Wollen Sie’s glauben, Fräulein, daß sie hier mit Salbei und Zwiebeln auf den Tisch gebracht werden? „Eene jute Jans is eene jute Jabe Jottes,“ sagt der Berliner, „aber man nich mit Bollen.“ Man kann Gänsebraten lieben, aber doch Thränen vergießen über das Schicksal dieser Zöglinge von Epping und der Hainault-Wälder, wo sie zu Tausenden für Weihnachten in London erzogen und dann auf dem Wege halb oder ganz todt getrieben werden. Der schmutzige, rohe Treiber hat seine Taille mit 8–10 Gänsen geschmückt, die unterwegs zu Tode gehetzt ihren Geist aufgaben, um vielleicht in einem der vielen Weihnachts-Gänse-Clubs (wo man 1/4 oder 1/2 Jahr lang wöchentlich einzahlt, um am „heiligen Abend“ um Gänse, Gin und dergleichen mit würfeln zu können) als Hauptgewinn zu paradiren.

Einen Blick in den nächsten Geflügelhändlerladen. Das ist kein Laden. Das ist ein durchaus buntbefiedertes Haus, ein einziger Riesenvogel. Mit scharfem Auge unterscheiden wir zwar die Composition, aber sie spottet wohl des besten Ornithologen. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ Die Kraniche des Ibykus sind auch dabei und unzählige Bewohner des Sumpfes, Waldes und der Luft, alle nicht für die Küche, sondern blos zur Schau. Das Volk muß sehen, daß der dickste Mann in diesem befiederten Felsen alle Gattungen von Vögeln [31] beherrscht. Es muß für 40,000 Pfund Waare sehen, wenn es einen Artikel für 6 Penny 3/4 Stunden lang aussuchen und dann vielleicht noch in den nächsten Laden gehen soll. Ueber der Thür schweben ein paar ungeheuere Schwäne mit ausgebreiteten Flügeln, daneben Pfauen mit entfalteten Schweifen, auch Kraniche, Adler, Geier, Reiher, Rohrdommeln, Raben u. s. w. Weiter unten Burgen und Gebirgszüge von Schnepfen, Hühnern, Gänsen, Rebhühnern, Lerchen, Tauben, Enten (wilder und zahmer) Fasanen und allem möglichen Geflügel, das Sumpf, Wald, Luft und Gebirge von Großbritannien, Portugal, Spanien, Amerika, Indien, China und Cochinchina zu liefern vermag. Und wie sie sich drängen mit Körben und Droschken, als gält’ es, eine allgemeine Hungersnoth mit frikassirten Pfauenzungen zu curiren! Seht den feinen, feisten Herrn, wie er seine Droschke mit einem Fuder des besten Geflügels beladen läßt, verdrießlich einsteigt, den Jungen mit auf den Bock springen läßt und davon fliegt, um unzählig andern seiner Herren für dasselbe Geschäft Platz zu machen. Wer ist es? Nur ein gewöhnlicher Koch für eine bürgerliche Kaufmannsküche vielleicht in Westbourn-Terrace, oder ein „herrschaftlicher“ in Belgrave-Square.

Die Vögel- und Hasen- und Kaninchen- und Saugferkel-Gebirge verschwinden zusehends, aber ein ellenlanges Placat tröstet Dich. Der Eigenthümer des Ladens unterrichtet darin seine Kunden, daß er mit der ganzen Grafschaft Norfolk einen Contract für Tausende von Enten, Zehntausende von Gänsen u. s. w. geschlossen habe, welche alle bei Strafe von 6 oder 10,000 Pfund bis zu dem und dem Tage abgeliefert werden müßten. Also ehe die Londoner verhungern, essen sie lieber Gänsebraten und wildes Geflügel und Preisochsen.

Zu den Spezerei-, Frucht- und Italienerwaarenläden fallen uns gewiß die Alpenzüge von Feigenschachteln, Weintrauben u. s. w., besonders aber von großen und kleinen Rosinen auf. Ich fragte in einem solchen Laden, wie viel Rosinen da allein am Schaufenster aufgeschüttet wären. Antwort: 75 Centner (englische à 100 Pfund) Rosinen und 36 Centner Corinthen. Die Massen von überzuckerten Pommeranzenschaalen u. s. w., von Gewürzen entsprechen den Rosinen und den Tonnen von Talg in den Fleischerläden. Aus diesen Ingredienzien wird nämlich der bis in die ärmste Höhle herab zu Weihnachten unentbehrliche Plum-Pudding geknetet und gekocht. Von den Tausenden von Sparbänken und wöchentlichen Einzahlungen der Armen, um sich zu Weihnachten blos diesen Plum-Pudding zu sichern, wäre allein eine ganze pecuniäre Odyssee zu singen, eine ganze Bibel von den großen mit Bibelsprüchen bemalten und Stechpalmen und Fahnen decorirten Zelten, in denen unter polizeilicher Aufsicht Tausenden und aber Tausenden, die nichts gespart hatten, Plum-Pudding, Roastbeef und für eine Woche Thee umsonst gereicht wird. Zu Weihnachten thaut der Engländer auf, aber auch nur dies eine Mal im Jahre. Er ist nicht nur gastfreundschaftlich zu Weihnachten, er giebt auch reichlich für unzählige christliche Plum-Puddings-Vereine, so daß er sich sagen kann, jeder Irländer und Straßenfeger hat wenigstens heute am 25. (und auch einen Rest zum 26.) seinen Plum und sein Stück fetttriefendes Fleisch aus unzähligen, ungeheuern Anstalten der Wohlthätigkeit. Jeder Engländer ist auch jährlich einmal wirklich lustig und trinkt dabei bedeutend über den Durst, und das ist Weihnachten. Seitdem durch den Prinzen Albert der Weihnachtsbaum eingeführt und mit jedem Jahre populärer geworden, soll er sogar anfangen, „gemüthlich“ zu werden. Vor dem Prinzen Albert wußte man nichts von dem herrlichsten, schönsten Gute Deutschlands, dem Weihnachtsbaume mit seinen goldenen Lichtern, dem Tannen- und Honigkuchengeruche, den bunten Früchten daran und der heitersten, höchsten Kinder- und Familienfreude drum herum, die den Deutschen hernach durch alle Lebens- und Schicksalsstufen begleitet, und um Weihnachten immer wieder erwacht wie die heilige Erinnerung an eine Heimath und an verstorbene Mütter, zerstreute Geschwister und jauchzende Gespielen.

Die grüne Natur nimmt in England an den Weihnachtslustbarkeiten durch Stechpalmenzweige und Mistelzweige ihren historisch naturwüchsigen Antheil, der sich in Bezug auf letztere bis auf den Cultus der Druiden zurückführen lassen soll. Auch sie haben schon gern geküßt, denn unter dem Mistelzweige, der in der Mitte jeder englischen Weihnachtsgesellschaft oben im Zimmer hängt, versteht und practicirt jeder englische Mann und Junge das Privilegium, jede Dame, die er unter demselben trifft, zu küssen, und jede Dame, sich ohne Opposition gegen diese althistorische Sitte küssen zu lassen. Vielleicht ließe sich in Deutschland zu den Honigkuchengenüssen dieser von Honiglippen fügen. In Ermangelung von Mistelzweigen könnte man ja privilegirende Tannenzapfen aufhängen, insofern die Polizei keine Gefahren für die Tugend darin fände. – Die Birnam-Wälder von Stechpalmen, Mistelzweigen und auch lebendigen und abgeschnittenen Tannenbäumen kamen des Nachts zu dem Dunsinane von Covent-Garden, dem großen Londoner Central-Tempel des Frucht-, Blumen- und Gemüsemarktes und vertheilen sich von hier aus auf Karren und Wagen in Tausenden von Adern durch die unzähligen Straßenmassen, wo besonders die Läden der Frucht- und Gemüse-, der Kohlen- und Kartoffelhändler und Fleischer reichlich ausgegrünt erscheinen. Mancher fette Ochsenrücken sieht wie der Sattel eines Gebirges aus, auf dem Stechpalmen wachsen. Daß jede Familie, worin Töchter sind, für Mistelzweige sorgt, läßt sich bei den Schwachheiten der menschlichen Natur leicht denken. Schade, daß ich hier keinen Platz finde, von den Wundern des Obstes und der Blumen in Covent-Garden einen Gulistan zu singen. Stoff dazu ist mehr vorhanden, als im Rosengarten von Schiraz. Die Massen von Büchern und Illustrationen, welche die englische Literatur auf den Weihnachtsmarkt schleudert, die Massen von Kleiderstoffen und Luxussachen, die in unzähligen Placaten als die besten, billigsten und willkommensten Weihnachts- und Neujahrsgeschenke empfohlen werden (wir fanden neben dem aus dem Deutschen übersetzten Struwelpeter auch „Patent-Perrücken“), verstehen sich in London von selbst und können trotz ihrer Massen und Mannichfaltigkeit nicht weiter auffallen. Auch die Weihnachtsfreuden selbst innerhalb der Familien lassen sich besser denken, als schildern. Nur vergesse man dabei nicht, daß man hier viel mehr und fetter ißt und trinkt, als irgendwo. Alles Essen ist fruchtbar substantiell und fett, alles Getränk 40 Grad stärker, als in Deutschland, daher auch die Lustigkeit in der Regel derber. Man faßt selbst in feinen Kreisen derb zu und die feinste Elfe hat während dieser Zeit nichts dagegen. Doch nach Weihnachten darf Niemand Konsequenzen ziehen wollen, ohne derb zurechtgewiesen zu werden. – Nach Weihnachten kann man die ganze Decke voll Mistelzweige hängen, ohne nur zu einer Kuß-Miene berechtigt zu werden. Alles hat seine Zeit, sagt Salomo, und in England der Carneval blos seine Weihnachtszeit bis zum heiligen Dreikönigseiland, wo mit dem zwölften Kuchen, („twelfth cake“) dem großen, kostspieligen architektonischen und plastischen Conditorkunstwerke, die letzten Bissen der Lustigkeit für ein ganzes Jahr vertheilt und verzehrt werden.

Es bleibt mir nun noch blos Raum, zu sagen, was ich Alles nicht schildern kann, so sehr es auch mitten in die Weihnachtsfreunden gehört, z. B. die Ströme von Pantomimen, diese eigenthümlichen Zauberpossen, die zu Weihnachten über alle Theater sich ergießen und die jede englische Familie glaubt sehen zu müssen; oder die Qualen des „boxing day“ des „Geschenktages“ (26.), wo sich ganz London in zwei Klassen verwandelt, Bettler und Angebettelte, und mancher Haushalter, nachdem er Pfunde in Schillingen an alle mögliche Beamte, Diener, dienstbare Geister, Straßenkehrer, Schornsteinfeger, Wasser- und Gasmänner, Steuersammler u. s. w. willig ausgegeben hat, endlich wüthend wird, da er endlich die Entdeckung macht, daß alle zweimal kommen, erst die unrechten, die sich nur Titel anmaßen, und dann die wahren, so daß er sich nicht anders zu helfen weiß, als seinen Ueberzieher zu nehmen, davon zu laufen und seiner Köchin den Kampf zwischen den rechten und unrechten Bettlern zu überlassen.

Zu Weihnachten erlebt man, daß der Engländer eigentlich ein ganz braver, nobler, zugänglicher, geselliger, selbst gemüthlicher Mensch wäre, wenn er nicht zu viel „Geschäft“ und „Geld machte.“ Und die Lippen unter den Mistelzweigen sind oft so rosige und voll und unspröde, daß man es in den ersten vierzig Jahren nicht übel nehmen würde, wenn alle Tage Weihnachten wäre.
B.