Weichbildsrecht und Burgrecht

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Autor: W. Varges
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Titel: Weichbildsrecht und Burgrecht
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 6 (1891), S. 86–90.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
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[86] Weichbildsrecht und Burgrecht. Herr Professor Dr. Sohm macht in seiner Schrift Die Entstehung des Deutschen Städtewesens[1], Leipzig 1890, S. 25 ff. den Versuch, die beiden Ausdrücke Weichbildsrecht und Burgrecht, die sich neben Marktrecht für Stadtrecht finden, zu identificiren. Nach ihm heisst Weich befestigtes Haus, Burg, Weichbild also Burgbild, nicht Orts- oder Stadtbild, wie Schröder will[2]. Weichbildsrecht und Burgrecht bedeuten ihm dasselbe, nämlich das Recht, das in einem befestigten Hause, in einer Burg, und zwar in einer ganz bestimmten Burg, nämlich der des Königs gilt (vgl. S. 28 ff.).

Die Erklärungen Sohm’s sind nicht haltbar; einerseits heisst Weichbild nicht Burgbild, sondern Stadtbild, Ortsbild; andererseits bedeutet Burg, wie es uns in Burgrecht entgegentritt, nicht befestigtes Haus, Ritterburg, Königsburg, sondern Ort, Stadt. Beide Ausdrücke bezeichnen zwar denselben Gegenstand und sind identisch, aber nicht im Sinne Sohm’s. Sohm ist zu seiner Erklärung von Weichbild als Burgbild durch das Wort Weichhaus, Wichhaus, wichhuz, wighus veranlasst worden. Nun bedeutet freilich letzteres „befestigtes Haus“ – bekanntlich waren die Wichhäuser Vertheidigungsthürme auf den Stadtmauern[3] –, wir können aber den Begriff Wichhaus nicht zur Erklärung von Weichbild heranziehen, denn beide Worte sind sprachlich nicht im geringsten verwandt. In wichhus tritt uns die Wurzel wig kämpfen entgegen, vgl. got. weigan, weihan, ahd. wihan kämpfen, mhd. wîgant der Kämpfer, eig. kämpfend, ferner wîgcot Kampfgott, wigsaca Kampf, wigstat Kampfplatz, wigsalic kampfglücklich, siegreich. Auch der Name Wichmann gehört hierhin. – Wig heisst also Kampf, wighus demnach eigentlich Kampfhaus und nicht befestigtes Haus. In Weichbild finden wir diese Wurzel wig kämpfen nicht, sondern die Wurzel wich, – ahd. mhd. wich, as. afr. wic, ags. vîc, an. vîk, holl. wyk, wijk –, die immer Ort und nicht Haus bedeutet. Brunswich ist der Flecken des Bruno, nicht das Haus, die Burg des Bruno – vgl. niederl. wijk Stadtviertel –, Weichbild heisst also Ortsbild. Nach den schönen Ausführungen Schröder’s wird ja wohl Niemand mehr an der alten Deutung „Heiligenbild“ von wîh, got. weihs heilig festhalten.

[87] Sohm hat die beiden Wurzeln wig kämpfen und wich Ort für identisch gehalten, so entsteht sein befestigtes Haus, seine Burg. Beherrscht von einer vorgefassten Meinung gelangt er dazu, in wich den Begriff der Befestigung, der Burg zu finden, weil er den Sächsisch-Thüringischen Ausdruck Weichbild und Weichbildsrecht mit dem Baierisch-Oesterreichischen Ausdruck Burg und Burgrecht in Einklang bringen möchte. Unter burg versteht er den Begriff, der uns bei diesem Worte meist vorschwebt, nämlich den des befestigten Hauses, der Ritterburg. Jede Stadt ist ihm eine Burg im Rechtssinne, welche ein besonderes Burgrecht, nämlich das Recht der Königsburg besitzt. Jede Stadt ist eine Burg des Königs. Diese Deutungen erweisen sich aber leider als falsch. In Burgrecht liegt nicht der Begriff des befestigten Hauses, der (Ritter-) Burg. Burgrecht bedeutet dasselbe wie Weichbildsrecht, nämlich Stadtrecht, denn burg – got. baurgs, ahd. burg, burc, burch, purg, purc, purch, mhd. burg, as. burug, ags. byrig, an. borg – bedeutet Ort, Stadt, urbs[4]. Das Wort geht auf die Wurzel bergen, arcere – got. bairgan – zurück. Burg ist also die bergende, schützende Stelle, an der sich das Volk verbarg, wenn Gefahr drohte. Die oppida, die Cäsar erwähnt, waren solche burgen, es waren Zufluchtsorte nicht des Einzelnen, sondern eines Dorfes, eines Gaues. Der Begriff des bergenden Hauses, der Ritterburg hat sich erst spät entwickelt. Die Königsburg wird in älterer Zeit immer als Pfalz bezeichnet. Neben burg findet sich in vielen Gegenden der Ausdruck haus. – Vulfila übersetzt πόλις, Stadt, immer mit baurgs. Die Bedeutung von burg = Stadt hat sich dann besonders im Baierisch-Oesterreichischen Gebiet erhalten, vielleicht wirkt hier Gothischer Sprachgebrauch nach, denn die Reste der Ostgothen sind wohl in den Baiern aufgegangen. Der Baierische Ueberarbeiter der Uebersetzung des Isidor braucht burc in Bedeutung von Ort, Stadt (um 805), auch die Baierisch-Oesterreichischen Dichter des Nibelungenliedes und der Gudrun brauchten bürge und burc in gleicher Bedeutung. Im Norden kommt burg nur in Zusammensetzung von Städtenamen vor. Burg bedeutet im Süden, wie Weichbild im Norden Ort, Stadt. Der Begriff der Befestigung tritt zurück. Beide Ausdrücke sind später durch stat, das ursprünglich nur Stelle, Raum, Gegend bedeutet, verdrängt. Die gleiche Bedeutung der beiden Worte, die uns prägnant in den Zusammensetzungen wichgraf, burggraf, wichfriede, burgfriede entgegentritt, hat es dann ermöglicht, dass die Ableitungen von burg und dem latinisirten burgum, burgenses, borgere, bürger auch im Norden Eingang fanden. Die Vorstellung, dass die Stadt ursprünglich [88] eine Burg oder gar eine Rechtsburg sei, wirkte hier, wie Sohm meint (S. 27), nicht mit, wohl aber der Gleichklang mit dem nd. bur. Die Bewohner der Weichbilde bezeichnen sich ursprünglich als buren, d. h. als die Zusammenwohnenden; vgl. bur Wohnung, nahgebur der nächst Wohnende, Nachbar, auch unser Vogel-bauer. Bürger werden heisst die burscop, Bauerschaft gewinnen. Aus Oberdeutschland ist – ob auf dem Umweg über Flandern, ist fraglich – das Wort burgensis wahrscheinlich zuerst in lateinischen Urkunden erst im 12. Jahrhundert nach Niederdeutschland gekommen. Doch braucht man neben dem Worte noch lange Umschreibungen, um die Bewohner der neuen socialen Gebilde, der Städte, zu bezeichnen, so cives forenses (Halberstadt 1105, erst 1226 tritt der Ausdruck burgenses auf), mercatores (1040 Quedlinburg, Goslar, Magdeburg), negociatores (Quedlinburg 1040). Nach dem Eindringen des Wortes burgensis, bürger erlangte bur die generelle Bedeutung „Bauer“. Doch blieben neben borgere noch lange die Ableitungen burscop, burding, burmal, burkore, burmester bestehen. In den Braunschweiger Statuten tritt erst um 1400 neben burscap borgerschop auf[5].

Wenn burg Stadt bedeutet, kann Burgrecht nur Stadtrecht und nicht das in der Königsburg herrschende Recht, für das man auch nach Analogie des Wortes Pfalzgraf den Ausdruck Pfalzrecht oder Hofrecht erwarten möchte, bezeichnen. Alle die bestechenden Ausführungen Sohm’s, in denen er die Entwicklung des Stadtrechtes aus einem königlichen Burgrecht, das wieder auf dem Fränkischen Reichsrecht beruht, beweisen will, sind daher hinfällig. Ebenso wie die Stadtgemeinde aus der Dorfgemeinde hervorgegangen ist[6], so ist das Stadtrecht überall aus dem localen Gewohnheitsrecht, das auf dem Volksrecht beruht, entstanden. Das beweist das Privileg des Herzogs Otto von Braunschweig für Münden von 1246: civitas dicta, cum in terra Franconica sita sit, jure Franconico fruitur et potitur, quod in ea nolumus immutare[7]. In Münden gilt also Fränkisches Recht, während in den übrigen Städten Otto’s Sächsisches Recht in Geltung ist. – Das locale landrechtliche Gewohnheitsrecht hat sich unter dem Einfluss des Handels und der Kaufmannschaft zu einem Handels- und Kaufmannsrechte umgebildet. Je einflussreicher die Kaufmannschaft, [89] je bedeutender der Handel an einem Orte war, desto mehr handelspolitische Bestimmungen werden in das betreffende Stadtrecht aufgenommen. Eine einfache Ackerstadt kann nicht ein solches Recht ausbilden, wie eine grosse Handelsstadt[8]. Der Handel und der Markt sind es gewesen, die ein neues Recht, das Stadt-, Weichbilds-, Burgrecht, einen neuen Stand, den der Bürger und Kaufleute – omnibus oppidi villanis mercandi potestatem concessimus, ut ipsi et eorum posteri sint mercatores[9] – schuf und das Dorfgericht, das Burding, in den meisten Fällen zum Stadtgericht, d. h. zum Grafschaftsgericht umwandelte.

Das Stadtrecht des Mittelalters hat sich überall entsprechend den localen Verhältnissen individuell entwickelt. Läge allen Stadtrechten allein ein einheitliches Marktrecht, das aus dem Fränkischen Königsrecht hervorgegangen ist, wie Sohm will (S. 15), zu Grunde, so wäre die grosse Verschiedenheit, die die Deutschen Stadtrechte zeigen, unerklärlich. Nimmt man an, dass die Grundlage der Stadtrechte das Landrecht und das locale Gewohnheitsrecht, das sich ja überall verschieden entwickelte, ist, macht man sich klar, dass in den einzelnen Städten und Stadtrechten der entstehende Handel mit seinen Normen auf ganz verschiedene Weise seine Einwirkung ausgeübt hat, so kann man sich die Mannigfaltigkeit der Deutschen Stadtrechte leicht erklären.

Sohm ist zu seinen Ausführungen über Burg- und Weichbildsrecht, mit denen alle seine weiteren Folgerungen stehen und fallen, veranlasst worden, weil ihn die Deutung Schröder’s von Weichbild als Ortsbild, die keinen für die Stadt eigenartigen Gedanken erkennen lasse, nicht befriedigte. Doch gibt die Erklärung Schröder’s hinreichend dieses Charakteristicum. Das Weichbild oder Ortsbild ist ein Abzeichen der Königsmacht. Es deutet an, dass der Ort, an dem es errichtet ist, den Frieden und den Bann des Königs geniesst, wie das ja auch die Bezeichnungen Friedekreis, Burgfriede, Stadtfriede andeuten. Das gemeinsame Charakteristicum aller Städte ist eben der Königsfriede, unter dem der Ort und dann auch die Einwohner stehen. Wer diesen Frieden bricht und so gegen den königlichen Bann handelt, bezahlt die Königsbusse von 60 solidi oder 60 scill. ausser der rechtmässigen Strafe, die ihn trifft. Wer an einem solchen befriedeten Orte sich niederlässt und Grundbesitz erwirbt, bezahlt dem königlichen Richter die Friedensabgabe, die Friedepfennige oder ein Quart Wein u. dgl. Ein Dorf ist auch ein Ort, wie ein Weichbild, aber es geniesst nicht Königsfrieden und besitzt auch nicht das Symbol [90] dieses Friedens, das Ortsbild. Durch die Errichtung eines Weichbildes, Stadtkreuzes, Rolandsbildes u. dgl. wird ein Ort in directe Beziehung zum König gebracht, er wird eine civitas major, publica, regalis. Weichbild und Weichbildsrecht haben demnach eine ganz significante Bedeutung. Während die Ausdrücke Burgrecht und Stadtrecht gar keinen für die Stadt eigenartigen Gedanken erkennen lassen, während die Bezeichnung Marktrecht nur die sachliche Bedeutung der Stadt angibt, bezeichnet Weichbildsrecht klar die rechtliche Stellung der Stadt, denn ein Weichbild, und demnach jede Stadt ist ein unter besonderem Königsschutz und Königsfrieden stehender Ort.

W. Varges.     


Siehe auch den Artikel von Ernst Bernheim in DZfG Bd. 6 S. 257–272: Die Entstehung des Deutschen Städtewesens. Eine Kritik der Sohm’schen Theorie.

Anmerkungen

  1. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Sohm’schen Schrift, aus der Feder E. Bernheim’s, wird unser nächstes Heft enthalten. [Red.]
  2. R. Schröder, Weichbild, in: Historische Aufsätze dem Andenken von Waitz gewidmet. 1886. S. 317. Ferner Lehrbuch der Dt. Rechtsgeschichte. 1889. S. 591.
  3. Gengler, Stadtrechtsalterthümer S. 7: daz wichhuz ist eyne where, die gebuwit wirt uf der stat muwer – vgl. S. 356.
  4. Gengler a. a. O. S. 357.
  5. Braunschw. Urkundenbuch S. 119.
  6. Privileg v. Radolfszell: die sich ansiedelnden Kaufleute erhalten Theil an der Allmende, die früheren Besitzer werden aber entschädigt. ZGOberrh 5, S. 142.
  7. Döbner, Städte-Privilegien Herzog Otto’s des Kindes. 1882. S. 26, gl. Privileg v. Grünberg i. H. Gengler, Stadtrechte S. 174. Stadtbuch von Herford, ebd. S. 192.
  8. Vgl. die Städte-Privilegien Otto’s des Kindes. Döbner a. a. O. Varges, Gerichtsverfassung von Braunschweig. 1890. S. 12.
  9. Privileg für Allensbach, ZGOberrh 5, S. 168.