Textdaten
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Autor: Lukian von Samosata
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Titel: Wahre Geschichten
Untertitel:
aus: Lucian’s Werke, übersetzt von August Friedrich Pauly, Sechstes Bändchen, Seite 684–748
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1827
Verlag: J. B. Metzler
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: August Friedrich Pauly
Originaltitel: Ἀληθῶν Διηγημάτων Α / B
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[684]
Der wahren Geschichte erstes Buch.
Vorwort.

1. So wie die Athleten und überhaupt Alle, welche durch Uebungen ihre Körperkräfte auszubilden suchen, nicht bloß auf Uebungsmittel, sondern auch auf zweckmäßige Erholungen bedacht sind, und diese als einen wesentlichen Theil ihrer auf Erhöhung körperlicher Vorzüge berechneten Lebensordnung betrachten: eben so halte ich es auch denen, welche sich ernsten wissenschaftlichen Beschäftigungen widmen, für zuträglich, ihrem Geiste nach anhaltenden und anstrengenden Studien eine Erholung zu gönnen, und ihn dadurch zu künftigen Arbeiten desto tüchtiger zu machen.

2. Für diesen Zweck der Erholung wüßte ich nichts Geeigneteres, als eine Lectüre, welche durch gefälligen und heitern Witz eben so sehr zur Gemüthsergötzung diente, als zugleich in dieser anmuthigen Gestalt eine heilsame Belehrung darböte. Ich wage es zu hoffen, daß von meinen Lesern ein Urtheil dieser Art über gegenwärtige Aufsätze werde gefällt werden. Was diese Anziehendes haben dürften, wird [685] nicht bloß in dem Abentheuerlichen des Inhaltes an sich, noch in dem scherzhaften Gedanken, ein buntes Allerlei von Lügen im ernsthaften Tone der Wahrheit vorzubringen, sondern auch darin liegen, daß mit jeder einzelnen der in denselben enthaltenen Schilderungen nicht ohne komische Wirkung auf diejenigen unter den alten Dichtern, Geschichtschreibern und Philosophen angespielt wird, welche uns Fabeln und Wunderdinge in Menge schriftlich hinterlassen haben, und die ich hier Alle namentlich aufführen könnte, wenn sie sich nicht dem Leser bald genug selbst verrathen würden.

3. So hat Ctesias, Ctesiochus Sohn, aus Cnidus, in seinem Buche über Indien Dinge geschrieben, die er weder selbst gesehen, noch von irgend Jemand erzählen gehört hatte. Von einem gewissen Jambulus haben wir ein Werk voller Wunderdinge, welche er dem großen Ocean, wie sich mit Händen greifen läßt, angedichtet hat, wiewohl er diesen (selbstgeschaffenen) Stoff nicht unergötzlich ausführte. Viele Andere haben sich, in demselben Geiste, zur Aufgabe gemacht, uns ihre weiten Reisen, ihre Irrfahrten zu beschreiben, und von ungeheuren Bestien, wilden und grausamen Menschen, seltsamen Sitten und Gebräuchen zu erzählen. Der große Vorgänger und Lehrmeister aller dieser schnakischen Leute ist kein anderer als Homer’s Ulysses, der dem Alcinous und seinen einfältigen Phäaken ein Langes und Breites von den Winden und dem strengen Regimente, unter welchem sie stehen, von einäugigen Menschenfressern und andern dergleichen Wilden, von vielköpfigen Thieren, von Zauberinnen, die seine Gefährten verwandelt, und andern Mirakeln dieser Art aufbindet.

[686] 4. Ich gestehe, daß ich allen diesen Leuten, so Viele mir deren vorgekommen sind, das Lügen an und für sich um so weniger zum Vorwurfe machen konnte, als ich sah, wie geläufig dasselbe sogar Männern ist, welche sich den Titel Philosophen beilegen: nur darüber mußte ich mich wundern, wie Jene sich einbilden konnten, die Leser würden nicht merken, daß an ihren Erzählungen kein wahres Wort sey. Zugleich war ich eitel genug, der Nachwelt auch ein Werkchen von meiner Feder hinterlassen zu wollen, um nicht allein auf das Recht und die Freiheit, Mythen zu schaffen, verzichten zu müssen. Denn Wahres zu erzählen hatte ich nichts (was ich in meinem Leben erfahren, ist der Rede nicht werth); und so mußte ich mich zur Lüge entschließen, doch so, daß ich dabei ein wenig aufrichtiger, als die Uebrigen, zu Werke gienge. Denn ich sage doch wenigstens die Eine Wahrheit: ich lüge. Durch dieses freie Geständniß hoffe ich allen Vorwürfen wegen des Inhalts meiner Geschichte zu entgehen. So erkläre ich denn feierlich: „Ich schreibe von Dingen, die ich weder selbst gesehen, noch erfahren, noch von Andern gehört habe, und die eben so wenig wirklich, als je möglich sind.“ Nun glaube sie, wer da Lust hat!


5. Ich schiffte mich einsmals bei den Säulen des Heracules [Gibraltar] ein, und steuerte mit gutem Ostwinde in den westlichen Ocean. Was mich zu dieser Reise trieb, war der lautere Vorwitz, und was ich damit beabsichtigte, war, neue Dinge kennen zu lernen und zu erfahren, wo der Ocean aufhöre, und was wohl das für Leute seyn mögen, die jenseits [687] desselben wohnen. Zu diesem Ende hatte ich eine gewaltige Ladung Lebensmittel und einen gehörigen Vorrath süßen Wassers an Bord genommen, und fünfzig meiner Cameraden mir zugesellt, die mit mir von ganz gleicher Gesinnung waren. Zugleich war ich mit einer sehr ansehnlichen Menge von Waffen versehen, hatte den geschicktesten Steuermann, den ich bekommen konnte, mit sehr hohem Gehalte in meine Dienste genommen, und mein Fahrzeug, einen Schnellsegler, in den besten Stand gestellt, um eine lange und gefahrvolle Seefahrt auszuhalten.

6. Den ersten Tag und die erste Nacht gieng es mit gutem Winde, und in ziemlich sanfter, gemäßigter Bewegung vorwärts: das Land blieb uns noch immer zur Seite sichtbar. Allein gleich mit Anbruch des folgenden Tages wurde der Wind stärker, die See gieng immer höher, der Himmel hüllte sich in Dunkel, und wir waren nicht einmal mehr im Stande, das Segel einzuziehen. Es blieb uns also nichts übrig, als uns dem Winde gänzlich zu überlassen, und so trieben wir unter den furchtbarsten Stürmen neun und siebzig Tage lang umher. Am achtzigsten aber brach auf einmal die Sonne aus den Wolken hervor, und wir sahen eine hohe und dichtbewaldete Insel vor uns, um welche die Wogen, deren Ungestüm sich schnell gelegt hatte, ohne alle Brandung spielten. Wir landeten, stiegen aus, und legten uns, um nach so lange ausgestandenem Ungemach auszuruhen, zur Erde nieder. Nachdem wir geraume Zeit so gelegen hatten, standen wir auf, wählten dreißig aus unserer Mitte, die zur Bewachung des Schiffes zurückbleiben mußten: wir ein und [688] zwanzig Uebrigen aber giengen landeinwärts, um die Insel genauer zu untersuchen.

7. Kaum mochten wir drei Stadien[1] vom Gestade durch den Wald fortgegangen seyn, als wir einer ehernen Säule ansichtig wurden, auf welcher in halberloschenen, vom Roste ausgefressenen, Griechischen Buchstaben zu lesen war: Bis hieher sind Hercules und Bacchus gekommen. Neben derselben bemerkten wir zwei in einen Fels eingedrückte Fußstapfen, wovon die eine einen Morgen Landes groß, die andere etwas kleiner war. Die letztere war, wie ich vermuthe, von Bacchus, die größere von Hercules. Wir verrichteten unser Gebet zu diesen Gottheiten und giengen weiter, waren aber noch nicht lange gegangen, als wir vor einem Flusse standen, der einen dem Chier ganz ähnlichen lautern Wein, und zwar in so reichlicher Masse führte, daß er an mehrern Stellen sogar Schiffe hätte tragen können. Um so mehr mußten wir also jener Inschrift Glauben schenken, da wir hier einen so augenscheinlichen Beweis von des Bacchus einstiger Anwesenheit vor uns hatten. In der Absicht, den Ursprung dieses Flusses zu erkunden, giengen wir längs demselben hinan, fanden aber keine Quelle, dagegen eine außerordentliche Menge gewaltiger Weinreben, die voller Trauben hiengen, und an denen der klare Wein tropfenweise herabrann, woraus sich nach und nach der Fluß bildete. Auch waren in demselben viele Fische zu sehen, die nach Farbe und Geschmack ganz diesem Weine glichen. Wir fiengen einige derselben und verzehrten sie, wurden aber sehr dadurch [689] berauscht; und wie wir sie genauer untersuchten, fanden wir, daß sie inwendig voller Hefe waren. Später kamen wir auf den Gedanken, diese Weinfische mit Wasserfischen zu vermischen, und es gelang uns, das allzu Starke des weinigten Gerichtes dadurch zu mildern.

8. Wir durchwadeten den Fluß an einer Stelle, wo er sehr seicht war, und stießen nun auf eine außerordentlich wunderbare Art von Weinreben. Unten am Boden bestanden sie aus einem sehr kräftigen und dicken Stamme, weiter aufwärts aber waren es Mädchen, die bis auf die Hüften herab an allen Theilen vollkommen ausgebildet waren, gerade wie man bei uns die Daphne malt, wie sie in dem Augenblicke, wo Apoll sie fassen will, zum Baume wird. Aus ihren Fingerspitzen sproßten Schößlinge, die voller Trauben hiengen, und sogar um ihre Köpfe schlangen sich statt der Haare Weinranken mit Laub und Trauben. Freundlich grüßend kamen sie auf uns zu und hießen uns willkommen: die meisten sprachen griechisch, einige auch lvdisch und indisch. Sie küßten uns auch auf den Mund; aber wer geküßt wurde, fühlte sich im Augenblick betrunken und verwirrt. Daß man Beeren von ihnen abpflückte, litten sie nicht, sondern schrieen vor Schmerz laut auf, so wie man welche abreißen wollte. Einige derselben bezeugten sogar Lust, sich mit uns zu begatten, allein zwei meiner Gefährten, die sich verführen ließen, konnten sich nicht wieder losmachen, sondern wuchsen und wurzelten dergestalt mit ihnen zu Einem Gewächse zusammen, daß auch ihnen die Finger in Sprößlinge ausliefen, und Weinranken sich um ihre Köpfe wanden; und es wird [690] nicht lange angestanden haben, so werden auch Trauben aus ihnen gewachsen seyn.

9. Wir verließen sie und eilten zu unserem Schiffe, um unsern zurückgebliebenen Gefährten Alles, was wir gesehen, besonders aber das Schicksal der beiden Freunde zu erzählen, wie sie halb zu Rebstöcken geworden wären. Hier füllten wir einige Fässer mit süßem Wasser, einige andere mit Wein aus dem Flusse, übernachteten in der Nähe des letztern, und lichteten dann mit Anbruch des folgenden Tages bei mäßigem Winde die Anker. Um Mittagszeit aber, als uns die Insel bereits aus dem Gesichte war, überfiel uns mit Einemmale eine Wasserhose, die unser Schiff mit Blitzesschnelle im Kreise herumwirbelte, in eine Höhe von sieben und siebzig Meilen emporhob, und nicht wieder auf dem Meere absetzte, sondern hoch in den Lüften schweben ließ, wo denn ein frischer Wind unsre Segel blähte und uns sanft über den Wolken dahin führte.

10. Sieben Tage und sieben Nächte hatten wir so auf unserer Luftfahrt zugebracht, als wir endlich am achten eine Art von Erde in der Luft zu Gesichte bekamen, gleich einer großen, kugelförmigen, von hellglänzendem Lichte erleuchteten Insel. Wir steuerten auf sie zu, legten an, stiegen an’s Land, und fanden bei näherer Untersuchung, daß sie bewohnt und angebaut war. So lange es Tag war, sahen wir nichts über sie hinaus: allein kaum war die Nacht eingebrochen, so erschienen noch allerhand Inseln in der Nähe, andere größer, andere kleiner, und alle feuerfarb. Und unten in der Tiefe wurden wir noch eine andere Erde gewahr mit Städten, [691] Flüssen, Meeren, Wäldern und Gebirgen, woraus wir denn vermutheten, daß es unsere Erde sey.

11. Wir waren schon entschlossen, weiter vorzudringen, als wir auf einen Trupp Geierritter oder Hippogypen, wie sie dort heißen, stießen, und sogleich von ihnen festgenommen wurden. Diese Hippogypen sind Männer, die auf ungeheuer großen, meist dreiköpfigen Geiern reiten, und diese Vögel so gut, wie wir die Pferde, zu regieren wissen. Wie groß sie sind, kann man daraus abnehmen, daß jede ihrer Schwungfedern dicker und länger als der Mastbaum des größten Kauffahrteischiffes ist. Diese Geierritter nun haben die Obliegenheit, auf der ganzen Insel umherzufliegen, und wo sie irgend einen Fremden antreffen, ihn sogleich vor den König zu bringen. So gieng es also auch uns. Wie der König uns sah, vermuthete er sogleich aus unserer Tracht, woher wir wären, und rief uns zu: „Also Griechen, meine Fremdlinge?“ Wir bejahten. „Wie seyd ihr denn“, fuhr er fort, „über diesen gewaltigen Luftraum zu uns heraufgekommen?“ Da erzählten wir ihm denn den ganzen Verlauf der Sache. Hierauf nahm er wieder das Wort, und erzählte uns gleichfalls seine Geschichte, wie er ehemals selbst ein Mensch und Bewohner unserer Erde, mit Namen Endymion, gewesen, aber einsmals im Schlafe entführt und hieher versetzt worden sey, wo er nun als König herrsche. Diese Erde sey eben dieselbe, welche uns da unten als Mond erscheine. Uebrigens sollen wir guter Dinge seyn, und keine Gefahr besorgen: wir würden mit Allem versehen werden, was wir nöthig hätten.

[692] 12. „Wenn ich“, setzte er hinzu, „den Krieg werde glücklich beendigt haben, den ich gegenwärtig mit den Sonnenbewohnern zu führen im Begriff bin, so sollt ihr bei mir das glücklichste Leben führen, das ihr euch nur wünschen könnt.“ Auf unsere Frage, wer denn eigentlich seine Gegner wären, und was die Veranlassung zu diesen Feindseligkeiten gegeben hätte? erwiederte er: „Phaëthon, König der Sonnenbewohner (denn es giebt deren, wie es Mondbewohner giebt), liegt mit uns schon seit längerer Zeit im Streite, und zwar aus folgender Ursache. Ich hatte den Plan, die Unbemitteltsten meiner Unterthanen als Colonisten auf den Morgenstern zu schicken, der damals noch öde und unbewohnt war. Phaëthon suchte aus Eifersucht die Anlegung dieser Colonie zu hintertreiben, indem er sich mit seinen Ameisenrittern oder Hippomyrméken meinen Auswanderern auf halbem Wege entgegenstellte. Wir waren auf einen solchen Widerstand nicht gehörig eingerichtet, und mußten daher mit bedeutendem Verluste wieder abziehen. Jetzt aber bin ich entschlossen, mich noch einmal mit ihm einzulassen, und meine Leute zur Theilnahme an der Ansiedelung aufzufordern. Wenn ihr nun Lust habt, an dieser Expedition Theil zu nehmen, so werde ich Jeden von euch mit einem Geier aus dem königlichen Marstalle und mit der gehörigen Bewaffnung versehen lassen. Morgen rücken wir aus.“ – „Gut,“ sagte ich, „wir ziehen mit, wenn dir’s genehm ist.“

13. Der König behielt uns bei Tafel: am folgenden Morgen aber machten wir uns zeitig auf, und stellten uns in Ordnung, weil die Vorposten gemeldet hatten, daß der Feind schon ganz in der Nähe stehe. Die gesammte Stärke [693] unserer[WS 1] Armee belief sich auf hunderttausend Mann, ohne die Packknechte, die Zimmerleute, die Schützen zu Fuß und die fremden Hülfstruppen. Jene bestanden aus achtzigtausend Geierrittern und zwanzigtausend Krautflüglern. Dieß ist gleichfalls eine außerordentlich große Gattung von Vögeln, die, anstatt mit Federn, über und über mit Krautblättern bewachsen sind, und deren Flügel die meiste Aehnlichkeit mit Lattichblättern haben. An sie schloßen sich die Hirsenschießer und Knoblauchstreiter. Außerdem waren auch noch Hülfstruppen aus dem großen Bär angelangt, dreißigtausend Flohschützen und fünfzigtausend Windrenner. Die Flohschützen haben ihren Namen daher, weil sie auf Flöhen, jede in der Größe von zwölf Elephanten, einher reiten. Die Windrenner sind zwar nur zu Fuß, laufen aber ohne Flügel in der Luft. Sie bewegen sich außerordentlich schnell, und zwar folgendermaßen: die langen Mäntel, womit sie bekleidet sind, schürzen sie so auf, daß sie vom Winde aufgebläht werden, und so lassen sie sich, wie Schiffe mit Segeln, vorwärts treiben. Im Treffen thun sie meistens die Dienste der leichten Schützen. Auch waren aus den Sternen über Cappadocien siebzigtausend Spatzeneicheln und fünfzigtausend Kranichreiter angesagt. Weil ich jedoch diese nicht zu Gesichte bekam, indem sie nicht eintrafen, so enthalte ich mich, sie näher zu beschreiben, wiewohl man mir ganz wunderbare und unglaubliche Dinge von ihnen erzählte.

14. Das waren also die Streitkräfte Endymion’s. Die Bewaffnung war bei Allen dieselbe; Helme aus Bohnenhäuten, deren es bei ihnen von ungemeiner Größe und Dicke [694] giebt, Schuppenpanzer aus den zusammengenähten Hülsen der Feigbohnen, welche dort so hart, wie Horn, werden, und Schilde und Schwerter wie bei uns Griechen.

15. Als es nun Zeit war, stellten sie sich in folgender Ordnung auf: den rechten Flügel bildeten die Geierritter, bei denen sich der König selbst befand, welcher die Auserlesensten seiner Truppen und uns in seiner Umgebung hatte; auf dem Linken standen die Krautflügler, im Centrum die Hülfstruppen, jede Gattung besonders. Das Fußvolk belief sich auf nahe an sechzig Millionen, und die Art, wie man sie anbrachte, war folgende. Es giebt daselbst eine sehr zahlreiche Gattung großer Spinnen, von welchen keine kleiner ist als jede der cykladischen Inseln. Diese erhielten Befehl, den Luftraum zwischen dem Monde und dem Morgensterne zu überspinnen. Im Augenblicke war das Gewebe fertig und bildete einen festen Boden, und nun konnte das Fußvolk auf demselben in Schlachtordnung gestellt werden. Ihr Anführer war Nachtvogel, Schönwetters Sohn, nebst noch zwei andern Feldherrn.

16. Auf dem feindlichen linken Flügel befanden sich die Ameisenritter mit Phaëthon an der Spitze. Jene Ameisen sind überaus große, geflügelte Thiere, die, bis auf die Größe, ganz mit unsern Ameisen übereinkommen. Die größte derselben nahm zwei volle Morgen Landes ein. Im Kampfe sind nicht bloß ihre Reiter thätig, sondern auch sie selbst, indem sie den Feind mit ihren Hörnern angreifen. Ihre Anzahl ward auf fünfzigtausend angegeben. Auf dem rechten Flügel waren die Mückenritter aufgestellt, ebenfalls an fünfzigtausend Mann, lauter Bogenschützen, die auf ungeheuern [695] Stechfliegen ritten. Hinter ihnen standen die Luftspringer, leichte, aber sehr streitbare Fußtruppen, die aus der Ferne Rettiche von entsetzlicher Größe auf den Feind schleuderten. Wer von einem solchen Rettiche getroffen ward, starb gleich darauf, indem die Wunde augenblicklich in eine abscheulich riechende Fäulniß übergieng. Wie man uns sagte, beschmieren sie ihre Rettiche mit Malvengift. An sie schloßen sich die Stengelpilze an, schwerbewaffnetes Fußvolk, zehentausend Mann an der Zahl, die ihren Namen daher haben, daß ihre Schilde aus Pilzen und ihre Spieße aus Spargelstengeln bestehen. Neben ihnen waren fünftausend Hundeichler aufgestellt, welche von den Bewohnern des Sirius [Hundssternes] dem Phaëthon zu Hülfe geschickt worden waren, Menschen mit Hundeköpfen, die auf geflügelten Eicheln stritten. Auch von des Phaëthon Hülfsvölkern sollen etliche ausgeblieben seyn, besonders die Schleuderer von der Milchstraße, und die Wolkencentauren. Letztere kamen zwar noch, allein erst, da das Treffen entschieden war, und – wären sie doch nimmermehr gekommen! Die Schleuderer hingegen ließen sich gar nicht sehen. Aus Zorn darüber soll Phaëthon nachmals ihr Land mit Feuer verwüstet haben. So gerüstet zog also der Sonnenkönig gegen uns heran.

17. Auf beiden Theilen wurde nun das Zeichen zum Angriff gegeben, wozu man sich hier zu Lande, anstatt der Trompeten, des Eselsgeschreies bedient. Das Treffen begann. Der linke Flügel der Helioten [Sonnenbewohner] ergriff die Flucht, noch ehe sie es zu einem förmlichen Gefecht mit unsern Geierrittern kommen ließen: wir verfolgten sie mit dem Schwert in der Faust, und hieben mörderisch auf sie [696] ein. Dagegen gewann anfänglich der feindliche rechte Flügel einen bedeutenden Vortheil über unsern linken, und die Mückenritter drängten unsere Krautflügler unaufhaltsam zurück, bis sie endlich auf unser Fußvolk stießen; allein dieses leistete so kräftigen Widerstand, daß die Feinde zum Weichen gebracht wurden und endlich die Flucht ergriffen, zumal als sie sahen, daß ihr linker Flügel schon völlig geschlagen war. So war also unser Sieg auf’s glänzendste entschieden: wir machten eine Menge Gefangener, und der Todten und Verwundeten waren so Viele, daß sich das Blut in Strömen über die Wolken ergoß, so daß sie ganz rothgefärbt erschienen, wie sie sich uns bei Sonnenuntergang zeigen: vieles träufelte sogar auf die Erde herab, so daß ich auf die Vermuthung kam, ob nicht eine ähnliche in alten Zeiten dort oben vorgefallene Begebenheit den Homer veranlaßt haben möchte, den Jupiter dem sterbenden Sarpédon zu Ehren Blut auf die Erde regnen zu lassen?

18. Nach unserer Rückkehr von der Verfolgung des Feindes errichteten wir zwei Trophäen, eine für das Fußvolk auf dem Spinnengewebe, und eine für die Luftstreiter auf den Wolken. Noch waren wir damit beschäftigt, als unsere Vorposten das Anrücken der Wolkencentauren meldeten, welche schon vor dem Treffen zu Phaëthon hätten stoßen sollen. Ihr Anblick, wie wir sie nun wirklich auf uns zukommen sahen, war der seltsamste von der Welt. Es waren zusammengesetzte Gestalten, halb Menschen, halb geflügelte Rosse: die menschliche Hälfte war wenigstens so groß, als der obere halbe Theil des Colosses von Rhodus, die Pferdehälfte wie ein Kauffahrteischiff größter Gattung. Ihre Zahl [697] will ich lieber gar nicht hersetzen, denn sie würde doch keinen Glauben finden, so ungeheuer groß war sie. Ihr Anführer war der Schütze aus dem Thierkreise. Wie sie sahen, daß ihre Freunde geschlagen waren, schickten sie sogleich einen Boten an Phaëthon mit der Aufforderung, das Treffen zu erneuern. Sie selbst ordneten sich zum Angriff, und fielen die bestürzten Seleniten [Mondbewohner] an, welche sich über der Verfolgung des Feindes und Einsammlung der Beute zerstreut hatten, schlugen sie sämmtlich in die Flucht, jagten dem Könige selbst bis vor seine Hauptstadt nach, und hieben den größten Theil seiner Vögel zusammen. Unsere Trophäen rissen sie nieder, und bemächtigten sich des ganzen von den Spinnen gewebten Schlachtfeldes. Ich selbst, nebst zweien meiner Cameraden, wurde ihr Gefangener. Jetzt erschien auch Phaëthon wieder, und ließ andere Trophäen statt der unsrigen aufrichten: wir aber wurden noch an demselben Tage, die Hände mit Stricken von dem Spinnengewebe auf den Rücken gebunden, nach der Sonne abgeführt.

19. Sie fanden zwar nicht für gut, die Hauptstadt der Seleniten zu belagern; allein auf dem Heimwege zogen sie eine Mauer mitten durch den Luftraum, so daß die Strahlen der Sonne nun nicht mehr bis zum Monde durchdringen konnten. Diese Mauer war aus einer gedoppelten Reihe dichter Wolken gebildet, wodurch eine vollkommene Mondsfinsterniß entstand, welche die Seleniten in beständige Nacht hüllte. In dieser Noth ordnete Endymion eine Gesandtschaft an den Sonnenkönig ab, welche flehentlich bitten mußte, daß man das Gemäuer niederreißen und sie doch nicht in ewiger Finsterniß schmachten lassen möchte; zugleich ließ er versprechen, [698] Tribut zu bezahlen, Hülfstruppen zu liefern, beständigen Frieden zu halten, und zur Gewährleistung Geiseln zu stellen. Phaëthon zog diese Anträge in zwei Versammlungen in Berathung: das Erstemal war man noch nicht geneigt, in etwas von dem Grolle nachzulassen; in der zweiten jedoch ließ man sich auf andere Gedanken bringen, und so kam der Friede auf den Grund nachstehenden Instrumentes zu Stande:

20. „Zwischen den Helioten und ihren Alliirten einer-,
„und den Seleniten und deren Alliirten andererseits
„ist folgender Vertrag geschlossen worden: die Helio-
„ten machen sich anheischig, die Mauer, so sie auf-
„geführt, wieder abzutragen, sich jeder weitern Ein-
„fälle in die Mondregion zu enthalten, und die
„Kriegsgefangenen, Jeden gegen ein vertragsmäßiges
„Lösegeld, frei zu geben. Dagegen verbinden sich die
„Seleniten, alle übrigen Sterne bei ihrer Unabhän-
„gigkeit zu belassen, niemals wieder gegen die Helioten
„die Waffen zu ergreifen, sondern Denselben, so wie
„Diese ihnen, im Falle eines feindlichen Angriffes be-
„reitwillig Hülfe zu leisten, ferner an den König der
„Helioten alljährlich einen Tribut von eintausend Ei-
„mern Thau zu liefern, zehentausend Geißeln aus
„ihrem Mittel zu stellen, endlich die Ansiedelung auf
„dem Morgenstern zu einer gemeinsamen Unterneh-
„mung zu machen und auch aus andern Völkerschaf-
„ten Jedermann, wer Lust dazu hat, die Theilnahme
„an derselben zu gestatten.

[699]

     „Vorstehender Vertrag soll auf eine Denksäule von
„Bernstein eingegraben, und solche auf der Gränze
„der beiderseitigen Reiche in freier Luft aufgestellt
„werden. Und zwar haben denselben beschworen:
„Von Seiten der  „Von Seiten der
 Helioten: Seleniten:
 Brander. Mittnacht.
 Sommermann. Monder.
 Hitzig. Scheinemann.

21. In Folge dieses Friedensvertrags wurde nun die Mauer ohne Verzug niedergerissen, und wir Gefangenen ausgeliefert. Wie wir auf dem Monde wieder angelangt waren, kamen uns unsere Cameraden und Endymion selbst entgegen, und umarmten uns mit thränenden Augen. Der Letzte bat uns sogar, für immer bei ihm zu bleiben und uns der neuen Colonie anzuschließen: mir versprach er, seinen eigenen Sohn zur Ehe zu geben, denn Weiber haben sie keine. Allein ich ließ mich auf keine Weise überreden, sondern bestand darauf, wieder an’s Meer hinabgeschickt zu werden. Wie er nun sah, daß es unmöglich wäre, uns zu bewegen, gab er uns sieben Tage nach einander Gastmähler zum Abschied, und ließ uns sodann ziehen.

22. Nun einige Worte von den seltsamen Merkwürdigkeiten, welche ich während meines Aufenthaltes auf dem Monde gesehen habe. Die Seleniten werden also nicht von Weibern, die sie nicht einmal dem Namen nach kennen, sondern von Männern geboren, mit denen man hier in der Ehe lebt, indem jeder bis zum fünf und zwanzigsten Jahre der [700] Geheirathete ist, nach dieser Zeit aber selbst heirathet. Sie tragen die Frucht nicht in der Bauchhöhle, sondern in der Wade: sobald nämlich das Empfängniß geschehen ist, wird die Wade dick und immer dicker; nach einiger Zeit aber schneidet man sie auf und zieht ein todtes Kind heraus, das nun mit offenem Munde dem Winde ausgesetzt und so zum Leben gebracht wird. Es ist mir wahrscheinlich, daß die Griechische Benennung der Wade, Beinbauch (γαστροκνημία), in dieser Einrichtung ihren Ursprung hat. Aber noch viel merkwürdiger ist Folgendes: Es giebt eine Gattung von Menschen daselbst, Baummenschen (Dendriten) genannt, die auf folgende Weise entstehen. Man schneidet einem Manne den rechten Hoden ab, und pflanzt ihn in die Erde: aus diesem wächst nun ein ungeheurer, fleischerner Baum, in Gestalt eines Phallus, mit Zweigen und Blättern. Die Frucht, die er trägt, ist eine Art ellenlanger Eicheln, aus welchen, wenn man sie reif werden läßt und sodann auseinander schlägt, die Menschen genommen werden. Diese Leute bedienen sich übrigens, wenn sie sich begatten, keiner natürlichen, sondern künstlich angesetzter Zeugungstheile, und zwar die Reichen und Vornehmen von Elfenbein, die Geringern aber nur von Holz.

23. Wenn ein Selenit alt geworden ist, so stirbt er nicht eigentlich, sondern zersetzt sich wie Rauch, und wird zu Luft. – Die Nahrung ist bei Allen dieselbe. Es wird ein großes Feuer aufgemacht, und auf dessen Kohlen eine Anzahl Frösche gebraten, deren bei ihnen ganze Schaaren in der Luft herumfliegen. Um diesen Kohlenhaufen setzen sie sich nun, wie um einen Tisch, schnappen mit Begierde nach dem [701] aufsteigenden Froschdampfe, und das ist ihr ganzer Schmauß. Ihr Getränke besteht aus Luft, die, wenn sie in einem Becher gedrückt wird, eine thauähnliche Flüssigkeit abgiebt. Natürlicherweise haben sie auch nicht die natürlichen Bedürfnisse, noch die Canäle dazu, wie wir. Das Organ hingegen, dessen jene jungen Leute, unter fünf und zwanzig, benöthigt sind, sitzt in der Kniekehle. Für schön gilt bei ihnen nur, wer einen völligen Kahlkopf hat: behaarte Köpfe sind ihnen ein Gräuel. Dagegen wird auf den Kometen ein Lockenkopf für eine Schönheit angesehen, wie uns einige Reisende, die auf jenen Sternen zu Hause waren, versicherten. Bart wächst ihnen nur um jene Kniegegend. Der Fuß läuft in eine einzige Zehe aus, jedoch ohne Nagel. Ueber dem Gesäß ist Jedem ein großer Kohlstrunk, wie ein Schwanz, aus dem Leibe gewachsen, der stets grün bleibt und nie abbricht, wenn man auch darauf fällt.

24. Sie schneutzen eine Art Honig von außerordentlich scharfem Geschmacke von sich: und wenn sie mit Anstrengung arbeiten oder ringen, so schwitzen sie am ganzen Körper eine Menge Milch aus, aus welcher durch Beimischung einiger Tropfen von jenem Honig, Käse bereitet wird. Aus Zwiebeln gewinnen sie ein sehr feines, wohlriechendes Salböl. Reben, die dort in sehr großer Menge wachsen, tragen, anstatt Wein-, Wassertrauben, deren Beeren ganz natürliche Hagelkörner sind; und ich vermuthe, daß, wenn ein starker Sturm die Rebstöcke schüttelt, so daß die Trauben davon zerrissen werden, alsdann die Beeren in Gestalt des Hagels auf unsere Erde fallen. Ihr Bauch dient ihnen statt eines Ränzels, das sie nach Belieben öffnen und schließen können, und [702] worin sie ihre Bedürfnisse bei sich tragen. Es findet sich in demselben keine Leber noch sonstiges Eingeweide, sondern die ganze innere Seite ist dicht mit Pelz und Wolle bewachsen, so daß die neugebornen Kinder, so bald sie frieren, sich dann verkriechen.

25. Die Kleider der Reichen sind aus Glas, weich und fein: die der Aermern aus gesponnenem Erze. Denn diese Gegenden sind sehr erzhaltig, und man verarbeitet es wie Wolle, indem man es zuvor etwas mit Wasser anfeuchtet. Was aber ihre Augen betrifft, so wage ich es kaum, etwas davon zu sagen, weil ich besorge, das Unglaubliche der Sache möchte mir den Verdacht der Lügenhaftigkeit zuziehen. Gleichwohl will ich auch dieß mittheilen. Sie haben nämlich Augen, die sich herausnehmen lassen: wer also Lust hat, nimmt sie aus und hebt sie auf, bis er etwas zu sehen braucht, alsdann setzt er nur seine Augen wieder ein und sieht. Manche, so die ihrigen verloren haben, borgen welche von Andern. Reiche Leute haben deren sogar mehrere im Vorrath. Ihre Ohren sind aus den Blättern des Ahornbaums gemacht; nur die Baummenschen haben hölzerne.

26. Ein anderes großes Wunder sah ich im königlichen Palaste. Auf einem nicht allzu tiefen Brunnen liegt ein Spiegel von ungeheurer Größe. Wer in den Brunnen hinabsteigt, hört Alles, was auf unserer Erde gesprochen wird; und wer in den Spiegel schaut, sieht unsere Städte und Menschen, als ob sie vor ihm ständen. Damals sah auch ich meine Vaterstadt recht gut, und alle meine Bekannten darin: ob sie aber auch mich gesehen, kann ich freilich nicht mit Gewißheit sagen. Wer mir übrigens nicht glauben will, kann [703] sich, wenn er einmal selbst zu den Seleniten kommen sollte, leicht von der Wahrheit meiner Erzählung überzeugen.

27. Wir verabschiedeten uns nun von dem Könige und seinem Hofe, um uns wieder einzuschiffen. Bei’m Abschiede beschenkte mich Endymion mit zwei Glasmänteln, fünf Erzröcken und einer vollständigen Rüstung aus Bohnenhülsen: ich mußte aber alles im Wallfisch zurücklassen. Auch gab er uns ein Tausend seiner Geierritter mit, die uns auf eine Strecke von fünfhundert Stadien begleiteten.

28. Nachdem wir auf unserer Fahrt an verschiedenen andern Ländern vorbeigekommen waren, machten wir an dem so eben erst bewohnbar gemachten Morgenstern Halt, und stiegen an’s Land, um uns mit frischem Wasser zu versehen. Hierauf steuerten wir in den Thierkreis, indem wir zur Linken dicht an der Sonne hinsegelten. So gerne meine Gefährten an’s Land gegangen wären, so erlaubte uns doch der Wind nicht, anzulegen. Uebrigens bot sich diese Gegend unsern Augen als eine blühende, fruchtbare, wohlbewässerte und mit Vorzügen aller Art reichlich gesegnete Landschaft dar. Kaum wurden uns die Wolkencentauren, die im Solde des Sonnenkönigs Phaëthon stehen, ansichtig, als sie auf unser Schiff zugeflogen kamen: wie sie sich aber überzeugten, daß wir in jenen Tractat mit eingeschlossen wären, entfernten sie sich wieder.

29. Nun hatten sich auch die Geierritter von uns verabschiedet; und wir steuerten die Nacht und den folgenden Tag hindurch immer abwärts, bis wir gegen Abend bei der sogenannten Lampenstadt (Lychnopolis) anlangten. Diese [704] Stadt liegt etwas unterhalb des Thierkreises zwischen der Luftregion der Pleiaden und der der Hyaden. Wir landeten und giengen in die Stadt, fanden aber keinen Menschen daselbst, sondern eine Menge Lampen, die auf den Straßen, auf dem Markte, am Hafen hin und wieder liefen. Die meisten derselben, ohne Zweifel die ärmere Classe, waren klein und unscheinbar: einige wenige erkannte man an ihrem hellstrahlenden Lichte als die Großen und Mächtigen. Jede hatte ihr eigenes Haus, das heißt ihre Laterne, und ihren eigenen Namen, wie die Menschen: und wir hörten, daß sie in einer Art von Sprache mit einander redeten. Wiewohl sie uns nun nichts zu leide thaten, sondern im Gegentheile uns gastfreundlich bei sich aufgenommen hatten, so war uns doch unheimlich bei ihnen zu Muth, so daß wir uns weder zu essen, noch zu schlafen getrauten. In der Mitte der Stadt befindet sich das Stadthaus, wo ihre Bürgermeisterin die ganze Nacht durch sitzt, und eine Lampe nach der andern bei Namen zu sich ruft; welche nicht sogleich erscheint, wird als eine ungehorsame Bürgerin zum Tode, das heißt zum Ausgelöschtwerden, verurtheilt. Wir hatten uns selbst dorthin begeben, um zuzusehen, und hörten, wie verschiedene von ihnen allerlei Ursachen, warum sie zu spät gekommen, zur Entschuldigung anführten. Da erkannte ich denn auch unsere eigene Hauslampe: ich redete sie sogleich an und erkundigte mich, wie es in meinem Hause stünde, worauf sie mir Alles erzählte, was sie wußte. Selbige Nacht blieben wir noch in der Lampenstadt: am folgenden Tage aber schifften wir weiter, kamen an den Wolken vorbei, und erblickten nun die [705] wunderbare Wolkenkukuksstadt[2], in welche wir übrigens, des widrigen Windes wegen, nicht einlaufen konnten. Ihr gegenwärtiger König ist Seerabe, Amsels Sohn. Da gedachte ich des wackern Dichters Aristophanes, wie wahr er uns berichtet, und wie großes Unrecht ihm geschieht, wenn man seinen Nachrichten nicht glauben will. Nach drei Tagen bekamen wir den Ocean wieder zu Gesichte; aber Land sahen wir nirgends, außer jenen Inseln in der Luft, die uns überaus feurig und funkelnd vorkamen. Am vierten Tage gegen Mittag ließ der Wind allmählig nach, und setzte uns auf dem Meere ganz sanft wieder ab.

30. Welches unbeschreibliche Wonnegefühl ergriff uns, als wir uns wieder auf dem Wasser sahen! Wir stellten sogleich einen allgemeinen Schmauß an, so gut es unsere Vorräthe zuließen, und sprangen dann in See und schwammen und tummelten uns nach Herzenslust: denn die ganze Meeresfläche war ruhig, still und spiegelglatt. Aber ist es doch oft, als sollte eine glückliche Veränderung der Vorbote größerer Unfälle seyn! Nur zwei Tage hatten wir so auf diesem Meere vorwärts gesteuert, als wir mit Anbruch des dritten unvermuthet eine große Menge Wallfische und andere Seeungeheuer gewahr wurden, deren größtes, ein Wallfisch, wenigstens fünfzehnhundert Stadien[3] lang war. Dieser kam mit aufgesperrtem Rachen auf uns zu, brachte schon von weitem das Meer in schäumenden Aufruhr, und wies uns Zähne, [706] die länger als bei uns die größten Phallussäulen,[4] so spitzig als Zaunpfähle, und weiß wie Elfenbein waren. Da reichten wir uns, wie zum letzten Abschiede, die Hände, umarmten uns und erwarteten seine Ankunft. Er kam, ein Schluck – und wir waren zusammt unserem Schiffe in seinem Bauche. Denn er nahm sich nicht Zeit, uns erst mit den Zähnen zu zermalmen, sondern ließ das ganze Fahrzeug durch seinen weiten Schlund hinuntergleiten.

31. Anfänglich waren wir von der dichtesten Finsterniß umgeben: nach einer Weile aber, als der Rachen wieder aufgähnte, sahen wir, daß wir uns in einem ungeheuern weiten und hohen Raume befanden, der wohl eine Stadt von zehntausend Einwohnern hätte in sich fassen können. Ueberall lagen kleine Fische und andere Thiere in Menge zerstückelt umher, nebst Segeln und Ankern, Menschenknochen und Waarenballen. In der Mitte dieses Raumes war eine Erde mit Bergen und Thälern, die sich höchstwahrscheinlich aus dem vielen Schlamm, den das Thier verschluckte, allmählig angesetzt hatte. Es befand sich ein Wald auf derselben, und Bäume und Küchengewächse aller Art, wie aus einem mit Fleiß angebauten Lande. Der Umfang dieser Art von Insel betrug zweihundert und vierzig Stadien [an zehen Stunden]. Auch sogar Seevögel waren hier zu sehen, Möven, Halcyonen, die auf den Bäumen nisteten.

32. Anfänglich wußten wir nichts zu thun, als unserer Betrübniß durch einen reichlichen Thränenstrom Luft zu machen. Allmählig aber gelang es mir, den Muth meiner Gefährten [707] wieder aufzurichten: wir gaben also vor allen Dingen unserm Schiffe eine feste Unterlage, machten ein Feuer auf, und kochten uns aus den Fischen, die in großer Menge und Mannigfaltigkeit umherlagen, eine Mahlzeit: mit Wasser waren wir noch aus dem Morgenstern versehen. Des folgenden Tages, als wir aufgestanden waren, erblickten wir, so oft das Ungeheuer gähnte, bald Land und Berge, bald nichts als Himmel, bald wieder einzelne Inseln, woraus wir schlossen, daß sich dasselbe mit großer Geschwindigkeit in allen Theilen des Oceans herumbewege. Nachgerade wurden wir dieses Aufenthaltes gewohnt, und ich entschloß mich, nebst sieben meiner Kameraden, in den Wald zu gehen und Alles genau zu untersuchen. Nachdem wir nicht volle fünf Stadien fortgegangen waren, so entdeckten wir einen Tempel des Neptun, wie die Inschrift besagte, etwas weiter hin viele Grabhügel mit Denksäulen, und ganz in der Nähe derselben eine Quelle des klarsten Wassers. Zugleich vernahmen wir das Bellen eines Hundes, und bemerkten, wie aus einiger Entfernung Rauch aufstieg, so daß wir uns in der Nähe eines Gehöftes vermuthen mußten.

33. Wir verdoppelten also unsere Schritte, und standen in wenigen Augenblicken vor einem bejahrten Manne und einem Jünglinge, die sehr emsig in einem Gemüsegarten arbeiteten, und eben beschäftigt waren, Wasser aus jenem Bache in denselben zu leiten. Von Freude und Bangigkeit gleich sehr ergriffen, standen wir stille. Nicht anders muß es auch diesen Beiden ergangen seyn, denn sie sahen uns eine lange Weile in sprachlosem Erstaunen an. Endlich brach der Alte das Stillschweigen: „Wer seyd ihr denn, ihr Fremdlinge? [708] etwa Meergeister, oder verunglückte Sterbliche unsers gleichen? Denn wir, die ihr sehet, sind Menschen, und auf der Erde geboren und erzogen; nun aber zu Meerbewohnern geworden, und schwimmen mit dem Thiere, in welchem wir eingeschlossen sind, herum, ohne recht zu wissen, wie uns geschieht: denn wir meinen, noch zu leben, während uns doch wahrscheinlich seyn muß, daß wir längst gestorben sind.“ „Und wir, Vater,“ versetzte ich, „wir sind auch Menschen, ganz neue Ankömmlinge, die erst vor wenigen Tagen sammt ihrem Schiffe verschlungen worden sind. Wir kamen hierher, um diesen Wald näher kennen zu lernen, der uns so groß und dicht vorkam. Aber ein guter Genius war es gewiß, der uns zu dir führte, um zu sehen, daß wir nicht die Einzigen sind, welche dieses Ungeheuer in sich verschlossen hält. Aber erzähle uns nun doch deine Schicksale, wer du bist und wie du hierher kamst.“ „Nicht eher,“ war seine Antwort, „werde ich euch mein Geschick erzählen, noch euch um das eurige befragen, bis ich euch gastfreundlich, so gut ich’s vermag, bewirthet haben werde.“ Mit diesen Worten führte er uns in seine Wohnung, die für diese Umstände in der That gut genug aussah, und mit Matratzen und sonstigen Bequemlichkeiten versehen war. Er setzte uns Gemüse, Baumfrüchte und Fische vor, und ließ es auch sogar an Wein nicht fehlen. Nachdem wir uns zur Genüge hatten belieben lassen, fragte er uns nach unsern Erlittenheiten. Ich erzählte ihm Alles der Reihe nach, den Sturm, die Abenteuer auf der Insel, die Luftfahrt, den Krieg, kurz Alles bis zu unserer Hinabfahrt in den Wallfisch.

[709] 34. Der Alte wunderte sich höchlich, und gab uns dann auch seine Geschichte zum Besten, indem er sagte: „Meine Heimath ist Cypern. In Handelsgeschäften schiffte ich einst mit diesem meinem Sohne da und vielen Sclaven auf einen großen, reichbefrachteten Kauffahrteischiffe, dessen Trümmer ihr im Schlunde unseres Ungeheuers gesehen haben müßt, von Hause weg nach Italien. Bis auf die Höhe von Sicilien gieng die Fahrt ganz glücklich von Statten. Aber nun packte uns ein furchtbarer Sturm, und führte uns binnen drei Tagen in den großen Ocean, wo wir auf diesen Wallfisch stießen und von ihm mit Mann und Maus verschlungen wurden. Alle meine übrige Mannschaft gieng zu Grunde, und nur wir Beide blieben am Leben. Nachdem wir unsere Begleiter begraben hatten, erbauten wir dem Neptun einen Tempel, und leben nun hier, so gut es gehen mag, bauen unsern Küchengarten und nähren uns von Kohl, Fischen und Baumfrüchten. Dieser große Wald, wie ihr seht, versieht uns reichlich mit Holz, und trägt auch eine Menge wilder Weinreben, die einen äußerst lieblichen Wein liefern. Aus jener Quelle, die ihr ohne Zweifel schon gesehen habt, erhalten wir das reinste und frischeste Wasser. Unser Lager bereiten wir uns aus Blättern. Und wenn Vögel herein fliegen, so machen wir Jagd auf dieselben: wollen wir aber Fische fangen, so begeben wir uns an die Kiemen des Thieres, wo wir uns auch baden, so oft wir Lust haben. Ueberdieß liegt nicht weit von da ein See mit salzigtem Wasser, von ungefähr zwanzig Stadien im Umfange, mit Fischen von allen Gattungen: in demselben schwimmen wir nach Gefallen oder rudern auf einem kleinen Nachen umher, den ich selbst gezimmert habe. [710] So treiben wir es nun, seitdem wir verschlungen worden sind, volle sieben und zwanzig Jahre her.

35. Alles dieß könnten wir uns am Ende noch gefallen lassen. Allein unsere Nachbarn und Angränzer sind gar zu unfreundliche, abstoßende und rohe Leute.“ – „„Wie?““ rief ich, „„also giebt es noch andere Bewohner in diesem Wallfisch?““ „O deren Viele,“ versetzte er, „aber ungesellige, abschreckend gestaltete Geschöpfe. Im westlichen Theile des Waldes, gegen den Schwanz zu, wohnen die Tarichanen (Salzpökler), ein streitsüchtiges, trotziges, gefräßiges Volk mit Aalaugen und Krebsgesichtern. Auf einer andern Seite, an der rechten Wand hin, befinden sich die Tritonomendeten deren obere Hälfte einem Menschen, die untere einer Eidechse gleicht: diese Gattung ist übrigens minder roh und gewaltthätig als die Andern. Zur Linken hausen die Carcinochiren und Thynnocephali (Krebsarme und Thunfischköpfe), die unter sich Freundschaft und Bündniß geschlossen haben. Die Mitte des Landes hat das streitbare und schnellfüßige Geschlecht der Paguriden und Psettopoden (Schaalschwänze und Schollenfüßler) inne. Die östliche, dem Rachen zunächst liegende, Gegend ist Ueberschwemmungen zu sehr ausgesetzt, und daher größtentheils unbewohnt. Gleichwohl muß ich für die Strecke derselben, die ich hier inne habe, den Schollenfüßlern einen jährlichen Tribut von fünfhundert Stück Austern entrichten.

36. So ist also dieses Land beschaffen: ihr könnt euch nun leicht vorstellen, wie viele Mühen und Sorgen wir haben, uns dieser bösen Nachbarn zu erwehren, und wenigstens unser Leben davon zu bringen.“ – „Wie viel sind es denn ihrer [711] im Ganzen?“ fragte ich. Er: „Ueber tausend.“ Ich: „Und womit sind sie bewaffnet?“ Er: „Bloß mit Fischgräthen.“ Ich: „Ach, da ist wohl das Beste, wir greifen sie ohne Umstände an, da wir wohl bewaffnet sind, und sie nicht. Wir schlagen sie, und so haben wir in Zukunft Ruhe vor ihnen.“ Der Vorschlag gefiel dem Alten. Wir begaben uns also zu unserem Schiffe zurück, und trafen Anstalten. Den Anlaß zum Kriege mußte die Verweigerung des Tributs abgeben, dessen Termin eben eingetreten war. Jene schickten Abgeordnete, um denselben einzutreiben; Scintharus (so hieß unser Wirth) gab ihnen eine schnöde Antwort und jagte sie fort. Ergrimmt hierüber, fielen die Psettopoden und Paguriden mit großem Geschrei in die Pflanzung unsers Alten ein.

37. Wir waren auf diesen Angriff gefaßt, und erwarteten ihn unter den Waffen. Zuvor aber hatte ich fünf und zwanzig meiner Leute mit dem Befehle vorausgeschickt, sich in einen Hinterhalt zu legen, und, sobald der Feind vorbeigezogen seyn würde, vorzubrechen. Sie thaten es und griffen den Feind im Rücken an, während wir fünf und zwanzig übrigen (denn Scintharus und sein Sohn fochten mit) dem Anfall mit Muth und Nachdruck von vorn begegneten, und einen hartnäckigen Kampf bestanden, bis wir endlich die Feinde in die Flucht schlugen und bis zu ihren Höhlen verfolgten. Von den Feinden fielen hundert und siebenzig: unsererseits nur Einer, unser Steuermann, dem die Rippe einer Meerbarbe die Nieren durchbohrt hatte.

38. Den Rest dieses Tages und die folgende Nacht kampirten wir auf dem Schlachtfelde, nachdem wir eine Trophäe, [712] bestehend aus dem gedörrten Rückgrath eines Delphin, errichtet hatten. Am folgenden Tage erschienen auch die andern Völkerschaften, die inzwischen das Vorgefallene vernommen hatten: und zwar nahmen die Tarichanen, unter ihrem Anführer Pelamus, den rechten Flügel ein, die Thynnocephali den linken, die Carcinochiren das Centrum. Die Tritonomendeten entschieden sich für keinen Theil und verhielten sich ruhig. Wir rückten unsern neuen Feinden bis an den Tempel des Neptun entgegen, wo wir unter einem Geschrei, von dem der ganze Wallfisch, wie ein großes Gewölbe, gräßlich wiederhallte, das Treffen begann. Auch Diese jagten wir bald aus dem Felde, da sie nur sehr schlecht bewaffnet waren, trieben sie in den Wald und behaupteten den ganzen Wahlplatz.

39. Nach kurzer Zeit schickten sie Abgeordnete an uns, um ihre Todten abzufordern und Friedensvorschläge zu thun. Allein wir fanden nicht für gut, darauf einzugehen, sondern griffen sie Tags darauf abermals an, und machten sie sammt und sonders nieder, mit alleiniger Ausnahme der Tritonomendeten, welche, da sie sahen, wie wir hausten, eiligst nach den Kiemen liefen und ins Meer sprangen.

Wir durchwanderten jetzt das ganze, von Feinden nunmehr gesäuberte Land, und wohnten von nun an ganz ungestört beisammen, beschäftigten uns mit Jagd und Leibesübungen, pflegten unsere Weinreben, sammelten die Früchte von den Bäumen – kurz wir befanden uns ganz in der Lage von Leuten, die zwar in einem weiten Gefängnisse sind, aus welchem kein Entkommen ist, die sich übrigens ihr Leben so [713] bequem und genußreich, als möglich, machen. Ein Jahr und acht Monate brachten wir auf diese Weise zu.

40. Allein am fünfzehnten Tage des neunten Monats, bei’m zweiten Maulaufreißen des Wallfisches (dieß geschah regelmäßig jede Stunde einmal; und daran merkten wir uns die Stunden), vernahmen wir ganz unvermuthet ein entsetzliches Schreyen und Getöse wie von Schiffleuten und Ruderschlägen. In der Bestürzung krochen wir bis an das Maul des Thieres hinan und stellten uns zwischen seine Zähne: und nun bot sich uns das außerordentlichste Schauspiel dar, das ich in meinem Leben gesehen – fürchterliche Riesen, von der Größe eines halben Stadiums,[5] kamen auf großen Inseln, wie auf Galeeren, angefahren. Ich sehe voraus, man wird meine Erzählung unglaublich finden, aber ich gebe, was ich gesehen habe. Diese Inseln waren nicht sehr hoch, aber überaus lang, und jede derselben hatte wenigstens hundert Stadien im Umfange. Jede trug ungefähr hundert und zwanzig jener Riesen: ein Theil derselben saß in zwei Reihen zu beiden Seiten, und schaffte mit großen Cypressenbäumen sammt Laub und Aesten, wie mit Rudern, die Insel vorwärts. Hinten stand der Steuermann auf einem hohen Hügel mit einem fünf Stadien langen Steuerruder von Erz in der Hand. Auf dem Vordertheile standen gegen vierzig bewaffnete Streiter, die in Allem wie Menschen aussahen, nur daß sie, statt des Haupthaares, ein großes flammendes Feuer auf dem Kopfe hatten, und also keine Helme brauchten. Die [714] Stelle der Segel vertrat auf jeder dieser Inseln ein dicht bewachsener Wald, an welchem der Wind Widerstand fand, und die Insel in jeder dem Steuermann beliebigen Richtung fortbewegte. Bei den Rudern stand der Rudermeister: und so gieng die Fahrt mit eben der Regelmäßigkeit und Geschwindigkeit, wie bei den schnellsegelnden Kriegsschiffen von Statten.

41. Anfänglich sahen wir nur zwei oder drei solcher Inseln; nach und nach aber kamen ihrer an sechshundert zum Vorschein, die sich einander gegenüber stellten, und eine förmliche Seeschlacht lieferten. Viele derselben, die sich mit den Vordertheilen anrannten, zerschellten aneinander, viele andere wurden über den Haufen gefahren und versenkt; auf denen aber, die sich wechselseitig fest hielten, entwickelte sich der hartnäckigste Kampf. Denn die auf den Vordertheilen aufgestellten Krieger zeigten eine ungemeine Streitlust, sprangen auf die feindlichen Fahrzeuge, hieben mörderisch um sich, und gaben keinen Pardon. Anstatt der eisernen Enterhaken warfen sie an Taue gebundene ungeheure Polypen gegen einander, die sich mit ihren Armen in dem Walde verwickelten und so die Insel festhielten. Die verwundenden Wurfgeschosse, deren sie sich gegenseitig bedienten, waren Austern, so groß wie ein Heuwagen, und Schwämme, im Umfang wie ein Morgen Ackers.

42. Der Anführer des einen Theils hieß Aeolocentaurus (Sturmcentaur), der des andern, Thalassopotes (Meersauser); und den Anlaß zum Kriege gab, wie mir schien, eine Raubthat. Denn es hieß, Thalassopotes habe [715] jenem viele Heerden Delphine davongeführt. So viel konnte ich wenigstens aus ihrem wechselseitigen Geschrei vernehmen, wodurch ich auch die Namen dieser beiden Könige erfuhr. Das Ende von der Sache war, daß Aeolocentaurus siegte, ungefähr hundert und fünfzig feindliche Inseln in den Grund bohrte, drei andere aber, sammt der Mannschaft, in seine Gewalt bekam: die übrigen hatten sich allmählig zurückgezogen und das Weite gesucht. Die Sieger verfolgten sie zwar eine Strecke weit, kehrten aber, da es Abend wurde, wieder zu den versunkenen Inseln zurück, bekamen die meisten derselben in ihre Gewalt, und retteten auch die ihrigen: denn auch von ihrer Seite waren nicht weniger als achtzig untergegangen. Hierauf errichteten sie ein Siegesdenkmahl, indem sie eine der feindlichen Inseln über dem Kopfe des Wallfisches aufspießten, und brachten die Nacht in der Umgebung des Ungeheuers zu, nachdem sie zuvor ihre Inseln mit Tauen an dem Körper desselben befestigt und dicht dabei vor Anker gelegt hatten; zu welchem Behuf sie sich einer überaus großen und dauerhaften Art gläserner Anker bedienten. Des andern Tages verrichteten sie ein feierliches Opfer auf dem Rücken des Wallfisches, begruben ihre Todten auf ebendemselben, und fuhren dann jubelnd, und, wie es mir vorkam, Siegeslieder singend, von dannen. So war der Verlauf dieser Inselfahrt.

[716]
Der wahren Geschichte zweites Buch.

1. Da mir aber dieses Leben im Bauche des Wallfisches nachgerade anfieng, langweilig und unerträglich zu werden, so dachte ich auf ein Mittel, wie wir wieder herauskommen könnten. Anfänglich kamen wir auf den Einfall, uns durch die rechte Bauchseite einen Ausweg zu graben. Gedacht, gethan; wir hieben und gruben drauf los. Als wir aber über fünfhundert Klafter tief gearbeitet hatten und gleichwohl sahen, daß noch nichts ausgerichtet war, gaben wir dieß Vorhaben auf, und beschloßen, den Wald anzuzünden. Denn dieß, dachten wir, müsse dem Ungethüm den Garaus machen, und dann würde es uns ein Leichtes seyn, uns herauszuarbeiten. Sieben Tage und sieben Nächte brannte der Wald schon, ohne daß die Hitze auf unsern Wallfisch den geringsten Eindruck machte: am achten und neunten Tage aber bemerkten wir, wie er zu erkranken anfieng. Das Maulaufreißen erfolgte in längern Zwischenräumen, und wenn er auch den Rachen öffnete, so verschloß er ihn sogleich wieder. Am zehenten und eilften gieng es mit ihm immer näher dem Ende zu, und es roch schon sehr übel. Kaum noch zu rechter Zeit fiel uns am zwölften Tage ein, daß wir, wenn man nicht bei seinem nächsten Aufgähnen die Backenzähne mit Stützen auseinander sperrte, um ihm das Verschließen des Rachens unmöglich zu machen, Gefahr liefen, in dem Leichname eingeschlossen zu werden und zu Grunde zu gehen. [717] Wir keilten ihm also das Maul mit ungeheuern Balken auseinander; machten sodann unser Fahrzeug zurecht, und schafften einen möglichst großen Vorrath von Wasser und sonstigen Bedürfnissen an Bord: zum Steuermann erbot sich Scintharus. Am folgenden, dreizehenten Tage war der Wallfisch endlich draufgegangen.

2. Da zogen wir das Schiff den Rachen herauf, schoben es zwischen dem Maule durch, banden es an den Zähnen fest, und ließen es ganz sachte in die See hinab. Wir selbst bestiegen den Rücken, opferten oben bei der Riesen-Trophäe dem Neptun, verweilten, einer Windstille wegen, drei ganze Tage daselbst, und segelten endlich am vierten von dannen. Unter Weges stießen wir auf eine Menge Leichname, von Denen, die in dem Seetreffen umgekommen waren, und maßen mit Erstaunen ihre außerordentliche Größe. Unsere Fahrt gieng bei sehr gemäßigter Luft mehrere Tage auf’s Beste von Statten. Ein entsetzlich scharfer Nordwind aber, der sich jetzt erhob, führte eine so grimmige Kälte herbei, daß die ganze See fest gefror, und zwar nicht blos auf der Oberfläche, sondern bis in eine Tiefe von wenigstens vierzig Klaftern. Wir verließen also unser Schiff, und giengen auf dem Eise wie auf festem Lande umher. Weil wir aber den anhaltend wehenden, scharfen Wind nicht aushalten konnten, so halfen wir uns, einem guten Rathe des Scintharus gemäß, auf folgende Weise. Wir gruben eine sehr geräumige Höhle in das Eis, und brachten dreißig Tage in derselben zu, indem wir ein gutes Feuer unterhielten und uns die Fische kochten, welche wir unter’m Graben gefunden hatten. Weil uns aber die nothwendigsten Bedürfnisse allmählig zu [718] mangeln anfiengen, machten wir uns wieder heraus, zogen unser eingefrornes Schiff aus seiner Eiskluft, spannten die Segel aus, und glitten nun von dem frischen Winde getrieben auf der starrenden, glatten Fläche sanft und ungehemmt, wie auf dem Wasser dahin. Nach fünf Tagen trat wieder Sommerwärme ein, das Eis löste sich, und ringsumher ward Alles wieder zu Wasser.

3. Nachdem wir ungefähr dreihundert Stadien zurückgelegt haben mochten, kamen wir an eine kleine unbewohnte Insel, wo wir süßes Wasser einnahmen, das uns auf die Neige gegangen war, und zwei wilde Ochsen erlegten, die das Besondere hatten, daß sie die Hörner nicht auf der Stirne, sondern, wie es Momus haben wollte, unter den Augen trugen. Wir schifften uns wieder ein, und kamen bald darauf in ein Meer, das nicht mehr von Wasser, sondern von lauterer Milch war. In demselben bekamen wir eine ganz weisse, mit Reben bewachsene Insel zu Gesichte, die, wie wir uns in der Folge überzeugten, da wir einbissen, aus einem einzigen, ungeheuern Käse bestand, und fünf und zwanzig Stadien im Umfange hatte. Die Reben hiengen voller Trauben; als wir sie aber ausdrückten, floß Milch statt Wein aus den Beeren. In der Mitte der Insel war ein Tempel errichtet „der Nereïde Galatéa,“[6] wie die Aufschrift besagte. Die ganze Zeit über, die wir hier zubrachten, gab uns die Insel Nahrung und Zukost im Ueberfluß, und das Getränke lieferten uns die Milchreben. Der Sage nach ist die Beherrscherin [719] dieser Gegenden Tyro [Käserin], die Tochter des Salmoneus, welche, nachdem sie die Welt verlassen, dieses Reich von Neptun[7] zum Ehrengeschenk erhalten hatte.

4. Nach einem Aufenthalte von fünf Tagen auf der Käseinsel, lichteten wir am sechsten die Anker, und segelten, von einem angenehmen Luftzuge begünstigt, der die Oberfläche des Meeres sanft kräuselte, weiter. Am achten Tage, da wir uns nicht mehr in der Milchsee, sondern bereits wieder im gesalzenen und blaugrünen Meerwasser befanden, wurden wir einer großen Anzahl von Menschen ansichtig, die auf dem Meere einherliefen, und, den einzigen Unterschied abgerechnet, daß sie Füße von Korkholz hatten, an Größe und Bildung uns Andern völlig ähnlich waren. Ihren Namen Phellopoden (Korkfüßler) tragen sie, wie ich vermuthe, eben um jenes Umstandes willen. Wir sahen mit Erstaunen, wie sie sich ganz frei über den Wogen hielten, und, ohne Furcht unterzusinken, lustig einhermarschierten. Sie kamen sogar auf uns zu, begrüßten uns in Griechischer Sprache, und sagten uns, daß sie eben auf der Heimreise in ihre Vaterstadt Phello [Korkheim] begriffen wären. Eine gute Strecke weit liefen sie neben unserem Schiffe her: dann wünschten sie uns eine glückliche Fahrt und wandten sich links. In kurzem zeigten sich uns viele Inseln; die nächste links war Phello, das Ziel jener Reisenden, eine Stadt aus einem ungeheuern runden Korkblocke. Etwas weiterhin rechts lagen fünf sehr große und hohe Inseln, auf welchen viele Feuer brannten.

[720] 5. Uns gerade gegenüber, in einer Entfernung von wenigstens noch fünfhundert Stadien, lag eine einzelne, sehr ausgedehnte, aber flache Insel. Als wir uns ihr allmählig näherten, umströmte uns ein so wohlriechender, wunderbar lieblicher Duft, dergleichen nach dem Zeugniß des Geschichtschreibers Herodot[8] das glückliche Arabien um sich her zu verbreiten pflegt; es war das süßeste Gemisch von Gerüchen, wie der Rosen, Narcissen, Hyacinthen, Lilien, Veilchen, Myrten, Lorbeer und Weinblüthen. Entzückt von dieser würzigen Luft, und unter den frohesten Hoffnungen, nun endlich nach so langem Ungemach alles Gute zu finden, was das Herz wünschen mag, waren wir der Insel unvermerkt so nahe gekommen, daß wir rings um dieselbe eine Menge sicherer und geräumiger Landungsplätze, silberhelle Flüsse, die sich sanft in’s Meer verloren, grüne Matten und Hayne sahen, und Singvögel hörten, die allenthalben am Ufer hin, und aus den Zweigen ihre Lieder ertönen ließen. Eine milde, unbeschreiblich wohlthuende Luft umfloß dieses ganze Land: sanft säuselte ihr süßer Hauch durch die Hayne, und flüsterte mit lieblicher, melodischer Geschwätzigkeit in den bewegten Blättern, wie wenn aus einsamer Höhe der Wind in die Querpfeife flötet (die irgend ein frommer Hirt seinem Pan aufgehangen). Mitunter vernahmen wir ein lautes, wiewohl nicht lärmendes, Geräusch vermischter Stimmen, ähnlich der frohen Bewegung bei einem Gastmahl, wenn Gesang und Saiten- und Flötenspiel, Händeklatschen und Beifallrufen durcheinander tönt.

[721] 6. Bezaubert von allen diesen Eindrücken legten wir an dem Ufer vor Anker und stiegen an’s Land, während Scintharus nebst zweien unserer Cameraden im Schiffe zurückblieb. Wir giengen über eine blühende Aue landeinwärts, als wir auf einmal einigen Wache haltenden Männern begegneten, die uns mit Rosengewinden banden, der stärksten Art von Fesseln, die man hier kennt, und uns vor ihren Gebieter führten. Unterwegs erfuhren wir von ihnen, daß diese Insel das Eiland der Seligen hieße, und von Rhadamanth aus Creta beherrscht würde. Wir wurden ihm also vorgestellt, und nahmen die vierte Stelle in der Reihe der Parthieen ein, die er eben zu verhören hatte.

7. Die erste Sache, die zu entscheiden war, betraf den Sohn des Telamon, Ajax, ob er in die Gesellschaft der Heroen zuzulassen sey, oder nicht. Man hatte klagweise gegen ihn eingewendet, daß er rasend gewesen und sich selbst entleibt habe. Nach vielem Hin- und Herreden that endlich Rhadamanth den Ausspruch: vor allen Dingen solle Beklagter dem Arzte Hippokrates in eine Nießwurzkur übergeben werden, sodann aber, wenn er wieder zu gesundem Verstande gelangt seyn würde, an der Heldentafel Platz nehmen dürfen.

8. Der zweite Handel betraf eine Liebessache. Theseus und Menelaus stritten sich, welchem von ihnen Beiden Helena als Gattin beiwohnen solle? Rhadamanth sprach sie dem Menelaus zu, in Betracht der vielen Mühen und Gefahren, welche Dieser um seiner ehelichen Rechte willen bestanden hätte: zudem habe ja Theseus schon andere Frauen, die Amazone Hippolyte, und die beiden Töchter des Minos, Phädra und Ariadne.

[722] 9. Zum Dritten ward entschieden eine Streitfrage zwischen Alexander, Philipp’s Sohn, und Hannibal aus Carthago, betreffend den Vorrang; und zwar wurde derselbe dem Alexander zuerkannt,[9] dem sonach ein Stuhl neben dem ältern Cyrus gesetzt ward.

10. Nun kam die Reihe, vorzutreten, an uns. Rhadamanth begann mit der Frage, was uns begegnet wäre, daß wir diesen heiligen Ort bei lebendigem Leibe betreten hätten? Nachdem wir ihm hierauf alle unsere Schicksale nach einander erzählt hatten, ließ er uns abtreten, und gieng eine geraume Zeit mit seinen Beisitzern, deren Viele – unter Andern auch Aristides, der Gerechte – um ihn versammelt waren, zu Rathe, was mit uns anzufangen wäre. Endlich fällte er das Erkenntniß: Wegen dieser unserer Reise und unseres Vorwitzes würden wir dereinst nach unserem Tode zur Verantwortung gezogen werden: für jetzt aber sollten wir nach einem Aufenthalte auf der Insel von bestimmter Dauer, während dessen uns der Umgang mit den Heroen gestattet seyn sollte, wieder abziehen. Dieser Aufenthalt ward auf die unerstreckliche Frist von sieben Monaten festgesetzt.

11. So wie dieses Urtheil gesprochen war, fielen die Rosenketten von selbst ab; wir waren frei und wurden in die Stadt, und von da[10] zum großen Schmause der Seligen geführt. Diese ganze Stadt ist von purem Golde und hat eine smaragdene Ringmauer: ihre sieben Thore sind sämmtlich [723] aus Zimmtholz, und das Pflaster aller Straßen und öffentlichen Plätze aus Elfenbein. Die Tempel aller Götter sind aus Beryll erbaut, so wie die großen Altäre, auf welchen die Hekatomben geopfert werden, jeder aus Einem ungeheuren Amethyst. Rings um die Stadt fließt ein Strom von dem herrlichsten Salböl, der hundert Ellen breit und so tief ist, daß man bequem darin schwimmen kann. Ihre Bäder sind prächtige Palläste aus Crystall; sie werden mit Zimmtholz geheizt, und statt mit Wasser, werden die Badewannen mit erwärmtem Thaue gefüllt.

12. Die Kleidung, deren sie sich bedienen, ist ein sehr feines purpurnes Spinnengewebe. Sie selbst bestehen jedoch nicht aus einem körperlichen, fühlbaren Stoffe wie Fleisch und Bein, sondern tragen gleichsam nur das Gebilde eines Leibes, wiewohl sie mit allen Sinnen begabt sind, und gehen, stehen und sprechen wie wir Menschen. Kurz, es sind bloße Geister, umkleidet mit dem Scheine eines Körpers, aufrecht wandelnden farbigten Schatten ähnlich, von deren Unkörperlichkeit man sich sogleich überzeugt, wenn man sie greifen will. Niemand altert dort, sondern Jeder bleibt auf derselben Stufe stehen, auf welcher er hieher gekommen. Auch wird es bei ihnen eben so wenig Nacht, als völliger Tag, sondern das gemilderte Licht der Morgendämmerung ist über die ganze Insel verbreitet. Von unseren Jahrszeiten kennen sie nur Eine; denn es ist bei ihnen ewiger Frühling und Zephyr der einzige Wind, der hier weht.

13. Die ganze Flur prangt daher mit Blumen und zahmen Gewächsen aller Art, und ist von Bäumen reich beschattet. Die Weinrebe trägt zwölfmal des Jahres: die Granaten- [724] und Apfelbäume, überhaupt alle Obstbäume, wie man uns versicherte, sogar dreizehenmal, indem sie in dem Monate, welcher dort nach Minos benannt wird, zweimal Früchte bringen. Statt des Waizens schießen schon fertige Brode gleich Schwämmen in die Aehren aus. Wasserquellen befinden sich rings um die Stadt dreihundert fünfundsechzig, Honigquellen eben so viele, Quellen von köstlichem Salböl fünfhundert, wiewohl diese etwas weniger ergiebig sind, als die ersteren: überdieß hat die Insel sieben Ströme mit Milch und acht mit Wein.

14. Die Mahlzeiten werden außerhalb der Stadt auf dem sogenannten Elysischen Gefilde gehalten. Dieß ist eine herrliche Aue, umgeben mit einem dichten Hayne von den mannigfaltigsten Holzarten, unter dessen kühlendem Schatten die Seligen sich auf weiche Polster aus Blumen lagern; Zephyre fliegen hin und her, um sie zu bedienen. Mundschenken haben sie indessen nicht; denn rings um die Tafel stehen große gläserne Bäume von dem reinsten Crystallglase, die anstatt der Früchte, Pocale von verschiedener Gestalt und Größe tragen. Ehe man sich nun niederläßt, um zu speisen, pflückt man sich ein Paar dieser Becher, die sich dann augenblicklich von selbst mit Wein anfüllen. Sie tragen keine Kränze, sondern Nachtigallen und andere Singvögel sammeln Blumen von den nächsten Wiesen, flattern sodann singend um ihre Häupter und beschneien sie mit Blüthen aller Art. Ihre Sitte, sich zu salben, ist diese: eine Art dichter Wolken saugt (die feinsten Theile) des Salböls aus jenen Quellen ein, lagert sich sodann über den Köpfen der Speisenden, und läßt, von Zephyren sanft gedrückt, ihre Wohlgerüche wie einen zarten Thau herabträufeln.

[725] 15. Ueber der Mahlzeit ergötzen sie sich an Gesang und Musik. Meist sind es Homer’s Gedichte, die hier gesungen werden. Dieser befindet sich selbst beim Schmause, und hat seinen Platz über dem Ulysses. Ihre Chöre bestehen aus Knaben und Mädchen, deren Gesang von den Citharöden Eunomus aus Locri, Arion aus Lesbos, Anacreon und Stesichorus angegeben und begleitet wird: denn auch den Letztern traf ich hier an, da er sich mit der Helena wieder ausgesöhnt hatte.[11] Wenn diese zu singen aufhören, so beginnt ein zweiter Chor von Schwänen, Nachtigallen und Schwalben; und so wie diese schweigen, heben die Abendlüfte (in den Zweigen) zu flöten an, und der ganze Hayn ertönt in den lieblichsten Weisen.

16. Was aber am meisten diese Mahle erheitert, sind die beiden Quellen des Lachens und der Lust, die neben der Tafel entspringen. Aus jeder derselben trinken die Seligen vor dem Beginne des Schmauses, und so bringen sie dann die ganze Zeit wohlgemuth und unter frohen Scherzen hin.

17. Nun will ich auch sagen, welche der namhaftesten Männer ich dort zu Gesichte bekommen habe. Für’s erste sämmtliche Halbgötter und die Helden, die vor Ilium zogen, mit Ausnahme des Ajax aus Locri, der, wie man mir sagte, am Orte der Gottlosen die Strafe seines Frevels[12] leidet. Von Ausländern sah ich beide Cyrus, den Scythen Anacharsis, den Thracier Zamolxis, den Römer Numa; von [726] Griechen unter Andern den Spartaner Lycurg, die beiden Athener, Phocion und Tellus, und die sieben Weisen, jedoch ohne den (despotischen) Periander. Auch fand ich den Sohn des Sophroniscus, Sokrates, wie er eben mit Nestor und Palamedes plauderte: um ihn her standen mehrere reizende Jünglinge, als Hylus, Hyacinth aus Sparta, Narciß aus Thespiä u. A. Es kam mir vor, als wäre er besonders in den schönen Hyacinth verliebt: wenigstens richtete er seine Catechisationen meist nur an Diesen.[13] Rhadamanth soll ihm sehr gram seyn, und ihm schon mehr als einmal gedroht haben, ihn fortzujagen, wenn er das unnütze Geschwätz und ironische Spötteln über der Tafel nicht lassen wolle. Plato war allein nicht anwesend: man sagte mir, er wohne in seiner von ihm selbst erfundenen Republik, und lebe unter der Verfassung und den Gesetzen, die er ihr selbst gegeben hätte.

18. Aristipp und Epicur gelten unter Allen am meisten bei ihnen, weil sie angenehme Gesellen und lustige Tischgenossen sind. Aesop, der Phrygier, ist gleichfalls da, und dient ihnen zum Spaßmachen. Diogenes aus Sinópe hat seinen Charakter ganz und gar umgewandelt: er hat die berühmte Hetäre Laïs zum Weibe genommen, betrinkt sich nicht selten, tanzt und springt und macht eine Menge tolles Zeug. Von den Stoikern sahen wir Keinen; denn sie wären, sagte man uns, noch immer bemüht, die steile Höhe der Tugend zu erklimmen: von Chrysipp aber hieß es, es wäre ihm nicht gestattet, die Insel eher zu betreten, als bis er sich viermal [727] mit Niesewurz purgirt haben würde. Die Academiker hätten zwar im Sinne zu kommen, wären aber noch im Anstand und überlegten hin und her; denn sie könnten’s noch nicht bis zur Ueberzeugung erfassen, daß überhaupt eine solche Insel vorhanden sey.[14] Zudem will es mich bedünken, als ob ihnen Rhadamanth’s Urtheil etwas bange machte, weil sie sich unterstanden, die Möglichkeit eines zuverläßigen Urtheils schlechthin zu läugnen. Auch haben wir uns sagen lassen, viele Anhänger Derer, die auf diese Insel gekommen, hätten sich zwar aufgemacht, ihnen nachzufolgen, wären aber aus Trägheit allmählig zurückgeblieben, und hätten endlich, ohne das Ziel zu erreichen, auf halbem Wege wieder umgekehrt.

19. Dieß sind also ungefähr die merkwürdigsten Männer, die wir hier zu sehen bekamen. Das meiste Ansehen unter ihnen genießt Achilles, und nach ihm Theseus. – Der Liebesgöttin opfert man hier ohne alle Scheu, und hält es nicht im mindesten für unanständig, vor Aller Augen sich die größten Vertraulichkeiten gegen Knaben und Mädchen herauszunehmen. Der einzige Socrates vermaß sich mit einem Schwur, daß sein Umgang mit hübschen Jungen der keuscheste von der Welt sey: doch jedermänniglich weiß, was davon zu halten ist. Denn Hyacinth und Narciß haben mehr als Einmal ganz andere Geständnisse gemacht: wiewohl Socrates versicherte, es wäre kein wahres Wort daran. Die Weiber und Mädchen sind hier Allen gemeinsam: Keiner beneidet deshalb seinen Nachbar, und in diesem Stücke sind alle Männer [728] die vollkommensten Platoniker. Nicht minder willig und hingebend zeigen sich auch die schönen Knaben.

20. Noch hatten wir nicht drei Tage hier zugebracht, als ich mich einmal in einer müßigen Stunde an den großen Dichter Homer machte, und unter anderen Fragen auch die wegen seiner Heimath an ihn stellte, indem ich ihm bemerkte, daß über diesen Punkt bei uns noch gegenwärtig am lebhaftesten gestritten werde. Er antwortete mir, es sey ihm gar wohl bekannt, daß man ihn bald für einen Chier, bald für einen Smyrnäer, bald für einen Colophonier ausgebe; sein Geburtsort aber sey Babylon, und der Name, den er bei seinen Landsleuten geführt hätte, nicht Homer, sondern Tigranes gewesen: späterhin wäre er als Geisel [Homéros] nach Griechenland gekommen, und hätte daher diesen andern Namen erhalten. Auch befragte ich ihn über die für unächt gehaltenen Verse, ob sie wirklich von ihm herrührten oder nicht, was er mir von allen ohne Ausnahme bejahte; woraus ich also deutlich ersah, daß jene Kritiken der Grammatiker Zenodot und Aristarch pure Aufschneidereien sind. Nachdem er hierüber meine Neugierde befriedigt hatte, fragte ich ihn weiter, warum er denn seine Iliade gerade mit dem fatalen Worte Zorn (Menin aeide Thea u. s. w.) angefangen hätte? worauf er mir erwiderte, es hätte sich ihm zufällig so dargeboten; gesucht hätte er’s nicht. Auch verlangte ich von ihm zu wissen, ob er die Odyssee vor der Iliade geschrieben habe, wie Viele behaupten? Er verneinte es. Ob er wirklich blind gewesen, was man ihm gleichfalls nachsagt, brauchte ich gar nicht zu fragen: ich überzeugte mich auf den ersten Blick, daß er recht gut sehen konnte. Auch sonst noch [729] mehreremale machte ich mich mit meinen Fragen an den guten Alten, so oft ich sah, daß er Muße hatte, und jedesmal antwortete er mir mit der größten Gefälligkeit, besonders nachdem er seine Rechtssache gewonnen hatte. Thersites nämlich hatte eine Injurienklage wider ihn anhängig gemacht, wegen des Hohnes, mit welchem er ihn in seinem Gedichte behandelt werden läßt. Allein Homer – Dank sey es seinem Sachwalter Ulysses – wurde freigesprochen.

21. Um ebendieselbe Zeit kam auch Pythagoras, aus Samos, auf dieser Insel an, nachdem er sieben Verwandlungen bestanden, in eben so vielen Thierleibern gelebt und sonach seine ganze Seelenwanderung vollendet hatte. Er war an der ganzen rechten Seite von Golde.[15] Sogleich ward seine Aufnahme in die Gesellschaft beschlossen: nur darüber war man noch im Zweifel, ob man ihn Pythagoras oder Euphorbus nennen solle. Auch Empedokles kam an, am ganzen Leibe geschmort und verbrannt;[16] er wurde aber, ungeachtet alles Bittens, abgewiesen.

22. Nach Verfluß einiger Zeit trat ein großes Festspiel bei ihnen ein, die sogenannten Thanatusien (Todtenfeste). Den Vorsitz als Kampfrichter führten Achilles zum fünften, und Theseus zum siebentenmale. Ich will nur des Hauptsächlichsten, was dabei vorgieng, erwähnen, da eine Darstellung des Ganzen zu weitläufig werden würde. Im Ringkampf entriß ein gewisser Heraklide Caranus[17] dem Ulysses den Siegerkranz. Im Faustkampf maßen sich der Aegypter [730] Aréus, der in Corinth begraben liegt, und Epéus mit einander; allein sie hielten sich die Wage. Für das Pancratium [Faust- und Ringkampf zugleich] wird hier gar kein Preis ausgesetzt. Wer im Wettlaufe den Preis davon getragen, erinnere ich mich nicht mehr. In der Dichtkunst aber hatte sich Homer bei weitem am meisten ausgezeichnet; gleichwohl wurde der Sieg dem Hesiod zuerkannt. Der Preis für alle Kampfgattungen ist ein Kranz, gewunden aus Pfauenfedern.

23. Kaum waren diese Spiele beendigt, als die Nachricht kam, die zu den Höllenstrafen verurtheilten Gottlosen hätten ihre Bande zerrissen, die Wache über den Haufen geworfen, und wären nun unter Anführung des Agrigent’schen Tyrannen Phalaris, des Aegypters Busiris, des Thraciers Diomedes, und eines Sciron und Pityokamptes, in vollem Anzug gegen die Insel. Sogleich ordnet Rhadamanth seine Heroen an die Küste ab und stellt sie unter das Commando des Theseus, Achill und Ajax Telamonius, der inzwischen wieder zum Verstande gekommen war. Das Treffen begann, Achilles that Wunder der Tapferkeit, die Heroen siegten. Damals hielt sich auch Socrates, der auf dem rechten Flügel stand, ungleich besser, als da er bei seinen Lebzeiten bei Delium mitfocht. Denn dießmal blieb er doch wenigstens, ohne eine Miene zu verziehen, auf seinem Posten. Aus diesem Grunde wurde ihm nachmals ein schöner und großer Lustgarten in der Vorstadt zum Dank für seinen Heldenmuth zuerkannt. Hier pflegte er denn seine Freunde um sich her zu versammeln, und seine philosophischen Unterredungen mit ihnen [731] zu halten; weswegen er auch dem Garten den Namen Nekracademie (Todtenacademie) gab.

24. Die Ueberwundenen wurden nun sämmtlich festgenommen, und gefesselt zu noch härtern Strafen abgeführt. Diese Schlacht hatte Homer gleichfalls besungen und mir beim Abschied ein Exemplar davon für die Leute in unserer Welt mitgegeben: allein auch dieses Werk gieng mir in der Folge mit meinen übrigen Sachen zu Grunde. Das Gedicht fieng sich an:

Sage mir, Muse, nun auch vom Streite der todten Heroen.

Diese glückliche Beendigung des Krieges wurde nun nach dortiger Sitte mit einem großen Siegesmahl, wobei gekochte Bohnen das Hauptgericht ausmachten, und mit großer, festlicher Lustbarkeit gefeiert. Nur der einzige Pythagoras nahm keinen Antheil, sondern setzte sich in weiter Entfernung von den Uebrigen, und fastete, weil ihm der Bohnenfraß ein Gräuel war.

25. Schon waren sechs Monate unseres Aufenthaltes bei den Seligen verflossen, als sich um die Mitte des siebenten ganz neue Dinge zutrugen. Der Sohn unseres Scintharus, Cinyrus, ein großer, schöner Bursche war seit geraumer Zeit in die Helena verliebt, und es war nur gar zu deutlich, mit welcher Leidenschaft sie diese Liebe erwiederte. Ueber der Tafel war des Liebäugelns, Zunickens und Zutrinkens kein Ende, und während die Uebrigen noch saßen, stand unser Pärchen gewöhnlich auf und spazierte im Walde herum. Cinyrus, der gleichwohl kein Mittel sah, an das Ziel seiner Wünsche zu kommen, faßte in der Raserei der Liebe [732] den Entschluß, seine Geliebte zu entführen, und mit ihr auf eine der benachbarten Inseln, nach Korkheim oder dem Käseeiland, zu entfliehen. Helena war damit einverstanden, und nun wurden bei Zeiten die drei Beherztesten meiner Gefährten mit in den Plan gezogen und eidlich verpflichtet. Vor seinem Vater hatte Cinyrus die Sache sorgfältig geheim gehalten, weil er wohl wußte, daß Dieser ihn daran verhindern würde. Einsmals zur Nachtzeit, da sie glaubten, der günstige Augenblick zur Ausführung des Anschlags wäre gekommen, und während ich nicht um die Wege war – denn ich lag auf der Wiese, wo wir gespeist hatten, und schlief – holten sie, ohne daß es eine Seele merkte, die Helena heraus, und fuhren mit ihr in aller Eile auf und davon.

26. Um Mitternacht erwacht Menelaus, und wie er das Bette seiner Gemahlin leer findet, erhebt er ein gräßliches Geschrei, rennt zu seinem Bruder Agamemnon und mit Diesem nach dem Pallaste des Rhadamanthus. Mit Tagesanbruch erblicken die Wächter das Schiff bereits in sehr weiter Entfernung. Sogleich besteigen auf Rhadamanthus Befehl fünfzig Heroen eine, aus einem einzigen Asphodil-Stängel gezimmerte, Barke, um den Flüchtigen nachzusetzen; und es gelang ihnen endlich durch angestrengtes Rudern, gegen Mittag sie einzuholen, als sie schon ganz nahe an der Käseinsel und eben im Begriff waren, in die Milchsee einzulaufen; so wenig hatte gefehlt, daß sie ihnen entwischt wären. Das Schiff der Flüchtlinge ward nun an Rosenketten auf Seeligen-Eiland zurückbugsiert. Helena barg ihr Gesicht in den Schleier, und weinte vor Betrübniß und Schaam. An Cinyrus und seine Gesellen aber richtete Rhadamanth blos [733] die Frage, ob sonst noch Jemand um ihren Anschlag gewußt hätte; und als sie es verneinten, ließ er sie erst mit Malven geißeln, und sodann, an den Schaamgliedern gebunden, an den Ort der Verdammniß abführen.

27. Gegen uns aber wurde der Beschluß gefaßt, daß wir noch vor Ablauf der bestimmten Frist die Insel verlassen, und nur den folgenden Tag noch hier verweilen sollten. Als ich in Thränen und Wehklagen ausbrach, daß ich mit Zurücklassung des vielen Guten, das ich hier genoß, nun wieder in neue Irrsale sollte gestürzt werden, so trösteten sie mich mit der Versicherung, daß ich nach wenigen Jahren wieder zu ihnen kommen werde, und zeigten mir den Ehrensitz und den Platz an der Tafel, den sie für mich in der Nähe der Vornehmsten bereit halten wollten. Ich begab mich hierauf zu Rhadamanthus, und bat ihn inständig, mir meine Schicksale voraus zu verkünden, und mir die Richtung vorzuzeichnen, die ich auf meiner Fahrt zu befolgen hätte. Er verhieß mir zwar die Rückkunft in mein Vaterland, doch würde ich zuvor noch der Irrfahrten und Gefahren genug zu bestehen haben. Die Zeit meiner Heimkehr wollte er mir nicht entdecken, sondern zeigte mir nur die nächsten Inseln, von denen uns fünfe ganz nahe im Gesichte lagen, und eine sechste sich in weiterer Entfernung zeigte. „Diese fünf nächsten,“ sagte er, „von welchen du die vielen Feuer auflodern siehst, sind der Aufenthalt der Verdammten. Jene sechste aber ist das Land der Träume. Hinter dieser, aber schon außer unserem Gesichtskreise, liegt die Insel der Calypso. Wenn du nun an allen diesen Inseln vorbeigekommen seyn wirst, so wirst du an einen großen Continent gelangen, der eurem Welttheile gerade [734] gegenüber liegt. Und endlich nach erlittenem vielfachem Ungemach, nach wunderlichen Kreuz- und Querzügen durch allerhand Völkerschaften, und nach langem Aufenthalte unter den ungeselligsten Nationen wirst du, spät genug, auf eurem Festlande wieder ankommen.“ So Rhadamanth.

28. Zugleich zog er eine Malvenwurzel aus der Erde, und reichte sie mir mit dem Rathe, in allen, auch den größten Gefahren, mein Gebet nur an sie zu richten.[18] Und wenn ich wieder auf diese unsere Erde zurückkäme, so sollte ich erstlich mit keinem Degen im Feuer schüren: zweitens keine Wolfsbohnen essen, und drittens mit keinem jungen Menschen über achtzehen Jahren zu schaffen haben. Wenn ich dieser drei Verbote stets eingedenk seyn würde, so dürfte ich hoffen, dereinst auf jenes glückliche Eyland wiederzukehren. – Ich machte nun alle Anstalten zu der bevorstehenden Abfahrt, und zu der gewöhnlichen Stunde speiste ich noch mit den Heroen. Tags darauf gieng ich zum Dichter Homer, bat ihn, mir eine Inschrift in zwei Versen zu machen; und wie sie fertig war, errichtete ich auf dem Gestade des Hafens eine Denksäule aus Beryll und grub die Inschrift darauf. Sie lautete also:

Lucian hat dieß Alles gesehn, drauf kehret er wieder
Heim zum eigenen Herd! ein Liebling seliger Götter.

29. Nachdem ich noch diesen Tag hier geblieben, segelte ich am folgenden, begleitet von sämmtlichen Heroen, von dannen. Beim Abschiede steckte mir Ulysses hinter dem Rücken der Penelope ein Briefchen an die Nymphe Calypso auf der [735] Insel Ogygia zu. Rhadamanth gab mir noch den Piloten Nauplius mit, damit wir, wenn wir allenfalls an eine der benachbarten Inseln getrieben würden, nicht in die Gefahr geriethen, festgenommen zu werden, sondern uns ausweisen könnten, daß wir in andern Geschälten dieses Weges reiseten.

Sobald wir über den wohlriechenden Luftkreis der glücklichen Inseln hinaus waren, empfieng uns ein abscheulicher Dunst, wie von brennendem Schwefel, Pech und Steinöl, und mitunter ein ganz unerträglicher, scheuslicher Geruch, wie von gebratenen Menschen. Die Luft war dick und finster, und beträufelte uns beständig mit einem beharrlichen Thau: zugleich vernahmen wir das Knallen von Peitschenhieben, und viele jammernde Menschenstimmen.

30. Wir landeten, mit Beiseitelassung der übrigen, nur an einer einzigen dieser Inseln, und diese ist ringsum ein einziger, schroffer, ausgewitterter, von Klippen starrender Fels, auf dem kein Baum und keine Quelle zu sehen ist.[19] Nachdem wir an dem abschüssigen Ufer hinaufgekrochen waren, gieng es über das häßlichste Gelände auf einem schmalen und dornigten Fußpfade vorwärts, bis wir endlich bei den Gefängnissen und Strafplätzen der Verdammten anlangten. Mit Staunen betrachteten wir die wunderbare Natur dieser Gegend. Der Fußboden starrt von spitzigen Dolchen und Schwertern, die herauswachsen: drei Flüsse umströmen diesen Ort in der Runde; der erste und äußerste führt Schlamm, der mittlere Blut, der innere und größte aber, durch den Niemand kommen kann, lauter Feuer. Dieses strömt dahin [736] wie das Wasser, und wogt und wallt wie ein Meer: darin bewegen sich eine Menge Fische, von denen die größeren wie Kienfackeln, die kleineren wie glühende Kohlen aussehen und Lichtlein genannt werden.

31. Es führt nur eine einzige sehr schmale Brücke über diese drei Flüsse, an deren äußerem Ende Timon (der Menschenfeind) aus Athen Wache hält. Weil Nauplius vorangieng, so wagten wir uns hinüber, und sahen nun eine Menge Fürsten und gemeine Leute, wie sie gepeinigt wurden; worunter mir einige wohlbekannte Gesichter aufstießen. Auch erblickten wir unsern Cinyrus, der an den Schamgliedern aufgehangen über einem langsamen Schmauchfeuer geräuchert wurde. Die Leute, welche uns herumführten, erzählten uns den Lebenslauf von Jedem dieser Verdammten, und die Verbrechen, wegen welcher sie gestraft würden. Die härtesten Strafen müssen Diejenigen aushalten, welche jemals in ihrem Leben die Unwahrheit gesagt, und, wenn sie Geschichtschreiber waren, Lügen berichtet haben. Daher befindet sich auch ein Ctesias aus Cnidus hier, ein Herodot, und noch viele Andere. Mit welcher Ruhe kann dagegen ich, im Vergleich mit Jenen, an mein eigenes künftiges Schicksal denken, da ich mir bewußt bin, daß noch nie ein unwahres Wort aus meinem Munde gegangen!

32. Doch ich konnte diese Scenen nicht länger ertragen, und eilte also zu meinem Schiffe zurück, wo sich Nauplius von uns verabschiedete. Nach einer Fahrt von wenigen Stunden zeigte sich uns die Insel der Träume, die aber, so nahe wir schon waren, ganz undeutlich und düster aussah. Es gieng uns mit dieser Insel fast wie mit den Träumen [737] selbst: sie wich immer vor uns zurück, und je näher wir ihr kamen, desto weiter schien sie sich zu entfernen. Endlich gelang es uns doch, sie zu erreichen, und in einen Hafen, Hypnos (Schlaf) genannt, einzulaufen. Es war schon später, sinkender Abend, als wir in der Nähe der elfenbeinernen Pforte, wo der Tempel Alectryon’s (des Haushahns) steht, an’s Land stiegen. Wir giengen zum Thore hinein, und sahen nun Träume in Menge und von allen Gattungen herumwandeln. Jedoch vorerst muß ich etwas von der Stadt selbst sagen, da sie bis jetzt noch von Niemanden beschrieben worden ist: denn der einzige Homer, der ihrer Erwähnung thut,[20] hat nicht mit der gehörigen Genauigkeit von ihr geredet.

33. Diese Stadt ist von einem dichten Walde von hohen Mohn- und Alraun-Bäumen rings umgeben, auf welchen eine Unzahl Fledermäuse nistet: denn andere Vögel hat die ganze Insel nicht. Nahe vorbei fließt ein Fluß, Nyctiporus (Nachtwandler) genannt, und vor den Thoren befinden sich zwei Brunnen, von welchen der eine Negretos (die Quelle des unerwecklichen –) und der andere Pannychia (des durchnächtigen Schlafes) heißt. Die Ringmauer der Stadt ist hoch und vielfarbig wie ein Regenbogen: Thore sind an derselben nicht zwei, wie Homer sagt, sondern vier; zwei derselben, ein eisernes und ein thönernes, sehen gegen das Gefilde der Blakia (der Gliederschwere), und aus diesen beiden wandeln, wie es hieß, alle fürchterlichen, blutigen und grausamen Träume. Die beiden andern führen an den [738] Seehafen: das eine ist aus Horn, das zweite, durch welches wir selbst gekommen, aus Elfenbein. Gleich beim Eintritt in die Stadt erblickt man zur Rechten den Tempel der Nacht, die, nächst Alectryon, die verehrteste Gottheit dieser Insel ist. Das Heiligthum des Letztern befindet sich (wie gesagt) ganz nahe am Hafen. Zur Linken steht der Pallast des Beherrschers der Träume, Hypnos (des Schlafes), der zwei Vicekönige unter sich hat, den Taraxion, des Matäogenes (Wirrwarr, Eitelwahns), und Plutokles, Phantasion’s (Geldmacher, Faslers) Sohn. Mitten auf dem Markte steht ein Brunnen, Careotis, der Schlaftrunk genannt, und unfern desselben zwei Tempel, wovon der eine dem Truge, der andere der Wahrheit gewidmet ist. Ebendaselbst findet man auch eine heilige Orakel-Grotte, deren Vorsteher der berühmte (Athenische) Traumdeuter Antipho ist, welchem die Ehre dieses Propheten-Amtes von Hypnos verliehen wurde.

34. Die Träume selbst sind nach Gestalt und Natur sehr verschieden: Einige sind groß, schön, und von sehr angenehmem Aeußern, Andere klein und häßlich; Einige kamen mir vor wie lauter Geld, Andere dagegen waren elende, dürftige Gestalten. Sie erscheinen zum Theil als geflügelte Wesen in den abentheuerlichsten Formen, oder als Götter, Heroen, Könige, wie zu einem festlichen Aufzuge herausgeputzt. Viele derselben, die uns schon früher einmal erschienen waren, erkannten wir auch jetzt wieder: sie kamen auf uns zu, und begrüßten uns recht freundlich als alte Bekannte. Wir mußten mit ihnen nach Hause gehen, und nachdem sie uns in tiefen Schlaf versenkt hatten, bewirtheten sie uns auf’s [739] herrlichste und kostbarste, und versprachen uns sogar, Könige und Fürsten aus uns zu machen: Einige führten uns in unsere Heimath, zeigten Jedem seine Angehörigen, und brachten uns am nämlichen Tage wieder zurück. So hatten wir schlafend in köstlichem Wohlleben dreißig Tage und eben so viele Nächte bei ihnen zugebracht, als wir plötzlich an einem fürchterlich krachenden Donnerschlage erwachten. Wir sprangen auf, schafften in der Eile Lebensmittel an Bord, und steuerten weiter.

35. Nach drei Tagen landeten wir an der Insel Ogygia. Hier konnte ich mich nicht enthalten, den Brief des Ulysses, bevor ich ihn übergab, zu öffnen und zu lesen. Er lautete folgendermaßen:

Ulysses an Calypso einen freundlichen Gruß: Laß
„Dir sagen, meine Liebste, wie es mir, seitdem ich Dich
„verlassen, ergangen hat. Mit dem leichten Floße, das
„ich selbst zusammengezimmert, verunglückte ich bald nach
„meiner Abfahrt, und nur durch den Beistand der Leu-
„kothea gelang es mir mit Mühe, an die Küste der
„Phäaken mich zu retten. Von Diesen in meine Hei-
„math befördert, traf ich dort eine Menge Bewerber um
„die Hand meiner Gattin an, welche sämmtlich von mei-
„nem Eigenthume schwelgten. Ich machte ihnen Allen den
„Garaus, wurde aber in der Folge selbst von Telegonus,
„den ich mit der Circe gezeugt hatte, um’s Leben ge-
„bracht. Und so befinde ich mich nun hier auf der Insel
„der Seligen, und bereue es schmerzlich, den Aufenthalt
„bei Dir verlassen, und das mir angebotene Geschenk der
„Unsterblichkeit verschmäht zu haben. Mit dem nächsten

[740]

„günstigen Augenblicke werde ich daher von hier entwi-
„schen und mich wieder bei Dir einstellen.“

Das war also der Inhalt des Briefes, an dessen Schlusse wir noch zu gastfreundlicher Aufnahme empfohlen wurden.

36. Eine kleine Strecke vom Ufer trafen wir die Grotte der Calypso, gerade so, wie sie Homer beschreibt. Sie selbst war eben mit Wollenspinnen beschäftigt. Nachdem sie den Brief in Empfang genommen und gelesen hatte, überließ sie sich anfänglich ganz ihrer Wehmuth und weinte lange: dann aber hieß sie uns als Gastfreunde willkommen, und bewirthete uns sehr reichlich. Ueber Tische fragte sie uns Vieles über Ulysses aus, und über die Penelope, ob sie schön wäre, und ob denn ihre Tugend wirklich der vortheilhaften Schilderung gleich käme, die Ulysses von ihr gemacht hätte? Wir beantworteten alle ihre Fragen, wie wir glaubten, daß sie es gerne hörte, und begaben uns sodann wieder an Bord, wo wir die Nacht in der Nähe des Ufers zubrachten.

37. Mit Tagesanbruch fuhren wir unter einem scharfen Winde ab, der uns zwei Tage lang nicht wenig zu schaffen machte, bis wir am dritten unter die Kürbispiraten geriethen. Dieß ist eine wilde Menschenart, die von den nächsten Inseln auf Seeraub ausgeht. Ihre Fahrzeuge sind ausgehöhlte und getrocknete Kürbisse von sechzig Ellen in die Länge: die Mastbäume sind Rohrstängel und die Segel Kürbisblätter. Diese Seeräuber fielen uns mit zwei wohlbemannten Schiffen an, schleuderten, statt Steinen, gewaltige Kürbiskerne, und verwundeten Viele meiner Leute. Lange war der Kampf unentschieden, als wir gegen Mittag die Caryonauten (Nußschiffer) unsern Seeräubern in den [741] Rücken kommen sahen, die, wie es sich bald zeigte, ihre Todfeinde waren. Denn sobald die Kürbispiraten die Ankunft derselben wahrnahmen, ließen sie von uns ab und wandten ihre Kürbisse, um mit den Nußschiffern den Kampf zu beginnen.

38. Inzwischen zogen wir das Segel auf und machten uns davon, während Jene im hitzigsten Treffen begriffen waren. Doch sahen wir wohl, daß die Caryonauten den Sieg davon tragen würden: denn sie hatten fünf wohl ausgerüstete und weit dauerhaftere Fahrzeuge, als ihre Gegner, indem ihre Schiffe aus ausgehöhlten halben Nußschaalen bestanden, jede von fünfzehn Klaftern Länge. Wie wir ihnen aus dem Gesichte waren, verbanden wir unsere Verwundeten und legten von jetzt an unsere Waffen nicht wieder aus den Händen, um stets auf dergleichen Ueberfälle gefaßt zu seyn – eine Vorsicht, die in der That nichts weniger als überflüssig war.

39. Denn die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir von einer einsamen Insel her ungefähr zwanzig Männer auf sehr großen Delphinen gegen uns zureiten sahen. Auch diese waren Seeräuber: sie saßen mit vieler Sicherheit auf ihren Delphinen, wiewohl diese wieherten und ausschlugen, wie junge Pferde. So wie sie in unserer Nähe waren, theilten sie sich in zwei Haufen, wovon der eine rechts, der andere links sich aufstellte, und mit gedörrten Dintenfischen und Krebsaugen uns bombardirte. Wir begrüßten sie dagegen so kräftig mit unsern Wurf- und Bogenpfeilen, daß sie nicht Stand hielten, sondern größtentheils verwundet nach ihrer Insel sich flüchteten.

[742] 40. Um Mitternacht bei vollkommen ruhiger See stießen wir, ohne es zu wissen, an ein entsetzlich großes Eisvogelnest von etwa sechzig Stadien im Umfang. Ein Eisvogel, nicht viel kleiner als sein Nest, saß auf demselben und brütete seine Eier aus. So wie er uns gewahr wurde, flatterte er auf, und hätte beinahe unser Schiff durch den starken Wind, den sein Flügelschlag verursachte, umgeworfen. Indem er davon flog, ließ er sonderbare, klagende Töne vernehmen. Als der Tag graute, bestiegen und betrachteten wir das Nest, das einer Art großen Floßes glich und aus gewaltigen Bäumen zusammengefügt war. Es enthielt fünfhundert Eyer, jedes größer als eine Chiische Tonne, in welchen man bereits die Jungen bemerkte und pipen hörte. Wir hieben eines derselben mit der Axt aus einander, und fanden ein nacktes Küchelchen, das stärker war als zwanzig Geier.

41. Wir steuerten weiter, und mochten uns ungefähr auf zweihundert Stadien vom Neste entfernt haben, als sich uns erstaunliche Wunderzeichen darboten. Die hölzerne Gans, die (zur Zierrath) auf dem hintern Ende unsers Schiffes angebracht war, fieng plötzlich an, die Flügel zu schlagen und laut zu schnattern. Unser Steuermann Scintharus, der längst schon einen Kahlkopf hatte, bekam auf einmal seine Haare wieder. Was aber das Allerwunderbarste war, so begann unser Mastbaum auszuschlagen, Zweige und Blätter zu treiben, und oben im Wipfel sogar Feigen und – wiewohl noch unreife – Weintrauben zu tragen. Man kann sich leicht denken, wie bestürzt uns dieser Anblick machte, und wie inbrünstig wir die Götter anflehten, das mögliche Unheil, [743] das die seltsame Erscheinung etwa bedeuten dürfte, von uns abzuwenden.

42. Noch waren wir nicht fünfhundert Stadien weiter gekommen, als wir einen außerordentlich großen und dichten Wald von Fichten und Cypressen vor uns sahen, den wir anfänglich für festes Land hielten. Allein bald zeigte sich’s, daß es ein tiefes, mit Bäumen ohne Wurzeln überwachsenes Meer war, auf welchem die Bäume gleichwohl sich fest und unbeweglich emporhoben. Je näher wir kamen und je genauer wir die Sache besichtigten, desto mehr wuchs unsere Verlegenheit, was wir anfangen sollten. Mitten durch die Bäume hindurch zu schiffen, war eine Unmöglichkeit, sie standen zu dicht neben einander: und wieder umzukehren, schien uns auch nicht wohl thunlich. Da stieg ich auf den höchsten dieser Bäume, um zu sehen, was über den Wald hinausläge, und fand, daß sich derselbe noch gegen fünfzig Stadien oder etwas drüber (in die Breite) fortzog, daß aber jenseits desselben wieder ein neues Meer beginne. Das Beste dünkte uns also, unser Schiff auf die ungemein dichten Wipfel der Bäume hinaufzuheben und es so wo möglich in das andere Meer hinüberzuschaffen. Gedacht, gethan. Wir banden das Schiff an einem starken Taue fest, bestiegen die Bäume, und zogen es mit unsäglicher Mühe zu uns herauf. So wie es aber oben auf den Zweigen saß, blies der Wind kräftig in die ausgespannten Segel, und so kamen wir eben so bequem vorwärts, als ob wir noch auf dem Meere schiffen. Dabei fiel mir jener Vers ein, der sich irgendwo bei dem Dichter Antimachus findet:

Sie durchsteuerten nun den waldbewachsenen Meerpfad.

[744] 43. Wie wir glücklich über den Wald gekommen und bei dem zweiten Meere angelangt waren, ließen wir unser Fahrzeug wieder in’s Wasser hinab, und fuhren nun auf einer spiegelhellen See dahin, bis wir uns plötzlich vor einer ungeheuern Kluft befanden, indem die Wassermasse sich zertheilt hatte und einen Spalt bildete, wie man dergleichen auch auf der Erde nicht selten nach Erdbeben bemerkt. Unser Schiff, das in vollem Zug war, ließ sich, wiewohl wir alle Segel einrafften, nur mit Mühe zum Stehen bringen und wäre um ein Kleines in den Abgrund gestürzt. Es war ein furchtbarer, unbeschreiblicher Anblick, als wir uns überbogen, und in eine Tiefe von wenigstens tausend Stadien hinunterschauten, und die schroff abgeschnittenen Wände von Wasser betrachteten. Bei weiterer Besichtigung dieser Gegend wurden wir endlich in mäßiger Entfernung rechts eine Brücke aus Wasser gewahr, das von der einen dieser Meerhälften auf die andere überfloß, und so die Oberflächen derselben mit einander verband. Wir ruderten also auf diese Brücke zu und kamen endlich, was wir kaum gehofft hatten, glücklich, doch erst nach außerordentlichen Anstrengungen, hinüber.

44. Von hier kamen wir in eine ruhige, stille See und an eine kleine, leicht zugängliche und bewohnte Insel, auf welcher eine wilde Menschen-Gattung lebt, Bucephalen (Ochsenköpfe) genannt, mit Hörnern auf dem Kopfe, wie man bei uns den Minotaurus darzustellen pflegt. Wir waren an’s Land gegangen, um Wasser, und wo möglich, auch Lebensmittel einzunehmen, an welchen wir anfiengen Mangel zu leiden. Süß Wasser hatten wir gleich in der Nähe des Ufers, aber sonst durchaus nichts gefunden, außer daß [745] wir aus geringer Entfernung ein starkes Gebrüll hörten, das von einer Heerde Hornvieh herzukommen schien. Allein nach wenigen Schritten standen wir vor den Bucephalen. Diese wurden uns nicht sobald gewahr, als sie über uns herfielen, und drei der Unsrigen ergriffen: wir Uebrigen retteten uns durch die Flucht zu unserm Schiffe. Weil wir glaubten, unsere Cameraden nicht ungerächt lassen zu dürfen, waffneten wir uns insgesammt, und überfielen die Wilden, wie sie eben das Fleisch der drei Geschlachteten unter sich vertheilten. Es gelang uns, ihnen Schrecken einzujagen; wir setzten ihnen nach, und nachdem wir gegen fünfzig Derselben erschlagen und ihrer zween gefangen genommen hatten, kehrten wir mit diesen unseren Gefangenen wieder zurück, Lebensmittel hatten wir indessen keine angetroffen. Meine Gefährten wollten nun haben, daß wir die beiden Gefangenen gleichfalls abschlachten sollten: ich hielt jedoch für besser, sie gebunden unter Gewahrsam zu halten, bis von Seiten der Bucephalen Abgeordnete erscheinen und ihre Landsleute loskaufen würden. Dieß geschah wirklich. Denn wir sahen bald, daß welche kamen, und durch Zeichen und eine Art kläglichen Brüllens ihre Bitte zu verstehen gaben. Als Lösegeld verlangten wir also von ihnen eine große Anzahl von Käsen und getrockneten Fischen und vier von den dort einheimischen dreibeinichten Hirschen, bei welchen nämlich die beiden Hinterfüße wie bei andern, die beiden vordern aber in Einen zusammengewachsen waren. So wie sie diese Stücke geliefert hatten, gaben wir ihnen die Gefangenen heraus, und lichteten sodann nach einem Aufenthalte von Einem Tage die Anker.

[746] 45. Allmählig zeigten sich viele Fische, es begegneten uns verschiedene Vögel, kurz es erschienen alle Vorboten eines nahen Landes. Bald darauf erblickten wir Männer, die sich einer seltsamen Art von Schiffahrt bedienten: Jeder derselben war nämlich Schiffer und Schiff in Einer Person. Die Einrichtung ist diese. Sie liegen rücklings auf dem Wasser, richten einen gewissen (bei ihnen in sehr ansehnlicher Größe vorhandenen) Theil ihres Körpers als Mast auf, befestigen ein Segel daran, dessen untere Zipfel sie mit den Händen halten, und treiben so vor dem Winde her. Hinter ihnen drein kamen Andere, die auf großen Stücken Kork saßen, und sich von einem Paar vorgespannter Delphine fortziehen ließen, die sie mit Peitsche und Zügel regierten. Alle diese ließen uns ungekränkt, auch flohen sie nicht vor uns, sondern zogen ganz friedlich und furchtlos an uns vorüber, indem sie bloß ihr Erstaunen über unser Fahrzeug ausdrückten, und es von allen Seiten betrachteten.

46. Gegen Abend landeten wir an einem Eilande von unbeträchtlichem Umfange, welches von Weibern bewohnt war, die, wie es uns vorkam, griechisch redeten. Sie waren sämmtlich von schönem, jugendlichem Aussehen, mit langen Gewändern bis auf die Füße bekleidet, übrigens ziemlich hetärenmäßig herausgeputzt. So wie sie uns sahen, kamen sie auf uns zu, reichten uns die Hände und hießen uns freundlich willkommen. Der Name dieser Insel ist Kabalusa,[21] die Hauptstadt heißt Hydamardia. Diese Weiber führten [747] nun Jede Einen von uns als Gast in ihre Wohnung. Ich nahm eine Weile Anstand, zu folgen: denn ich weissagte mir nichts Gutes und bemerkte, da ich mir die Umgebungen ein bischen genauer besah, daß viele Menschenschädel und Knochen auf der Erde lagen. Ein Geschrei zu erheben, die Cameraden herbeizurufen, und nach den Waffen zu laufen, hielt ich nicht für rathsam. Ich zog also meine Malve hervor, und richtete ein sehr eindringliches Gebet an sie, mir aus diesen Nöthen glücklich herauszuhelfen. Nach einiger Zeit, da mich meine Wirthin geschäftig bediente, bemerkte ich, daß unter ihrem Gewande keine Weiberfüße, sondern Eselshufe hervorsahen. Sogleich gehe ich mit gezogenem Schwerte auf sie los, bemächtige mich ihrer, binde sie, und nöthige sie, mir Alles zu bekennen. Nach langem Weigern erfuhr ich von ihr, sie wären Meerweiber, Onosceleen (Eselsfüßlerinnen) genannt, und fräßen die Fremdlinge, die an ihre Küste kämen. „Wir machen sie erst trunken,“ sagte sie, „und legen uns zu ihnen auf’s Ruhelager, und wenn sie nun in tiefem Schlafe liegen, bringen wir sie um.“ Wie ich das vernommen, ließ ich sie gebunden liegen, rannte auf das Dach, und rief aus Leibeskräften meine Gefährten zusammen. Alsbald erschienen sie, und nun entdeckte ich ihnen Alles, zeigte ihnen die herumliegenden Menschenknochen, und führte sie dann in’s Haus zu meiner Gefangenen. Diese aber hatte sich inzwischen in Wasser verwandelt und war uns unsichtbar geworden: allein als ich den Versuch machte und mit meinem Schwert durch das Wasser fuhr, wurde dasselbe zu Blut.

47. Wir begaben uns ohne weitern Verzug zu unserem Schiffe und steuerten davon. Und als der Tag zu grauen [748] anfieng, so hatten wir ein festes Land vor uns, von welchem wir vermutheten, daß es der, unserm Erdtheil gegenüber liegende, Continent seyn möchte. Nachdem wir den Göttern unsern Dank und unsere Bitten in einem Gebete dargebracht hatten, giengen wir mitsammen zu Rathe, was wir nun anfangen wollten. Ein Theil war der Meinung, man sollte nach einem ganz kurzen Aufenthalt am Lande geradesweges wieder zurücksegeln. Die Uebrigen riethen, das Schiff hier zurückzulassen: und durch einen Zug in das Innere des Landes die Bekanntschaft seiner Bewohner zu machen. Noch waren wir in dieser Berathung begriffen, als uns auf einmal ein mächtiger Sturm überfiel und unser Fahrzeug an den Klippen des Ufers zertrümmerte. Kaum gelang es uns, mit Schwimmen uns zu retten, und die Waffen und einiges Andere, was eben Jeder noch wegraffen konnte, davon zu bringen.

Das wären nun, bis zu dieser meiner Ankunft auf jenem anderen Continent, alle meine Begegnisse zur See, und während meiner Fahrt durch die Inseln, und in der Luft, hierauf im Wallfische, und, nachdem wir wieder herausgekommen, bei den Heroen und unter den Träumen und zuletzt bei den Ochsenköpfen und Eselsfüßlerinnen. Was ich nun weiter auf dem festen Lande sah und erlebte, soll in den nächsten Büchern erzählt werden.[22]



  1. Eine halbe Viertelstunde.
  2. Aristoph. Vögel v. 819.
  3. Sechzig Reisestunden, deren 24 = 1°. Acqu.
  4. S. die Syrische Göttin 16.
  5. Dreihundert zwanzig Fuß.
  6. Gala, die Milch.
  7. S. Meergöttergesp. XIII.
  8. III, 113.
  9. S. Todtengespr. XII.
  10. Καὶ εἰς nach der Florent. Vergl. 14.
  11. S. Schutzschrift für den Aufs. „die gedung. Gel.“ 1. S. 484. Anm. **).
  12. Er hatte den Tempel der Minerva durch die Gewalt entweiht, die er in demselben der Cassandra angethan.
  13. S. Todtenorakel 18.
  14. S. die Versteig. der philos. Orden 27.
  15. Ebendas. 3. ff.
  16. S. Todtengespr. XX, 4.
  17. Nach Gronov’s Vermuthung statt Carus.
  18. Den Pythagoräern, welchen auch das Folgende gilt, war die Malve ein sehr heiliges Gewächs.
  19. „Ringsum – zu sehen ist.“ Wieland.
  20. Odyss. XIX, 560 ff.
  21. Nach Belin du Ballu’s Vorschlag Kasalbadusa, H…land.
  22. Es gebührte sich, eine Geschichte, worin alles Lüge ist, mit einem Versprechen, das der Verfasser nie zu halten gedachte, zu beschließen. Wieland.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nuserer