Von der Elbe zur Biela
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Von der Elbe zur Biela.
Es ist nun einmal nicht anders, je reichere Ströme Menschenblut über ein Stück Erde dahingeflossen sind, je mehr fühlen sich spätere Geschlechter von ihm angezogen. Eine Stadt, eine Burg ohne Geschichte ist langweilig wie ein Mensch, der nichts erlebt hat, und die langweiligste Fläche kann zu einer Ebene von Marathon werden einzig durch den Reiz geschichtlicher Großthaten.
Nun, an historischem Salze wird es bei unserer heutigen Tagfahrt über das Erzgebirge hinweg, von der Elbe zur Biela, nicht fehlen, eher liegt die Gefahr eines Zuviel nahe; namentlich am Höhepunkt unserer Wanderung, wo wir den böhmischen Tieflandkessel vor uns haben. In diesem Kessel ist seit einem halben Jahrtausend so ungewöhnlich viel Geschichte zusammengebraut worden, daß wir ihn den „klassischen Boden der Schlachtfelder“ nennen könnten.
Aus der zweiten Station von Dresden ab, in Mügeln, verlassen wir die große sächsisch-böhmische Bahnlinie und benutzen die Müglitzthalbahn, eine Nebenlinie, die bei Geising sich bis dicht unter die Kammerhebungen des Erzgebirges heranschlängelt.
Diese Bahn, ferner eine wunderschöne Straße, welche eher einem Promenadenweg gleicht, und ein carnalittrother Bergfluß theilen sich in die enge, oft schluchtartige Sohle des Müglitzthales und geben eine große Reihe überaus anmuthiger und romantischer Landschaftsbilder.
Bei dem Städtchen Dohna fahren wir an der ersten geschichtlichen Stätte vorüber.
Hier saß der letzte böhmische Vasall in meißnischen Landen, der Burggraf Jeschke von Dohna. Die wenigen Trümmer seiner einstmals sehr umfangreichen Burg stellen zugleich die letzten Ueberreste der slavischen Herrlichkeit auf sächsischem Boden dar. Die deutschen Edelleute der Gegend hatten den überaus streitbaren böhmischen Standesgenossen nicht sehr lieb; und so kam es zu allerhand Reibereien, denen Jeschke nicht ohne ritterliche Tugenden trotzte. Beim großen Adelstanz 1401 auf dem Rathhaus zu Dresden war auch Jeschke erschienen, und den Meißnischen zum Trutz tanzte er über Gebühr oft mit dem schönsten Edelfräulein des Balles. Das verdroß die Meißner gar sehr und besonders den Ritter Körbitz auf Meusegast, der ein Burgnachbar des Jeschke war. Er stellte dem Jeschke ein Bein noch dazu ein geharnischtes, und der stolze slavische Edelmann lag mit seiner schlanken Tänzerin am Boden. Aufspringen und dem Körbitz „eine hineinlangen“ war das Werk eines Augenblicks; dann schlug er sich tapfer durch seine Feinde und kehrte heim auf seine Burg.
Was er aber nun that, war zuviel. Die ganze Umgebung suchte er heim mit Sengen und Brennen, er äscherte die Dörfer seiner Feinde ein, bis Markgraf Wilhelm von Meißen ins Mittel trat, mit dem Aufgebot einer ziemlich stattlichen Heeresmacht den Landfriedensbrecher bändigte und Dohna vollständig in Trümmer legte. Jeschke suchte einen letzten Schutz auf der benachbarten Burg Weesenstein, konnte sich jedoch auch hier nicht halten und entwich nach viertägiger grimmiger Gegenwehr über die Berge nach Böhmen. Damit war das letzte slavische Bollwerk in meißnischen Gauen dem Deutschthum anheimgefallen.
Schloß Weesenstein, ein echter alter Rittersitz auf einzelstehendem Fels inmitten eines tiefen Thaleinschnitts, ist heute Eigenthum der sächsischen Königsfamilie. In besonderer Gunst stand das romantische Nest bei dem König Johann, der hier abseits von der glanzvollen Tyrannei eines Thrones gelehrten und dichterischen Arbeiten nachhing. Die klassische Danteübersetzung des „Philalethes“ ist hier entstanden. Auch Friedrich Wilhelm IV von Preußen liebte die einsame Bergfeste, er sprach des öfteren als Gast bei seinem Freunde, dem König Johann, vor. Da ist ein kleiner Söller vorhanden, welcher nur wenigen Raum gewährt, dafür aber romantisch wie ein Adlernest am Felsen über der Müglitz hängt. Hier saßen die beiden Monarchen und führten stundenlang die angeregtesten Gespräche; der eine gab den bekannten „Esprits", der andere die gelehrte Tiefe und eine poetische Lebensauffassung.
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Die mehr als 100 Zimmer des Schlosses enthalten als Schmuck nicht weniger denn 800 Bildnisse fürstlicher Personen, eine Sammlung, gleich dankbar für Kunstkenner wie für Geschichtsforscher. Höchst seltsam erscheint die Bauart der trotzigen Bergfeste. Der alte Meister, der die erste Anlage schuf, stülpte seinen Bau über einen ziemlich spitzen und steilen Felsen, ähnlich wie eine Haube über den Haubenstock. Die späteren Zuthaten wurden zu Füßen der älteren Gebäude gleichfalls dicht an den Felsen gruppiert, so daß die Rückwände sehr häufig vom Naturfelsen selber gebildet werden. Dieser tritt denn auch auf den Gängen, in den Zimmern, in der Kirche, kurz, im ganzen Schlosse vielfach zu Tage. Einige Gemächer sind ganz aus ihm herausgemeißelt, auch der Thurm besteht ziemlich hoch hinauf aus eitel Gneisfelsen. Die drolligsten lokalen Verschiebungen ergaben sich aus dieser Bauart. Die Pferdeställe liegen im dritten Stockwerk, zwei Treppen höher als die Wohnräume. In die Keller muß man noch höher hinauf, hinter den obersten Stockwerken sieht man nicht, wie man sonst gewohnt, in die Tiefe hinab, man tritt vielmehr ebenerdig hinaus, so daß der Neuling ganz irre wird. Ganz oben in den Eingeweiden des Felsens liegt eine Folterkammer. Schon der Raum ist furchtbar! Die Mehrzahl der heutigen Menschen würde sich hier wahrscheinlich zu jeder Missethat bekennen, nur um aus diesem schauerlichen Gewölbe hinaus – und sei’s auch an den Galgen – zu kommen. Die Folterwerkzeuge würden überflüssig sein.
Ueber den Thalwänden droben, unfern von Weesenstein, liegt das Rittergut Maxen mit seinem neu hergestellten gothischen Thurme. Das ist die Geburtsstätte einer großen humanistischen Idee. Hier berieth der einstige. Besitzer Major Serre mit Karl Gutzkow den Plan zur deutschen Schillerstiftung.
Auch in der Geschichte des Siebenjährigen Krieges hat Maxen eine wichtige Rolle gespielt, doch davon an einer anderen Stelle!
Die Bahn führt uns vorüber an Glashütte, der Uhrmacherstadt mit ihrer Uhrmacherschule. Die Häuser haben hier noch einmal so viele Fenster wie anderwärts, und nirgends beobachtet man so genau die „wirkliche Zeit“. Die „Gartenlaube“ hat der Stadt und ihrer Industrie schon früher (Jahrg. 1879, Nr. 13) eine Beschreibung gewidmet, wir können also die Zeit nutzen und weiterfahren.
An den Gehängen des Müglitzthales liegen noch zwei Schlösser, Bärenstein und Lauenstein. Beide sind für den Stift des Zeichners, wie man so sagt, „dankbare Objekte“, nicht so für die Feder des Schriftstellers, sie gleichen eben jenen hübschen, aber langweiligen Menschen; die nichts erlebt haben. Das Aufregendste in der Geschichte dieser stolzen malerischen Schlösser ist etwa eine fremde Einquartierung, ein Dachstuhlbrand oder, wenn es hoch kommt, ein Besitzwechsel. Ueber Bärenstein herrscht jetzt die Familie Lüttichau; rührende Pietät gegen einen in Frankreich gefallenen Sprossen ihres Geschlechts hat sie fast alle Zimmer mit Erinnerungen an den jungen schönen Offizier schmücken lassen. Das weit ältere Lauenstein, heute im Besitz eines Grafen Hohenthal, liegt zum Theile in Ruinen, die ihres malerischen Eindrucks nicht verfehlen.
Hier verlassen wir den schier endlosen Thalzug und streben geradeswegs der Kammhöhe des Erzgebirgs zu. Nackt und frierend liegen die Dörfer da oben auf kahler Höhe, „im Wind“, sagt der Bauer sehr treffend. Das Leben hier oben hat manche tiefe Eigenart, der Mensch drängt sich hier ganz anders an den Menschen heran wie in glücklicheren Gegenden. Die Poesie der vom gemüthlichen Kachelofen freundlich durchwärmten Rockenstuben liegt wie ein Duft über den Wohnstätten. Wie urbehaglich es sich da sitzt und plaudert, wenn die Elemente draußen um die Hütte toben und die Stürme über die Hochebene dahinfegen, als gälte es, alles Lebendige zu vernichten! Hinter dem Ofen und auf der breiten Ofenbank liegen oder sitzen die feiernden Holzknechte, um den Tisch gruppieren sich die zierlichen Frauengestalten und fertigen mit geschmeidiger Hand kunstvolle Arbeiten an, singen mit dem Stubenvogel um die Wette, plaudern aus vollem guten Herzen [258] oder führen harmlose Wortgefechte, die regelmäßig mit einer allgemeinen Lachsalve endigen. Lose Burschen bauen wohl inzwischen die Hausthür mit einer Schneemauer zu, daß die Spinnerinnen und Strohflechterinnen den Heimweg verlegt finden, oder spielen „Gescheeche“ an den zugefrorenen Fenstern, um die Gesellschaft da drinnen „grufeln“ zu machen. Und daß die Liebe dabei sich gar nicht um das rauhe Klima kümmert, sondern auch hier ihre Rosen zeitigt, versteht sich ja wohl von selbst.
Der Müglitzthalbahn ist schon am Fuße der Kamm-Erhebung vom vielen Steigen der Athem ausgegangen, sie hat sich nicht entschließen können, den Kamm zu erklimmen; wir müssen uns daher auf die Beine machen und zu Fuß die Hochebene überschreiten, wo wir die Dörfer Fürstenau und Voitsdorf berühren. Auf böhmischem Grunde, nicht fern von der Grenze, erhebt sich ein mäßiger Hügel, der Mückenberg, und auf ihm ein großer hölzerner Bau, das Mückenthürmchen. Von der Seite, von der wir heranwandern, sieht es eigentlich nach gar nichts aus, man vermuthet einen jener zahlreichen in den letzten Jahren entstandenen Aussichtsthürme ohne Aussicht. Aber wie verblüfft bleibt man stehen, wenn man mit einem Schlage den ganzen weiten Bielathalkessel von Brüx, Dux und Teplitz herab bis nach Aussig und dem Schreckenstein an der Elbe liegen sieht!
Der ortskundige Sachverständige würde hier vortreten und sagen: „Das, meine Herren, sind die bizarren Schuttkegel des böhmischen Mittelgebirges mit dem weltberühmten Milleschauer, dem schon Alexander von Humboldt ein großes Loblied gesungen hat; hier können Sie den Lauf des Elbstroms in den schluchtartigen Einbuchtungen der imposanten Basaltgruppen verfolgen, wie er sich dann durch das Elbsandsteingebirge klemmt und endlich, gegen Norden gesehen, die deutsche Tiefebene gewinnt. Zu Ihren Füßen fällt der südliche Steilhang des Erzgebirges ab, gegen Osten hin schiebt sich dieses in immer großartigeren Bergmassiven gegen das böhmische Tiefland vor. Die weite Thalsohle mit den Tausenden von Schornsteinen ist eins der großartigsten und ausgiebigsten Braunkohlenbecken der Erde, und wenn Sie Geschichte haben wollen, so sehen Sie sich die zahlreichen Ruinen, Klöster und Schlösser an! Oder wünsche Sie Fernsichten? An hellen Tagen soll indigoblau der Isarkamm, der Böhmerwald, das Riesengebirge und sogar der Kreuzberg bei Berlin und der Weiße Berg bei Prag sichtbar sein!“
Aber so ganz klare Tage soll es sehr selten oder auch noch nie gegeben haben, und das ist gar kein Schade! Mit dem Suchen nach den Einzelheiten verliert man meist den Gesamteindruck und bezahlt damit die kleinen Gewinne sehr theuer. Wer zerschneidet gern ein Gemälde von Meisterhand in seine Theile!
Fast großartiger noch als der landschaftliche ist der geschichtliche Ausblick von diesem Mückenberge aus. Böhmen ist, wie ich es bereits nannte, der „klassische Boden der Schlachtfelder“, hier ist Blut geflossen für den Glauben, für dynastischen Hader, für die Rasse, für die Jesuiten, für die Freiheit, für den Papst und für den Huß, für den Ehrgeiz und – für nichts!
Ein guter Theil dieser Schlachtfelder liegt in unserem Gesichtskreis. In der Tiefe, fast zu unseren Füßen, links von Teplitz erhebt sich ein mäßiger Hügel, „Bihana“, auch „Bihanj“ geheißen. Seine freundlichen, ziegelbedachten weißgetünchten Meierhöfe, seine wohlangebauten Fluren schimmern jetzt so friedlich herauf, daß wir Mühe haben, in ihm eine der blutigsten Wahlstätten zu sehen. Hier wurde im Juni 1426 die furchtbarste aller Hussitenschlachten geschlagen. unter einem Busso von Vitzthum waren die Meißner Heervölker vom Mückenberg herabgestiegen, um für des Papstes Herrlichkeit die Hussiten zu bekriegen, die unter Korybut von Prag an der Biela ein Lager geschlagen hatten, Die waffengeübten, geharnischten Meißner glaubten, ein leichtes Spiel mit den Hussiten zu haben, die ja eigentlich nur Bauernheere waren, Sie hatten sich schwer geirrt; wohl trugen die Hussiten keine Harnische, dafür aber hatten sie ihre Brust mit glühendem Haß gepanzert. Mit Sensen und Dreschflegeln stürmten sie auf die Gegner ein, und als die Sonne hinter den Kamm des Erzgebirgs hinabsank, lagen 16000 Erschlagene äuf dem Hügel Bihana. Der Rest der Meißner rettete sich über den Mückeberg in die festen sächsischen Städte.
Ehe wir die blutigen Spuren der Geschichte von unserer hohen Warte aus weiter verfolgen, sei ein freundlicheres Bild eingestreut! Unfern der Biela bei Staditz liegt auf einer kleinen Anhöhe ein merkwürdiges Denkmal; kein Reiter, keine Menschengestalt ist darauf zu schauen, sondern – ein Ackerpflug! Man nennt es das „Pschemysl-Denkmal“; es verewigt eine Sage oder eine mit sagenhaften Zügen durchsetzte Geschichte von wahrhaft patriarchalischer Einfalt und Großartigkeit: Libussa, die ebenso schöne als kenntnißreiche und gütige Gründerin von Prag, sitzt zu Gericht über einen böhmischen Großen, Ihr gerechtes Urtheil dünkt ihn ungerecht, er schilt sie ein Weib mit langem Haar und kurzen Sinnen und will lieber sterben, als noch für der einem Weibe dienen. Seine Standesgenossen dringen in Libussa, doch endlich aus ihrer Mitte einen Gemahl zu wählen, und obwohl schwer gekränkt, entschließt sie sich dennoch endlich, dem Wunsche der Großen stattzugeben. Voll Unruhe harren diese dem Morgen entgegen, an welchem die vielumworbene Fürstin einen Gatten aus der Mitte der Edelleute wählen soll. Libussa ersteigt in der Nacht vorher einen hohen heiligen Berg und befragt bekümmerten Herzens die Göttin Klimba, was sie thun soll. Diese antwortet:
„Auf, wohlauf, Libussa, steige nieder,
Hinterm Berge dort an Bielas Ufer
Soll dein weißes Roß den Fürsten finden,
Der Gemahl dir sei und Stammes Vater,
Fährt da emsig mit zwei weißen Stieren,
In der Hand die Ruthe seines Stammes,
Und hält Tafel da auf eisern’m Tische.“[1]
Das weiße Roß Libussas übernimmt wirklich den Führerdienst und geleitet die Gesandten der Königin nach jenem Acker an der Biela, der heute das Denkmal trägt. Ein schlichter Landmann führt gedankenvoll seinen Pflug und treibt mit einer Haselgerte seine Stiere an. Voll Erstaunen, daß ein so Geringer König von Böhmen und der Gemahl der schönen Libussa werden soll, rufen ihn die Edelleute an – er aber hört anfänglich nicht und pflügt stolzen Sinnes weiter. Als sie ihm die Krone reichen und ihm den Fürstenmantel überwerfen, zürnt er ihnen, daß sie ihn seinen Acker nicht zu Ende pflügen lassen. Endlich geht Pschemysl – so hieß der Landmann – auf ihre Wünsche ein, steckt seine Gerte ins gelockerte Erdreich und siehe, augenblicklich grünt und blüht sie vor den Augen der verwunderten Magnaten auf zu einem Haselstrauch.
Und Pschemysl, der Denker ... kehrt den Pflug um,
Langet Käs’ und Brot aus seiner Tasche,
Heißt sie niedersitzen auf die Erde,
Legt die Mahlzeit auf den Pflug mit Eisen:[2]
„Haltet denn mit Eurem Fürsten Tafel!“
Die Großen fragen:
- „Herr, wozu der sondre Tisch von Eisen?“
Pschemysl antwortet:
„Und Ihr wisset nicht, auf welchem Tische
Stets ein König isset? Eisen ist er.“ –
Damit stand er auf und stieg aufs schöne
Weiße Roß, das scharrt und triumphieret.
Die Großen legen ihm jetzt Fürstenschuhe an und wollen [259] die Bastschuhe wegwerfen, die er bis dahin getragen; doch ihr König bittet:
„Laßt mir meine Schuh’ von Lindenrinde
Und mit Bast von meiner Hand genähet,
Daß es meine Söhn’ und Enkel sehen;
Wie ihr Königsvater einst gegangen.“
Die Fürstentugenden des schönen Königspaares treiben denn auch im Lande Böhmen die herrlichsten Blüthen. So lange der Haselstrauch grünte, d. h. so lange die Könige den Pflug mehr als das Schwert ehrten, gebrach es nie an Brot, und so lange die Bastschuhe im Prager Königsschloß zu schauen waren, kehrte nie Uebermuth und Stolz dort ein. Kein Herrscherpaar, sondern ein Vater und eine Mutter walteten über Böhmen, und die Sage erzählt noch weiter von der überaus glücklichen und langen Regierung des edlen Fürstenpaares Primislaus und Libussa. Doch am Schlusse klagt sie bitter:
„Weh’, ach weh’, die Ruthe ist verdorret
Und die armen Schuhe sind gestohlen
Und der Eisentisch ist güldne Tafel!“
Nun wieder aus der schönen Sage in die blutige Geschichte zurück! Unfern des Hügels Bihana, unserm Standpunkt auf dem Mückenberg näher, aber nicht sichtbar, liegt ein anderes Schlachtfeld, auf welchem gleichfalls Tausende um eines Größenwahnes willen ihr Leben lassen mußten. Die Schlacht bei Dresden im Jahre 1813 war geschlagen, alle Heerstraßen über den Kamm des Erzgebirges waren bedeckt mit den Truppen der Verbündeten, die sich geordnet zurückzogen. Das letzte Mal vor der Entscheidungsschlacht bei Leipzig hatte Napoleons Glücksstern aufgeleuchtet, und mit einem gewissen Uebermuth verfolgten seine Generale den geschlagenen Gegner. Der russische Heerführer Ostermann hatte sich für seinen Rückzug den östlichsten Paß über Nollendorf ausersehen. Vandamme folgte ihm mit Ungestüm, und schon bei Pirna am Kohlberg begannen erneute Kämpfe. Ostermann wehrte sich wie verzweifelt und machte in der Nähe von Nollendorf den letzten und stärksten Vorstoß, um die Franzosen nach Sachsen zurückzudrängen. Vergebens, er konnte die Höhen nicht halten, wurden ins Thal hinabgedrängt, und Vandamme folgte bis in die Gegend von Kulm. Aber nicht zu seinem Heile!
Rings auf den Feldern zu unsern Füßen lagerten die Preußen unter General von Kleist. Der Kanonendonner drüben im Osten verzog sich mehr und mehr nach der Tiefe, und jetzt war die Zeit gekommen, die Falle, in die sich der heißblütige Vandamme begeben, zuzuziehen. Kleist eilte mit seinen Truppen über die Höhen nach dem Nollendorfer Paß, verlegte diesen und griff die Franzosen im Rücken an. Die Oesterreicher richteten ihren Angriff gegen die Flanke, und in der Front gingen die Russen aufs neue vor. So wurde Vandamme durch einen glücklichen Schachzug an den Steilhang des Erzgebirges, also buchstäblich an die Wand gedrückt. Das ganze französische Armeecorps wurde gefangen. Drei großartige Denkmäler bei Pristen und Arbesau ehren die gefallenen Preußen, Oesterreicher und Russen. An die Franzosen erinnern nur noch einige mit Unkraut überwucherte Erdhügel.
Aber damit ist die Schlachtenchronik unseres Thalkessels noch nicht erschöpft. Im Jahre 1040 schlug Kaiser Heinrich II. zwischen dem Bihana und Kulm den slavischen Herzog Bretislav von Böhmen. Am 11. Februar 1126 fochten die Herzöge Sobeslav und Lothar wider einander zwischen Kulm und Graupen. Gegen Norden hin auf den Höhen, welche die Altstadt Dresden dem Blicke entziehen, wurde am 26. und 27. August die vorhin erwähnte Schlacht bei Dresden geschlagen. In derselben Richtung, zwei Meilen näher am Mückenberg, bei dem schon genannten Maxen, erhebt sich eine Bergkuppe, die im Volksmunde „der Finkenfang“ genannt wird. Hier nahm der österreichische General Daun am 21. November 1759 den preußischen General Fink mit 12,000 Mann gefangen.
An den Dreißigjährigen Krieg erinnern mehrere Burgruinen, so die auf dem Schloßberg zu Teplitz und einige andere am Fuße des Mittelgebirges. Hinter den Zacken dieses Gebirges breiten sich die Felder von Lobositz aus, und in derselben Luftlinie liegt Kollin, zwei Namen von gar verschiedenem Klang in Preußens Kriegsgeschichte. Und wer am 3. Juli 1866 auf dem Mückenberg stand, der konnte, so berichten die Einwohner von Obergraupen, die Kanonen von Königgrätz aufblitzen und die Flammen der brennenden Dörfer zum Himmel lohen sehen.
Doch nun genug der blutigen Erinnerungen! Wir nehmen Abschied von dem Mückenthürmchen, steigen gegen 500 Meter abwärts ins Land und treten ein in das hochgegiebelte Bergnest Graupen.
Wie heimlich sitzt es sich hier in den Schenkgärten der Rosenburg oder auf der Wilhelmshöhe, wo König Wilhelm IV. jahrzehntelang allsommerlich einkehrte, um Mensch unter Menschen zu sein. Mit seligem Behagen schweift das Auge immer und immer wieder über die reichgeformte Landschaft, und wenn erst der Abend hereinbricht und die zahlreichen Flammengarben der Industriestätten emporflackern, die tausend Lichter der Städte und Dörfer des Bielathales herüberschimmern und die vielen Eisenbahnzüge mit ihren Gluthaugen das Dunkel durchkreuzen, da füllt sich das Herz mit wohliger Genugthuung über die unverwüstliche Volkskraft in diesem merkwürdigen Lande, das so oft von Leidenschaften durchwühlt und von Kriegsvölkern zertreten worden ist.