Textdaten
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Autor: E. Werner
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Titel: Freie Bahn!
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–23, S. 1–6, 21–26, 38–42, 53–58, 69–74, 85–88, 101–104, 117–122, 133–136, 150–152, 165–168, 181–186, 201–204, 230–235, 252–255, 272–275, 288–291, 302–307, 319–322, 336–339, 351–355, 366–371, 382–387
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]
Freie Bahn!
Roman von E. Werner.


Ein Frühlingstag im Süden! Himmel und Meer strahlen in tiefem Blau, durchfluthet von Licht und Glanz, und mit leisem Rauschen rollen die Wogen an den Strand der Riviera, wo der Lenz schon eingezogen ist in seiner ganzen Pracht, während droben im Norden noch Schneestürme über die Erde hinziehen.

Hier liegt goldener Sonnenschein auf den weißen Häusern und Villen der Stadt, die sich im weiten Halbkreise am Ufer hinzieht, schlanke Palmen heben ihre Wipfel, Lorbeer und Myrthe grünen; mit Tausenden von ganz und halb erschlossenen Blüthen, vom zarten Weiß bis zum tiefen Purpur, leuchten die Kamelien aus dem dunklen Laube und überall duftet und blüht es in unerschöpflicher Fülle. Von den Bergen ringsum blicken altersgraue Klöster und hellschimmernde Kirchen, von hohen Cypressen umgeben; freundliche Ortschaften heben sich aus Pinien- und Olivenwäldern, und in der Ferne blauen die Alpen mit ihren schneegekrönten Gipfeln, halb verschwimmend im Sonnenduft.

Nizza feierte eins seiner Frühlings- und Blumenfeste, und was die Stadt und deren Umgebung an Fremden und Einheimischen barg, war herbeigeströmt. In endlosen Reihen bewegten sich die geschmückten Wagen aneinander vorüber, jedes Fenster, jeder Balkon war dicht besetzt mit Zuschauern, und auf den Seitenwegen, unter den Palmen drängte sich eine schaulustige Menge, aus der überall die braunen malerischen Gestalten der Fischer und des Landvolkes auftauchten.

Auf dem Korso war die Blumenschlacht in vollem Gange, unaufhörlich kreuzten die duftigen Geschosse die Luft, hier das Ziel erreichend, dort es verfehlend; Blüthen, die im Norden als selten und kostbar gehegt werden, wurden hier achtlos und verschwenderisch verstreut. Dazu überall wehende Tücher, jubelnde Zurufe, wogende Musik und berauschender Veilchenduft, das ganze zauberhaft schöne Bild umflossen von dem goldenen Frühlingslicht, das Himmel und Erde erfüllte.

Auf der Terrasse eines der Gasthöfe stand eine kleine Gruppe von Herren, offenbar Landsleute, die sich hier zusammengefunden hatten, denn sie unterhielten sich in deutscher Sprache. Die lebhafte Theilnahme, mit welcher die beiden jüngeren dem fesselnden Schauspiel folgten, verrieth, daß es ihnen noch neu war, während der dritte, ein Mann in reiferen Jahren, es ziemlich gleichgültig an sich vorüberziehen ließ.

„Ich werde jetzt aufbrechen,“ sagte er, mit einem Blicke auf seine Uhr. „Man wird schließlich ganz betäubt von all diesem Wogen und Treiben und sehnt sich nach einem ruhigen Plätzchen. Die Herren bleiben wohl noch?“

Die jungen Herren [2] schienen allerdings diese Absicht zu haben, und der eine, ein hübscher schlanker Mann, offenbar ein Offizier in Civil, erwiderte lachend:

„Gewiß, Herr von Stetten! Wir empfinden noch ganz und gar kein Ruhebedürfniß, und für uns Nordländer hat der Anblick etwas Märchenhaftes, nicht wahr, Wittenau? – Ah, da kommen die Wildenrods! Das nenne ich Geschmack; der Wagen verschwindet ja fast unter Blumen, und die schöne Cäcilie sieht so vollends aus wie eine Frühlingsfee.“

Der Wagen, der eben vorüberfuhr, zeichnete sich in der That durch einen besonders reichen Blumenschmuck aus. Er war über und über mit Kamelien geziert, Kutscher und Diener trugen Sträuße davon an den Hüten, sogar die Pferde waren damit geschmückt.

Auf dem Vordersitz befanden sich ein Herr, eine stolze vornehme Erscheinung, und eine junge Dame in röthlich schillerndem Seidengewand, ein weißes duftiges Hütchen mit Rosen auf dem dunklen Haare. Auf dem Rücksitz hatte ein junger Mann Platz genommen, der sich mühte, die Fülle der Blumen zu bergen, die sich von allen Seiten wie ein duftender Regen gerade über diesen Wagen ergossen. Es waren die kostbarsten Sträuße darunter, offenbar Huldigungen für das schöne Mädchen, das lächelnd inmitten all der Blüthen saß und mit großen strahlenden Augen auf das fluthende Leben ringsum blickte.

Auch der Offizier hatte einen Veilchenstrauß ergriffen und schleuderte ihn mit geschicktem Wurfe in den Wagen, aber statt der Dame fing ihn deren Begleiter auf und warf ihn dann achtlos zu den übrigen, die sich neben ihm auf dem Rücksitz aufthürmten.

„Nun, für Herrn Dernburg war das gerade nicht bestimmt,“ sagte der Blumenspender etwas ärgerlich. „Er ist natürlich wieder im Wagen der Wildenrods, man sieht ihn gar nicht mehr anders als in ihrer Begleitung.“

„Ja, seit dieser Dernburg aufgetaucht ist, scheinen alle sonstigen Beziehungen überflüssig geworden zu sein,“ stimmte Wittenau bei, indem er dem Wagen einen finsteren Blick nachsandte.

„Haben Sie das auch schon erfahren?“ neckte der junge Offizier. „Ja, Millionäre stehen leider immer im Vordergrund, und ich glaube, Herr von Wildenrod weiß diese Eigenschaft an seinen Freunden zu schätzen, denn bisweilen läßt ihn doch das Glück drüben in Monaco im Stiche.“

„Aber davon kann doch gar nicht die Rede sein,“ erwiderte Wittenau beinahe unwillig. „Der Freiherr macht durchaus den Eindruck eines Kavaliers und verkehrt hier in den ersten Kreisen.“

Der andere zuckte lachend die Achseln.

„Das will nicht viel sagen, lieber Wittenau. Gerade hier in Nizza verwischen sich die Grenzen zwischen der Gesellschaft und der Abenteurerwelt oft in ganz bedenklicher Weise. Man weiß nie recht, wo die eine aufhört und die andere anfängt, und bei diesem Wildenrod sieht man nicht klar. Ob sein Adel überhaupt echt ist –“

„Unzweifelhaft echt, das kann ich verbürgen,“ mischte sich jetzt Stetten, der bisher schweigend zugehört hatte, in das Gespräch.

„Ah, Sie kennen die Familie?“

„Ich habe vor Jahren im Hause des alten, jetzt verstorbenen Freiherrn verkehrt und dort auch seinen Sohn kennengelernt. Von diesem weiß ich allerdings nichts Näheres, aber seinen Namen und Titel trägt er mit vollem Rechte.“

„Um so besser,“ sagte der Offizier leichthin. „Uebrigens ist es ja nur eine Reisebekanntschaft, und die verpflichtet zu nichts.“

„Gewiß nicht, wenn sich solche Beziehungen ebenso leicht lösen, als sie geknüpft werden,“ warf Stetten mit einer gewissen Betonung hin. „Doch ich will jetzt fort – auf Wiedersehen, meine Herren!“

„Ich gehe mit Ihnen,“ sagte Wittenau, der auf einmal die Lust am Zuschauen verloren zu haben schien. „Die Wagenreihen fangen ja schon an, sich zu lichten. Es wird nur schwer sein, durchzukommen.“

Sie verabschiedeten sich von ihrem Gefährten, der noch nicht an den Aufbruch dachte und sich eben wieder mit neuem Blumengeschütz versah, und verließen die Terrasse. Es war allerdings nicht leicht, in der dichtgedrängten Menge vorwärts zu kommen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie all das Wogen und Treiben hinter sich ließen. Allmählich aber wurde es einsamer um sie her, während der Festjubel in der Ferne verklang.

Die Unterhaltung der beiden Herren war ziemlich einsilbig. Der jüngere besonders schien verstimmt oder zerstreut zu sein und plötzlich sagte er ganz unvermittelt:

„Sie kennen also die Wildenrods näher, und das erfährt man erst heute? Und doch verkehrten Sie nie mit ihnen.“

„Nein,“ sagte Herr von Stetten kühl, „und auch Ihnen hätte ich einen anderen Umgang gewünscht. Ich deutete das auch verschiedenemal an, aber Sie wollten meine Winke nicht verstehen.“

„Ich wurde durch einen Landsmann dort eingeführt, und Sie sagten mir nichts Bestimmtes –“

„Weil ich selbst nichts Bestimmtes weiß. Jene Beziehungen, von denen ich vorhin sprach, liegen um zwölf Jahre zurück, und seitdem hat sich vieles geändert. Ihr Freund hat recht, die Grenzen zwischen der Gesellschaft und der Abenteurerwelt verwischen sich hier oft sehr bedenklich, und ich fürchte, Wildenrod steht bereits jenseit dieser Grenze.“

„Sie halten ihn nicht für reich?“ fragte Wittenau betroffen. „Er lebt mit seiner Schwester auf großem Fuße, anscheinend in den glänzendsten Verhältnissen, und hat jedenfalls für den Augenblick bedeutende Mittel in Händen.“

Stetten zuckte mit vielsagender Miene die Schultern.

„Fragen Sie die Spielbank in Monaco, er ist ja ständiger Gast dort und soll auch meist mit Glück spielen – so lange es dauert! Man hört auch bisweilen von anderen Dingen, die noch bedenklicher sind. Ich habe mich nicht veranlaßt gefühlt, die einstige Bekanntschaft zu erneuern, obgleich unser Verkehr ein ziemlich häufiger war, denn die ehemaligen Wildenrodschen Besitzungen liegen in unmittelbarer Nähe unseres Familiengutes, das jetzt in meinen Händen ist.“

„Die ehemaligen?“ fragte der junge Mann. „Die Besitzungen sind also verkauft? Doch ich sehe, Sie sprechen nicht gern darüber.“

„Zu Fremden allerdings nicht – Ihnen will ich Auskunft geben, denn ich weiß, daß Sie ein näheres Interesse an der Sache haben. Aber dies Gespräch bleibt unter uns!“

„Mein Wort darauf!“

„Nun denn,“ sagte Stetten ernst, „es ist eine kurze, traurige, aber leider nicht ungewöhnliche Geschichte. Die Güter waren längst mit Schulden überlastet, trotzdem wurde ein glänzender Haushalt geführt. Der alte Freiherr hatte noch in späteren Jahren, als der Sohn längst erwachsen war, eine zweite Ehe geschlossen, er konnte seiner jungen Frau keinen Wunsch versagen, und sie brauchte viel, sehr viel. Der Sohn, der im diplomatischen Dienst stand, war auch gewohnt, als großer Herr zu leben, allerlei sonstige Verluste kamen hinzu, und endlich brach die Katastrophe herein. Der Freiherr starb plötzlich an einem Schlagfluß – so hieß es wenigstens.“

„Er hat Hand an sich gelegt?“ fragte Wittenau leise.

„Wahrscheinlich. Gewisses hat man nicht erfahren, aber vermuthlich wollte er das Unglück und die Schande dieses Zusammenbruches nicht überleben. Die Schande wurde allerdings abgewendet, denn man trat an allerhöchster Stelle für die Familie ein. Die Wildenrods gehören zum ältesten Adel des Landes, und der Name sollte um jeden Preis gerettet werden. Das Schloß und die Güter gingen in königlichen Besitz über, so konnten wenigstens die Gläubiger befriedigt werden, und der Verkauf galt in weiteren Kreisen für einen freiwilligen. Allerdings blieb nichts übrig. Die Witwe mit ihrem kleinen Töchterchen wäre dem Elend preisgegeben gewesen, wenn die Gnade des Königs ihr nicht einen Wohnsitz im Schlosse und eine jährliche Rente gesichert hätte. Sie starb übrigen auch bald darauf.“

„Und der Sohn? Der junge Freiherr?“

„Er nahm natürlich den Abschied, mußte ihn nehmen unter diesen Umständen, denn er konnte bei völliger Mittellosigkeit doch nicht Gesandtschaftsattaché bleiben. Es mag ein harter Schlag gewesen sein für den stolzen ehrgeizigen Mann, der vielleicht gar [3] nicht gewußt hatte, wie es mit seinem Vater stand, und der nun so plötzlich und gewaltsam aus seiner Bahn geschleudert wurde. Es hätte ihm freilich noch mancher andere ehrenhafte Lebensweg offen gestanden, man hätte ihm zweifellos irgend eine Stellung verschafft, aber das bedingte ein Herabsteigen aus den Kreisen, in denen er bisher eine erste Rolle gespielt hatte, bedingte ernste, unausgesetzte Arbeit in einfachen Verhältnissen, und das waren Dinge, die Oskar von Wildenrod nun einmal nicht kannte. Er wies alle Vorschläge zurück, ging ins Ausland und blieb für seine Heimath verschollen. Jetzt, nach zwölf Jahren, begegne ich ihm hier in Nizza mit seiner jungen Schwester, die inzwischen herangewachsen ist, aber wir ziehen es beiderseits vor, uns als Fremde zu behandeln.“

Wittenau war bei dieser Erzählung sehr nachdenklich geworden, er erwiderte nichts darauf; da legte sein Gefährte die Hand auf seinen Arm und sagte halblaut:

„Sie sollten den jungen Dernburg nicht mit so feindseligen Blicken ansehen, denn sein Erscheinen war es vermutlich, das Sie vor einer Thorheit bewahrt hat – vor einer großen Thorheit!“

Ueber das Gesicht des jungen Mannes floß bei dieser Andeutung eine glühende Röthe und er gerieth sichtlich in Verlegenheit.

„Herr von Stetten, ich –“

„Nun, ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf daraus, daß Sie zu tief in ein Paar schöner Augen geblickt haben,“ unterbrach ihn Stetten. „Das ist so natürlich in Ihrem Alter, hier aber hätte es doch verhängnißvoll werden können. Fragen Sie sich selbst, ob ein Mädchen, das unter solchen Umständen und Umgebungen aufgewachsen ist, zur Frau eines einfachen Gutsbesitzers und für ländliche Verhältnisse paßt. Uebrigens hätten Sie schwerlich ein Jawort von Cäcilie Wildenrod erhalten, denn darüber bestimmt der Bruder, und der braucht einen Millionär zum Schwager.“

„Und Dernburg ist der Erbe verschiedener Millionen, wie es heißt,“ ergänzte Wittenau mit unverhohlener Bitterkeit, „also wird er wohl dieser Ehre theilhaftig werden.“

„Es heißt nicht bloß so, es ist Thatsache. Die großen Dernburgschen Eisen- und Stahlwerke sind wohl die bedeutendsten in ganz Deutschland und vorzüglich geleitet. Der gegenwärtige Chef ist ein Mann, wie es nicht viele giebt, ich habe ihn vor einigen Jahren zufällig kennengelernt. – Doch da kommen die Wildenrods zurück!“

Es war in der That der Wagen des Freiherrn, der gleichfalls den Korso verlassen hatte und sich auf der Heimfahrt befand. Die feurigen Pferde hatten es ungeduldig genug ertragen, daß man sie so lange zu langsamem Schritte gezwungen, sie griffen jetzt mit voller Macht aus und brausten an den beiden Herren vorüber, die zur Seite getreten waren und nun der aufwirbelnden Staubwolke nachblickten.

„Schade um diesen Oskar Wildenrod!“ sagte Stetten ernst. „Er gehört nicht zu den gewöhnlichen Menschen, und vielleicht wäre etwas Großes aus ihm geworden, wenn das Schicksal ihm den Lebenskreis, für den er geboren und erzogen war, nicht so jäh und gewaltsam verschüttet hätte. – Sehen Sie nicht so finster aus, lieber Wittenau! Sie werden den Jugendtraum verschmerzen und, wenn Sie erst wieder daheim auf Ihren Feldern und Wiesen sind, dem Schicksal dankbar dafür sein, daß es nur ein Traum geblieben ist.“ –

Der Wagen hatte inzwischen seine Fahrt fortgesetzt und hielt jetzt vor einem der großen Gasthöfe, dessen Aeußeres hinreichend zeigte, daß er nur reichen und vornehmen Fremden zur Verfügung stand. Die Zimmer, welche Freiherr von Wildenrod mit seiner Schwester bewohnte, gehörten zu den besten und selbstverständlich theuersten des Hauses und entbehrten keine von all den Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten, auf die verwöhnte Gäste Anspruch erheben. Sie waren glänzend eingerichtet – freilich eine Gasthofeinrichtung, der jede Behaglichkeit fehlte.

Die Herrschaften befanden sich bereits im Salon – Cäcilie hatte sich zurückgezogen, um Hut und Handschuhe abzulegen, und die beiden Herren traten plaudernd auf die Veranda hinaus, die einen schönen Blick auf das Meer und einen Theil von Nizza gewährte.

Der junge Dernburg mochte vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt sein; sein Aeußeres machte einen wenn auch angenehmen, doch ziemlich unbedeutenden Eindruck. Die schmächtige Gestalt mit ihrer etwas gebeugten Haltung und die bleiche Farbe mit der eigenthümlichen Röthe auf den Wangen ließen errathen, daß er nicht zu seinem Vergnügen sondern aus Gesundheitsrücksichten die sonnigen Gestade der Riviera aufgesucht hatte. Das Gesicht hatte feine ansprechende Züge, aber die Linien waren viel zu weich für ein Männerantlitz, und dieselbe Weichheit lag in dem träumerischen, verschleierten Blick der braunen Augen. Das Selbstbewußtsein des reichen Erben schien dem jungen Manne vollständig zu fehlen, seine Haltung war anspruchslos, beinahe schüchtern, und hätte ihm nicht der Name, den er trug, überall Beachtung gesichert, so wäre er wohl in Gefahr gekommen, von den meisten übersehen zu werden.

Die Persönlichkeit des Freiherrn stand im vollsten Gegensatz dazu. Oskar von Wildenrod war nicht mehr jung, er befand sich bereits am Ende der Dreißig. Seine hohe Gestalt hatte etwas Gebietendes, und die stolzen regelmäßigen Züge konnten noch für schön gelten, trotz der scharfen Linien, die sich darin ausgeprägt hatten, und der tiefen Falte zwischen den Brauen, die dem Gesicht etwas Düsteres gab. In den dunklen Augen schien nur kühle beobachtende Ruhe zu liegen, und doch blitzte es bisweilen darin auf, mit einem Feuer, das auf eine leidenschaftliche ungezügelte Natur deutete. Im übrigen war die Erscheinung des Freiherrn eine durchaus vornehme, in seiner Haltung vereinigte sich die Verbindlichkeit des Weltmannes ganz zwanglos mit dem Stolze, den der Abkömmling des alten Adelsgeschlechtes in unverkennbarer, aber keineswegs verletzender Weise zur Schau trug.

„Sie denken doch nicht im Ernst schon an die Abreise?“ fragte er im Laufe des Gespräches. „Das wäre viel zu früh, da würden Sie gerade in die Sturm- und Regenzeit gerathen, die man in unserem lieben Deutschland mit dem Namen Frühling beehrt. Sie haben den ganzen Winter in Kairo zugebracht, sind erst seit sechs Wochen in Nizza und dürfen sich jetzt noch nicht das rauhe nordische Klima zumuthen, wenn Sie Ihre kaum befestigte Gesundheit nicht wieder aufs Spiel setzen wollen.“

„Es handelt sich ja auch nicht um heut’ oder morgen,“ sagte Dernburg, „aber allzulange kann ich die Heimkehr nicht mehr aufschieben. Ich bin länger als ein Jahr im Süden gewesen, fühle mich wieder vollständig wohl, und mein Vater wünscht dringend, daß ich sobald als möglich nach Odensberg zurückkehre, vorausgesetzt, daß die Aerzte mir die Erlaubniß dazu geben.“

„Es muß eine großartige Schöpfung sein, dies Odensberg,“ bemerkte der Freiherr. „Nach allem, was ich von Ihnen und anderen höre, nimmt Ihr Vater ja beinahe die Stellung eines kleinen Fürsten ein, nur daß er ein unumschränkterer Herr und Gebieter ist als dieser.“

„Gewiß, aber er hat auch alle Sorgen und die ganze große Verantwortlichkeit seiner Stellung. Sie ahnen doch wohl nicht, was es heißt, an der Spitze eines derartigen Unternehmens zu stehen. Es gehört eine eiserne Natur wie die meines Vaters dazu; es ist eine Riesenlast, die er auf seinen Schultern trägt.“

„Gleichviel, es ist eine Macht, und Macht ist immer Glück!“ erwiderte Wildenrod mit aufblitzenden Augen.

Der junge Mann lächelte trübe. „Für Sie vielleicht und wohl auch für meinen Vater – ich bin anders geartet. Ich würde ein stilles Leben in bescheidenen Verhältnissen an einer dieser paradiesischen Stätten des Südens vorziehen, aber ich habe als einziger Sohn dereinst die Odensberger Werke zu übernehmen, da ist von keiner Wahl die Rede.“

„Sie sind undankbar, Dernburg! Ihnen hat eine gütige Fee ein Los, nach dem Tausende geizen und ringen, als Geschenk in die Wiege gelegt, und Sie – ich glaube, Sie seufzen darüber.“

„Weil ich fühle, daß ich ihm nicht gewachsen bin. Wenn ich sehe, was mein Vater leistet, und daran denke, daß mir dereinst die Aufgabe zufallen soll, ihn zu ersetzen, dann überkommt mich eine Muthlosigkeit und Zaghaftigkeit, deren ich nicht Herr werden kann.“

[6] Wildenrods Blick haftete mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf der schmächtigen Gestalt und den bleichen Zügen des jungen Erben.

„Dereinst!“ wiederholte er. „Wer wird jetzt schon um die ferne Zukunft sorgen. Noch lebt und schafft Ihr Vater ja in vollster Kraft, und im äußersten Falle wird er Ihnen tüchtige Beamte zurücklassen, die in seiner Schule gebildet sind. Also Sie bleiben wirklich nicht mehr lange in Nizza? Das thut mir leid, wir werden Sie sehr vermissen.“

Wir?“ fragte Dernburg leise. „Sprechen Sie auch im Namen Ihrer Schwester?“

„Gewiß, Cäcilie wird ihren allergetreuesten Ritter ungern verlieren. Man wird sich allerdings Mühe geben, sie darüber zu trösten – wissen Sie, daß ich gestern einen förmlichen Strauß mit Marville zu bestehen hatte, weil ich Ihnen den Platz in unserem Wagen anbot, auf den er sicher rechnete?“

Die letzte Bemerkung wurde scheinbar ganz absichtslos hingeworfen, aber sie that ihre Wirkung. Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich, und mit unverkennbarer Gereiztheit erwiderte er:

„Vicomte von Marville beansprucht ja stets den Platz neben der Baroneß, er würde mich auch wohl vorkommenden Falles vollständig bei ihr ersetzen.“

„Wenn Sie ihm freiwillig den Platz räumen – vielleicht. Bis jetzt hat sich Cäcilie allerdings noch immer mit Entschiedenheit auf die Seite ihres deutschen Landsmanns gestellt, aber der liebenswürdige Franzose gefällt ihr, daran ist kein Zweifel, und der Abwesende hat immer unrecht, zumal bei jungen Damen.“

Er sprach in scherzendem Tone, ohne irgendwie Gewicht auf seine Worte zu legen, als nehme er die Sache überhaupt nicht ernst; um so mehr schien dies Dernburg zu thun. Er antwortete nicht, allein er kämpfte offenbar mit sich selber, und endlich begann er, unsicher und stockend:

„Herr von Wildenrod, ich habe etwas auf dem Herzen – schon längst – aber ich wagte es bisher nicht –“

Der Freiherr hatte sich zu ihm gewendet und sah ihn fragend an. In seinen dunklen Augen lag ein halb spöttischer, halb mitleidiger Ausdruck – der Blick schien zu sagen: Du hast Millionen zu bieten und wagst es nicht? Laut aber erwiderte Wildenrod:

„Nun, so sprechen Sie doch, wir sind uns ja nicht fremd, und ich hoffe, Anspruch auf Ihr Vertrauen zu haben.“

„Es ist Ihnen vielleicht kein Geheimniß mehr, daß ich Ihre Schwester liebe,“ sagte Dernburg beinahe schüchtern. „Aber lassen Sie es mich auch aussprechen, daß Cäciliens Besitz mir das höchste Glück sein würde, daß ich alles thun würde, um auch sie glücklich zu machen – darf ich hoffen?“

Wildenrod zeigte sich in der That nicht überrascht von diesem Geständniß, er lächelte nur, aber es war ein verheißungsvolles Lächeln.

„Da werden Sie wohl vor allen Dingen Cäcilie selbst fragen müssen. Junge Damen sind etwas eigenwillig in solchen Punkten, und mein Fräulein Schwester ist es ganz besonders. Ich bin vielleicht zu nachsichtig ihr gegenüber, und in der Gesellschaft wird sie noch mehr verwöhnt, wie sehr, das sahen Sie ja wieder bei der heutigen Korsofahrt.“

„Ja, ich sah es,“ – der Ton, in welchem der junge Mann sprach, klang gedrückt – „und eben deshalb habe ich bisher immer noch nicht den Muth gefunden, ihr von meiner Liebe zu sprechen.“

„Wirklich? Nun dann werde ich Ihrer Schüchternheit wohl zu Hilfe kommen müssen. Unsere kleine launenhafte Prinzessin ist zwar unberechenbar, aber, im Vertrauen gesagt, ich fürchte nicht, daß Sie sich bei ihr einen Korb holen werden.“

„Sie glauben?“ rief Dernburg in aufflammendem Entzücken. „Und Sie, Herr von Wildenrod?“

„Ich werde Sie gern als Schwager begrüßen und mit vollem Vertrauen die Zukunft meiner Schwester in Ihre Hände legen. Ich will ja weiter nichts, als dieses Kind, dem ich von jeher mehr Vater als Bruder gewesen bin, geliebt und glücklich sehen.“

Er streckte ihm die Hand hin, die der junge Mann mit innigem Druck ergriff.

„Ich danke Ihnen. Sie machen mich sehr, sehr glücklich mit dieser Zusage, mit der Hoffnung, die Sie mir geben, und jetzt –“

„Möchten Sie diese Zusage auch aus einem anderen Munde haben,“ ergänzte Wildenrod lachend. „Die Gelegenheit zu dem Geständniß will ich Ihnen gern geben, aber das Jawort müssen Sie sich selbst holen, ich lasse meiner Schwester volle Freiheit. Ich denke indessen, mein Ausplaudern hat Ihnen Muth gemacht, also wagen Sie es immerhin, lieber Erich!“

Er winkte ihm freundlich zu und ging. Auch Erich Dernburg trat wieder in den Salon, und sein Blick glitt über all die Blumenspenden, die der Diener herausgebracht und auf den Tisch gehäuft hatte. Ja freilich, Cäcilie Wildenrod war verwöhnt und gefeiert wie wenige ihres Geschlechtes. Wie war sie heute wieder überschüttet worden mit Blumen und Huldigungen! Sie hatte nur zu wählen, durfte er da der Hoffnung trauen, daß sie gerade ihn wählen würde? Er hatte Reichthum zu bieten, aber sie war ja selbst reich, die Art, wie ihr Bruder auftrat, ließ daran nicht zweifeln, und sie war überdies der Sprößling eines alten Adelsgeschlechtes, die Wage stand zum mindesten gleich. Trotz der Ermuthigung, die ihm geworden, verrieth das Gesicht des jungen Mannes doch, daß er ebensosehr fürchtete als hoffte. –

Wildenrod hatte inzwischen das anstoßende Gemach durchschritten und trat jetzt in das Zimmer seiner Schwester. Cäcilie stand vor dem Spiegel und wendete sich bei seinem Eintritt flüchtig um.

„Ah, Du bist es, Oskar? Ich komme sogleich, ich will nur noch eine Blume ins Haar stecken.“

Der Freiherr sah auf den Strauß prachtvoller mattgelber Rosen, welcher halbgelöst auf dem Spiegeltischchen vor ihr lag, und fragte kurz.

„Sind das die Blumen, die Du von Dernburg erhalten hast?“

„Gewiß, er brachte sie mir zu der heutigen Korsofahrt.“

„Gut, so schmücke Dich damit!“

„Das hätte ich auch ohne Deine allergnädigste Erlaubniß gethan,“ lachte die junge Dame, „denn es sind die schönsten von allen.“

Sie zog eine der Rosen hervor und hielt sie prüfend gegen das Haar, es lag eine ungemeine, aber freilich sehr bewußte Grazie in dieser Bewegung. Das schlanke, neunzehnjährige Mädchen glich dem Bruder wenig oder gar nicht, auf den ersten Blick schienen sie nur die dunkle Farbe des Haares und der Augen miteinander gemein zu haben, sonst verrieth kaum ein Zug die nahe Blutsverwandtschaft.

Cäcilie Wildenrod war eine von jenen Erscheinungen, die auf die Männerwelt einen fast unwiderstehlichen Zauber ausüben. Ihre Züge waren unregelmäßiger als die des Bruders, hatten jedoch einen eigenartigen Reiz, der immer wieder von neuem fesselte. Das tiefschwarze Haar, das, nach der neuesten Mode geordnet, in seiner reichen Fülle gar nicht recht zur Geltung kam, die matte bräunliche Hautfarbe ließen nicht auf deutsche Abkunft schließen; unter langen schwarzen Wimpern barg sich ein Paar dunkler feuchtschimmernder Augen, welche dem, der tiefer hineinblickte, ein Räthsel aufzugeben schienen. Es waren nicht die Augen eines eben erst erblühten Mädchens, sie glichen nur zu sehr denen des Bruders. Auch in diesen dunklen Tiefen glühte ein Funke, der zur Flamme werden konnte, auch sie hatten etwas von jenem heißen leidenschaftlichen Feuer, das sich in dem Blicke Oskars unter anscheinender Kälte barg. Hier allein lag die Aehnlichkeit zwischen den Geschwistern, aber es war eine verhängnißvolle Aehnlichkeit.

Cäcilie trug noch das Seidenkleid, das sie bei der Korsofahrt getragen hatte, ihre Brust schmückten bereits einige der mattgelben, halb erschlossenen Knospen, und jetzt befestigte sie eine voll erblühte Rose in den dunklen Haarwellen. Sie sah reizend aus in diesem duftigen Schmucke, und der Blick des Bruders ruhte mit sichtbarer Befriedigung auf ihr.

[21] Der Freiherr von Wildenrod hatte die Thüre sorgfältig hinter sich geschlossen, trotzdem senkte er jetzt die Stimme und sagte halblaut zu seiner Schwester:

„Cäcilie, Erich Dernburg bietet Dir noch etwas anderes als Rosen – seine Hand. Er hat soeben mit mir gesprochen und wird sich jetzt auch Dir erklären.“

Die junge Dame nahm die Nachricht ohne jede Ueberraschung auf. Sie wendete den Kopf seitwärts, um zu sehen, wie sich die Blume im Haar ausnehme, und fragte gleichgültig:

„Schon jetzt?“

„Schon? Ich habe das längst erwartet, und er hatte wohl auch längst die Absicht, zu sprechen, aber Du scheinst ihn wenig ermuthigt zu haben.“

Zwischen den Brauen Cäciliens erschien eine Falte, genau an derselben Stelle, wo sich die tiefe düstere Furche auch in die Stirn ihres Bruders grub.

„Wenn er nur nicht so langweilig wäre!“ sagte sie.

„Cäcilie, Du weißt, daß ich diese Verbindung wünsche, dringend wünsche, und ich hoffe, Du richtest Dich danach.“

Der Ton klang sehr entschieden, er schien jeden Widerspruch der Schwester auszuschließen, die jetzt mit einer ungeduldigen Bewegung die übrigen Rosen beiseite schob.

„Warum muß es denn gerade Dernburg sein? Vicomte von Marville ist viel hübscher, viel liebenswürdiger –“

„Denkt aber nicht daran, Dir seine Hand anzubieten,“ unterbrach sie Wildenrod. „Er so wenig wie die anderen, die Dir den Hof machen. Nicht diese beleidigte Miene, Cäcilie, Du kannst Dich darin auf mein Urtheil verlassen, ich kenne die Herren sehr genau. Die Vermählung mit Dernburg dagegen sichert Dir ein glänzendes Los, er ist sehr reich.“

„Nun, das sind wir ja auch.“

„Nein,“ sagte der Freiherr kurz und scharf.

Die junge Dame sah ihn betroffen an, er trat zu ihr und legte die Hand auf ihren Arm.

„Wir sind nicht reich! Ich bin genöthigt, Dir das jetzt zu sagen, damit Du nicht durch Launen oder Kindereien Deine Zukunft verscherzest und ich erwarte mit aller Bestimmtheit, daß Du den Antrag annimmst.“

Cäcilie blickte noch immer halb erschrocken, halb ungläubig zu dem Bruder auf, aber sie war es offenbar gewohnt, sich seinem Willen zu fügen, und versuchte gar keinen ferneren Widerstand.

„Als ob ich es überhaupt wagen dürfte, ‚Nein‘ zu sagen, wenn mein gestrenger Herr Bruder ein ‚Ja‘ befiehlt!“ schmollte sie. „Aber Dernburg soll sich nur nicht einbilden, daß ich mit ihm nach seinem langweiligen Odensberg gehe. Unter Arbeiterhorden zu leben, bei den Eisenhütten voll Staub und Ruß – mir graust schon, wenn ich nur daran denke.“

„Das wird sich alles finden,“ sagte Wildenrod. „Uebrigens hast Du doch wohl keinen Begriff davon, was es heißt, einstiger Herr der Odensberger Werke zu sein, und welche Stellung Du an seiner Seite in der Welt einnimmst. Wenn Dir das erst klar wird, so wirst Du mir danken für die Wahl, die ich getroffen. Doch nun komm’, wir dürfen Deinen künftigen Gemahl nicht länger warten lassen.“

[22] Er nahm ihren Arm und führte sie in den Salon, wo Erich Dernburg in unruhiger Spannung ihrer harrte. Der Freiherr gab sich den Anschein, das nicht zu bemerken, er plauderte unbefangen mit ihm und seiner Schwester von der Korsofahrt und allerlei kleinen Vorfällen des Tages, bis es ihm einfiel, den Sonnenuntergang zu bewundern, der heute besonders schön zu werden versprach. Er trat auf die Veranda, ließ wie absichtslos die Glasthüre hinter sich zufallen und gab auf diese Weise dem jungen Paare Gelegenheit, allein zu sein.

„Das sieht ja hier aus wie ein Blumenmarkt!“ rief Cäcilie lachend, indem sie auf den mit Blumen überladenen Tisch deutete. „François hat natürlich möglichst geschmacklos alles übereinander gehäuft, ich werde es wohl ordnen müssen. Wollen Sie mir dabei behilflich sein, Herr Dernburg?“

Sie begann die einzelnen Sträuße in Vasen und Schalen zu vertheilen und mit den übrigen den Kamin zu schmücken. Dernburg half ihr, aber er benahm sich sehr ungeschickt dabei, denn seine Augen hingen unverwandt an der schlanken Gestalt in dem schillernden Gewand, mit der voll erblühten Rose im dunklen Haare. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, daß es seine Blumen waren, die sie trug, und ein glückliches Lächeln spielte um seine Lippen. Ob der Bruder ihr schon eine Andeutung gemacht hatte? Aber sie war so unbefangen, lachte über seine Zerstreutheit und behandelte ihn ganz mit dem gewohnten Uebermuth – sie konnte unmöglich schon von seiner Werbung wissen!

In Cäciliens Wesen lag allerdings nichts von der holden Scheu und Befangenheit eines jungen Mädchens, welches das entscheidende Wort von den Lippen eines Mannes hören soll, es fiel ihr überhaupt nicht ein, die Sache ernst zu nehmen. Sie war bald zwanzig Jahre, in dem Alter vermählte man sich stets in den Kreisen, in denen sie verkehrte, oder vielmehr man wurde vermählt, denn gewöhnlich entschied die Familie darüber. Sie hatte auch gegen eine Heirath selbst durchaus nichts einzuwenden. Es war sehr angenehm, die Freiheiten einer Frau zu genießen, über Toiletten und sonstige Herrlichkeiten unbeschränkt verfügen zu können und sich nicht mehr dem Willen eines bisweilen sehr herrischen Bruders beugen zu müssen, nur – wieviel feuriger und liebenswürdiger war doch der Vicomte von Marville als dieser Dernburg, der nicht einmal von Adel war! Eigentlich war es doch empörend, daß eine Baroneß Wildenrod in Zukunft einen einfach bürgerlichen Namen führen sollte!

Sie hatte eben den letzten Strauß ergriffen, um damit den Kamin zu schmücken, da hörte sie ihren Namen flüstern, leise, aber voll Innigkeit.

„Cäcilie!“

Sie wandte sich um und blickte in die Augen Erichs, der neben ihr stand und in dem gleichen Tone fortfuhr:

„Sie haben nur Augen und Sinn für die Blumen – haben Sie keinen Blick für mich?“

„Brauchen Sie denn diesen Blick so nothwendig?“ fragte Cäcilie neckend.

„O wie sehr ich ihn brauche! Er soll mir Muth geben zu einem Geständniß – wollen Sie es hören?“

Sie lächelte und legte den Strauß nieder, den sie in der Hand hielt.

„Das klingt ja ganz feierlich! Ist es denn etwas so Wichtiges?“

„Es ist das Glück meines Lebens, das ich von Ihnen erbitte! Ich liebe Sie, Cäcilie, habe Sie geliebt vom ersten Tage an, wo ich Sie erblickte. Sie müssen das ja längst wissen, längst errathen haben, aber ich sah Sie immer so umschwärmt von anderen und erhielt so selten ein Zeichen, das mich wirklich hoffen ließ! Doch nun naht meine Abreise, ich kann nicht gehen ohne Gewißheit über mein Schicksal. Wollen Sie mein sein, Cäcilie? Ich will Ihnen alles, alles zu Füßen legen, jeden Wunsch erfüllen, will Sie auf Händen tragen mein Leben lang. Sagen Sie ein Wort, nur ein einziges, das mir Hoffnung giebt, aber sagen Sie nicht ‚Nein‘, denn das ertrüge ich nicht!“

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen, sein Gesicht war von einer hellen Röthe überfluthet, seine Stimme bebte in tiefster Erregung. Es war keine stürmische leidenschaftliche Erklärung, aber aus jedem Worte sprach die innigste Liebe, die vollste Zärtlichkeit, und das junge Mädchen, dem man so oft schon mit Schmeicheleien und Huldigungen genaht war und das doch diesen Ton zum ersten Male hörte, lauschte halb betroffen, halb gefesselt. Cäcilie hatte dem stillen schüchternen Freier, mit dem sie so oft ein übermüthiges Spiel getrieben, eine solche Werbung gar nicht zugetraut, und als er nun weiter bat, noch zärtlicher, dringender, da kam endlich das erflehte „Ja“ von ihren Lippen, zwar etwas zögernd, aber ohne Widerstreben.

In überquellendem Glücke wollte Dernburg die Braut in seine Arme schließen, doch sie wich zurück. Es war eine unwillkürliche, fast unbewußte Bewegung der Scheu, beinahe des Widerwillens, die einen anderen vielleicht verletzt und erkältet hätte; Erich sah darin nur die holde Verschämtheit des jungen Mädchens, und während er sanft ihre Hände festhielt, sagte er leise:

„Cäcilie, wenn Du wüßtest, wie ich Dich liebe!“

Das war in der That der volle Herzenston der Liebe und er blieb nicht ohne Eindruck auf Cäcilie, die jetzt erst fühlte, daß sie dem Bräutigam sein Recht nicht versagen durfte.

„Nun, so werde ich Dich wohl auch ein wenig lieb haben müssen, Erich!“ sagte sie mit einem reizenden Lächeln und ließ es geschehen, daß er sie an seine Brust zog und den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte.

Wildenrod stand noch draußen auf der Veranda und wandte sich erst um, als das junge Paar zu ihm trat. Strahlend vor Stolz und Glück führte Dernburg ihm seine Braut zu und empfing die Glückwünsche des künftigen Schwagers, der die Schwester und dann ihn umarmte.

Es begann nun ein heiteres lebhaftes Geplauder da draußen, wo noch laue Frühlingsluft wehte. Der blendende Lichtglanz des Tages löste sich bereits in jene glühende Farbenpracht auf, die nur der Süden beim Sonnenuntergang kennt. Die Stadt und die umliegenden Höhen standen wie verklärt in dem leuchtenden Scheine, wie flüssiges Gold gleißte und schimmerte es auf den Meereswogen, und während die fernen Berge sich im rosigen Dufte verschleierten, tauchte der gluthrothe Sonnenball tiefer und tiefer hinab, bis er endlich verschwand.

Erich hatte den Arm um seine Braut gelegt und flüsterte ihr leise zärtliche Worte in das Ohr. So goldig verklärt wie die schöne Welt da draußen erschien ihm auch die Zukunft an der Seite des geliebten Mädchens. Wildenrod stand abgewandt, scheinbar ganz vertieft in das wundervolle Schauspiel, aber dabei hob ein tiefer Athemzug seine Brust, und während es triumphierend aufblitzte in seinen Augen, murmelte er fast unhörbar: „Endlich!“




„Es tut mir leid, meine Herren, aber ich muß Ihre sämmtlichen Pläne und Vorschläge für ungenügend erklären. Es handelt sich darum, die ganze Wasserkraft aus dem Radefelder Grunde heranzuziehen, auf dem kürzesten Wege und mit möglichst geringen Kosten. Ihre Entwürfe aber setzen ohne Ausnahme so umfangreiche und kostspielige Anlagen voraus, daß von einer Ausführung gar nicht die Rede sein kann.“

Es war Eberhard Dernburg, der Herr der Odensberger Werke, welcher die Vorschläge seiner Beamten in dieser entschiedenen Weise ablehnte. Die Herren zuckten die Achseln und blickten auf die Pläne und Zeichnungen, die auf dem Tische ausgebreitet waren, endlich sagte einer von ihnen:

„Wir haben aber hier mit den größten Schwierigkeiten zu rechnen, Herr Dernburg. Die Bodenverhältnisse sind die allerungünstigsten, Berg und Wald auf der ganzen Linie –“

„Und die Leitung muß doch auch gegen alle Möglichkeiten gesichert werden,“ fiel ein Zweiter ein, während der Dritte hinzufügte:

„Die Anlagen werden allerdings große Kosten verursachen, aber wie die Dinge nun einmal liegen, läßt sich das nicht ändern.“

Die drei Herren, der Direktor und oberste Betriebsleiter der Odensberger Werke, der Vorsteher des technischen Bureaus und der Oberingenieur, waren einig in ihren Ansichten. Die Berathung fand im Arbeitszimmer Dernburgs statt, wo dieser gewöhnlich die Vorträge seiner Beamten entgegennahm und wo sich heute auch sein Sohn befand. Es war ein großes, einfach ausgestattetes Gemach, an dessen Wänden hohe Bücherschränke standen. Der Schreibtisch war überladen mit Briefschaften und sonstigen Papieren, auf den Seitentischen lagen Pläne und Karten aller Art, und die großen Mappen, die in einem offenen Schranke sichtbar wurden, schienen Aehnliches zu enthalten. Man sah, daß dies Zimmer der Mittelpunkt war, von dem aus das ganze riesige Unternehmen geleitet wurde, eine Stätte rastloser Arbeit und unermüdlicher Thatkraft.

[23] „Sie halten also keine andere Lösung für möglich?“ nahm Dernburg wieder das Wort, indem er aus einer vor ihm liegenden Mappe ein Papier nahm und es ausbreitete. „Sehen Sie sich einmal dies hier an, meine Herren! Hier geht die Leitung gleichfalls von dem oberen Grunde aus, aber sie durchbricht den Buchberg und wird dann ohne jede weitere Schwierigkeit über Radefeld selbst nach den Werken geführt – da ist die gesuchte Lösung!“

Die Beamten sahen etwas verblüfft aus und beugten sich eifrig über die Zeichnung, an diesen Plan hatte offenbar noch keiner von ihnen gedacht, aber sie schienen ihn nicht mit besonderem Wohlwollen zu betrachten.

„Der Buchberg soll durchbrochen werden?“ fragte der Direktor. „Ein sehr kühner Gedanke, der allerdings große Vortheile bieten würde, allein ich halte ihn nicht für ausführbar.“

„Ich auch nicht,“ stimmte der Oberingenieur bei. Jedenfalls bedarf es einer eingehenden Untersuchung, um zu erfahren, ob das möglich ist. Der Buchberg –“

„Wird zu meistern sein,“ unterbrach ihn Dernburg. „Die Vorarbeiten sind bereits geschehen, Runeck hat, während er da draußen die Vermessungen vornahm, die Möglichkeit festgestellt und mir in der beiliegenden Erläuterung ausführlich darüber berichtet.“

„Der Plan stammt also wohl auch von ihm?“ fragte der Vorsteher des technischen Bureaus.

„Von Egbert Runeck – allerdings.“

„Das dachte ich mir.“

„Was meinen Sie, Herr Winning?“ fragte Dernburg, sich rasch zu ihm wendend.

Herr Winning beeilte sich, zu versichern, daß er gar nichts Besonderes meine, die Sache interessiere ihn nur, weil er der unmittelbare Vorgesetzte des jungen Technikers sei; die beiden anderen schwiegen, aber sie sahen ihren Chef mit eigenthümlich fragenden Blicken an, was dieser nicht zu bemerken schien.

„Ich habe mich für Runecks Plan entschieden,“ sagte er ruhig, aber doch mit einer gewissen Schärfe. „Er entspricht allen meinen Anforderungen, und der Kostenanschlag wird nur etwa die Hälfte des Ihrigen erreichen. Ueber die Einzelheiten muß natürlich noch Rücksprache genommen werden, jedenfalls sollen die Arbeiten sobald als möglich beginnen. Wir reden noch darüber, meine Herren.“

Er erhob sich und gab damit das Zeichen zur Entlassung, die Beamten verneigten sich und gingen. Draußen im Vorzimmer aber blieb der Direktor stehen und fragte halblaut:

„Was sagen Sie dazu?“

„Ich begreife Herrn Dernburg nicht,“ antwortete der Oberingenieur gleichfalls mit vorsichtig gedämpfter Stimme. „Weiß er wirklich nichts oder will er es nicht wissen?“

„Natürlich weiß er es, Ich selbst habe ihm Nachricht darüber gegeben, und der Herr Sozialist denkt ja auch gar nicht daran, ein Geheimniß aus seiner Richtung zu machen, er bekennt sich rückhaltlos dazu. Das sollte ein anderer wagen hier in Odensberg, er würde auf der Stelle den Laufpaß erhalten, aber von Runecks Entlassung scheint noch lange keine Rede zu sein. Da wird sein Plan ohne weiteres angenommen, während man uns sehr deutlich zu verstehen giebt, daß die unsrigen nichts taugen – das übersteigt denn doch –“

„Warten Sie erst ab!“ unterbrach Winning ruhig: „In dem Punkte versteht unser Chef keinen Spaß, das wissen wir alle. Er wird schon zur rechten Zeit ein Machtwort sprechen, und fügt sich Runeck dann nicht unbedingt, so ist’s aus, mag er zehnmal der Lebensretter und Jugendfreund des jungen Herrn sein. Verlassen Sie sich darauf!“

„Wir wollen es hoffen“ sagte der Direktor. „Was übrigens Herrn Erich betrifft, so sieht er doch noch recht angegriffen aus und befleißigt sich einer merkwürdigen Schweigsamkeit. Er hat bei unserer ganzen Berathung nicht zehn Worte gesprochen.“

„Weil er nichts davon versteht,“ erklärte der Oberingenieur achselzuckend. „Eingetrichtert hat man ihm ja genug, aber offenbar ist sehr wenig davon haften geblieben. Von seinem Vater hat er nichts geerbt, weder äußerlich noch innerlich. Doch ich muß fort, ich will nach Radefeld hinausfahren – guten Morgen, meine Herren!“ – –

Im Arbeitszimmer waren Vater und Sohn allein zurückgeblieben, und der erstere ging schweigend, in offenbarer Verstimmung auf und nieder.

Eberhard Dernburg stand trotz seiner sechzig Jahre noch in der Vollkraft des Lebens, und nur das völlig ergraute Haar und die Falten auf der Stirn gaben Zeugniß davon, daß er bereits die Schwelle des Alters erreicht hatte. Das Gesicht mit den festen ernsten Zügen verrieth es nicht, der Blick war noch scharf und klar, die hohe Gestalt ungebeugt. Haltung und Sprache waren die eines Mannes, der gewohnt ist, zu befehlen und unbedingten Gehorsam zu finden, und schon in seinem Aeußeren gab sich etwas von jener eisernen Natur kund, die Freund wie Feind an ihm kannten.

Man sah es jetzt recht deutlich, daß sein Sohn auch nicht einen Zug des Vaters hatte, aber ein Blick auf das lebensgroße Brustbild, das über dem Schreibtisch hing, erklärte das einigermaßen. Es stellte die verstorbene Gattin Dernburgs dar, und Erich war ihr zum Sprechen ähnlich. Es war dasselbe Antlitz mit den feinen aber unbedeutenden Zügen, den weichen verschwimmenden Linien, dem träumerischen Blick.

„Da sitzen nun meine Herren Oberbeamten mit ihrer ganzen Weisheit,“ begann Dernburg endlich in spöttischem gereizten Tone. „Monatelang haben sie sich mit der Aufgabe herumgeschlagen, haben alle möglichen Entwürfe ausgeheckt, von denen keiner ’was taugte, und Egbert, der gar keinen Auftrag hat, macht in aller Stille bei seinen Vermessungen die nöthigen Vorstudien und legt mir jetzt einen fertigen Plan auf den Tisch, der geradezu meisterhaft ist! Wie findest Du seinen Entwurf, Erich?“

Der junge Mann blickte verlegen auf die Zeichnung, die er noch in der Hand hielt.

„Du findest ihn ja vortrefflich, Papa, ich – verzeih, aber ich kann noch nicht recht klug daraus werden.“

„Nun ich dächte, er wäre klar genug, und Du hast ihn seit gestern abend in Händen. Wenn Du so viel Zeit brauchst, einen einfachen Plan zu begreifen, dem alle nöthigen Erläuterungen beigegeben sind, wie willst Du dann den schnellen Ueberblick gewinnen, der für den einstigen Herrn der Odensberger Werke unbedingt nothwendig ist?“

„Ich bin volle anderthalb Jahre ferne gewesen,“ wandte Erich ein, „und während der ganzen Zeit haben mir die Aerzte die höchste Schonung zur Pflicht gemacht, jede geistige Anstrengung verboten. Du mußt Nachsicht haben, Papa, und mir Zeit lassen, mich wieder einzugewöhnen.“

„Du hast von jeher geschont und vor der Arbeit förmlich behütet werden müssen,“ sagte Dernburg mit gerunzelter Stirn. „Bei Deiner fortwährenden Kränklichkeit konnte von einem ernsten Studium gar nicht die Rede sein, von einer praktischen Thätigkeit vollends nicht. Ich hatte meine ganze Hoffnung auf Deine Rückkehr aus dem Süden gesetzt, und nun – sieh nicht so trostlos aus, Erich! Ich mache Dir ja keinen Vorwurf, es ist nicht Deine Schuld, aber es ist ein Unglück bei der Stellung, zu der Du berufen bist.“

Erich unterdrückte einen Seufzer, er empfand diese vielbeneidete Stellung wieder einmal als eine recht schwere Last. Sein Vater fuhr ungeduldig fort:

„Was soll denn werden, wenn ich nicht mehr da bin? Ich habe tüchtige Beamte, aber sie sind allesammt von mir und meiner Leitung abhängig. Ich bin es gewohnt, alles selbst zu thun, ich lasse die Zügel nicht aus der Hand, und Deine Hand, fürchte ich, wird sie niemals allein führen können. Ich habe längst die Nothwendigkeit eingesehen, Dir eine Stütze für die Zukunft zu sichern – und gerade jetzt macht mir der Egbert den unsinnigen Streich und läßt sich von den Sozialdemokraten ins Netz ziehen! Es ist zum Tollwerden!“

Er stampfte heftig mit dem Fuße. Erich blickte mit einer gewissen Scheu auf den Vater, dann sagte er leise:

„Vielleicht ist die Sache nicht so schlimm, wie man Dir berichtet hat. Der Direktor mag manches übertrieben haben.“ Nichts ist übertrieben, meine Erkundigungen haben jedes Wort bestätigt. Diese Studienzeit in dem verwünschten Berlin ist dem Jungen verhängnißvoll geworden. Es hätte mich freilich stutzig machen sollen, daß er mir schon nach den ersten Monaten schrieb, er brauche die Mittel nicht, die ich ihm für seine Ausbildung zur Verfügung gestellt, er werde sich mit Zeichenunterricht und sonstigen Arbeiten allein durchbringen. Es mag ihm sauer genug geworden sein, aber mir gefiel sein Stolz und Unabhängigkeitssinn und ich ließ ihm den Willen. Jetzt sehe ich klarer! [24] Damals fingen die tollen Ideen an, in seinem Kopfe zu spuken, da schlangen sich die ersten Maschen des Netzes um ihn, in dem er sich jetzt gefangen hat, und deshalb wollte er nichts mehr von mir annehmen, denn er wußte, daß es zu Ende zwischen uns war, wenn ich davon erfuhr.“

„Ich habe ihn noch nicht gesprochen und kann deshalb nicht urtheilen. Er ist draußen in Radefeld?“

„Er kommt heute herein, ich erwarte ihn noch in dieser Stunde.“

„Und Du willst ihn zur Rede stellen?“

„Natürlich. Es ist hohe Zeit!“

„Papa, ich bitte Dich, tritt Egbert nicht mit Härte entgegen. Hast Du vergessen –“

„Daß er Dich aus dem Wasser gezogen hat? Nein, aber er hat es vergessen, daß er seitdem fast wie ein Sohn des Hauses gehalten worden ist. Rede mir nicht drein, Erich; das verstehst Du nicht!“

Der junge Mann schwieg, er wagte es nicht, dem Vater zu widersprechen, der während der letzten Minuten seinen Gang durch das Zimmer wieder aufgenommen hatte. Jetzt blieb dieser stehen und sagte in grollendem Tone:

„Ich habe den Kopf voll von allen möglichen Unannehmlichkeiten, und nun kommst Du mir auch noch mit Deinen Liebes- und Heirathsgeschichten. Es war eine grenzenlose Uebereilung, daß Du Dich gebunden hast, ohne meine Einwilligung abzuwarten.“

„Ich glaubte sie voraussetzen zu dürfen, und auch Wildenrod hat das getan, als er mir die Hand seiner Schwester zusagte. Was hast Du denn gegen meine Wahl einzuwenden, Papa? Es ist eine so schöne liebenswürdige Tochter, die ich Dir zuführe, wie schön, das zeigt Dir ihr Bild – sie ist überdies reich, aus hochangesehener Familie, gehört einem alten Adelsgeschlechte an –“

„Darauf lege ich nicht den mindesten Werth,“ unterbrach ihn sein Vater schroff. „Auch wenn die Wahl eine passende war, hattest Du zuerst bei mir anzufragen; statt dessen verlobst Du Dich und läßt die Verlobung sogar in Nizza bekannt werden, noch ehe meine Antwort eingetroffen ist. Das sieht ja beinahe aus, als hätte man einem etwaigen Einspruch meinerseits vorbeugen wollen.“

„Aber davon kann gar keine Rede sein! Mein Verhältniß zu Cäcilie war nicht unbemerkt geblieben, man sprach bereits darüber, und Oskar erklärte mir, daß er, um Mißdeutungen zu vermeiden, die Wahrheit zugestehen müsse.“

„Gleichviel, es war eine Eigenmächtigkeit. Meine Erkundigungen sind allerdings befriedigend ausgefallen.“

„Ah, Du hast Dich erkundigt?“

„Selbstverständlich, da es sich um eine Familienverbindung handelt. Ich habe mich allerdings nicht nach Nizza gewandt – so ein Reiseaufenthalt bietet keinen zuverlässigen Anhalt – sondern nach der Heimath der Wildenrods. Ihre ehemaligen Besitzungen sind jetzt königliches Eigenthum, und das Hofmarschallamt hat mir die nöthige Auskunft gegeben.“

„Papa, das war überflüssig!“ sagte der junge Mann vorwurfsvoll.

„Für Dich vielleicht, ich hielt es für nothwendig,“ war die trockene Antwort. „Die Wildenrods gehören allerdings zum ältesten Adel des Landes. Der alte Freiherr scheint etwas verschwenderisch gelebt zu haben, genoß aber die allgemeinste Achtung, nach seinem Tode wurden die Güter verkauft und gingen für einen immerhin bedeutenden Kaufpreis in die Hände des Königs über, unter der Bedingung, daß der Witwe ein Wohnsitz im Schlosse gesichert bliebe – das stimmt mit dem, was Dir Herr von Wildenrod mitgetheilt hat, für den ich übrigens nicht die mindeste Sympathie hege.“

„Aber Du kennst ihn ja noch nicht. Oskar ist ein geistvoller, in vieler Hinsicht bedeutender Mann.“

„Das mag sein, aber ein Mann, der, sobald er die väterliche Erbschaft antritt, nichts Eiligeres zu thun hat, als die Familiengüter für einen möglichst hohen Preis loszuschlagen, den Dienst seines Vaterlandes zu verlassen und ohne Beruf, ohne irgend eine Thätigkeit in der weiten Welt umherzuschweifen, flößt mir keine besondere Achtung ein. Dies Zigeunerleben der vornehmen Drohnen, die heimathlos von Ort zu Ort ziehen und überall nur ihrem Vergnügen nachjagen, ist mir in tiefster Seele zuwider. Ich finde es auch durchaus nicht zartfühlend von dem Freiherrn, daß er seine junge Schwester an einem solchen Leben theilnehmen läßt.“

„Er liebt Cäcilie mit der größten Zärtlichkeit, und sie hatte niemand als ihn auf der Welt. Sollte er seine einzige Schwester fremden Händen überlassen?“

„Vielleicht wäre das besser gewesen. Wenn man einem jungen Mädchen Heimath und Familie nimmt, so entzieht man ihm den Boden unter den Füßen. Doch den würde sie hier bei uns wiederfinden. Du liebst sie nun einmal, und wenn Du wirklich ihrer Gegenliebe sicher bist –“

„Würde ich sonst ihr Jawort erhalten haben?“ rief Erich. „Ich habe es Dir ja geschildert, Papa, wie sie umschwärmt und gefeiert wurde, wie ihr alles zu Füßen lag. Sie hatte unter so vielen zu wählen und sie wählte mich!“

„Das eben wundert mich,“ sagte Dernburg kühl. „Du besitzest keine einzige von jenen glänzenden Eigenschaften, welche Mädchen von dieser Erziehung und diesen Ansprüchen verlangen. Aber wie dem auch sei – zunächst wünsche ich, Fräulein von Wildenrod und ihren Bruder persönlich kennenzulernen. Wir werden sie nach Odensberg einladen, und dann wird sich das weitere finden. Inzwischen bitte ich mir aus, daß der Sache nicht noch eine größere Oeffentlichkeit gegeben wird, als sie leider schon hat.“

Damit verließ er das Zimmer und ging in seine Bibliothek, die unmittelbar daneben lag. – –

Erich hatte sich in einen Sessel geworfen und stützte den Kopf in die Hand.

Die Art, wie seine Verlobung in der Heimath aufgenommen wurde, war enttäuschend und niederdrückend für ihn gewesen. Er hatte gar nicht an die Möglichkeit von Einwendungen gedacht, hatte erwartet, der Vater werde seine Wahl mit freudiger Zustimmung begrüßen. Statt dessen wurden Erkundigungen eingezogen, Zweifel und Bedenken geltend gemacht. Sein Vater schien ein förmliches Mißtrauen zu hegen und wollte sich offenbar das letzte Wort noch vorbehalten. Es wurde dem jungen Manne heiß bei dem Gedanken, daß seine verwöhnte vergötterte Braut und deren stolzer Bruder hier in Odensberg erst eine Art von Probezeit durchmachen sollten, ehe sie endgültig in die Familie eintreten würden.

Da wurde die Thür geöffnet und er fuhr aus seiner Träumerei empor.

„Egbert!“ rief er, freudig aufspringend und dem Eintretenden entgegeneilend; dieser bot ihm die Hand.

„Willkommen in der Heimath, Erich!“

„Ja, ich bin ihr lange fern geblieben, so lange, daß sie mir beinahe fremd geworden ist,“ sagte Erich, den Händedruck erwidernd, „und gar wir beide haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen.“

„Freilich, ich bin ja auch zwei Jahre in England gewesen und erst seit kurzem zurück. Aber nun vor allen Dingen, wie geht es Dir?“

Egbert Runeck war ungefähr in demselben Alter wie der junge Erbe, aber in der Gereiftheit schien er ihm um Jahre voraus zu sein. Sein Aeußeres machte den Eindruck vollster männlicher Kraft, und seine hohe Gestalt überragte die Erichs so bedeutend, daß dieser zu ihm emporblicken mußte. Das von Sonne und Luft gebräunte Gesicht war nichts weniger als schön, aber es war ausdrucksvoll und energisch in jedem Zuge. Das dichte blonde Haar und der blonde Vollbart hatten einen leichten röthlichen Schimmer, und unter einer breiten mächtigen Stirn lag ein Paar dunkelgrauer Augen, die eigenthümlich kalt und ernst blickten. Der Mann sah aus, als habe er bisher nur die Mühen, nicht die Freuden des Lebens gekannt oder gesucht. Auch aus seiner Haltung sprach etwas Herbes, Trotziges, das in diesem Augenblick zwar gemildert erschien, aber doch den hervorstechenden Zug der ganzen Erscheinung bildete. Diese mochte bedeutend sein – anziehend war sie nicht.

„O, ich bin völlig wiederhergestellt,“ sagte Erich, die Frage nach seinem Befinden beantwortend. „Die Reise hat mich natürlich etwas angegriffen, ich leide auch unter dem Klimawechsel, aber das wird vorübergehen.“

Egberts Augen hafteten auf dem Gesicht des jungen Mannes, das heute recht bleich und abgespannt aussah, und seine Stimme klang weicher, als er erwiderte:

„Gewiß, Du mußt Dich eben erst wieder an den Norden gewöhnen.“

[26] „Wenn mir das nur nicht so schwer würde!“ seufzte Erich. „Du weißt ja nicht, was mich dort im sonnigen Süden so lange und so unwiderstehlich festhielt.“

„Doch, aus den Andeutungen in Deinem letzten Briefe errieth ich ohne Mühe die Wahrheit – oder soll es noch ein Geheimniß sein?“

Ueber Erichs Züge flog ein helles glückliches Lächeln, während er leise den Kopf schüttelte.

„Für Dich nicht, Egbert. Mein Vater wünscht, daß es vorläufig noch nicht in Odensberg bekannt werde, aber Dir kann ich es sagen, daß ich unter den Palmen der Riviera, am Gestade des blauen Meeres das Glück gefunden habe, ein Glück, so berauschend, so märchenhaft, wie ich es mir nie geträumt. Wenn Du sie sehen würdest, meine Cäcilie, mit ihrer berückenden Schönheit, ihrer hinreißenden Liebenswürdigkeit – ja freilich, das ist nun wieder Dein kaltes spöttisches Lächeln, mit dem Du jede Schwärmerei, jedes heißere Gefühl verurtheilst. Du strenger Cato hast die Liebe ja nie gekannt, nie kennen wollen.“

Runeck zuckte die Achseln.

„Ich habe von frühester Jugend auf angestrengt arbeiten müssen, und in einem solchen Leben hat die Romantik selten Platz. Für das, was Du Liebe nennst, hat unsereins keine Zeit.“

Die rücksichtslose Bemerkung verletzte den jungen Bräutigam, er fuhr erregt auf:

„Also die Liebe ist Dir nur ein Zeitvertreib für Müßiggänger? Du bist der Alte geblieben, Egbert! Du hast freilich nie an jene geheimnißvolle übermächtige Gewalt geglaubt, die zwei Menschen unwiderstehlich zueinander zieht und aneinander kettet.“

„Nein!“ sagte Egbert mit kühler, beinahe spöttischer Ueberlegenheit. „Aber laß uns nicht darüber streiten. Du mit Deinem weichen Herzen mußt Liebe geben und empfangen, für Dich ist das Lebensbedingung. Ich bin nun einmal nicht dafür geschaffen, ich habe von jeher andere Ziele im Auge gehabt – und die vertragen sich nicht mit Liebesträumen. – Deine Braut heißt also Cäcilie?“

„Cäcilie von Wildenrod. – Was hast Du? Kennst Du den Namen?“

Runeck hatte allerdings gestutzt, als der Name ausgesprochen wurde, und es war ein eigenthümlich forschender Blick, den er auf den Jugendfreund richtete.

„Ich glaube, ihn früher einmal gehört zu haben,“ erwiderte er. „Es war dort von einem Freiherrn von Wildenrod die Rede.“

„Vermuthlich mein künftiger Schwager,“ sagte Erich unbefangen. „Es ist eine alte bekannte Adelsfamilie. Doch vor allen Dingen mußt Du meine Cäcilie sehen, ich habe sie dem Vater und der Schwester wenigstens im Bilde vorgestellt.“

Er nahm ein größeres Bild, das auf dem Schreibtische des Vaters lag, und reichte es dem Freunde. Die sehr ähnliche Photographie gab allerdings nicht den ganzen Reiz des Originals wieder, aber sie zeigte doch dessen Schönheit, und die großen dunklen Augen blickten den Beschauer voll an. Egbert sah schweigend darauf nieder, ohne ein einziges Wort zu sprechen; erst als er dem erwartungsvoll fragenden Blick des Bräutigams begegnete, sagte er:

„Ein sehr schönes Mädchen!“

Das klang eisig kalt und es erkältete auch Erich, der wohl wußte, daß sein Jugendfreund für Frauenschönheit unempfänglich war, der aber doch auf einen wärmeren Ausdruck der Bewunderung gerechnet hatte. Sie standen beide am Schreibtisch, Runecks Blick fiel dabei zufällig auf eine zweite Photographie, die gleichfalls dort lag, und wieder flog jener eigenthümliche Ausdruck über seine Züge wie vorhin bei der Nennung des Namens, ein plötzliches Aufzucken, das freilich nur einen Augenblick dauerte.

„Und dies hier ist vermuthlich der Bruder Deiner Braut?“ sagte er. „Man sieht es an der Aehnlichkeit.“

„Es ist Oskar von Wildenrod, allerdings, aber eine Aehnlichkeit ist doch eigentlich nicht vorhanden. Cäcilie gleicht ihrem Bruder nicht im mindesten, es sind ganz andere Züge.“

„Aber dieselben Augen!“ sagte Egbert langsam, während er unverwandt die beiden Bilder betrachtete, dann schob er sie plötzlich von sich und wandte sich ab.

„Und Du hast nicht einmal einen Glückwunsch für mich?“ fragte Erich vorwurfsvoll, durch diese Gleichgültigkeit gekränkt.

„Verzeih’, ich vergaß es. Mögest Du glücklich werden, so glücklich, wie Du es verdienst! – Doch ich muß zu Deinem Vater, er erwartet mich, und Du weißt, er verlangt unbedingte Pünktlichkeit.“

Er wollte offenbar abbrechen. Auch Erich erinnerte sich jetzt an die bevorstehende Unterredung und an das, was dabei zur Sprache kommen sollte.

„Papa ist in seiner Bibliothek,“ erwiderte er, „und da will er nicht gestört sein. Du hast also noch Zeit. Er hat Dich aus Radefeld hergerufen – ist Dir bekannt, weshalb?“

„Ich vermuthe es wenigstens. Hat er mit Dir darüber gesprochen?“

„Ja, und ich erfuhr durch ihn das erste Wort von der Sache. Egbert, um Gotteswillen, Du kennst doch meinen Vater und weißt, daß er eine solche Richtung nun und nimmermehr auf seinen Werken duldet.“

„Er duldet überhaupt keine andere Richtung als die seinige,“ entgegnete Egbert kalt. „Er kann und wird es nie begreifen, daß der Knabe, der ihm Erziehung und Ausbildung dankt, zum Manne geworden ist, der sich herausnimmt, eigene Ansichten zu haben und seine eigenen Wege zu gehen.“

„Diese Wege scheinen allerdings weit ab zu führen von den unserigen,“ sagte Erich leise. „Du hast mir in Deinen Briefen nie die geringste Andeutung darüber gemacht.“

„Wozu? Du solltest ja geschont und vor jeder Aufregung bewahrt werden, und Du würdest mich auch nicht verstanden haben, Erich. Du hast Dich von jeher schon abgewendet von allen Fragen und Kämpfen der Gegenwart, ich habe ihnen ins Auge gesehen, bin in den letzten Jahren mitten drin gestanden. Wenn sich dabei eine Kluft aufgethan hat zwischen uns – ich kann es nicht ändern.“

„Zwischen uns doch nicht, Egbert! Wir sind ja Freunde und werden es bleiben, was auch geschehen mag. Denkst Du, ich habe es vergessen, daß ich Dir mein Leben danke? Freilich, davon willst Du nun wieder nichts hören, aber ich fühle ihn noch immer, den Sturz in die eisige Flut, die Todesangst, als der reißende Wirbel mich ergriff, und dann das wonnige Gefühl der Rettung, als Dein Arm mich umfaßte. Ich habe sie Dir nicht leicht gemacht, ich klammerte mich so krampfhaft an Dich, daß Dir fast kein Raum zur Bewegung blieb, und brachte Dich selbst in die äußerste Gefahr. Jeder andere hätte die gefährliche Last abgeschüttelt, Du ließest mich nicht los, Du hieltest aus mit Deiner Riesenkraft und arbeitetest Dich vorwärts, bis wir beide das rettende Ufer erreichten. Es war eine Heldenthat für einen sechzehnjährigen Knaben.“

„Es war eine gute Schwimmprobe, weiter nichts,“ versetzte Runeck ablehnend. „Ich schüttelte das Wasser aus den Kleidern und wurde wieder trocken, während Dir der Schrecken und die Erkältung eine beinahe tödliche Krankheit zuzogen.“

Er brach ab, denn soeben trat Dernburg mit einem Buche in der Hand ein und erwiderte die Begrüßung des jungen Ingenieurs so gelassen, als ob nicht das Mindeste vorgefallen sei.

„Ihr feiert wohl das Wiedersehen nach der langen Trennung?“ fragte er „Du siehst Erich heute zum ersten Male, Egbert, wie findest Du ihn?“

„Er sieht noch etwas angegriffen aus und wird sich wohl einstweilen noch schonen müssen,“ sagte Runeck mit einem Blicke auf das blasse Gesicht des Jugendfreundes.

„Das meint der Arzt auch. Und heute scheinst Du besonders abgespannt zu sein, Erich! Geh’ auf Dein Zimmer und ruhe Dich aus!“

Der junge Mann sah unentschlossen von einem zum anderen. Er wäre gern geblieben, um bittend und beschwichtigend dazwischenzutreten, wenn die Unterredung gar zu stürmisch werden sollte, aber die Weisung des Vaters klang sehr bestimmt, und jetzt sagte auch Egbert leise:

„Geh’, ich bitte Dich!“

Mit einer Anwandlung von Bitterkeit fügte sich Erich, er fühlte, daß in dieser mitleidigen Schonung etwas Demüthigendes lag und daß sie nicht allein seinem körperlichen Befinden galt. Von dem Vater wurde er ja nie als selbständig und ebenbürtig behandelt und von dem Freunde eigentlich auch nicht. Jetzt wurde er fortgeschickt, um „auszuruhen“, das heißt, man wollte es ihm ersparen, Zeuge eines voraussichtlich peinlichen Auftritts zu werden, und er – er ließ sich in der That fortschicken, in dem niederdrückenden Gefühl, daß seine Gegenwart doch überflüssig und nutzlos sei!

[38] Dernburg und Egbert Runeck waren allein. Der erstere hatte sich niedergesetzt und die Zeichnungen der Radefelder Leitung wieder zur Hand genommen, die er noch einmal durchmusterte.

„Ich habe Deinen Plan zur Ausführung bestimmt, Egbert,“ sagte er. „Er ist der beste von allen, die mir vorliegen, und löst sämmtliche Schwierigkeiten in überraschender Weise. Gegen einzelnes habe ich noch Bedenken, Du wirst einige Aenderungen vornehmen müssen, im großen und ganzen aber ist der Plan vortrefflich, und die Arbeiten sollen sofort beginnen. Willst Du die Oberleitung übernehmen? Ich stelle es Dir frei.“

Der junge Ingenieur schien überrascht zu sein, er mochte wohl eine andere Einleitung erwartet haben; in seinen Zügen malte sich unverkennbare Genugthuung über diese Anerkennung von seiten des Chefs, der sonst mit seinem Lobe sparsam zu sein pflegte.

„Sehr gern,“ entgegnete er, „aber soviel ich weiß, hat der Herr Oberingenieur die Sache bereits in Händen.“

„Wenn ich es jetzt anders bestimme, so hat der Oberingenieur sich zu fügen,“ erklärte Dernburg mit Nachdruck. „Es hängt nur von Dir ab, ob Du die Ausführung Deines Plans selbst übernehmen willst, und in dieser Beziehung haben wir allerdings noch etwas anderes zu besprechen, das erst geklärt werden muß.“

Er hatte bis jetzt im ruhigen Geschäftston gesprochen, aber Egbert war hinlänglich vorbereitet – er wußte, was nun zur Sprache kommen sollte, doch er scheute es offenbar nicht. Die flüchtige Milde, die er vorhin im Gespräch mit Erich gezeigt hatte, war längst wieder verschwunden, und das Starre, Trotzige in seiner Haltung trat unverhüllt hervor, als er den finsteren Blick seines Chefs jetzt fest erwiderte.

„Ich habe es längst bemerkt, daß Du als ein ganz anderer zurückgekommen bist,“ hob Dernburg wieder an. „Das ist in mancher Hinsicht selbstverständlich. Du warst drei Jahre in Berlin, zwei Jahre in England, da erweitert sich der Gesichtskreis, und ich selbst habe Dich ja in die Welt hinaus geschickt, damit Du sehen und urtheilen lerntest. Jetzt aber sind mir Dinge zu Ohren gekommen, über die ich Dich doch um nähere Auskunft ersuchen möchte. Ich liebe die langen Umschweife nicht, also kurz und klar: ist es wahr, daß Du mit den Sozialdemokraten in der Stadt regelmäßig verkehrst, daß sie Dich öffentlich für einen der Ihrigen ausgeben, daß Du zu ihrem Führer, dem Landsfeld, in den allervertrautesten Beziehungen stehst? Ja oder nein?“

„Ja,“ sagte Egbert einfach.

Dernburg schien ein so rückhaltloses Zugeständniß denn doch nicht erwartet zu haben. Seine Stirn furchte sich noch tiefer.

„Also wirklich! Und das sagst Du mir so ruhig ins Gesicht?“

„Soll ich die Wahrheit ableugnen?“

„Und seit wann bist Du Mitglied der Partei?“

„Seit vier Jahren.“

„In Berlin also hat die Sache angefangen, ich dachte es mir. Und Du hast Dich wirklich umgarnen lassen? Freilich, Du warst damals noch sehr jung und unerfahren, aber ich hätte Dich doch für klüger gehalten.“

Man sah es dem jungen Manne an, daß die Art, wie er zur Rede gestellt wurde, ihn verletzte. Ruhig, aber mit scharfer Betonung entgegnete er: „Das sind Ihre Ansichten, Herr Dernburg; ich bedaure, daß die meinigen davon abweichen.“

„Und darum habe ich mich nicht zu kümmern, meinst Du?“ ergänzte Dernburg. „Da bist Du doch im Irrthum, Ich kümmere mich um die politischen Ansichten meiner Beamten. Allein ich lasse mich nicht zu Auseinandersetzungen mit ihnen herbei, sondern schicke ihnen in solchem Falle einfach die Entlassung zu. Wem es hier in Odensberg nicht gefällt, der mag gehen, ich halte keinen; wer aber bleibt, hat sich unbedingt zu fügen. Entweder – oder! Ein Drittes giebt es hier nicht.“

„So werde ich wohl dies ‚Oder‘ wählen müssen,“ sagte Egbert kalt.

„Wird es Dir so leicht, uns zu verlassen?“

Der junge Mann sah finster vor sich nieder.

„Ich bin in Ihrer Schuld, Herr Dernburg, ich weiß es –“

„Das bist Du nicht! Wenn ich Dir Erziehung und Ausbildung gewährte, so hast Du mir dafür meinen Erich gerettet, ohne Dich hätte ich den einzigen Sohn verloren! In dem Punkte sind wir quitt, wenn wir uns denn doch einmal auf den reinen Geschäftsstandpunkt stellen wollen. Ziehst Du das vor, so sage es offen heraus, dann sind wir zu Ende!“

„Sie thun mir unrecht,“ sagte Runeck mit unterdrückter Bewegung. „Es wird mir schwer genug, Ihnen so gegenüberzutreten.“

„Nun, wer zwingt Dich denn dazu? Doch nur die unsinnigen Ideen, in welche Du Dich verrannt hast! Denkst Du, es wird mir leicht, Dich zu verlieren? Nimm Vernunft an, Egbert! Es ist nicht der Chef, welcher zu Dir spricht, der hätte längst ein Ende gemacht! Du aber bist jahrelang fast ein Kind meines Hauses gewesen.“

Der halb väterliche, halb gebieterische Ton verfehlte seinen Eindruck vollständig. Der junge Ingenieur hob mit trotzigem Selbstbewußtsein das Haupt, als er antwortete: „Ich habe mich eben ‚verrannt‘ in die ‚unsinnigen Ideen‘ und bleibe dabei. Es kommt eine Zeit, wo auch die Kinder mündig werden, und ich bin es geworden da draußen in der Welt, ich kann nicht zurück in die Unmündigkeit des Knaben. Was Sie von dem Ingenieur, dem Beamten verlangen, das will ich leisten mit meiner besten Kraft. Die blinde Unterwerfung, die Sie auch vom Menschen fordern, kann und will ich nicht auf mich nehmen. Ich muß freie Bahn haben im Leben.“

„Die hast Du also bei mir nicht?“ fragte Dernburg in gereiztem Tone.

„Nein!“ sagte Egbert fest, „Sie sind ein Vater Ihrer Untergebenen, so lange diese sich unbedingt fügen, aber man kennt in Odensberg nur ein Gesetz – Ihren Willen. Der Direktor beugt sich ihm ebenso bedingungslos wie der letzte Arbeiter, eine eigene freie Meinung giebt es nicht auf Ihren Werken und wird es nie geben, so lange Sie an der Spitze stehen.“

„Das sind ja recht schöne Dinge, die Du mir da anzuhören giebst,“ brauste Dernburg auf, „Du sagst es mir unverblümt, daß ich ein Tyrann bin. Freilich, Du hast Dir von jeher mehr herausnehmen dürfen als die anderen zusammen, hast es auch redlich gethan, Du warst nie der willenlos Gehorchende, und von Dir verlangte ich es auch nicht, denn – doch davon sprechen wir später. ‚Freie Bahn‘! Das ist wieder eins Eurer Schlagworte. Bei Euch soll ja alles nieder, alles, dann habt Ihr freie Bahn – zum Abgrund!“

Er hatte sich erhoben und schritt, wie um sich zur Ruhe zu zwingen, einigemal auf und nieder; jetzt blieb er vor dem jungen Manne stehen und sagte mit bitterem Hohne: „Du scheinst trotz Deiner Jugend schon eine recht bedeutende Rolle in Deiner ‚Partei‘ zu spielen. Man verhehlt es nicht, daß man die größten Hoffnungen auf Dich setzt und in Dir einen der zukünftigen Führer sieht. Die Herren sind gar nicht so unklug, sie kennen ihre Leute, und mit Geringerem hätten sie Dich auch nicht geködert.“

„Herr Dernburg!“ fuhr Runeck auf, „trauen Sie mir niedrige Berechnung zu?“

„Nein, aber Ehrgeiz!“ sagte der ältere Mann kalt. „Du magst es selbst noch nicht wissen, was Dich in jene Reihen getrieben hat, ich will es Dir sagen: ein tüchtiger Ingenieur sein und sich allmählich zum Oberingenieur heraufarbeiten, das ist eine ehrenhafte Laufbahn, aber viel zu bescheiden für eine Natur wie die Deinige. Tausende mit einem Worte, einem Winke leiten, im Reichstag zündende Reden hinausschleudern, die das ganze Land hört, als Führer auf den Schild gehoben werden, das ist Macht, das reizt Dich. Widersprich nicht, Egbert, ich sehe mit meiner Erfahrung weiter als Du – in zehn Jahren wollen wir uns wieder sprechen!“

Ob die Worte trafen oder nicht, ließ sich nicht entscheiden; Runeck stand mit finsterer Stirn und zusammenpreßten Lippen da, aber er erwiderte keine Silbe.

„Nun, mein Odensberg werdet Ihr mir wohl einstweilen noch lassen müssen,“ hob Dernburg wieder an. „Hier bin ich [39] Herr und ich dulde keine Nebenregierung, weder eine offene noch eine geheime, das sage Deinen Herren Parteigenossen, wenn sie es noch nicht wissen sollten. Doch was hast Du Dir eigentlich gedacht, als Du mit solchen Ansichten hierher zurückkamst? Du kennst mich doch! Warum bliebst Du nicht in England oder in Berlin und sagtest mir von dort aus die Fehde an?“

Egbert antwortete auch jetzt nicht, allein es war nicht jenes trotzige Schweigen wie vorhin, in dem zehn Widersprüche lagen; jetzt sank sein Auge zu Boden und eine dunkle Röthe stieg ihm langsam bis in die Stirn. Dernburg sah das und sein eben noch so finsteres Gesicht hellte sich auf, es dämmerte sogar etwas wie ein leises Lächeln darin auf, als er in milderem Tone fortfuhr:

„Nun, wir wollen annehmen, es sei Anhänglichkeit an mich und meine Familie gewesen. Erich und Maja sind Dir ja auch zugethan wie Geschwister. Aber, ehe Du uns wirklich verloren gehst, sollst Du doch wissen, was Du aufgiebst und welche Zukunft Du Dir verschüttest mit Deinen tollen Streichen.“

Runeck sah ihn fragend an, er errieth offenbar nicht, wohin die Worte zielten. „Sie meinen –?“

„Ich meine Erichs Gesundheit, die mir noch immer ernste Sorgen macht. Wenn die Gefahr für sein Leben auch beseitigt ist, die völlige Genesung hat er im Süden nicht gefunden. Er wird immer der Schonung bedürfen, sich nie einer angestrengten Thätigkeit hingeben können, und überdies ist er eine weiche unselbständige Natur, allen möglichen Einflüssen zugänglich. Ich kann es mir nicht verhehlen, daß er seiner dereinstigen Stellung nicht gewachsen ist, und ich will, wenn ich einmal die Augen schließe, meine Schöpfung gesichert und in kraftvollen Händen wissen. Dem Namen nach wird Erich mein Nachfolger, der That nach muß es ein anderer sein – und dabei hatte ich auf Dich gerechnet, Egbert.“

Egbert zuckte zusammen, und in seinen Zügen prägte sich eine beinahe angstvolle Ueberraschung aus. „Auf mich! Ich soll –?“

„Dereinst die Zügel in Odensberg führen, wenn meine Hand es nicht mehr kann,“ ergänzte Dernburg. „Von allen, die ich in meiner Schule herangebildet habe, hat nur einer das Zeug dazu und der will mir jetzt all meine Zukunftspläne über den Haufen werfen. Meine Maja ist noch ein halbes Kind, ich kann es nicht voraussehen, ob ihr dereinstiger Gatte für eine solche Stellung taugt, obgleich ich es dringend wünsche. Ich gehöre nicht zu den Narren, die sich für ihre Töchter irgend einen Grafen- oder Freiherrntitel kaufen, mir gilt nur der Mann, gleichviel welche Stellung er einnimmt und aus welchen Verhältnissen er hervorgegangen ist, vorausgesetzt, daß ihm die Neigung meines Kindes entgegenkommt.“ Er sagte es langsam, aber mit vollem Nachdruck.

Es war eine blendende Verheißung, die da nur halb ausgesprochen und doch deutlich genug vor dem jungen Manne auftauchte, und er verstand sie nur zu gut. Seine Lippen zuckten, mit einer raschen Bewegung trat er einige Schritte näher und sagte gepreßt:

„Herr Dernburg – schicken Sie mich fort!“

Jetzt flog ein Lächeln über Dernburgs Züge, er legte dem Erregten die Hand auf die Schulter.

„Nein, mein Junge, das thue ich nicht. Erst wollen wir beide es noch einmal miteinander versuchen. Vorläufig übernimmst Du die Radefelder Leitung, ich werde Dir genügende Selbständigkeit dabei sichern. Wenn wir alle verfügbaren Arbeitskräfte heranziehen, können wir bis zum Herbste fertig sein. Willst Du?“

Egbert kämpfte offenbar mit sich, es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete, dann sagte er halblaut:

„Herr Dernburg, das ist ein Wagniß – für uns beide!“

„Möglich, aber ich will’s wagen mit Dir, und ich denke, mit Deiner Volksbeglückung wird es auch nicht solche Eile haben, daß Du Dir die Sache nicht noch ein paar Monate lang überlegen kannst. Einstweilen schließen wir Waffenstillstand. Und nun geh’ zu Erich! Ich glaube, er hat eine heillose Angst vor dem Ausgang unseres Gesprächs, und Maja wird sich auch freuen, Dich wieder einmal zu sehen. Du bist ja immer draußen in Radefeld. Heute aber fährst Du erst abends hinaus und bleibst zu Tische. Abgemacht!“

Er reichte ihm die Hand, und Egbert legte schweigend die seinige hinein. Man sah es, wie die Güte des sonst so strengen und unbeugsamen Mannes auf ihn wirkte und vielleicht mehr noch die Erkenntniß, was er diesem Manne werth war, der so zu ihm sprach. Dernburg hatte das rechte Mittel ergriffen, das einzige, das hier Erfolg versprach. Er forderte kein Versprechen und kein Opfer, die jedenfalls verweigert worden wären, aber er zeigte seinem trotzigen Günstling unbedingtes Vertrauen und nahm ihm damit die Waffen aus der Hand.




Die Dernburgschen Eisen- und Stahlwerke hatten einen Weltruf und konnten sich in der That den größten dieser Art zur Seite stellen. Odensberg lag in einem der Waldthäler des Gebirges, dessen Hauptreichthum in seinen unerschöpflichen Erzgruben bestand, und der Vater des jetzigen Besitzers hatte vor einem Menschenalter hier ein einfaches Eisen- und Hüttenwerk gegründet, das sich mit den Jahren immer mehr erweitert hatte. Den eigentlich großartigen Aufschwung aber nahm es erst unter seinem Sohne, der die jetzigen Werke mit ihrer riesigen Ausdehnung schuf. Er brachte nach und nach die sämmtlichen Gruben und Hütten der Umgegend in seinen Besitz, zog alle Arbeitskräfte an sich und gab seiner Schöpfung eine Ausdehnung, daß er das industrielle Leben der ganzen Provinz beherrschte.

Es gehörte freilich eine ungewöhnliche Thatkraft dazu, ein solches Unternehmen zu schaffen und zu leiten, aber Dernburg war der Aufgabe gewachsen. Er hatte ein ganzes Heer von Ingenieuren, Technikern und Verwaltungsbeamten, indessen der Direktor wie der letzte Arbeiter wußten, daß alle Fäden in der Hand des Herrn zusammenliefen, daß er alles Wichtige selbst entschied und beschloß. Dieser Herr galt allerdings für streng und unbeugsam, aber auch für ebenso gerecht, und wenn er sich der ganzen Macht seiner Stellung bewußt war, so hatte er auch einen hohen Begriff von seinen Pflichten.

Die Einrichtungen, die er zum Besten seiner Arbeiter geschaffen hatte, standen an Großartigkeit denen seiner Werke nicht nach und wurden überall als mustergültig gepriesen. Sie waren nur einem Manne möglich, der über Millionen verfügte und mit seinem Reichthum nicht kargte, wenn es galt, für seine Untergebenen zu sorgen. Aber Dernburg forderte dafür auch unbedingte Unterordnung unter seinen Willen und stemmte sich wie ein Fels der neuen Zeit entgegen, welche freie Ueberzeugung für jeden einzelnen fordert. In Odensberg kannte man keine Auflehnung, keine Streitigkeiten und Kämpfe wie in den anderen Industriestätten. Man wußte, daß der Chef sich nichts abzwingen ließ, die Leute verloren mit der Arbeitsstelle auch die gesicherte Zukunft für sich und ihre Familien – so konnten all die Aufreizungen von außen, an denen es auch hier nicht fehlte, keinen Boden gewinnen und, wenn sie auch hie und da Gehör fanden, doch keinen wirklichen Erfolg davontragen.

Und dieser Mann, der die verkörperte Kraft war, besaß einen einzigen Sohn, um dessen Leben er fortwährend bangen mußte. Erich war von seiner frühesten Jugend an zart und kränklich gewesen, und jener Sturz in das Wasser, den seine eigene Unvorsichtigkeit verschuldet, hatte ihm eine lebensgefährliche Krankheit zugezogen, die monatelang dauerte. Zwar gelang es, ihn am Leben zu erhalten, aber völlig erholte er sich nicht wieder, und vor zwei Jahren hatten sich sehr bedenkliche Anzeichen eingestellt, ein Bluthusten, der Erichs schleunige Entfernung aus dem rauhen Klima der Heimath und einen längeren Aufenthalt im Süden nothwendig machte.

Das eigenthümliche Verhältniß, in dem der Lebensretter des jungen Erben zu dem Dernburgschen Hause stand, war in Odensberg von jeher ein Gegenstand der Verwunderung und vielfach auch des Neides gewesen. Egbert Runeck, der Sohn eines Arbeiters, welcher bei den Eisenhütten angestellt war, hatte seine Jugend in den einfachsten Verhältnissen verlebt und war ganz in dem Kreise aufgewachsen, dem seine Eltern angehörten. Wenn er trotzdem mehr lernte als alle seine Altersgenossen, so verdankte er das in erster Linie den vortrefflichen Schulen, die Dernburg für die Kinder seiner Arbeiter errichtet hatte und denen er eine eingehende Fürsorge zuwendete. Der ungewöhnlich begabte Knabe mit seinem eisernen Fleiße hatte schon früher die Aufmerksamkeit des Chefs erregt, und als er diesem nun vollends den einzigen Sohn rettete, war seine Zukunft entschieden. Er theilte den Unterricht Erichs, wurde fast als ein Kind des Hauses betrachtet und endlich zu seiner weiteren Ausbildung nach Berlin gesandt. –

[42] Das Herrenhaus lag eine Strecke von den Werken entfernt, auf einer Anhöhe, die das ganze Thal beherrschte. Es war ein mächtiges Gebäude in vornehmem Stil, mit einer breiten Terrasse, langen Fensterreihen und einem großen säulengetragenen Altan über der Eingangspforte. In die weit ausgedehnten Parkanlagen hatte man die Ausläufer des Bergwaldes hineingezogen, die mit ihren prachtvollen uralten Bäumen einen äußerst wirkungsvollen Hintergrund bildeten. Es war ein schöner stolzer Wohnsitz, der wohl den Namen eines Schlosses verdient hätte, aber Dernburg liebte es durchaus nicht, wenn man ihm diese Bezeichnung gab, und so war und blieb er denn das „Herrenhaus“ von Odensberg.

Die Familie pflegte den größten Theil des Jahres hier zuzubringen, obgleich Dernburg noch verschiedene Güter besaß, die weit schöner lagen, und auch in Berlin einen Wohnsitz hatte. Er kam aber nur nach der Hauptstadt, wenn seine Pflicht als Mitglied des Reichstages ihn dorthin rief; auch seinen Gütern stattete er meist nur kurze und flüchtige Besuche ab, Odensberg forderte die Hand und das Auge des Herrn, und es war seine eigenste Schöpfung. Hier auf diesem Boden war er unumschränkter Herrscher, hier konnte Großes gewonnen oder verloren werden, und deshalb war und blieb es sein Lieblingsaufenthalt.

Wie die äußere Stellung, so war das Familienleben Dernburgs ein tadelloses. Er hatte mit seiner Gattin, einer weichen unselbständigen Natur, die sich dem kraftvollen Manne gänzlich unterordnete, eine musterhafte Ehe geführt. Jetzt vertrat seine einzige Schwester, eine verwitwete Frau von Ringstedt, die Dame des Hauses. Sie lebte seit einer Reihe von Jahren bei dem Bruder und ersetzte seinen Kindern die früh verstorbene Mutter. –

Es war gegen Ende des April, aber das Wetter blieb rauh und unfreundlich. Im Süden hatte der Frühling schon vor zwei Monaten die Erde mit seiner Blüthenfülle überschüttet, hier im Norden wagten sich Blätter und Knospen noch kaum aus ihrer Hülle hervor, und über dem ernsten dunklen Tannengrün der Waldberge lag ein grauer wolkenumzogener Himmel.

Im Herrenhause wurden heute Gäste erwartet. Die Vorhänge der Fremdenzimmer im oberen Stocke waren weit zurückgeschlagen, und der kleine Salon, der zu diesen Räumen gehörte, hatte ein festliches Aussehen. Ueberall dufteten und blühten Blumen; zarte farbenreiche Frühlingskinder, die freilich jetzt noch den Treibhäusern entstammten, schmückten in verschwenderischer Fülle den offenbar für eine Dame bestimmten Raum.

Es waren auch zwei Damen, die sich augenblicklich hier befanden. Die eine, jüngere, unterhielt sich damit, einen kleinen weißen Seidenspitz zu necken, den sie unaufhörlich zum Springen und Bellen reizte, während die andere prüfend den Salon musterte, hier einen Sessel zurechtschob, dort einen Vorhang weiter zurückschlug und das Schreibgerät auf dem Schreibtisch nochmals ordnete.

„Müssen Sie denn Ihren Puck fortwährend um sich haben, Maja?“ sagte die Aeltere mißbilligend, „Er richtet nichts als Unfug an und hätte vorhin beinahe die Decke sammt der Blumenvase vom Tische gerissen,“

„Ich habe ihn ja eingesperrt, aber er ist entwischt und mir nachgelaufen,“ rief Maja, „Ruhig, Puck! Du mußt artig sein, Fräulein Friedberg befiehlt es mit blutgieriger Strenge.“

Sie rief es lachend und schlug zugleich mit ihrem Taschentuch nach dem kleinen Thier, das sofort mit lautem Gekläff das Tuch zu packen versuchte. Fräulein Friedberg zuckte nervös zusammen und stieß einen Seufzer aus.

„Und das will nun eine erwachsene junge Dame sein! Ich habe es neulich erst Herrn Dernburg geklagt, daß mit Ihnen nichts anzufangen ist. Sie stecken noch ganz voll Kinderpossen und überbieten den Puck womöglich noch in allerlei Koboldstreichen, Wann werden Sie endlich ernst und vernünftig werden!“

„Hoffentlich noch lange nicht,“ erklärte Maja. „Es ist ja alles so schrecklich ernsthaft und vernünftig in Odensberg, der Papa, die Tante, Sie, Fräulein Leonie, und mit Erich war in der letzten Zeit auch gar nichts anzufangen, der seufzte und sehnte sich fortwährend nach seiner Braut. Und nun soll ich auch noch vernünftig gemacht werden! Aber das lassen wir uns nicht gefallen, nicht wahr, Puck? Wir wenigstens wollen lustig sein!“ Und sie faßte Puck bei den Vorderpfoten und ließ ihn auf den Hinterbeinen Tanzübungen machen, obgleich er sein Mißfallen darüber sehr deutlich kundgab.

Maja Dernburg, die sich so nachdrücklich gegen die Vernunft wehrte, war offenbar eben erst dem Kindesalter entwachsen und konnte höchstens siebzehn Jahre alt sein. Sie war eine jener frischen Gestalten, bei deren Anblick jedem das Herz aufgeht, die jeden anmuthen wie heller Sonnenschein, Das reizende Gesichtchen, das nur eine sehr entfernte Aehnlichkeit mit dem Bruder zeigte, strahlte in der rosigen Farbe der Jugend und Gesundheit, und die schönen braunen Augen hatten nichts Verschleiertes wie die Erichs, sie blickten klar und leuchtend, noch von keinem Schatten getrübt, in die Welt. Das blonde, hie und da goldig schimmernde Haar floß, nur von einem Bande gehalten, voll und lockig über die Schultern herab, während einzelne kleine Löckchen, die sich dem Bande nicht fügen wollten, sich eigenwillig über der Stirn kräuselten. Die Züge waren noch halb kindlich und die feine zierliche Gestalt hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt. Aber gerade dies gab dem jungen Mädchen einen unsagbaren Reiz.

Fräulein Leonie Friedberg, die Erzieherin der jungen Tochter des Hauses, die noch immer ihres mitunter nicht leichten Amtes waltete, obgleich die eigentliche Ausbildung Majas vollendet war, stand in der Mitte der Dreißig und war eine wenn auch nicht mehr jugendliche, doch ansprechende Erscheinung, eine schlanke sehr zarte Gestalt mit dunklen Haaren und Augen und einem etwas leidenden Ausdruck in den blassen angenehmen Zügen. Sie beantwortete die übermüthige Bemerkung ihres Zöglings mit einem Achselzucken und warf dann einen prüfenden Blick durch das Zimmer. „So, nun wären wir fertig! Sie sind aber allzu verschwenderisch mit den Blumen gewesen, Maja, der Duft ist fast betäubend.“

„O, eine Braut muß man überschütten mit Blumen! Cäcilie soll es schön finden in ihrer künftigen Heimath, und Blumen sind das Einzige, womit wir sie bei der Ankunft begrüßen können, da Papa nicht will, daß irgend ein größerer Empfang stattfinde.“

„Selbstverständlich, wenn die Verlobung erst von hier aus öffentlich angekündigt werden soll.“

„Aber dann giebt es ein Verlobungsfest und eine große große Hochzeit!“ jubelte Maja. „O ich bin so neugierig, Erichs Braut zu sehen. Schön muß sie sein, wunderschön, Erich schwärmt mir fortwährend davon vor, aber er stellt sich so komisch an als verliebter Bräutigam. Am helllichten Tage träumt er immer nur von seiner Cäcilie! Papa ist schon einigemal ernstlich böse darüber geworden und gestern sagte er zu mir: ‚Nicht wahr, meine kleine Maja, Du wirst Dich verständiger benehmen, wenn Du einmal Braut bist?‘ Natürlich werde ich das, ungeheuer verständig werde ich sein!“ Und um das nachdrücklich zu beweisen, nahm sie Puck auf den Arm und wirbelte mit ihm im Zimmer herum wie ein Kreisel.

„O ja, das ist sehr wahrscheinlich!“ rief Fräulein Leonie entrüstet. „Maja, ich bitte Sie um Gotteswillen, benehmen Sie sich nicht wieder wie eine wilde Hummel, wenn die neuen Verwandten eintreffen. Was sollen Baroneß Wildenrod und ihr Bruder von Ihrer Erziehung denken, wenn sie eine beinahe siebzehnjährige junge Dame so herumtollen sehen!“

Maja hatte inzwischen ihren Rundtanz beendet und ihren Puck freigegeben, jetzt stellte sie sich mit feierlicher Miene vor ihre Erzieherin hin.

„Ich werde mich zur allerhöchsten Zufriedenheit benehmen, ich weiß ganz genau, wie man es macht. Miß Wilson hat es mir beigebracht, die englische Gouvernante mit dem gelben Gesicht und der spitzen Nase und der unendlichen Gelehrsamkeit – sehen Sie doch nicht so böse aus, Fräulein Leonie, ich spreche ja nicht von Ihnen! – Miß Wilson war wirklich sehr langweilig, aber den Hofknix habe ich bei ihr gelernt, sehen Sie, so!“ – sie machte eine feierlich tiefe Verbeugung – „damit werde ich meiner künftigen Schwägerin imponieren, und dann falle ich ihr um den Hals und küsse sie, so und so –“ und damit überfiel sie das ahnungslose Fräulein mit stürmischen Liebkosungen.

„Aber Maja, wollen Sie mich totdrücken?“ rief die Dame ärgerlich, indem sie sich mit einiger Mühe befreite. „Mein Gott, da schlägt es schon zwölf Uhr! Wir müssen hinunter, ich will nur noch einen Blick in die Schlafzimmer werfen, ob dort alles in Ordnung ist.“

Sie verließ den Salon, und Maja flatterte wie ein Schmetterling die Treppe hinunter, während Puck ihr selbstverständlich nachlief.

[53] Die Wohnräume der Familie Dernburg lagen im unteren Stock des Herrenhauses; die große Eingangshalle war zu Ehren der erwarteten Gäste mit hochstämmigen Lorbeer- und Orangenbäumen und dem ganzen Flore der Treibhäuser geschmückt. Dort stand ein junger Mann, der auf jemand zu warten schien und beim Anblick der Tochter des Hauses eine sehr tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung machte. Maja nickte ihm flüchtig zu. „Guten Tag, Herr Hagenbach. Ist der Herr Doktor auch hier?“

„Zu Befehl, gnädiges Fräulein,“ versetzte der Gefragte mit einer zweiten ebenso tiefen Verneigung. „Mein Onkel ist bei Herrn Dernburg, um ihm den Wochenbericht des Krankenhauses vorzulegen, und ich – ich warte hier auf ihn – wenn Sie es gütigst erlauben “

„Ja, das erlaube ich Ihnen.“ sagte Maja, während Puck mit kritischen Blicken den Fremden betrachtete, dessen karrierte Beinkleider sein Mißfallen zu erregen schienen.

Herr Hagenbach war ein noch sehr junger Mann mit sehr hellblonden Haaren und sehr hellblauen Augen, schüchtern und unbeholfen. Die Begegnung setzte ihn augenscheinlich in Verlegenheit, denn er wurde roth und stotterte bedeutend. Trotzdem schien er die Nothwendigkeit zu fühlen, sich als Mann von Welt zu zeigen, er setzte einige Male vergeblich zum Reden an und brachte endlich glücklich die Worte hervor:

„Dürfte – dürfte ich es wagen, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen gnädiges Fräulein?“

„Ich danke, mein Befinden ist ganz ausgezeichnet,“ antwortete Maja, deren Mundwinkel bedenklich zu zucken begannen.

„Das freut mich außerordentlich,“ – versicherte der junge Mann, Er hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen, irgend etwas Geistreiches, Bedeutendes, aber es fiel ihm leider gar nichts ein, und so fuhr er denn fort:

„Ich kann gar nicht ausdrücken, wie es mich freut. Ich darf wohl hoffen, daß auch Frau von Ringstedt sich wohl befindet?“

Maja unterdrückte kaum noch das Lachen, während sie die Frage bejahte. Herr Hagenbach aber, noch immer auf vergeblicher Jagd nach der geistreichen Bemerkung, beharrte krampfhaft darauf, sich nach dem Befinden sämmtlicher Familienglieder zu erkundigen, und fragte zum dritten Male:

„Und der junge Herr Dernburg –?“

„Ist nach der Bahnstation gefahren,“ ergänzte Maja, die ihre Heiterkeit nicht länger zurückhalten konnte „Sie dürfen aber auch auf das Wohlbefinden meines Bruders hoffen und auf das meines Vaters gleichfalls – die ganze Familie dankt Ihnen für Ihre außerordentliche Freude über dero Gesundheit.“

Herrn Hagenbachs Verlegenheit steigerte sich beträchtlich. In seiner Verwirrung beugte er sich zu Puck nieder, der noch immer den karrierten Beinkleidern seine Aufmerksamkeit widmete, und versuchte ihn zu streicheln, indem er bemerkte: „Welch ein reizendes Thierchen!“

[54] Das „reizende Thierchen“ zeigte sich aber leider sehr unzugänglich für diese Liebkosung und fuhr mit lautem Gebell nach den Beinen des jungen Mannes. Dieser sprang zurück, jedoch Puck setzte ihm nach und packte die Karrierten mit den Zähnen. Der Angegriffene, der den Hund des gnädigen Fräuleins nicht abzuwehren wagte, flüchtete hinter die Blumenkübel, an seinen Fersen den Verfolger, der es nun einmal auf seine Beine abgesehen hatte, während Maja, anstatt den Hund zurückzurufen, sich höchlich an der Scene ergötzte.

Glücklicherweise kam jetzt Hilfe von einer anderen Seite. Aus der Thür, die zu Dernburgs Zimmern führte, trat ein älterer Herr, der ohne weiteres den noch immer kläffenden Spitz an seinem weißen Fellchen packte und emporhob, während er zugleich ärgerlich rief: „Warum greifst Du denn nicht zu, Dagobert, willst Du Dir gutwillig die Beinkleider zerreißen lassen?“

Dagobert stand athemlos unter einem Lorbeerbaum und sah sehr erleichtert aus. Jetzt kam auch Maja herbei.

„Lassen Sie den Missethäter gnädigst laufen, Herr Doktor Hagenbach,“ rief sie lachend. „Es wäre Ihrem Neffen wirklich nicht ans Leben gegangen – Puck hat in seinem ganzen einjährigen Dasein noch keinen Menschen zerrissen.“

„Es ist auch genug an den Beinkleidern, vollends wenn sie so geschmackvoll sind wie die eben gefährdeten,“ versetzte Doktor Hagenbach munter, indem er das winzige zappelnde Geschöpfchen niedersetzte. „Guten Tag übrigens, Fräulein Maja! Nach Ihrem Befinden brauche ich mich wohl nicht erst zu erkundigen?“

„Nein, danach ist heute schon genügend gefragt worden,“ versicherte die junge Dame mit einem muthwilligen Blick auf Dagobert. „Und nun, guten Morgen, meine Herren, ich muß schleunigst zu meinem Papa!“ Mit einem übermüthigen Gruße flog sie davon, nach den Zimmern ihres Vaters.

Doktor Hagenbach, der Arzt von Odensberg und Hausarzt der Dernburgschen Familie, war ein Mann von fünf- oder sechsundvierzig Jahren, dessen Haar sich schon hier und da grau zu färben begann und dessen Gestalt einigermaßen zur Fülle neigte, im übrigen eine ganz stattliche Erscheinung, sehr im Gegensatz zu seinem Neffen, an den er sich jetzt wandte. „Eine rechte Heldenrolle, die Du da gespielt hast!“ spottete er. „Das ausgelassene kleine Ding wollte ja nur spielen, und Du gehst durch!“

„Ich wollte den Liebling des gnädigen Fräuleins nicht so rauh anfassen,“ erklärte Dagobert, indem er besorgt seine Beinkleider musterte, die glücklicherweise keinen Schaden genommen hatten. Der Onkel zuckte nur die Achseln.

„Wir werden den beabsichtigten Besuch bei Fräulein Friedberg heute kaum machen können,“ sagte er dann. „Wie ich eben höre, werden die Herrschaften aus Nizza schon gegen ein Uhr erwartet und das ganze Haus ist auf den Beinen zu ihrem Empfange. Da wir aber einmal hier sind, will ich doch versuchen, das Fräulein zu sprechen, Du kannst inzwischen Deinen inneren und äußeren Menschen wieder in Ordnung bringen.“

Er stieg die Treppe hinauf und traf oben mit Leonie zusammen, die eben über den Flur ging. Sie sah den Arzt, der in langgjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu dem Dernburgschen Hause stand, beinahe täglich, dennoch lag in ihrem Wesen eine merkliche Zurückhaltung, als sie seinen Gruß erwiderte. Hagenbach schien das nicht zu bemerken, er fragte flüchtig nach ihrem Befinden, hörte ebenso flüchtig die Antwort an und sagte dann:

„Ich komme heute aus besonderen Gründen zu Ihnen, mein Fräulein. Die Zeit ist zwar schlecht gewählt, denn Sie sind wahrscheinlich auch von dem Empfang der erwarteten Gäste in Anspruch genommen, aber meine Bitte ist in wenigen Minuten erledigt, also erlauben Sie mir, sie Ihnen hier zwischen Thür und Angel vorzutragen.“

Sie haben eine Bitte an mich?“ fragte Leonie, mit kühler Verwunderung. „Wirklich?“

„Sie meinen, weil ich sonst nur Befehle und Vorschriften zu ertheilen pflege? Ja, mein Fräulein, das ist das Recht des Arztes, er muß unter allen Umständen seine Autorität wahren, besonders wenn er es mit sogenannten ‚nervösen‘ Kranken zu thun hat.“

Er betonte das Wort „nervös“ in einer Weise, die seine Zuhörerin offenbar reizte, denn sie entgegnete anzüglich:

„Nun, ich glaube, Ihre Autorität bleibt unangefochten, dafür bürgt Ihre rücksichtsvolle Art, sich Gehorsam zu verschaffen.“

„Je nachdem – ich kenne Patienten, bei denen alle Liebesmüh’ verloren ist,“ erwiderte Hagenbach gelassen. „Aber nun zu meinem Anliegen. Sie kennen meinen Neffen, der seit drei Wochen in Odensberg ist?“

„Den Sohn Ihres Bruders, jawohl! Der junge Mann besitzt ja wohl keine Eltern mehr?“

„Nein, er ist Doppelwaise und ich bin sein Vormund, habe überhaupt die Sorge für seine Zukunft übernehmen müssen, denn seine Eltern sind so pflichtvergessen gewesen, ihm auch nicht einen Pfennig zu hinterlassen. Sie meinten wahrscheinlich, daß ich als Junggesell und angehender Hagestolz einen Erben brauchen könnte.“

Leonies Gesicht verrieth deutlich, daß sie diese Art, sich auszudrücken, sehr unzart fand, der Doktor sah das auch, aber er kümmerte sich nicht im geringsten darum, sondern fuhr in demselben Tone fort:

„Das Gymnasium hat Dagobert nun hinter sich, das Abiturientenexamen hat er gemacht, obwohl mit Ach und Krach, denn ein besonders heller Kopf ist er nicht. Nun sieht er jämmerlich aus von dem Stubensitzen und dem fortwährenden ‚Büffeln‘. Denken Sie, der Junge ist auch schon nervös oder bildet sich wenigstens ein, es zu sein, deshalb habe ich ihn in die Kur genommen. Ich werde ihm die Nerven schon abgewöhnen.“

„Dann will ich nur hoffen, daß der junge Mann die Kur auch wirklich aushält,“ sagte das Fräulein scharf. „Sie lieben die Gewaltmittel, Herr Doktor!“

„Wo sie am Platze sind, allerdings. Uebrigens werde ich meinen Neffen nicht gerade umbringen, wie Sie zu fürchten scheinen. Er soll den Sommer über hier bleiben und sich erholen, ehe er auf die Hochschule geht. Wenn der Junge aber gar nichts zu thun hat, verfällt er auf allerlei Dummheiten, deshalb soll er wenigstens etwas Sprachen treiben, neuere Sprachen natürlich. Latein und Griechisch haben sie ihm eingetrichtert, aber mit dem Englischen und Französischen sieht es sehr schwach aus, und da wollte ich nun anfragen, ob Sie die Güte haben wollten, ihm darin etwas nachzuhelfen. Sie sprechen ja beides vorzüglich.“

„Wenn Herr Dernburg nichts dagegen hat –“

„Herr Dernburg ist einverstanden, ich habe soeben mit ihm darüber gesprochen – es fragt sich nur, ob Sie wollen. Ich weiß zwar, daß ich bei Ihnen nicht sehr in Gnaden stehe –“

„Bitte, Herr Doktor,“ unterbrach ihn das Fräulein kühl. „Ich freue mich sehr, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich dankbar zu beweisen für den ärztlichen Beistand, den Sie mir schon verschiedenemal geleistet haben.“

„Bei Ihren ‚Nervenzufällen‘, jawohl. Nun, dann wäre die Sache ja in Ordnung. Dagobert, Junge, wo steckst Du denn? Komm’ herauf!“

Er rief die letzten Worte mit Kommandostimme die Treppe hinab. Leonie schrak dabei förmlich zusammen und meinte mißbilligend: „Sie behandeln den jungen Mann noch völlig wie einen Schulknaben.“

„Soll ich etwa mit dem Jungen besondere Umstände machen? Er möchte allerdings schon gar zu gern den Herrn spielen – und dabei wird er roth und stottert, sobald er mit einem Fremden spricht! – Nun, da bist Du ja, Dagobert! Das Fräulein will die Güte haben, Dich als Schüler anzunehmen. Bedanke Dich!“

Dagobert machte wieder eine ungemein tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung, wurde wieder roth und begann:

„Ich bin dem Fräulein sehr dankbar – ich freue mich außerordentlich – ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freue –“

Da blieb er stecken, Leonie aber kam seiner Verlegenheit zu Hilfe und wandte sich freundlich zu ihm.

„Ich werde Ihnen keine strenge Lehrerin sein und ich denke, wir werden miteinander fertig werden, Herr Hagenbach.“

„Sagen Sie doch einfach ‚Dagobert‘,“ unterbrach sie der Doktor in seiner rücksichtslosen Weise. „Er hat doch nun einmal den vertrakten Namen.“

„Haben Sie an dem Namen etwas auszusetzen? Ich finde ihn sehr schön.“

„Ich ganz und gar nicht,“ erklärte Hagenbach, ohne auf die tiefbeleidigte Miene seines Neffen zu achten. „Von Rechts wegen hätte der Junge Peter heißen müssen, so heiße ich nämlich, und ich bin sein Pathe. Aber das war meiner Frau Schwägerin nicht poetisch genug, und so verfiel sie auf den ‚Dagobert‘. ‚Dagobert Hagenbach‘ – es ist zum Zungenbrechen!“

[55] Um Fräulein Leonies Lippen spielte ein unverkennbares Spottlächeln, als sie erwiderte: „In dem Falle hatte Ihre Frau Schwägerin aber unzweifelhaft recht. Der Name Peter hat wirklich nicht nur die Poesie gegen sich.“

„Was haben Sie denn daran auszusetzen?“ rief der Doktor ärgerlich, indem er sich kampfbereit aufrichtete. „Peter ist ein guter Name, ein berühmter Name, ein biblischer Name. Ich dächte, der Apostel Petrus wäre ein tüchtiger Mann gewesen.“

„Nun, von dem Apostel haben Sie wohl nur das Streitbare – sonst nichts,“ bemerkte Leonie. „Also, Herr Dagobert, ich erwarte Sie morgen nachmittag, da wollen wir zunächst die Zeit und den Plan für den Unterricht festsetzen.“

Der schüchterne Dagobert schien sehr angenehm berührt von dieser Freundlichkeit und begann eben wieder zu versichern, daß er sich ganz außerordentlich freue und so weiter, als sein Onkel in höchst ungnädiger Stimmung dazwischenfuhr. „Wir haben das Fräulein nun aber lange genug aufgehalten. Komm’, Dagobert, sonst gerathen wir noch als ungebetene Gäste in den Familienempfang!“

Damit verabschiedete er sich samt seinem Neffen. Als sie die Treppe hinunterstiegen, erlaubte sich dieser die Bemerkung:

„Fräulein Friedberg ist eine sehr liebenswürdige Dame.“

„Aber nervös und überspannt,“ brummte Hagenbach, „Kann den Namen Peter nicht leiden! Warum kann sie ihn nicht leiden? Hätten Dich Deine verehrten Eltern Peter getauft, so wäre ein anderer Kerl aus Dir geworden! So aber siehst Du aus wie ein bleichsüchtiges Mädchen, das aus Versehen Dagobert genannt wurde!“ Er legte einen sehr verächtlichen Nachdruck auf den Namen.

Sie hatten inzwischen das Haus verlassen und traten jetzt auf die Terrasse hinaus, wo ihnen Egbert Runeck begegnete. Der Doktor wollte mit einem kurzen, sehr gemessenen Gruße an ihm vorüberschreiten, aber der junge Ingenieur blieb stehen und sagte:

„Ich war eben in Ihrer Wohnung, Herr Doktor, um Ihre Hilfe zu erbitten. Einer meiner Leute hat bei den Sprengarbeiten durch eigene Unvorsichtigkeit eine Verletzung davongetragen. Sie ist nicht gefährlich, so viel ich beurtheilen kann, aber es wird doch ärztlicher Beistand nöthig sein, Ich habe ihn mit nach Odensberg gebracht und im Krankenhaus gelassen, ich darf ihn wohl Ihrer Fürsorge empfehlen.“

„Ich werde sofort nach ihm sehen,“ entgegnete Hagenbach. „Sie wollen nach dem Herrenhaus, Herr Runeck? Man erwartet dort gerade jetzt die Herrschaften aus Nizza, und Herr Dernburg wird kaum –“

„Ich weiß,“ unterbrach ihn Runeck, „ich komme eben deswegen von Radefeld herein. Guten Morgen, Herr Doktor!“

Er grüßte und ging; Hagenbach sah ihm nach, stieß seinen Stock auf den Boden und sagte halblaut: „Das ist stark!“

„Hast Du es gesehen, Onkel, er trug unter dem Ueberrock den Gesellschaftsanzug,“ bemerkte Dagobert. „Er ist eigens eingeladen.“

„Das scheint wirklich so!“ brach der Doktor grimmig los. „Eingeladen bei diesem Empfang, den man ausgesprochenermaßen nur auf den engsten Familienkreis beschränken will – das sind ja merkwürdige Zustände hier in Odensberg!“

„Und ganz Odensberg spricht auch schon darüber,“ sagte Dagobert leise, sich vorsichtig umsehend. „Es ist nur eine Stimme des Tadelns und Bedauerns über diese unglaubliche Schwäche des Herrn Dernburg für –“

„Gelbschnabel, was weißt denn Du davon!“ fuhr der Doktor auf. „In Odensberg tadelt man weder den Chef noch bedauert man ihn – man gehorcht ihm einfach. Herr Dernburg weiß immer, was er will, und hier wird er es wohl erst recht wissen, wenn ihm sein Günstling nicht zufällig einen Strich durch die Rechnung macht. Der setzt auch einen Trumpf auf seinen Willen, gerade wie sein Herr und Meister, und wenn Stahl und Stein zusammen kommen, giebt es Funken. Aber nun mach’, daß Du nach Hause kommst, ich will erst nach dem Radefelder Arbeiter sehen.“ Damit schlug er den Weg nach dem Krankenhaus ein und entließ seinen Neffen, der offenbar froh war, als er den tyrannischen Onkel im Rücken hatte.




Runeck war in das Haus getreten und traf hier mit Fräulein Friedberg zusammen, die eben die Treppe herunterkam. Auch hier wurde sein Gruß nicht gerade zuvorkommend erwidert; das Fräulein trat dabei drei Schritte zurück und schickte einen schier hilfesuchenden Blick umher, so daß ein leises Spottlächeln auf den Lippen des jungen Ingenieurs erschien, als er sich mit der größten Artigkeit erkundigte, ob Herr Dernburg in seinem Arbeitszimmer sei.

Die Antwort wurde der Dame erspart, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Dernburg selbst trat heraus, in Begleitung seiner Tochter, die sofort auf Runeck zueilte und ihn mit der unbefangensten Vertraulichkeit begrüßte.

„Bist Du endlich da, Egbert! Wir glaubten schon, Du würdest den Empfang versäumen, der Wagen kann jede Minute eintreffen.“

„Ich wurde durch einen Zwischenfall aufgehalten,“ versetzte Egbert, „und mußte überdies sehr langsam fahren lassen, da ich einen Verletzten bei mir hatte, sonst wäre ich längst hier.“

Er trat zu Dernburg und berichtete ihm den Vorfall, während Fräulein Leonie, die mit einem förmlichen Entsetzen diese Begrüßung des Ingenieurs durch Maja mit angesehen hatte, ihrem Zögling zuflüsterte: „Aber Maja, welch unpassende Vertraulichkeit – Sie sind doch kein Kind mehr! Wie oft habe ich Sie schon gebeten, Ihre Jahre und Ihre Stellung zu bedenken. Muß ich denn wirklich die Autorität Ihres Vaters in Anspruch nehmen?“

Maja hörte gar nicht auf die Strafpredigt, nicht die erste, die ihr in dieser Beziehung gehalten wurde, sie wartete ungeduldig, bis Runeck mit seinem Bericht fertig war. Dernburg erkundigte sich eingehend nach der Art der Verletzung und schien befriedigt, als er hörte, daß sie nicht gefährlich und der Arzt bereits benachrichtigt sei; endlich gab er Egbert frei, der sich nun zu dem jungen Mädchen wandte.

„Sie hören es, Fräulein Maja, die Verspätung war nicht meine Schuld, Sie dürfen mir nicht böse deswegen sein.“

„Sehr böse bin ich Dir, wenn Du so eigensinnig darauf bestehst, mich ‚Fräulein‘ und ‚Sie‘ zu nennen!“ rief Maja schmollend. „Du hast das während unseres ganzen letzten Zusammenseins gethan, aber ich leide es nicht, hörst Du, Egbert, ich leide es nicht!“

Sie trat sehr nachdrücklich mit dem Füßchen auf und nahm eine allerliebste zornige Miene an. Fräulein Leonie schickte einen entsetzten Blick zu dem Hausherrn hinüber – es war die höchste Zeit, daß seine Autorität eintrat, wo die ihrige so vollständig versagte. Aber Dernburg schien ihre Empörung durchaus nicht zu theilen, denn er sagte mit voller Gelassenheit:

„Nun, wenn Maja durchaus darauf besteht, so thu’ ihr den Willen, Egbert! Du gehörst ja doch eigentlich zur Familie.“

Leonie traute ihren Ohren nicht – die Erlaubniß erschien ihr so ungeheuerlich, daß sie sich zum Widerstand aufraffte.

„Herr Dernburg, ich meine –“

„Was, Fräulein Friedberg?“

Es war nur eine kurze, ganz ruhig ausgesprochene Frage, aber das Fräulein verlor auf der Stelle die Luft zur Fortsetzung ihres Widerspruchs und setzte schleunigst hinzu: „Ich meine, wir sollten einen Diener draußen auf der Terrasse aufstellen damit es rechtzeitig gemeldet wird, wenn der Wagen in Sicht kommt.“

„Jawohl, geben Sie nur den Befehl dazu,“ sagte Dernburg. „Aber ich denke, wir gehen jetzt hinein, Erich kann sich möglicherweise auch verspäten.“ Er schritt nach dem Salon, Maja mit ihm, aber sie wendete muthwillig den Kopf zurück.

„Sie haben es gehört, Herr Ingenieur Runeck, das ‚Du‘ ist von allerhöchster Stelle befohlen! Wirst Du nun gehorchen, Egbert, gleich auf der Stelle gehorchen?“

Es lag eine so reizende Schelmerei in ihrem Ton und Blick, daß selbst der ernste Egbert sich dem nicht entziehen konnte, er machte eine scherzhafte Verbeugung. „Wie Du befiehlst!“

Maja jubelte auf wie ein Kind vor Freude über diesen Sieg, den sie über den starrsinnigen Jugendfreund errungen hatte, und Dernburg – lächelte dazu. Es lag ein seltener Ausdruck von Zärtlichkeit in seinen strengen Zügen, als er auf das liebliche sonnige Geschöpf an seiner Seite blickte. Man sah es deutlich, daß Maja sein Liebling war. –

Die Geduld der Wartenden wurde auf keine allzu lange Probe gestellt; schon nach Verlauf einer Viertelstunde kam die Meldung, daß der Wagen in Sicht sei, und die großen Flügelthüren der Eingangshalle wurden weit zurückgeschlagen. Dort stand Dernburg mit seiner Schwester, einer alten Dame in würdevoller, etwas steifer Haltung, neben ihnen Maja, ganz Freude und Erwartung, während Egbert und Fräulein Leonie sich in den Salon zurückgezogen hatten.

[56] Jetzt nahte der Wagen, ein halbverdeckter Landauer mit einem prachtvollen Isabellengespann, und hielt auf der Terrasse. Der Diener öffnete den Schlag. Erich sprang zuerst heraus und half seiner Braut beim Aussteigen, während hinter ihnen die hohe Gestalt des Freiherrn sichtbar wurde.

Dernburg war einen Schritt vorgetreten und stand hochaufgerichtet auf der Schwelle seines Hauses. Der ganze Stolz des Bürgerthums sprach aus seiner Haltung, als er den ahnenreichen Sprößling des alten Adelsgeschlechtes empfing, das ganze Selbstbewußtsein des Mannes, der durch eigene Kraft und Arbeit emporgestiegen ist. Er war es, welcher der Baroneß Wildenrod eine Ehre erwies, wenn er sie in den Kreis seiner Familie aufnahm.

Cäcilie verneigte sich leicht mit der ihr eigenen Anmuth, als Erich sie dem Vater zuführte. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen und hob jetzt die Augen empor zu jenem strengen Gesicht, das ihr freilich keine Scheu einflößte. Sie kannte zu gut den Zauber, den ihre Erscheinung ausübte und der auch hier nicht versagen konnte. Jugend und Schönheit haben es immer leicht, selbst dem kalten prüfenden Alter gegenüber. Wohl ruhte Dernburgs Blick einige Sekunden lang scharf und forschend auf ihren Zügen, dann aber beugte er sich nieder und küßte ihre Stirn.

„Sei willkommen in meinem Hause, mein Kind!“ sagte er ernst, aber freundlich.

Erich athmete verstohlen auf. Mit diesen Worten war der Widerstand seines Vaters aufgegeben, Cäcilie von ihm als Tochter anerkannt und aufgenommen; sie hatte auch hier durch ihr bloßes Erscheinen gesiegt! Er empfand das mit freudigem Stolze.

Frau von Ringstedt folgte dem Beispiel ihres Bruders und empfing die junge Baroneß mit einfacher Herzlichkeit. Wildenrod begrüßte inzwischen den Hausherrn, während Maja in voller Bewunderung die schöne Schwägerin anstaunte. Sie vergaß darüber ganz den so feierlich versprochenen „Hofknix“ und flog ihr statt dessen stürmisch an den Hals mit dem Ausruf: „O, Cäcilie, ich habe nicht geglaubt, daß Du so schön bist!“

Cäcilie lächelte; so sehr sie auch an Huldigungen und Schmeicheleien gewöhnt war, dies neidlos kindliche Geständniß erfreute sie doch, und mit einer Aufwallung wirklicher Zärtlichkeit küßte sie die „kleine süße Maja, von der Erich schon so viel erzählt“.

„Sie überschütten meine Schwester mit so viel Liebenswürdigkeit, mein gnädiges Fräulein,“ sagte plötzlich eine tiefe aber klangvolle Stimme, „darf auch ich auf eine freundliche Begrüßung hoffen?“

Maja wandte sich um und schaute in ein Paar tiefer dunkler Augen, die auf ihrem Antlitz ruhten, mit einem Ausdruck, der sie seltsam, beinahe unheimlich berührte, und doch fühlte sie, daß Bewunderung darin lag. Aber es durchschauerte sie wie ein leises Grauen, wie eine ahnungsvolle Angst vor diesem Blick, und ihre Stimme hatte nicht den hellen muthwilligen Klang wie sonst, als sie halb fragend erwiderte: „Herr von Wildenrod –?“

„Oskar von Wildenrod, ja, der darum bittet, daß auch ihm die Hand zum Willkomm gereicht werde.“

Es lag ein leiser Vorwurf in den Worten. Maja hatte in der That dem neuen Verwandten noch nicht einmal die Hand gegeben; jetzt erst streckte sie zögernd, mit einer ihr sonst ganz fremden Befangenheit die Rechte aus. Wildenrod beugte sich nieder und drückte seine Lippen darauf. Es war die übliche Artigkeit, aber das junge Mädchen bebte leise bei der Berührung, während ihre Augen doch zugleich festgehalten wurden von jenem dunklen Blicke, der sie wie mit einem Banne umfing.

Dernburg bot jetzt seiner künftigen Schwiegertochter den Arm, um sie hineinzuführen. Der Freiherr trat zu Frau von Ringstedt und Maja hing sich mit einer hastigen Bewegung an den Arm ihres Bruders. Erich war in der glücklichsten Stimmung, er drückte dankbar und zärtlich die Hand der Schwester, die seine Braut mit so viel Liebe empfangen hatte.

„Also Cäcilie gefällt Dir?“ fragte er. „Habe ich Dir zu viel von ihr erzählt?“

„O nein, sie ist weit, weit schöner als ihr Bild. So habe ich mir immer die Märchenprinzessinnen vorgestellt!“

„Und wie findest Du meinen künftigen Schwager? Eine ritterliche Erscheinung, nicht wahr, obgleich er längst über die Jugend hinaus ist?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Maja langsam. „Er hat so seltsame Augen – so tief und dunkel – beinahe unheimlich.“

„Närrchen, ich glaube, Du fürchtest Dich davor,“ scherzte Erich. „Das sieht unserer kleinen übermüthigen Maja ja gar nicht ähnlich, und Oskar wird nicht sehr erbaut sein von diesem Eindruck seiner Persönlichkeit. Aber lerne ihn nur erst besser kennen, er ist ein höchst anziehender Gesellschafter und hat eine wahrhaft blendende Unterhaltungsgabe.“

Maja antwortete nicht sogleich. Fürchten? Ja freilich, es war so etwas wie Furcht gewesen, was sie empfunden hatte, aber sie schämte sich jetzt sehr dieser kindischen Regung und sandte dem im Gespräch mit ihrer Tante voranschreitenden Freiherrn einen äußerst ungnädigen Blick nach. Ihr ganzer Muthwille kehrte zurück, und das Köpfchen zurückwerfend, rief sie lachend: „O, das Fürchten muß ich erst noch lernen wie der Held im Märchen!“

*      *      *

Das Wetter, das am Vormittag noch leidlich gewesen war, hatte sich verschlimmert. Die Berge lagen in dichtem Nebelschleier, von Zeit zu Zeit ging ein Regenguß nieder, und der Wind wühlte in den Bäumen des Parkes.

Um so traulicher war es jetzt in dem großen Salon des Herrenhauses, einem hohen weiten Raume mit dunkelrothen Tapeten und Vorhängen, geschnitzten Eichenmöbeln und einem mächtigen, mit schwarzem Marmor bekleideten Kamin. Die Farben waren etwas düster gehalten, doch durch die weiten Glasthüren, die sich auf die Terrasse öffneten, strömte das Licht voll herein. Die Wände waren nur mit wenigen aber auserlesenen Gemälden und einigen Familienbildern geschmückt. In dem Kamin loderte ein helles Feuer und der ganze Raum machte den Eindruck gediegenen Reichthums, vornehmer Behaglichkeit.

Man war soeben vom Tische aufgestanden, und die Jüngeren ließen sich in lebhaftem Geplauder am Kamin nieder; Frau von Ringstedt saß mit Fräulein Leonie auf dem Ecksofa, der Hausherr hatte sich in eine angelegentliche Unterhaltung mit Oskar von Wildenrod vertieft. Sie sprachen über die Odensberger Werke; der Freiherr verrieth nicht nur ein ungewöhnliches Interesse dafür, seine Fragen und Bemerkungen zeigten auch, daß er durchaus nicht so unbewandert auf diesem Felde war, wie Dernburg vorausgesetzt hatte, und dieser sagte soeben:

„Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß Sie so vertraut mit solchen Dingen sind, Herr von Wildenrod. Ein Arbeitsfeld wie das unserige pflegt sonst nur für Fachleute einen Reiz zu haben. Sie scheinen es aber ziemlich genau zu kennen.“

„Ich habe manches darüber gelesen,“ versetzte Wildenrod leichthin, „Wer wie ich keinen bestimmten Beruf hat, treibt allerlei kleine Privatstudien, und ich habe von jeher eine Vorliebe für die Berg- und Hüttenkunde gehabt. Meine Kenntnisse sind allerdings nur die oberflächlichen eines Laien, aber vielleicht erlauben Sie mir, sie hier einigermaßen zu vervollständigen.“

„Ich werde Ihnen mit Vergnügen als Führer dienen,“ erklärte Dernburg. „Sie haben bei Ihrer Fahrt nur einen kleinen Theil der Werke berührt, aber hier von der Terrasse aus hat man einen ziemlich vollständigen Blick über das Ganze.“

Er öffnete eine der Glasthüren und trat mit seinem Gaste hinaus. Der Nebel war noch nicht gewichen, allein die Werke, die sich bis an den Fuß der Waldberge hin erstreckten, und das tausendfache Leben, das sich dort regte und bis zu dem Herrenhause herüberdrang, verloren darum nichts von ihrer Großartigkeit, die einem Fremden wohl überwältigend erscheinen mochte. Auch der Freiherr schien diesen Eindruck zu haben, seine Augen schweiften langsam von einem Ende des Thales zum andern, während er bemerkte: „Eine mächtige Schöpfung, dies Odensberg! Das ist ja eine förmliche Stadt, die Sie hier in der Berg- und Waldeinsamkeit haben erstehen lassen. Diese riesigen Gebäude, die hier im Mittelpunkte aufragen, sind –?“

„Die Walzwerke und die Gießereien; dort, weiter hinten, liegen die Hochöfen.“

„Und jene Anlage zur Rechten, die beinahe wie eine Villenkolonie aussieht?“

„Das sind die Wohnungen meiner Beamten – die Häuser der Arbeiter liegen auf der anderen Seite. Ich habe die Leute freilich nur zum kleinsten Theil in Odensberg selbst unterbringen können, die meisten wohnen in den benachbarten Dörfern.“

„Ich weiß, Erich zeigte sie mir auf der Fahrt. Wie viel Arbeiter beschäftigen Sie denn eigentlich, Herr Dernburg?“

[58] „Neuntausend hier auf den Werken; die Erzgruben in den Bergen haben ihre eigene Arbeiterschaft und ihre eigenen Beamten.“

Wildenrod sah den Mann an, der mit so vollkommener Gelassenheit und augenscheinlich ganz absichtslos vor ihm das Bild einer Macht und eines Reichthums entrollte, bei dem es einem anderen schwindelte. Jede einzelne dieser Gruben und Hütten, deren er so ganz nebenbei erwähnte, stellte ein Vermögen dar; von seinen anderen Gütern, die zu den einträglichsten der Provinz gehörten, sprach er gar nicht einmal. Und dabei lag in seinen Worten auch nicht die leiseste Spur von Prahlerei, er gab einfach eine erbetene Auskunft, nichts weiter. Der Freiherr lehnte sich an die steinerne Brüstung und blickte wieder hinaus, dann sagte er langsam: „Ich habe durch Erich und andere schon viel von Ihrem Odensberg gehört, aber von dieser Großartigkeit hat man doch erst einen Begriff, wenn man sie vor Augen sieht. Es muß ein berauschendes Gefühl sein, sich als unumschränkten Gebieter einer solchen Welt zu wissen und zehntausend Menschen mit einem einzigen Machtworte zu leiten.“

„Ich habe mehr als dreißig Jahre gebraucht, ehe ich soweit kam,“ antwortete Dernburg kühl. „Wer sich diese Welt und diesen Boden Schritt für Schritt erst hat erkämpfen müssen, den ‚berauscht‘ der Erfolg nicht mehr. Er giebt auch manche schwere Last zu tragen, die Sie, Herr von Wildenrod, wohl kaum auf sich nehmen würden. Ihnen war ja schon die Verwaltung Ihrer väterlichen Güter eine Last, die Sie abstreiften.“

Es lag eine gewisse Schärfe in den letzten Worten, die auch verstanden wurde; aber Wildenrod zeigte keine Empfindlichkeit, er entgegnete ruhig: „Sie machen mir einen Vorwurf daraus, Herr Dernburg?“

„Nicht doch, welches Recht hätte ich dazu! Es ist ja schließlich eines jeden eigene Sache, wie er sich sein Leben gestaltet. Der eine sucht die Befriedigung in der Arbeit, der andere –“

„Im Müßiggang, meinen Sie?“

„In dem Genuß des Lebens, wollte ich sagen.“

„Aber Sie dachten doch, was ich aussprach, und ich muß Ihnen leider recht geben, Aber mich hat von jeher nur die Thätigkeit im großen Maßstäbe gereizt, und mein Erbe war keine ausgedehnte Herrschaft, wo ich diesen Drang hätte verwerthen können. Ich brachte es nicht fertig, mich in die öde Alltäglichkeit des Landlebens zu vergraben, in den ewig gleichen Kreislauf einer Wirthschaft, die jeder tüchtige Inspektor ebensogut wie ich führen konnte. Dafür war ich nun einmal nicht geschaffen.“

„Weshalb blieben Sie denn nicht im diplomatischen Dienste?“ warf Dernburg ein. „Da stand Ihrem Ehrgeiz das weiteste Feld offen.“

Es war ein Ausdruck unsäglicher Bitterkeit, der bei dieser Frage um die Lippen Wildenrods zuckte, freilich nur eine Sekunde lang. „Das lag in persönlichen Verhältnissen. Ich hatte Unannehmlichkeiten mit meinem Chef gehabt, glaubte mich zurückgesetzt, übergangen und löste in rascher Empfindlichkeit die vermeintliche Kette. Ich war damals noch jung, und die weite Welt, die goldene Freiheit lockten mich unwiderstehlich – mit den Jahren ändert sich das! Ich habe es längst gefühlt, daß meinem Leben die eigentliche Wurzel fehlt, und werde es noch mehr fühlen, wenn Cäcilie mich verläßt. Es bleibt doch eine tiefe Unbefriedigung zurück bei einem solchen Dasein.“

„Für die Sie allein die Verantwortung tragen,“ sagte Dernburg ernst. „Sie stehen noch in vollster Manneskraft, haben ein unabhängiges Vermögen, es käme nur auf einen Entschluß an.“

„Ganz recht, auf einen Entschluß, und dazu habe ich mich bisher noch nicht aufraffen können. Mir ist solche Arbeit immer nur unter dem Bilde des Kleinlichen, Mühseligen erschienen. Hier im Angesicht Ihres Odensberg lerne ich zum ersten Male begreifen, welch eine Macht darin liegt, welch unglaubliche Erfolge sie zu schaffen vermag. Das könnte auch mich reizen, meine ganze Kraft einzusetzen, ich gestehe es! Wollen Sie den ‚Müßiggänger‘ einen tieferen Blick in Ihre Arbeitswelt thun lassen, Herr Dernburg? Vielleicht nützt ihm die Lehre doch!“

Es lag etwas ungemein Gewinnendes in der Bitte, in der ganzen Art des Freiherrn, und Dernburg war von dieser Offenheit sehr angenehm berührt. Seine bisher ziemlich kühle Artigkeit machte einem wärmeren Tone Platz, als er antwortete:

„Es soll mich freuen, wenn mein Odensberg Ihnen solche Lehren giebt. Ich habe freilich durch all dies Kleinliche und Mühselige hindurch gemußt. Wenn ich Kopf und Arme nicht gerührt hätte, so stände hier wahrscheinlich noch der einfache Eisenhammer, den mir mein Vater hinterließ, aber es muß ja nicht jeder von der Pike auf dienen. Wenn nur jeder etwas leistet und seinen Platz im Leben ausfüllt, das ist die Hauptsache!“

Ein neuer Regenguß, der eben heranzog und dessen erste Tropfen niederfielen, trieb die beiden Herren ins Zimmer zurück Dernburg hatte bereits das Vorurtheil aufgegeben, das er bisher gegen den künftigen Schwager seines Sohnes gehegt, und Oskar von Wildenrod hatte einen ersten Sieg erfochten, gerade an der Stelle, wo er am schwersten zu erringen war.

[69] Im Salon bildete Cäcilie den Mittelpunkt der plaudernden Gruppe am Kamin. Sie konnte sehr liebenswürdig sein, wenn sie wollte, und ihre junge Schwägerin war völlig bezaubert von ihr, während Erich. der heute überhaupt nur Augen und Ohren für seine Braut hatte, kaum von ihrer Seite wich. Nur Egbert Runeck nahm fast gar keinen Antheil an der Unterhaltung. Er blickte nach der Terrasse, wo die beiden Herren im lebhaftesten Gespräch standen, und dann ruhten seine Augen wieder auf der jungen Baroneß, aber seine Stirn zog sich dabei fast drohend zusammen.

„Nein, Erich, das wirst Du mir nicht einreden, daß es hier in Deinem Vaterland auch einen Frühling giebt,“ rief Cäcilie lachend. „An der Riviera blüht und duftet alles schon seit Monaten, doch seit wir die Alpen überschritten, haben wir nichts als Sturm und Kälte gehabt, und nun vollends diese Fahrt nach Odensberg! Überall noch winterliche Oede. nichts als das [70] dunkle traurige Grün dieser ewigen Tannenwälder, dazu Nebel und Wolken und zur Abwechslung ein eisiger Regenguß – hu, mich friert in Eurem kalten grauen Deutschland!“

Sie kauerte sich mit einer reizenden Bewegung fröstelnd in ihrem Sessel zusammen und wandte sich dem Feuer zu.

„In Eurem Deutschland?“ wiederholte Erich mit zärtlichem Vorwurf. „Aber Cäcilie, es ist ja auch Dein Vaterland!“

„Mein Gott ja, allein ich muß mich immer erst wieder darauf besinnen, daß ich wirklich ein Kind dieses häßlichen Nordens bin, der mir ganz fremd ist. Ich war kaum acht Jahre alt, da starb mein Vater, und zwei Jahre später verlor ich auch die Mutter. Da kam ich dann zuerst nach Oesterreich zu Verwandten und später nach Lausanne in die Pension. Als ich erwachsen war, holte mich Oskar ab, und seitdem haben wir meist im Süden gelebt. In Rom und Neapel, an der Riviera und in Florenz, auch in der Schweiz sind wir einigemal gewesen. Aber Deutschland haben wir nie wieder berührt.“

„Du arme Cäcilie, da hast Du ja gar keine Heimath gehabt!“ rief Maja mitleidig.

Cäcilie sah sie sehr verwundert an; ihr erschien ein solches Leben mit dem fortwährenden Wechsel der Umgebung und der Menschen als das einzig Begehrenswerthe. Heimath? Das war ihr ein ganz fremder Begriff. Ihre Augen glitten durch den Salon – ja freilich, das war etwas anderes als die glänzenden und doch so nüchternen Hotelräume, in denen sie seit Jahren gelebt hatte. Diese schweren dunklen Tapeten und Vorhänge, diese Eichenmöbel, von denen jedes einzelne einen künstlerischen Werth hatte, die Familienbilder an den Wänden und vor allem der Hauch von Behaglichkeit, der das Ganze durchwehte! Aber dennoch erschien das alles wieder im Lichte dieses grauen Regentages so ernst und düster, so ernst wie all die Menschen hier, mit alleiniger Ausnahme Majas – und das verwöhnte Kind der großen Welt empfand einen geheimen Schauder vor der „Heimath“ ihres Bräutigams.

„Lebt Ihr denn wirklich den größten Theil des Jahres hier in Odensberg?“ fragte sie. „Das muß doch sehr einförmig sein. Ihr habt einen so prachtvollen Wohnsitz in Berlin, wie Erich mir erzählt hat, und seid kaum zwei Monate im Winter dort, das begreife ich nicht!“

„Papa meint, er habe keine Zeit, in der Welt umherzureisen,“ sagte Maja unbefangen „und ich bin mit der Tante und Fräulein Leonie nur einigemal im Bade gewesen. Ich bin sehr gern in Odensberg.“

„Maja ist ja überhaupt noch nicht in die Gesellschaft eingeführt,“ erklärte Erich. „Das soll erst im nächsten Winter geschehen, wenn sie ihr siebzehntes Jahr vollendet hat. Bis jetzt hat unsere Kleine immer noch in der Kinderstube bleiben müssen, wenn bei uns großer Empfang war, und da kennt sie die große Welt noch gar nicht.“

„Ich wurde schon mit sechzehn Jahren in die Welt eingeführt,“ warf Cäcilie hin. „Arme Maja, läßt man Dich so lange darauf warten – das ist unverantwortlich!“

Das junge Mädchen lachte hell auf bei diesem aufrichtigen Bedauern. „O, ich betrachte das gar nicht als ein so großes Unglück, denn dann muß ich mich ‚benehmen‘, wie Fräulein Friedberg es nennt, muß so schrecklich ernsthaft und verständig thun und darf nicht mehr mit ‚Puck‘ herumtanzen. – Puck, ich glaube gar, Du schläfst am hellen Tage! Schämst Du Dich nicht? Wirft Du gleich aufwachen!“

Damit stürzte sie nach einer Ecke des Salons, wo Puck, grollend, daß man sich heute so wenig um ihn kümmerte, auf einem Fußkissen sich dem süßesten Schlummer hingab. Cäcilie verzog spöttisch die Lippen.

„Maja ist wirklich noch ein rechtes Kind,“ sagte sie leise zu Erich. „Nun, Oskar, hat Dich der Regen hereingetrieben?“

„Jawohl,“ antwortete Wildenrod, der soeben herantrat. „Wir haben Odensberg besichtigt, vorläufig nur von der Terrasse aus, aber Dein Vater hat mir versprochen, Erich, mich schon in den nächsten Tagen in sein Reich einzuführen.“

„Gewiß, und Cäcilie muß es auch kennenlernen,“ stimmte Erich bei. „Dann fahren wir auch einmal nach Radefeld hinaus, wo jetzt der Buchberg durchbrochen wird. Egbert,“ wandte er sich an diesen, der stumm zugehört hatte, „wir melden uns einstweilen bei Dir an.“

„Ich fürchte nur, daß unsere Arbeiten Herrn von Wildenrod nicht interessieren werden,“ versetzte Egbert, „sie bieten nach außen hin nicht viel Bemerkenswerthes, und bis zum Durchbruch sind wir überhaupt noch nicht gekommen.“

Wildenrod wandte sich zu dem jungen Ingenieur, der ihm vor Tische vorgestellt worden war. Er wußte durch Erich, daß dieser „Jugendfreund“ eine Ausnahmestellung einnahm, aber seine Anwesenheit bei diesem ersten Zusammensein im engsten Familienkreis befremdete ihn doch, und er wußte diesem Befremden Ausdruck zu geben. Bei aller Höflichkeit, mit der er Runeck behandelte, stand in seinen Augen immer wortlos, aber deutlich die Frage: „Was thust Du eigentlich hier?“

„Sie haben ja wohl den Plan zu diesen Arbeiten entworfen, Herr Runeck?“ fragte er. „Erich erzählte mir bereits davon und ich freue mich sehr, einen so tüchtigen Ingenieur kennenzulernen.“

Die Worte klangen sehr verbindlich, aber der „Ingenieur“ wurde doch betont und damit die Schranke hervorgehoben, die den Sohn des Eisenarbeiters von der Familie des Millionärs trennte, obgleich man sie in Odensberg zu vergessen für gut fand. Egbert verneigte sich ebenso verbindlich, als er erwiderte: „Ich hatte bereits früher das Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr von Wildenrod.

„Mich? Ich erinnere mich nicht, daß wir uns jemals begegnet wären.“

„Das ist begreiflich, denn es geschah in einem größeren Kreise. Vor drei Jahren in Berlin, bei Frau von Sarewski.“

Der Freiherr wurde aufmerksam, sein Auge heftete sich scharf und forschend auf den jungen Ingenieur, aber zugleich spielte ein spöttisches Lächeln um seine Lippen. „Und da haben Sie mich gesehen? Ich glaubte wirklich nicht, daß Sie in solchen Kreisen verkehren.“

„Das thue ich in der That nicht. Es war ein besonderer Fall, der mich dahin führte, und ich war auch nicht als Gast dort. Vielleicht erinnern Sie sich der Sache, wenn ich Ihnen den Tag nenne – es war der zwanzigste September.“

Die Hand Wildenrods, welche auf der Lehne von Cäciliens Sessel lag, zuckte leise, und zugleich schoß ein Blitz aus seinen Augen, ein Blick des Argwohns, der Drohung; aber er glitt ab an den völlig unbewegten Zügen Runecks. Das dauerte freilich nur eine Sekunde, dann sagte der Freiherr nachlässig:

„Da muthen Sie wirklich meinem Gedächtniß zuviel zu. Ich habe in den letzten zehn Jahren so viel Orte und Menschen kennengelernt, daß ich mich der einzelnen nicht mehr entsinne. Welchen Vorfall meinen Sie?“ Er sprach mit voller Gelassenheit, in seinen Zügen war nicht die leiseste Veränderung zu bemerken.

„Wenn Sie es vergessen haben, Herr von Wildenrod, so lohnt es wohl kaum, davon zu reden,“ sagte Egbert kühl. „Mir waren von jenem Abend her nur Ihre Züge und Ihre Persönlichkeit im Gedächtniß geblieben.“

„Sehr schmeichelhaft für mich!“ Wildenrod neigte mit einer hochmüthigen Bewegung das Haupt gegen den jungen Ingenieur und kehrte ihm dann den Rücken. Er schritt nach dem anderen Ende des Salons, wo Maja das weiße Fellchen ihres Lieblings zauste, der den jähen Eingriff in seine Siesta sehr ungnädig aufgenommen hatte.

Das Spiel nahm ein Ende, als der Freiherr sich näherte, und Maja richtete sich mit einer gewissen Kampfbereitschaft empor, denn sie fühlte das dringende Bedürfniß, ihre kindische Befangenheit von vorhin in Vergessenheit zu bringen. Bei Tische war keine Gelegenheit dazu gewesen, denn Frau von Ringstedt hatte den neuen Verwandten, der neben ihr saß, vollständig in Beschlag genommen; jetzt aber sollte er sehen, daß man sich nicht im mindesten vor ihm scheute, daß man durchaus entschlossen war, ihm die Spitze zu bieten.

Leider trug Oskar Wildenrod dieser kriegerischen Stimmung gar keine Rechnung, er begann in aller Harmlosigkeit erst das Hündchen und dann dessen Herrin zu necken und nahm ganz unbefangen an ihrer Seite Platz. Nun fing er an zu plaudern, von allem Möglichen, in einer halb scherzhaften, aber ungemein fesselnden Art, die dem jungen Mädchen ganz neu war; die Vertraulichkeit, zu der die künftige Verwandtschaft ihn berechtigte, wurde dabei in natürlicher zarter Weise zur Geltung gebracht [71] Und endlich bemühte er sich angelegentlich um die Freundschaft Pucks, die ihm denn auch im vollsten Maße zu theil wurde.

Das blieb nicht ohne Einfluß auf Maja, die allmählich ihre Vertheidigungsstellung aufgab und zutraulicher wurde. Sie fing jetzt auch an, zu plaudern und von dem und jenem zu berichten. Die Unterhaltung war im besten Gange, als Wildenrod plötzlich ganz unvermittelt fragte: „Also Sie fürchten sich jetzt nicht mehr vor mir?“

„Ich?“ Die junge Dame wollte entrüstet widersprechen und konnte es doch nicht hindern, daß ihr eine tiefe Röthe ins Gesicht stieg.

„Ja, Sie, mein gnädiges Fräulein! Ich sah es ganz deutlich bei der ersten Begrüßung – oder wollen Sie mir das ableugnen?“

Die Gluth im Gesicht Majas wurde noch tiefer. Er hatte nur zu richtig gesehen, aber sie ärgerte sich über diesen unbequemen Scharfblick und fand es sehr rücksichtslos, daß man ihr das auch noch anzuhören gab.

„Spotten Sie nur, Herr von Wildenrod!“ sagte sie gereizt.

Er lächelte, und es war eigenthümlich, wie seine Züge dabei gewannen. Die düstere Falte auf der Stirn schien sich zu glätten, all die scharfen tiefen Linien milderten sich, und auch die Stimme klang weich, als er erwiderte: „Sehe ich aus, als ob ich spotten wollte? Können Sie das wirklich glauben?“

Maja sah zu ihm auf. Nein, spöttisch waren diese Augen nicht, wenigstens nicht jetzt, aber sie übten wieder denselben Bann aus wie vorhin und ließen den Blick nicht los, den sie festhalten wollten – und da war auch wieder jenes unerklärliche beklemmende Gefühl. Das junge Mädchen fand keine Antwort und schüttelte nur leise das Köpfchen.

„Nicht?“ fragte Wildenrod. „Nun, dann beweisen Sie es mir, daß der Gast, der heute in Ihr Haus gekommen ist, Sie nicht mehr schreckt, und erfüllen Sie mir eine Bitte – wollen Sie?“

„Erst muß ich doch wissen, welche Bitte Sie stellen,“ sagte Maja befangen und mit einem vergeblichen Versuch, den alten muthwilligen Ton wiederzufinden. Wildenrod neigte sich zu ihr, und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.

„Es nennt Sie hier alles ‚Maja‘, jeder in diesem Kreise hat das Recht, Ihren Namen auszusprechen, der so hold klingt wie kein anderer, sogar diesem – diesem Herrn Runeck ist das erlaubt, ich allein spreche zu dem ‚Gnädigen Fräulein‘. Ich bin ja nicht so kühn, dasselbe Recht zu beanspruchen wie Cäcilie, die Ihnen das schwesterliche ‚Du‘ giebt, aber – darf auch ich Sie ‚Maja‘ nennen?“

Er hatte wie zufällig ihre Hand genommen. Die Bitte war weder so kühn noch so ungewöhnlich, der ältere Mann konnte sich immerhin diese Vertraulichkeit gegen das junge Mädchen erlauben, mit dessen Bruder er sich verschwägerte, dennoch zögerte Maja mit der Antwort, zögerte so lange, daß er vorwurfsvoll fragte: „Sie verweigern es mir?“

„O nein, gewiß nicht, Sie sind ja der Bruder Cäciliens, Herr von Wildenrod.“

„Jawohl, und der Bruder Cäciliens hat noch einen anderen Namen, den er nun auch von Ihnen hören möchte, Maja – ich heiße Oskar!“

Es erfolgte keine Antwort, aber die kleine Hand zuckte in der seinigen und versuchte, sich frei zu machen; doch vergebens, er hielt sie fest. „Sie wollen nicht?“

„Ich – ich kann nicht!“ Es lag eine beinahe angstvolle Abwehr in den Worten, Oskar lächelte wieder.

„Ist das denn so schwer? Doch ich will Sie nicht drängen! Einstweilen ist mir Ihre Erlaubniß genug. Ich danke Ihnen dafür, Maja.“

Er ließ mit sanftem Druck ihre Hand los. Maja! Wie seltsam er den Namen aussprach, es war ein Klang, der das junge Mädchen mit einer nie gekannten Empfindung durchschauerte, süß und beängstigend zugleich. Sie athmete wie erlöst auf, als Erich herantrat und scherzend sagte: „Ich glaube, Oskar, Du machst unserer kleinen Maja hier den Hof.“

„Vorläufig mache ich nur die künftige Verwandtschaft geltend,“ war die heitere Antwort. „Maja hat mir soeben erlaubt, das ‚Gnädige Fräulein‘ beiseite zu lassen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?“

„Nicht das Geringste,“ meinte Erich lachend. „Du wirst vermuthlich mit vieler Würde bei unserer Kleinen den Onkel spielen. Sieh nur zu, daß Du sie in Ehrerbietung erhältst!“

Ueber Oskars Züge flog bei dieser harmlosen Auffassung ein eigener Ausdruck, aber er entgegnete nichts darauf. Maja hatte die letzten Worte gar nicht gehört, sie war zu ihrem Vater geeilt, der sich den beiden älteren Damen zugesellt hatte. Mit einer fast ungestümen Bewegung schmiegte sie sich an ihn, als wollte sie in seinen Armen Schutz suchen, Schutz vor einer unbekannten Gefahr, die noch fern im Dunkel lag und doch schon einen Schatten hereinwarf in die helle Gegenwart.

Cäcilie saß noch am Kamin, und auch Runeck hatte seinen Platz nicht verlassen, der „steinerne Gast“, wie Cäcilie vorhin ihrem Verlobten spottend zugeflüstert hatte. Egberts Schweigsamkeit war in der That auffallend gewesen, wenigstens für Erich und Maja. Baroneß Wildenrod fand sie im Grunde natürlich; der junge Mann fühlte sich offenbar fremd in dem Kreise, in den er doch von Rechts wegen nicht gehörte, und die ihm mit dieser Einladung erwiesene Gunst drückte ihn wahrscheinlich mehr, als sie ihn erfreute. Cäcilie theilte in diesem Punkte vollständig die Ansichten ihres Bruders und wie dieser hatte sie bisher nur sehr flüchtig von dem jungen Ingenieur Notiz genommen. Doch war es ihr nicht entgangen, daß er sie beobachtete; sie nahm das selbstverständlich für Bewunderung und ließ sich deshalb jetzt gnädigst zu einer Unterhaltung herbei.

„Sie kannten also meinen Bruder bereits, Herr Runeck? Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen!“

„In einer großen Stadt doch wohl nicht,“ war die ruhige Antwort. „Uebrigens war es nur eine sehr flüchtige Begegnung, deren sich Herr von Wildenrod, wie Sie gehört haben, gar nicht mehr entsinnt.“

„Er war vor drei Jahren in Berlin? Ich erinnere mich – er kam von dort nach Lausanne, um mich aus der Pension abzuholen. Aber ich glaube, Oskar liebt die Reichshauptstadt nicht besonders. Sie waren längere Zeit dort, Herr Runeck?“

„Mehrere Jahre, ich studierte in Berlin.“

„Ach so! Nun, ich werde es ja im nächsten Winter an Erichs Seite auch kennenlernen. Das Gesellschaftsleben soll glänzend sein, zumal in der Hochsaison.“

„Darüber kann ich leider keine Auskunft geben,“ sagte Egbert kühl. „Ich war in Berlin, um zu lernen und zu arbeiten.“

„Aber das nimmt doch nicht die ganze Zeit in Anspruch?“

„Jawohl, gnädiges Fräulein, die ganze Zeit.“

Die Antwort klang sehr bestimmt, beinahe schroff; sie mißfiel Cäcilien gründlich, noch mehr aber mißfiel ihr der, welcher sie aussprach und den sie sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male genauer ansah. Dieser Jugendfreund Erichs war im Grunde eine recht abstoßende Erscheinung! Zwar gab ihm die hohe mächtige Gestalt ein gewisses Uebergewicht, aber sie paßte doch ganz und gar nicht für den Salon. Dazu diese unschönen unregelmäßigen Züge, in denen alles so hart und scharf ausgeprägt war; und die starre unverbindliche Haltung, die sich auch jetzt nicht milderte, wo man doch geruhte, ihn in das Gespräch zu ziehen. Jene Antwort klang ja beinahe, als wollte dieser Runeck ihr, der Baroneß Wildenrod, eine Lehre geben. Sie bemerkte zu ihrem Erstaunen, daß hier von Schüchternheit und Gedrücktheit keine Rede war, und fühlte jetzt auch, daß es nicht Bewunderung war, die in jenen kalten grauen Augen lag – ein feindseliger Strahl leuchtete darin auf. Aber was eine Andere befremdet und vielleicht bestürzt gemacht hätte, das gerade reizte Cäcilie Wildenrod, und anstatt das Gespräch fallen zu lassen, nahm sie es wieder auf.

Sie stemmte die zierlichen Füße gegen das Kamingitter und lehnte sich tief in den Armsessel zurück, es war eine nachlässige, aber unendlich graziöse Stellung. Die späte Nachmittagsstunde und das dunkle Regengewölk draußen schufen in diesem Theile des Salons schon eine Dämmerung, und das bald aufflackernde bald zusammensinkende Feuer warf seinen Schein auf die schlanke Gestalt in dem hellen spitzenbesetzten Seidenkleid, auf die Rosen, die sie an der Brust trug, und auf den schönen Kopf, der sich an die dunkelrothen Polster schmiegte.

„Mein Gott, wie werde ich mich in diesem Odensberg zurechtfinden!“ sagte sie seufzend. „Das dritte Wort hier ist: ‚Arbeit!‘ Man scheint überhaupt gar nichts anderes zu kennen. Ich leichtsinniges [72] Weltkind fühle mich ganz verschüchtert dabei und werde sicher vollständig in Ungnade fallen bei meinem künftigen Schwiegervater, der ja auch ein Arbeitsgenie ersten Ranges sein soll.“

Sie sprach mit herausforderndem Uebermuth, es war der Ton, den man in ihren Gesellschaftskreisen so pikant und bezaubernd fand. Hier aber machte er gar keinen Eindruck, Runeck schien völlig unempfindlich dafür zu sein.

„Gewiß, Herr Dernburg ist uns allen ein Vorbild in dieser Beziehung,“ erwiderte er. „Daß Sie sich in Odensberg gefallen werden, Baroneß Wildenrod, glaube ich allerdings nicht. Doch Erich wird es Ihnen ja wohl eingehend geschildert haben, ehe Sie sich entschlossen, hierherzukommen.“

„Ich glaube, Erich hat den gleichen Geschmack wie ich,“ warf Cäcilie hin. „Auch er liebt den sonnigen lebensfrohen Süden und schwärmt von einer Villa am Strande des blauen Meeres, unter Palmen und Lorbeergebüschen.“

„Erich war krank und litt unter der rauhen Luft seiner Heimath, die er trotzdem liebt; der Süden hat ihm Genesung gegeben. Uebrigens ist er ja reich genug, sich irgendwo in Italien anzukaufen und seine Erholungszeit dort zuzubringen, wenn sein eigentlicher Wohnsitz auch Odensberg bleiben muß.“

„Halten Sie das für so unumgänglich nothwendig?“ Es lag ein leichter Spott in der Frage.

„Allerdings, er ist der einzige Sohn und soll dereinst die Werke übernehmen. Das ist eine Pflicht, der er sich nicht entziehen kann und der er, wie seine künftige Gemahlin, doch wohl Rechnung tragen muß.“

„Muß?“ wiederholte Cäcilie. „Das scheint Ihr Lieblingswort zu sein, Herr Runeck. Sie gebrauchen es bei jeder Gelegenheit. Ich kann dies unbequeme Wort gar nicht leiden und glaube auch nicht, daß ich mich jemals damit befreunden werde.“

Egbert schien kein besonderes Vergnügen an dieser Art der Unterhaltung zu finden, es klang ein Anflug von Ungeduld, sogar eine gewisse Gereiztheit aus seinen Worten, als er entgegnete:

„Wir thun wohl besser, nicht darüber zu streiten, gnädiges Fräulein. Wir gehören zwei ganz verschiedenen Welten an, und ich muß um Entschuldigung bitten, wenn ich die Ihrige nicht verstehe.“

Cäcilie lächelte; endlich war es ihr gelungen, diesen Mann aus seiner undurchdringlichen Ruhe zu treiben, die sie fast als eine Beleidigung empfand. Sie war es nicht gewohnt, daß man ihr den Zoll der Bewunderung versagte, daß man ihr gegenüber von „müssen“ sprach. Das Feuer strahlte eben wieder auf in heller Gluth, und während Runeck seitwärts im Schatten stand, fiel der Widerschein voll auf das schöne Mädchen, das noch in derselben Stellung wie vorhin im Sessel ruhte. Es lag etwas Berückendes in dem zuckenden Spiel der Flammen, in dem jähen Wechsel zwischen Licht und Schatten, etwas, das der Erscheinung des Mädchens selbst verwandt war, welches jetzt mit den dunklen feucht-schimmernden Augen zu dem jungen Ingenieur aufblickte.

„Nun, es wird doch eine Brücke geben, die diese beiden Welten verbindet,“ sagte sie scherzend, „Vielleicht lernen wir uns verstehen – oder meinen Sie, daß das nicht der Mühe lohnt?“

„Nein!“

Es klang eisig, dieses „Nein“. Cäcilie richtete sich plötzlich empor und ein Blick sprühenden Zornes traf Egbert.

„Sie sind sehr – aufrichtig, Herr Runeck.“

„Sie mißverstehen mich, gnädiges Fräulein,“ sagte er ruhig. „Ich meinte selbstverständlich, daß es für Sie der Mühe nicht lohnt, zu einer so untergeordneten Welt herabzusteigen – nichts weiter.“

Baroneß Wildenrod biß sich auf die Lippen. Er parierte gut, und doch wußte sie, was er gemeint hatte – sie verstand den herben Spott, der sich hinter seinen Worten barg. Was war es denn eigentlich mit diesem Manne, der sich herausnahm, der Braut seines Jugendfreundes, der künftigen Tochter des Hauses, von dem er Wohlthaten empfangen hatte, so entgegenzutreten? Hatte sie vorher für diesen Herrn Ingenieur in seiner untergeordneten Stellung kaum einen Blick gehabt, so wallte es jetzt heiß und feindselig in ihr empor, er sollte es büßen, daß er sie gereizt hatte!

Sie erhob sich mit einer raschen Bewegung und wandte sich zu Erich und ihrem Bruder, die noch miteinander sprachen. Egbert blieb an seinem Platze, sein Blick folgte den beiden Geschwistern, während er halblaut murmelte: „Armer Erich, Du bist in schlimme Hände gerathen!“ –

Es war Abend geworden und die Familie hatte sich bereits getrennt. Man wollte den Gästen, die heute eine ziemlich weite Fahrt gemacht hatten, baldige Ruhe gönnen, aber diese waren noch nicht schlafen gegangen.

Oskar und Cäcilie befanden sich in dem kleinen Ecksalon, der zu der Fremdenwohnung gehörte. Sie waren allein. Der Duft der Blumen, mit denen Maja ihrer künftigen Schwägerin ein so liebliches Willkommen gebracht hatte, erfüllte noch den ganzen Raum, doch keines von den Geschwistern hatte Aufmerksamkeit dafür. Cäcilie stand in der Mitte des Zimmers; das Lächeln und die Liebenswürdigkeit, die sie heute den ganzen Tag zur Schau getragen, waren wie ausgelöscht in ihren Zügen. Sie sah erregt, gereizt aus, und ihre Stimme klang in unterdrückter Heftigkeit.

„Du bist also noch nicht mit mir zufrieden, Oskar? Ich dächte, ich hätte heute das Mögliche geleistet, und Du willst mir noch Vorwürfe machen!“

„Du warst zu unvorsichtig in Deinen Aeußerungen,“ tadelte Oskar, „viel zu unvorsichtig! Du gabst Dir ja kaum die Mühe, Dein Mißfallen an Odensberg zu verhehlen. Nimm Dich in acht, Erichs Vater ist in diesem Punkte sehr empfindlich, dergleichen verzeiht er nicht.“

„Soll ich etwa wochenlang hier Komödie spielen und Begeisterung heucheln für diesen entsetzlichen Ort, der noch weit unerträglicher ist, als ich glaubte? Man ist hier wie abgeschnitten und ausgestoßen von der Welt, wie begraben zwischen Bergen und Tannenwäldern. Dazu die unmittelbare Nähe dieser Werke mit ihrem Lärm und ihrer Arbeiterbevölkerung, und vor allem diese Menschen hier! Nur die kleine Maja ist erträglich, mein künftiger Schwiegervater aber scheint eine herrschsüchtige Natur zu sein, die das ganze Haus tyrannisiert. Ich habe förmlich Furcht vor seinem strengen Gesicht – er blickte mich bei der Ankunft an, als wollte er mir bis in das innerste Herz hineinsehen! Und diese langweilige Frau von Ringstedt mit ihrer steifen Würde, die ebenso langweilige blasse Erzieherin, vor allem aber dieser sogenannte Jugendfreund Erichs, der mir Dinge gesagt hat –“ sie brach plötzlich ab und warf mit einer grollenden Bewegung ihren Fächer auf den Tisch.

Wildenrod hatte den ganzen Ausbruch ruhig mit angehört, ohne einen Versuch zur Beschwichtigung zu machen. Bei den letzten Worten jedoch wurde er aufmerksam.

„Was für Dinge?“ fragte er rasch und scharf. „Was hat er Dir gesagt?“

„O, in Worten nicht allzuviel, aber ich fühlte recht gut, was sich unausgesprochen dahinter barg. Wenn wir uns nicht zum ersten Male gesehen hätten, so würde ich glauben, er hasse Dich und mich. Es lag etwas so Feindseliges in seinen kalten stahlgrauen und stahlharten Augen, als er mit mir sprach, und sie hatten genau denselben Ausdruck, als er Dir gegenüber der Begegnung in Berlin Erwähnung that.“

Wildenrod sah seine Schwester überrascht an, er hatte noch nie eine derartige scharfe Beobachtungsgabe an ihr wahrgenommen.

„Du scheinst Dich sehr eingehend mit ihm beschäftigt zu haben,“ bemerkte er. „Uebrigens hast Du ganz recht gesehen, dieser Runeck ist äußerst unbequem, vielleicht sogar gefährlich – nun, man wird mit ihm fertig werden!“

„Ein für alle Mal, ich halte es nicht aus in solcher Umgebung!“ rief Cäcilie mit erneuter Heftigkeit. „Du hast mir stets gesagt, daß Erich mit mir in der großen Welt leben wird, wir haben nie etwas anderes angenommen, aber hier scheint gar keine Rede davon zu sein. Man erachtet es als selbstverständlich, daß wir unseren Wohnsitz in Odensberg nehmen, und hat mir das bereits rückhaltlos angekündigt. Soll ich etwa bei meiner Vermählung allem entsagen, was für mich den Reiz des Lebens ausmacht, unter der allerhöchsten Aufsicht meines Schwiegervaters die Häuslichkeit und die sonstigen Familientugenden lernen, auf die er sehr viel zu geben scheint, und zur Belohnung alltäglich einen Spaziergang durch seine Werke machen dürfen? Von anderen Vergnügungen wird hier wohl nicht die Rede sein.“

„Es handelt sich hier nicht um Dein Vergnügen, sondern um eine Nothwendigkeit,“ sagte Oskar mit Schärfe. „Ich glaube, Cäcilie, ich habe Dir das hinreichend klar gemacht, als wir die [74] Einladung annahmen. Du zwangst mich schon an Deinem Verlobungstag, Dir die Wahrheit anzudeuten, die ich Dir am liebsten verschwiegen hätte, und heute weißt Du genau, wie es um uns steht. Unser Vermögen ist verloren gegangen, wann und wie, dafür hast Du doch kein Verständniß, allein mit der Thatsache mußt Du rechnen. Ich habe es bis jetzt möglich gemacht, unser Leben äußerlich auf glänzendem Fuße zu erhalten, mit welchen Opfern, das weiß ich allein; aber es kommt eine Zeit, wo auch die letzten Hilfsquellen versiegen, und soweit sind wir. Verschüttest Du Dir durch eigene Thorheit die glänzende Zukunft, die ich Dir geöffnet habe, indem ich dies Band knüpfte, so hast Du überhaupt kein Anrecht mehr auf das, was Du ‚Leben‘ nennst; dann mußt Du hinabsteigen in ein Dasein der Armuth und der Entbehrungen – muß ich Dir das nochmals ins Gedächtniß zurückrufen?“

Die herbe Mahnung that ihre Wirkung: Armuth und Entbehrung, das waren Dinge, vor denen Baroneß Wildenrod zurückschauderte, obgleich sie nur einen dunklen Begriff davon hatte. Schon die bloße Vorstellung, daß sie gezwungen werden könnte, das bisherige glänzende Leben aufzugeben, erschreckte sie und brach ihren Widerstand; sie senkte den Kopf und schwieg, während der Bruder fortfuhr:

„Ich habe Dich bisher meist gewähren lassen, wie man das mit verwöhnten Kindern thut, es war ja auch nicht nothwendig, Dir den Ernst zu zeigen; jetzt aber fordere ich – hörst Du, Cäcilie, ich fordere es – daß Du Dich unbedingt meinen Anordnungen unterwirfst und thust, was ich Dir vorschreibe. Noch bist Du nicht vermählt, und der alte Dernburg ist ganz der Mann, die Verbindung noch im letzten Augenblick zu zerreißen, wenn ihm ernstliche Bedenken dagegen aufsteigen. Du hast vor allem um seine Gunst zu werben, denn Erich ist eine völlig unselbständige Natur, die sich dem Willen des Vaters immer fügen wird. Da gilt es, vorsichtig zu sein! Ich werde meine Pläne, von deren voller Tragweite Du jetzt noch keine Ahnung hast, nicht an Deinem Eigensinn scheitern lassen – Du kennst mich!“

Es war ein Ton des Befehls, der Drohung, und Cäcilie blickte mit scheuen Augen zu dem Bruder auf. Es war nicht das erste Mal, daß er sie unter seinen Willen beugte, aber so ernst und finster hatte er noch nie zu ihr gesprochen. Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und warf sich in einen Sessel; aber sie dachte nicht an ferneren Widerstand.

Es folgte eine sekundenlange Pause, dann trat Oskar zu ihr, und seine Stimme milderte sich, als er sagte:

„Daß Du Dich doch immer von Deiner Leidenschaftlichkeit fortreißen läßt! Andere würden alles daran setzen, sich dies Los zu sichern, um das Du von Tausenden beneidet wirst, und Du möchtest es am liebsten fortwerfen wie ein Spielzeug, das Dir nicht gefällt – eine berechnende Natur bist Du nicht!“

„Aber Du bist es!“ warf Cäcilie gereizt und erbittert ein.

„Ich?“ Das Gesicht Wildenrods verdüsterte sich wieder. „Ich bin manches und habe manches sein müssen, was meinem innersten Wesen widerstrebte. Wer wie ich zwölf Jahre lang mit den Wogen des Lebens kämpft, der kennt nur noch eine Losung: oben bleiben um jeden Preis! Danke Gott, daß Dir dieser Kampf erspart bleibt, und danke es mir, daß ich Dich, noch ehe Du ihn kennenlerntest, an das Ufer rette. Du trittst in eine hochangesehene Familie, Deine Vermählung giebt Dir das Anrecht auf einen fast unübersehbaren Reichthum, und Dein künftiger Gatte kennt kein größeres Glück, als jeden Deiner Wünsche zu erfüllen – ich denke, das ist genug.“

„Und was wirst Du beginnen, wenn ich vermählt bin?“ fragte Cäcilie, betroffen von den Worten, die sie nur halb verstand.

„Das überlaß mir!“ Ein flüchtiges Lächeln flog wie ein Blitz über Oskars Züge. „Jedenfalls beabsichtige ich nicht, von der Gnade meiner reichen Schwester zu leben, für ein solches Los bin ich nicht geschaffen. – Doch nun gute Nacht, Kind! Du wirst künftig vorsichtiger sein und nie verrathen, daß Du nicht gern in Odensberg bist! Ich hoffe, es bedarf keiner zweiten Mahnung.“ Er berührte flüchtig mit den Lippen ihre Stirn und ging in sein eigenes Zimmer, das neben dem Salon lag.

[85] Es war völlig Nacht geworden, das Herrenhaus lag still und dunkel da, nur in den einzelnen Schlafzimmern schimmerte noch Licht. Der Wind hatte sich gelegt und in der nächsten Umgebung herrschte tiefe Ruhe. Aber drüben auf den Werken regte sich noch immer das mächtige rastlose Leben, das auch während der Nacht nicht völlig schlief und wenn es bei Tage nur in einzelnen fernen Lauten herüberdrang, so hörte man jetzt deutlich jeden Ton. Bisweilen leuchtete heller Feuerschein auf, hier und da sandte eine der riesigen Essen eine sprühende Funkengarbe zum sternenlosen Himmel empor, und dort, wo die Hochöfen lagen, waren die schwarzen qualmenden Rauchwolken roth angestrahlt von der Gluth der Feuer. Es war ein großes fesselndes Bild.

Das schien auch Oskar Wildenrod zu finden, der am Fenster stand und hinausblickte. Die Bewunderung, die er heute nachmittag dem Herrn von Odensberg ausgesprochen hatte, war nicht erheuchelt gewesen. Seine Brust hob sich unter einem tiefen Athemzug und leise sprach er: „Der Herr und Gebieter einer solchen Welt zu sein, mit einem einzigen Machtworte Tausende zu lenken! - Wie der Mann heute auf der Schwelle seines Hauses stand, als er uns empfing - wie ein Fürst und Herrscher! Und im Grunde ist er ja das auch. Ihn berauscht der Erfolg nicht mehr – mich wird er berauschen!“

Er richtete sich hoch und stolz auf. Doch auf einmal legte sich ein weicherer Ausdruck über seine Züge, während er fast unhörbar fortfuhr: „Welch ein holdes Kind diese Maja ist, so rein, so unberührt von jedem Schatten - und an der Hand des Kindes hängt die andere Hälfte dieser Macht und dieses Reichthums.“

Er öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus; rastlose ehrgeizige Gedanken arbeiteten in der Seele des Mannes, während er auf die Werke zu seinen Füßen niederblickte. Der verwegene Spieler hatte nicht genug an dem einen glücklichen Zuge, den zweiten, den Meisterzug, behielt er sich noch vor. Oskar von Wildenrod war in der That nicht gemacht, von der Gnade seiner Schwester zu leben. –

Auch Cäcilie war noch nicht zur Ruhe gegangen; in die Polster des Sessels geschmiegt, verharrte sie regungslos an ihrem Platze. Sie hatte die welkenden Rosen von der Brust genommen und zerpflückte sie in achtlosem Spiel. Sie waren ein Geschenk Erichs, mit dem er sie bei der Begrüßung empfangen hatte – prachtvolle mattgelbe Rosen, eine Erinnerung an ihren Verlobungstag, an dem sie die gleichen Blumen getragen hatte. Die welken Blätter rieselten nieder auf das Kleid und den Fußboden – die junge Braut beachtete es nicht; wie traumverloren blickte sie vor sich hin. Es waren offenbar keine freundlichen Gedanken, die sie umschwebten. Auf ihrer Stirn, zwischen den feinen Brauen, stand wieder die Falte, der verhängnißvolle Zug, den sie mit dem Bruder gemeinsam hatte, und jetzt waren es auch seine Augen, die aus ihrem Antlitz blickten – in dieser Minute sah man es deutlich, daß die beiden eines Blutes waren.




Die Verlobung des jungen Erben von Odensberg mit Baroneß Wildenrod war nun in der That veröffentlicht worden und hatte in den Kreisen der Nachbarschaft aufs höchste überrascht. Man hatte stets angenommen, Dernburg werde auch in dieser Beziehung seinen Sohn bevormunden und sich bei dessen Vermählung das erste Wort vorbehalten, und nun hatte Erich fern im Süden seine eigene Wahl getroffen, ohne um Rath oder Erlaubniß zu fragen. Die Schönheit der Braut, ihr altadliger [86] Name und die angeblich so glänzenden Verhältnisse ließen diese Wahl freilich als eine durchaus passende erscheinen, und da galt die Einwilligung des Vaters für selbstverständlich.

Cäcilie hatte vorläufig keinen Grund, sich über die gefürchtete „Weltabgeschiedenheit“ von Odensberg zu beklagen, ihre Verlobung brachte dem sonst so stillen Herrenhaus ein bewegtes geselliges Leben. Das Brautpaar hatte die üblichen Besuche gemacht und empfing nun die Gegenbesuche der gesamten Nachbarschaft, die vorwiegend aus den Großgrundbesitzern der Provinz bestand. Es gab zahlreiche Einladungen, größere und kleinere Festlichkeiten, deren Mittelpunkt die junge Braut war. Man huldigte ihr auch hier, wo immer sie erschien, und Erich besaß zum Glück nicht den Fehler der Eifersucht. So schwamm Cäcilie denn mit vollen Segeln auf dem Strome des Vergnügens; neue Kreise und Umgebungen, neue Triumphe, das ließ sie für den Augenblick wenigstens das gewohnte Leben kaum vermissen.

Auch das Auftreten des Freiherrn von Wildenrod machte überall den günstigsten Eindruck. Seine vornehme Erscheinung und seine glänzende Unterhaltungsgabe gewannen überhaupt jeden, den er gewinnen wollte, und hier kam man ihm als dem künftigen Verwandten des Dernburgschen Hauses mit doppelter Auszeichnung entgegen. Er hatte in den wenigen Wochen seines Hierseins bereits eine bevorzugte Stellung in diesen Kreisen errungen und wußte sie sich hinreichend zu sichern. –

Im Radefelder Grunde wurden inzwischen die Arbeiten mit allen nur verfügbaren Kräften gefördert. Man hatte die Leute größtentheils in dem nahegelegenen Dorfe untergebracht, und auch der leitende Ingenieur hatte sich dort niedergelassen, um den täglichen zeitraubenden Weg nach Odensberg zu vermeiden. Er kam gewöhnlich nur ein- oder zweimal in der Woche dorthin, um dem Chef Bericht zu erstatten.

Radefeld war nur ein kleines Walddorf und der Aufenthalt dort bot nicht die mindeste Bequemlichkeit. Die beiden engen Zimmer, die Egbert in einem Bauernhause bewohnte, hatten eine recht dürftige Ausstattung, aber der junge Ingenieur war nicht verwöhnt. Er hatte aus seiner Wohnung nichts mitgenommen als seine Bücher, seine Pläne und Zeichnungen und richtete sich im übrigen ein, so gut es eben ging.

Runeck pflegte sonst früh auf der Arbeitsstätte zu sein. Heute jedoch hatte er Besuch erhalten, der aus der Stadt gekommen war. Sein Gast, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit scharf ausgeprägten Zügen und dunklen Augen, saß in dem alten Lehnstuhl, der hier die Stelle des Sofas vertreten mußte. Die beiden schienen eine ernste und inhaltsreiche Unterredung gehabt zu haben.

„Uebrigens möchte ich noch fragen,“ sagte eben der Fremde, „weshalb Du jetzt so selten zur Stadt kommst. Seit Wochen bist Du nicht dagewesen, man muß Dich förmlich suchen, wenn man mit Dir zu sprechen hat.“

„Ich habe sehr viel zu thun,“ versetzte Egbert, der mit finsterer Stirn am Fenster stand. „Du siehst es ja, wie tief ich hier in der Arbeit stecke.“

„Arbeit?“ spottete der andere. „Ich dächte, unsere Arbeit wäre nothwendiger als dieses Graben und Wühlen in den Wäldern. Du hast den Plan dazu ausgeheckt, wie ich höre. Willst Du Deinem Herrn Chef vielleicht noch eine Million verdienen zu den anderen, die er schon hat?“

„Es handelt sich nicht darum, sondern um eine Pflicht, die ich übernommen habe,“ war die kurze Antwort. „Die Anlage wäre eigentlich Sache des Oberingenieurs gewesen, und ich habe das Vertrauen zu rechtfertigen, das mich an seine Stelle rief.“

„Um Dich hier in Radefeld festzuketten, damit Du in Odensberg nicht gefährlich wirst! Dumm ist der Alte nicht, das kann ihm keiner nachsagen, er weiß immer sehr genau, was er thut, wird überhaupt schon einigermaßen Bescheid wissen.“

„Laß die Spöttereien, Landsfeld,“ unterbrach ihn Egbert ungeduldig. „Dernburg weiß allerdings Bescheid – durch meinen eigenen Mund. Er hat mich zur Rede gestellt, und ich habe mich rückhaltlos zu meinen Ansichten bekannt. Natürlich erwartete ich daraufhin meine Entlassung – statt dessen wurde mir die Radefelder Anlage übergeben.“

Landsfeld stutzte und richtete einen scharfen Blick auf den jungen Ingenieur. „Das ist ja merkwürdig, das sieht dem Alten gar nicht ähnlich! Er muß einen förmlichen Narren an Dir gefressen haben, oder er hat etwas im Hinterhalt. Dem ist alles zuzutrauen. Uebrigens war Deine Aufrichtigkeit in diesem Falle sehr übel angebracht, denn nun läßt man Dir natürlich keine freie Bewegung mehr in Odensberg. Hast Dich recht ungeschickt benommen, mein Junge!“

„Sollte ich etwa die Wahrheit ableugnen?“ fragte Egbert mit gerunzelter Stirn.

„Warum nicht, wenn es nützen kann?“

„Dann sucht Euch einen anderen, der im Lügen geübter ist! Ich halte es für Feigheit, seine Ueberzeugung und seine Partei zu verleugnen und danach habe ich gehandelt.“

„Das heißt, Du hast wieder einmal gethan, was Dir gerade durch den Kopf ging, und Dich den Kuckuck um die Vorschriften gekümmert. Odensberg ist Dein Arbeitsfeld, mit den dortigen Genossen sollst Du Fühlung gewinnen, statt dessen baust Du ruhig eine Wasserleitung in Radefeld und läßt Dich nebenbei in dem sogenannten Herrenhause verhätscheln! Du weißt doch, weshalb wir Dich hergeschickt haben!“

„Und Du weißt, daß ich von jeher widerstrebt habe, daß mich schließlich nur ein ausdrücklicher Befehl der Parteileitung zwang.“

„Leider! Hast Du das Deinem Herrn Chef vielleicht auch angedeutet?“ Die Frage klang in vollster Schärfe.

„Nein,“ erwiderte Runeck kalt. „Er legte meiner Rückkehr einen ganz falschen Grund unter, und ich ließ ihn in seinem Irrthum. Ich wäre freiwillig nie wieder nach Odensberg gegangen und kann auch nicht hier bleiben, meine Stellung ist eine unhaltbare, unmögliche, ich habe es vorausgesehen.“

„Und trotzdem wirst Du bleiben müssen,“ sagte Landsfeld trocken. „Dies Odensberg ist wie eine uneinnehmbare Festung, die allen Angriffen trotzt. Der Alte hat die Leute kirre gemacht mit seinen Schulen und Krankenhäusern und Pensionskassen; sie fürchten die gute Versorgung zu verlieren, und vor allen Dingen haben sie eine heillose Angst vor ihrem Tyrannen – die Feiglinge! So oft wir auch den Hebel ansetzten, es war nichts zu machen, er hat sie gründlich mißtrauisch gemacht gegen unsere Agitatoren. Du bist ein Arbeiterkind, bist in ihrer Mitte aufgewachsen und hast noch jetzt vertraute Beziehungen zu ihrem Chef. Auf Dich werden sie hören und Dir werden sie auch folgen wenn es drauf ankommt.“

„Und zu welchem Zwecke?“ fragte Runeck finster. „Ich habe es Euch oft genug auseinandergesetzt, daß ein Aufstand in Odensberg völlig aussichtslos ist. Dernburg läßt sich nichts abzwingen, ich kenne ihn; eher schließt er seine Werke. Er ist der Mann danach, lieber jeden Verlust auf sich zu nehmen als nachzugeben, und er ist reich genug, das durchzuführen bis zum äußersten.“

„Eben darum muß ihm der Unfehlbarkeitsdünkel ausgetrieben werden! Er soll es wenigstens sehen, daß man sich an ihn wagt, der Geldprotz, der auf seinen Millionen sitzt und praßt, während –“

„Das ist nicht wahr!“ brauste Egbert leidenschaftlich auf, „und Du weißt, daß es eine Lüge ist, was Du da aussprichst! Dernburg arbeitet mehr als ich und Du. Ich habe oft genug seine Riesenkraft und Riesenausdauer bewundert, mit der er den Jüngsten beschämt. Und die Erholung sucht er nur im Kreise seiner Familie. Ein für allemal, ich dulde es nicht, daß der Mann in meiner Gegenwart verleumdet wird.“

„Oho, sprichst Du aus dem Tone?“ rief Landsfeld, nun auch gereizt. „Du nimmst Partei für ihn, gegen uns? Da sieht man doch, wie zahm das Herrenleben macht, wenn man es einmal gekostet hat!“

„Nimm Dich in acht, Du könntest sonst erfahren, daß ich nichts weniger als zahm bin,“ sagte Egbert ruhiger, aber in drohendem Tone. „Ich wiederhole es Dir, ich dulde dergleichen nicht, denn das hat nichts zu thun mit unserer Sache. Entweder Du unterläßt diese persönlichen Ausfälle gegen Dernburg oder –“

„Oder?“

„Ich betrete Deine Schwelle nicht mehr, und die meine werde ich zu schützen wissen vor Dingen, die ich nicht hören will.“

Landsfeld zuckte gleichgültig die Achseln.

„Das heißt mit anderen Worten, Du willst mich zur Thüre hinauswerfen? Recht freundlich und kameradschaftlich, aber darum wollen wir uns nicht streiten. Bei uns ist es ja überhaupt nicht Sitte, viel Komplimente zu machen. Du kommst also zu der nächsten Versammlung?“

„Ja.“ Das Wort klang herb und grollend.

[87] „Gut, ich verlasse mich darauf. Es soll Wichtiges berathen werden. Wir erwarten ein paar Genossen aus Berlin, und da wird man Dich wohl etwas schärfer ins Gebet nehmen wegen Deiner bisherigen Unthätigkeit. Auf nächste Woche denn!“

Er nickte kurz und ging. Draußen vor dem Hause jedoch blieb er stehen und sandte einen bösen Blick zurück, während er halblaut murmelte: „Wenn wir Dich nicht brauchten, nothwendig brauchten! Aber es geht einmal nicht ohne Dich hier in Odensberg. Doch warte nur, mein Junge, wir werden Dich auch noch zahm kriegen mit Deinem Hochmuth!“

Egbert war allein zurückgeblieben, er stand in der Mitte des Zimmers, die Hand geballt und die Stirn tief gefurcht. Man sah es deutlich, daß irgend etwas in seinem Inneren wühlte und kämpfte; plötzlich aber richtete er sich auf und stampfte mit dem Fuße, als wollte er den Kampf da drinnen gewaltsam zum Schweigen bringen. „Nein und abermals nein! Ich habe es nun einmal gewählt, jetzt will ich es auch tragen!“ –

Der Radefelder Grund, sonst ein stilles einsames Waldthal, hallte jetzt wieder von dem Lärm der Arbeiten, die im vollen Gange waren. Ueberall wurde geschaufelt, gegraben und gesprengt, Bäume und Strauchwerk fielen unter der Axt; die rastlose Schar war bereits bis an den Fuß des Buchberges vorgerückt, dessen Durchbruch man eben in Angriff nahm.

Runeck, der heute etwas später als sonst gekommen war, stand auf einer Anhöhe und leitete von dort aus eine größere Sprengarbeit. Auf seinen Befehl hatten sich sämtliche Arbeiter aus dem Bereich der Mine zurückgezogen, die sich jetzt mit dumpfen Schlägen entlud. Die Felswand, der das Zerstörungswerk galt, spaltete sich, ein Theil derselben blieb aufrecht stehen, während der andere zusammenstürzte; die Erde erzitterte ringsum, als die mächtigen Blöcke mit schwerem Falle niederrollten.

Die Gruppe der Arbeiter am Fuße der Anhöhe löste sich auf; auch Runeck verließ seinen Platz, um die Wirkung in der Nähe zu besichtigen, als ein alter Aufseher herantrat und meldete:

„Herr Ingenieur – die Herrschaften von Odensberg.“

Egbert blickte auf, in der Erwartung, den Wagen Dernburgs zu sehen, der öfter herauskam, um den Stand der Arbeiten zu besichtigen, aber plötzlich zuckte er so jäh und heftig zusammen, daß der Alte ihn verwundert ansah.

Drüben am Eingang der Schlucht hielten Erich Dernburg und Cäcilie Wildenrod zu Pferde, während der Reitknecht abgestiegen war und die Thiere, die bei dem Lärme der Sprengarbeiten unruhig geworden zu sein schienen, fest am Zügel hatte. Der junge Ingenieur wurde indessen schnell Herr seiner Ueberraschung und ging hinüber zu den Wartenden, Erich streckte ihm herzlich die Hand entgegen. „Wir halten Wort, Egbert, und überfallen Dich ohne jede Anmeldung. Willst Du uns einen Einblick in Dein Reich gestatten?“

„Ich stehe gern zu Diensten,“ entgegnete Runeck, indem er sich vor der jungen Dame verneigte, die sich jetzt leicht und anmuthig vom Pferde schwang und dabei kaum die dargebotene Hand ihres Verlobten berührte.

„Wir haben in Radefeld angehalten und durch die offenen Fenster einen Blick in Ihre Wohnung geworfen, Herr Runeck,“ sagte sie. „Mein Himmel, welche Umgebung! Haben Sie denn wirklich die Absicht, den ganzen Sommer dort auszuhalten?“

„Weshalb nicht?“ fragte Egbert gelassen. „Wir Ingenieure sind bald hier bald dort und müssen ein Unterkommen nehmen, wo es sich bietet.“

„Aber Du hast ja Deine behagliche Wohnung in Odensberg, und ein Wagen steht Dir jederzeit zur Verfügung,“ warf Erich ein. „Weshalb bleibst Du nicht dort?“

„Weil ich dann täglich drei Stunden mit Hin- und Herfahren verlieren würde. Ich habe in Radefeld meine Bücher und meine Arbeiten, im übrigen bin ich unabhängig von der Umgebung.“

„Ja, Du bist eine spartanisch angelegte Natur, körperlich wie geistig,“ sagte Erich mit einem Seufzer, „Ich wollte, ich könnte es Dir gleichthun, aber bei mir ist leider keine Rede davon. Ich habe mich doch allzusehr verwöhnt im Süden und muß das jetzt büßen.“ Er schauerte fröstelnd zusammen; offenbar litt er mehr unter dem Klima der Heimath, als er sich selbst eingestehen wollte. Er sah blaß und angegriffen aus, und der Ritt durch den Wald schien für ihn eher eine Anstrengung als ein Vergnügen gewesen zu sein.

Um so blühender erschien die junge Braut, die an seiner Seite stand. Ihr war der scharfe und ziemlich weite Ritt nur ein Spiel gewesen, und sie hatte ungeduldig genug sich der Rücksicht auf Erich gefügt. Sie war es gewohnt, wild und tollkühn dahinzujagen, der Bruder war darin ihr Lehrmeister gewesen, und sie begriff es nicht, daß man sich beim Reiten ängstlich und vorsichtig zeigen konnte wie Erich. Uebrigens strahlte sie heute von Heiterkeit und Uebermuth, selbst Egbert wurde mit großer Liebenswürdigkeit behandelt; kein Blick, kein Wort erinnerte an jene Gereiztheit bei der ersten Begegnung.

Die Arbeiter grüßten ehrerbietig den jungen Herrn und dessen Braut, der alle Blicke bewundernd folgten. Cäciliens Schönheit feierte selbst hier einen Triumph, nur Egbert Runeck schien völlig unempfindlich dagegen zu sein.

Er machte den Führer durch die im Entstehen begriffenen Anlagen, deren Einzelheiten er seinen Gästen ausführlich zeigte und erklärte, aber er beobachtete der Baroneß Wildenrod gegenüber dieselbe kühle Zurückhaltung wie früher und wandte sich meist an Erich, an dem er freilich keinen besonders aufmerksamen Zuhörer hatte. Der junge Erbe zeigte nur eine matte, halb erzwungene Theilnahme bei all diesen Dingen, die doch ihn in erster Linie angingen.

„Es ist unglaublich, was Du alles in den wenigen Wochen geschaffen hast,“ sagte er endlich mit aufrichtiger Bewunderung. „Das wäre etwas für meinen Schwager, der jetzt den ganzen Tag in den Odensberger Werken steckt und sich förmlich zum Assistenten von Papa gemacht hat, Ich hätte nie geglaubt, daß Oskar ein so leidenschaftliches Interesse für solche Dinge hat.“

Runeck antwortete nicht, aber es zuckte bei den letzten Worten verächtlich um seine Lippen, Erich, der das nicht bemerkte, fuhr unbefangen fort: „Noch eins, Egbert, wir machten kürzlich einen Ausflug in die Berge, und da wollen einige von unserer Gesellschaft bemerkt haben, daß das große Kreuz auf dem Albenstein sich gesenkt habe. Papa wünscht, daß die Sache eingehend untersucht wird, damit kein Unglück geschieht. Hast Du unter Deinen Leuten hier jemand, der das Wagniß unternimmt?“

„Gewiß“, stimmte Runeck bei. „Das könnte allerdings gefährlich werden, wenn das schwere Kreuz eines Tages von der hohen Klippe herabstürzte, die Fahrstraße führt gerade unten vorbei. Ich gehe in den nächsten Tagen selbst hinauf, um nachzusehen.“

„Auf den Albenstein?“ fragte Cäcilie, die aufmerksam geworden war. „Er ist ja unzugänglich, wie es heißt.“

„Für gewöhnliche Menschenkinder allerdings,“ scherzte Erich. „Man muß schon Egbert Runeck heißen, um einen solchen Spaziergang auf unsere gefährlichste Klippe zu unternehmen. Ich glaube, er ist schon drei- oder viermal oben gewesen.“

„Ich bin geübt im Bergsteigen,“ sagte Egbert gelassen. „Als Knabe habe ich mich auf allen Felsen und Klippen meiner Heimath umhergetrieben und das verlernt sich nicht. Unzugänglich ist der Albenstein übrigens nicht, er fordert nur einen schwindelfreien Blick und die nöthige Kaltblütigkeit, dann ist der Weg zu zwingen.“

„Um Gotteswillen, sprich das nicht aus!“ rief Erich lachend, aber doch mit einer gewissen Unruhe. „Cäcilie könnte sonst auf den tollkühnen Gedanken zurückkommen, mit dem sie mich neulich so erschreckte. Sie wollte durchaus auf den Albenstein.“

Runeck schien diesen Einfall auch unerhört zu finden, er blickte fragend und befremdet auf die junge Dame, die in übermüthigem Tone erwiderte: „Nun ja! Ich möchte einmal da droben am Kreuz stehen, in der schwindelnden Höhe, unmittelbar über dem jähen Absturz. Das muß ein schaurig süßes Gefühl sein! Erich entsetzt sich freilich schon bei dem bloßen Gedanken daran.“

„Cilly, Du quälst mich mit solchen Scherzen!“

„Du hältst das für Scherz? Und wenn ich nun Ernst daraus machen wollte – würdest Du mit mir gehen?“

„Ich?“ Der junge Mann sah aus, als muthete man ihm zu, von der in Rede stehenden Klippe herabzuspringen. Um die Lippen seiner Braut spielte ein mitleidiges, fast verächtliches Lächeln; sie zuckte kaum merklich die Achseln.

„Nun, beruhige Dich nur! Solch eine Liebesprobe fordere ich nicht – ich würde allein gehen.“

„Cilly, ich bitte Dich um Gotteswillen!“ rief Erich jetzt im vollen Ernste erschreckt, aber Egbert unterbrach ihn mit ruhiger Bestimmtheit:

„Du brauchst in dieser Beziehung keine Sorge zu haben. Das ist kein Weg für verwöhnte Damenfüße. Baroneß Wildenrod [88] wird ihn schwerlich versuchen, und wenn sie es thäte, so kehrte sie nach fünf Minuten wieder um!“

Cäcilie warf den Kopf zurück, und in ihren Augen blitzte es auf, als sie mit eigenthümlichem Tone fragte:

„Wissen Sie das so genau, Herr Runeck?“

„Ja, gnädiges Fräulein, denn ich kenne den Albenstein.“

„Aber mich kennen Sie nicht!“

„Vielleicht doch!“

Cäcilie stutzte, die Antwort schien sie zu befremden; aber da streifte ihr Blick ihren Bräutigam, und sie lachte spöttisch auf.

„Sieh doch nicht so unglücklich drein, Erich! Es ist ja alles nur Neckerei! Ich denke nicht an den Albenstein und seine halsbrechenden Klippen. – Wie machen Sie es eigentlich, Herr Runeck, wenn Sie diese Felskolosse sprengen?“

Erich athmete bei dieser Wendung auf. Er war es bereits gewohnt, daß seine vergötterte Braut ihn mit allerlei Launen und Einfällen quälte, die nie Bestand hatten und auch niemals ernst zu nehmen waren. So wandte er sich denn beruhigt an den alten Aufseher, der in der Nähe stand und augenscheinlich darauf wartete, angeredet zu werden.

Der alte Mertens hatte schon bei dem Vater des gegenwärtigen Herrn in Lohn und Brot gestanden, und jetzt hatte man ihm den leichten und einträglichen Posten eines Oberaufsehers bei den Radefelder Arbeiten gegeben. Erich, der ihn seit seinen Kinderjahren kannte, sprach freundlich und eingehend mit ihm, erkundigte sich nach seiner Familie und wandte sich dabei auch an die andern in der Nähe befindlichen Arbeiter. Wer ihn so unter den Leuten stehen sah, mit der gebeugten Haltung, den weichen müden Zügen und dem beinahe schüchternen Wesen, hätte nun und nimmermehr den künftigen Gebieter von Odensberg in ihm vermuthet. Es fehlte ihm nicht mehr als alles dazu.

Vielleicht hatte auch Baroneß Wildenrod diesen Eindruck, denn sie zog wie unwillig die feinen Brauen zusammen, und dann wandte sich ihr Blick langsam auf den jungen Ingenieur, der vor ihr stand. Sie hatte ihn bisher nur im Gesellschaftsanzug gesehen, heute trug er eine graue Lodenjoppe und hohe Stulpenstiefel, wie es Wind und Wetter forderten, aber er gewann merkwürdig in dieser einfachen Tracht. Sie paßte zu der herben trotzigen Kraft seiner Erscheinung; hier, wo er auf seinem eigentlichen Grund und Boden stand, kam seine Persönlichkeit zur vollsten Geltung. Ihm sah man es auf den ersten Blick an, daß er hier zu befehlen hatte und daß er das Befehlen aus dem Grunde verstand; die schmächtige Gestalt des Jugendfreundes verschwand vollständig neben ihm.

[101] Mit einer kurzen Verbeugung lud Egbert die Baroneß ein, ihm zu der Sprengstätte zu folgen, und gab dann die von ihr gewünschte Erläuterung der Arbeiten sehr ausführlich; während er jedoch die schon vorbereitete Mine in dem noch aufrecht stehenden Theile der Felswand zeigte und erklärte, wendete er seine ganze Aufmerksamkeit dem Gestein zu und hatte kaum einen Blick für seine schöne Zuhörerin, die jetzt lächelnd sagte:

„Wir haben die Sprengung von dort drüben aus mit angesehen, es machte sich äußerst wirkungsvoll. Sie thronten droben auf der Anhöhe wie der Berggeist in höchst eigener Person – die anderen alle wie dienende Erdgeister zu Ihren Füßen – ein Wink Ihrer Hand, und mit dumpfem Donner spalteten sich die Felsen und sanken in Trümmer – ein echtes Märchenbild!“

„Kennen Sie denn die Sagen und Märchen unserer Berge?“ fragte Egbert kühl. „Ich habe das wirklich nicht vorausgesetzt.“

[102] „Das ist auch nur Majas Verdienst. Sie hat mich eingeführt in die Sagenwelt ihrer Heimath, und ich habe die Kleine im Verdacht, daß sie noch in vollem Ernst daran glaubt. Maja ist bisweilen noch ein rechtes Kind.“

Die letzten Worte klangen sehr überlegen. Der schlanken jungen Dame, die da im knappen silbergrauen Reitkleide, ein graues Federhütchen auf dem dunklen Haar, an der Felswand lehnte, konnte man allerdings nicht den Vorwurf machen, noch ein Kind zu sein. Sie blieb selbst hier die vornehme Weltdame, der es Spaß machte, sich auch einmal die arbeitenden Menschenkinder anzusehen. Und doch war sie berückend schön in dieser übermüthigen selbstbewußten Haltung; strahlend, siegesgewiß stand sie vor dem Manne, der allein kein Auge und Ohr zu haben schien für einen Zauber, welcher doch sonst nie versagte. Vielleicht reizte gerade diese Unempfindlichkeit das verwöhnte Mädchen, das jetzt in neckischem Tone fortfuhr:

„Ich habe bei jenem Märchenbilde, dessen Mittelpunkt Sie bildeten, an die alte Sage von der Springwurzel denken müssen. Das ist ja der geheimnisvolle Zauberstab der Berge, dem jeder Riegel weicht und jeder Fels sich öffnet. Und dann leuchten die versunkenen Schätze in der Tiefe und winken dem Erwählten, der sie erlösen soll:

‚Er hebt aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist sein!‘

Was meinen Sie – bin ich nicht Majas gelehrige Schülerin gewesen?“

Sie blickte ihn lächelnd an, als sie den Vers des alten Liedes wiederholte, das von der allmächtigen Springwurzel berichtet; aber die starre Haltung des jungen Ingenieurs veränderte sich nicht trotz all ihrer Liebenswürdigkeit. Sein von Sonne und Wind gebräuntes Gesicht war um einen Schein bleicher als sonst, allein seine Stimme klang kühl und beherrscht, als er antwortete:

„Unsere Zeit bedarf keiner Zaubermittel mehr. Sie hat eine andere Springwurzel gefunden, die auch Felsen spaltet und die Erde öffnet – Sie sehen es ja!“

„Ja wohl, ich sehe öde Felstrümmer, Schutt und zersplittertes Gestein, aber die Schätze bleiben versunken in der Tiefe.“

„Die Tiefe ist leer und tot – es giebt keine versunkenen Schätze mehr.“

Die Antwort klang herb und freudlos, und der Ton, in welchem sie gesprochen wurde, milderte nicht ihre Schroffheit.

„Vielleicht ist nur das Zauberwort verloren gegangen, ohne welches die Wurzel machtlos bleibt,“ erwiderte Cäcilie leichthin, ohne scheinbar seine abweisende Haltung zu bemerken. „Meinen Sie nicht, Herr Runeck?“

„Ich meine, gnädiges Fräulein, daß die Zauber- und Märchenwelt längst hinter uns liegt. Wir verstehen sie nicht mehr, wollen sie nicht mehr verstehen.“

Es lag etwas beinahe Drohendes in den anscheinend so bedeutungslosen Worten. Cäcilie biß sich auf die Lippen, und mitten durch die sonnige Liebenswürdigkeit brach ein feindseliger Strahl ihrer Augen, dann aber lachte sie hell auf.

„Wie grimmig das klingt! Die armen Gnomen und Zwerge haben einen schlimmen Feind an Ihnen. Höre nur, Erich, wie Dein Freund die ganze Sagenwelt in Acht und Bann thut!“

„Ja, mit solchen Dingen darf man dem Egbert nicht kommen,“ sagte Erich, der eben herzutrat. „Mit der Poesie giebt er sich nicht ab, die kann man nicht messen und berechnen, also ist sie in seinen Augen ein höchst überflüssiges Ding. Ich habe es ihm noch heute nicht vergeben, wie er die Nachricht meiner Verlobung aufnahm, mit einem förmlichen Mitleid! Und als ich ihm entrüstet vorwarf, er kenne die Liebe überhaupt nicht, wolle sie gar nicht kennenlernen – was glaubst Du wohl, Cäcilie, was ich zur Antwort erhielt? Ein eisiges ‚Nein‘!“

Cäcilie richtete die großen dunklen Augen auf den jungen Ingenieur, und wieder blitzte der dämonische Funke darin auf, als sie lächelnd sagte:

„Und das war wirklich Ihr Ernst, Herr Runeck?“

Es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete. Er schien noch bleicher als vorhin, aber sein Auge begegnete voll und finster jenem Blick, während er kalt entgegnete: „Ja, mein gnädiges Fräulein.“

„Du hörst Du es selbst,“ rief Erich, ärgerlich lachend. „Er ist so hart wie diese Felsen.“

Die junge Dame schlug mit der Reitpeitsche leicht gegen die Felstrümmer, die vor ihr lagen.

„Mag sein. Aber auch Felsen können zum Weichen gebracht werden, wie diese hier. Hüten Sie sich, Herr Runeck, Sie haben die geheimnißvollen Mächte gehöhnt und geleugnet – sie rächen sich!“

Die Worte sollten wohl scherzhaft klingen, und doch wehte es wie Hohn daraus hervor, Egbert erwiderte keine Silbe, während Erich verwundert vom einen zum anderen blickte.

„Wovon ist denn die Rede?“ fragte er.

„Von der Springwurzel, welche Felsen spaltet und die Schätze der Erde öffnet, wir sprachen soeben davon. – Aber ich denke, wir brechen jetzt auf, wenn es Dir recht ist.“

Erich stimmte bei und wandte sich dann zu Runeck.

„Es soll weiter gesprengt werden, wie ich sehe, Du wartest wohl damit, bis wir außer dem Bereich der Schlucht sind. Unsere Pferde wurden vorhin schon sehr unruhig dabei, der Reitknecht konnte sie kaum halten.“

Um Cäciliens Lippen spielte wieder das böse verächtliche Lächeln, sie hatte es sehr gut bemerkt, daß ihr Bräutigam vorhin bei den dumpfen Schlägen der Explosion zusammengezuckt war und den Reitknecht an seine Seite gerufen hatte. Auch ihr Pferd war sehr unruhig dabei geworden, aber sie hatte es fest im Zügel gehalten, Indessen unterdrückte sie jede Bemerkung und sagte nur, während Egbert sie und Erich nach dem Platz geleitete, wo die Pferde standen:

„Unseren Dank für die freundliche Führung und Erklärung! Sie werden froh sein, die störenden Gäste wieder los zu werden.“

Runeck verneigte sich tief und förmlich, „O, ich bitte! Erich steht ja hier als Herr auf seinem eigenen Boden, da kann von einer Störung wohl nicht die Rede sein.“

„Und doch schien es so, Sie waren ja förmlich bestürzt, als Sie uns am Eingange der Schlucht gewahrten.“

„Ich? Haben Sie so scharfe Augen, gnädiges Fräulein?“

„O ja, Erich neckt mich oft wegen meines ‚Falkenblicks‘.“

„In diesem Falle hat der Blick Sie aber doch getäuscht. Ich war nur besorgt, als ich Sie in solcher Nähe erblickte – man kann nie wissen, was geschieht.“

Die Reitpeitsche schlug ungeduldig gegen die Falten des silbergrauen Reitkleides. Glitt denn alles ab an diesem „Fels“?

Sie hatten inzwischen die harrenden Pferde erreicht, Cäcilie und Erich stiegen auf, Cäcilie neigte noch mit leichtem Gruße das Haupt, dann traf ein heftiger Schlag mit der Gerte ihren schönen Goldfuchs – das feurige Thier bäumte sich auf und setzte sich sofort in Galopp, so daß das andere ihm kaum zu folgen vermochte. Sie waren noch etwa fünf Minuten lang auf dem Waldweg sichtbar, der nach Radefeld führte. Wie ein luftiger Spuk flog die schlanke Mädchengestalt auf dem flüchtigen Rosse dahin, mit dem wallenden Reitkleid und den wehenden Federn des Hutes. Noch einmal tauchte sie an der Biegung dort auf, dann schloß sich hinter ihr der Wald.

Egbert stand noch unbeweglich an seinem Platze und blickte mit heißen starren Augen auf den Waldweg. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt, und in seinen Zügen stand ein seltsamer Ausdruck, wie von verbissenem Schmerz oder Zorn; endlich richtete er sich empor und wandte sich zum Gehen.

Da gewahrte er etwas zu seinen Füßen, weiß und duftig wie hingewehter Blüthenschnee. Der junge Mann stockte plötzlich, dann beugte er sich langsam nieder und hob es auf. –

Es war ein feines spitzenbesetztes Taschentuch, aus dem ein leiser süßer Duft hervordrang; schmeichelnd und berückend umfing er Egbert und unwillkürlich schlossen sich seine Finger fest und fester um das zarte Gewebe.

„Herr Ingenieur!“ sagte eine Stimme hinter ihm.

Runeck fuhr auf und wandte sich um. Es war der alte Mertens.

„Die Leute möchten wissen, ob sie nun weiter sprengen dürfen, es ist alles fertig.“

[103] „Gewiß, ich komme sogleich. – Mertens, Sie gehen ja wohl heute abend nach Odensberg?“

„Ja, Herr Ingenieur, ich will den Sonntag bei meinen Kindern verleben.“

„Gut, so nehmen Sie –“ Runeck hielt inne, und der Alte sah ihn verwundert an. Es war ja gerade, als ob der Herr Ingenieur mühsam nach Athem ringen müsse. Doch das dauerte nur eine Sekunde, dann fuhr dieser mit eigenthümlich rauher Stimme fort: „Nehmen Sie das Tuch hier mit und geben Sie es im Herrenhause ab. Baroneß Wildenrod hat es verloren.“

Mertens nahm das dargereichte Tuch und steckte es in seine Tasche, während Egbert zu den Arbeitern zurückkehrte, die auf sein Erscheinen warteten. Er gab das Zeichen, und die „Springwurzel“ der neuen Zeit that ihre Schuldigkeit. Unter dumpfen Schlägen spaltete sich der noch unversehrte Fels, der so hoch und trutzig dagestanden. Er erzitterte, wankte und stürzte dann, Bäume und Gesträuch mit sich reißend, in Trümmern zu Runecks Füßen.




„Wie ich Ihnen sage, mein Fräulein, die Nerven sind eine bloße Angewohnheit und zwar eine der allerschlimmsten. Seit die Damen die Nerven erfunden haben, sind wir Aerzte die geplagtesten Menschen auf der ganzen Welt. Es mag ja Ehemännern gegenüber eine recht nützliche Erfindung sein, aber ein hartgesottener Junggeselle wie ich hat nicht den mindesten Respekt davor.“ Mit diesen Worten schloß Doktor Hagenbach eine längere Auseinandersetzung, die im Zimmer des Fräulein Friedberg stattfand. Leonie, die blaß und angegriffen aussah, hatte um seinen ärztlichen Besuch bitten lassen und sich auf seine Fragen für „durch und durch nervös“ erklärt. Dergleichen pflegte den Doktor aber stets in Harnisch zu bringen und auch heute rief es sofort jenen Ausfall hervor, den das Fräulein mit einem Achselzucken beantwortete.

„Ich glaube, Herr Doktor, Sie sind der einzige Arzt, der das Dasein der Nerven ableugnet,“ versetzte sie. „Ich dächte, die Wissenschaft –“

„Was die Wissenschaft ‚Nerven‘ nennt, hat meine vollkommene Hochachtung,“ wurde sie von Hagenbach unterbrochen. „Was die Damen dafür ausgeben, existiert gar nicht. Warum lassen Sie sich nicht von dem Sanitätsrath in der Stadt behandeln, der vor jedem einzelnen Nerv seiner Kranken eine tiefe Verbeugung macht, oder von einem meiner jungen Kollegen hier in Odensberg, die auch noch mit einer gewissen Schüchternheit an die Geschichte herangehen. Wenn Sie sich in meine Hände geben, geschieht es auf Gnade und Ungnade, das wissen Sie doch.“

„Ja, das weiß ich!“ Die Antwort klang ziemlich gereizt. „Und nun bitte ich um Ihre Verordnungen.“

„Die Sie sich natürlich vornehmen, nicht zu befolgen. Aber das hilft Ihnen nichts, ich übe strenge Aufsicht. Zunächst also, die Luft in Ihrem Zimmer taugt nichts, sie ist viel zu dumpf und schwer, öffnen wir vor allen Dingen die Fenster.“

„Ich bitte,“ widersprach Leonie mit Heftigkeit. „Wir haben scharfen Nordwind, den ich durchaus nicht vertrage.“

„Wundervolle Luft!“ sagte Hagenbach, indem er ohne weiteres an das Fenster ging und beide Flügel aufsperrte. „Sind Sie gestern im Freien gewesen?“

„Nein, wir hatten ja Sturm und Regen.“

„Dafür giebt es Regenschirme und Regenmäntel, die ich unbedenklich gestatte. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Zögling – da unten im Park segelt Fräulein Maja ganz lustig gegen den Sturm, und das winzige Ding, der Puck, segelt ebenso vergnügt mit, obgleich er beinahe fortgeweht wird.“

„Maja ist jung, ein glückliches Kind, das noch nichts kennt als Lachen und Sonnenschein,“ sagte Leonie mit einem Seufzer. „Sie weiß noch nichts von Trauer und Thränen, von all dem Schweren und Bitteren, das vom Schicksal uns auferlegt wird und unsere Kraft zerstört.“ Ihr Auge suchte dabei unwillkürlich den Schreibtisch, über dem eine größere Photographie in dunklem Rahmen den Hauptplatz an der Wand einnahm. Es mußte sich wohl irgend eine theure und schmerzliche Erinnerung an das Bild knüpfen, denn es war mit einer Trauerschleife von schwarzem Flore geschmückt, und eine Schale voll duftender Veilchen stand wie eine Opfergabe zu seinen Füßen.

Den scharfen Augen des Doktors war jener Blick nicht entgangen, er trat wie zufällig an den Schreibtisch und begann die dort befindlichen Bilder zu mustern, während er trocken bemerkte: „Schicksale hat jeder Mensch, aber sie tragen sich weit besser mit einem gesunden Humor als mit Trauer und Thränen. – Ah, da ist ja das Bild von Fräulein Maja – sehr ähnlich! Und daneben ihr Bruder – merkwürdig, daß er dem Vater so gar nicht gleicht. – Wen stellt denn diese Photographie vor?“

Er wies auf das Bild mit der Trauerschleife. Die unerwartete Frage schien Leonie in Verlegenheit zu setzen, sie erröthete und antwortete mit etwas unsicherer Stimme: „Einen – einen Verwandten!“

„Ihren Herrn Bruder vielleicht?“

„Nein, einen Vetter – ganz entfernte Verwandtschaft.“

„So?“ fragte Hagenbach gedehnt. Die entfernte Verwandtschaft schien ihn zu interessieren, er besah sich die Züge des blassen und schmächtigen jungen Mannes mit den glattgescheitelten Haaren und den schwärmerisch aufgeschlagenen Augen sehr genau und fuhr dann in gleichgültigem Tone fort: „Das Gesicht hat etwas Bekanntes für mich, ich muß es schon irgendwo gesehen haben.“

„Da sind Sie im Irrthum.“ Die Stimme Leonies bebte hörbar. „Er weilt längst nicht mehr unter den Lebenden. Schon seit Jahren deckt ihn das Grab: der heiße Wüstensand Afrikas.“

„Gott hab’ ihn selig!“ sagte der Doktor mit empörender Gleichgültigkeit. „Aber wie ist er denn nach Afrika und in den Wüstensand gerathen? Als Forscher vielleicht?“

„Nein, er starb als Märtyrer einer heiligen Sache. Er hatte sich einer Heidenmission angeschlossen und erlag dem Klima.“

„Da hätte er auch was Gescheiteres thun können!“

Leonie, die eben in tiefster Rührung ihr Taschentuch an die Augen führte, hielt entrüstet inne. „Herr Doktor!“

„Ja, ich kann mir nicht helfen, mein Fräulein. Ich halte es zunächst für sehr überflüssig, die schwarzen Heiden da hinten in Afrika zu bekehren, während so viele weiße Heiden hier in Deutschland herumlaufen, die nichts vom Christenthum wissen wollen, obgleich sie getauft sind. Wenn Ihr Herr Vetter als wohlbestallter Pfarrer seiner Gemeinde das Wort Gottes gepredigt hätte –“

„Er war nicht Theologe, sondern Lehrer,“ warf das Fräulein gereizt ein.

„Gleichviel, dann hätte er der lieben Schuljugend die Gottesfurcht beibringen sollen. Die Rangen haben heutzutage wenig genug davon.“

Leonies Gesicht verrieth, wie empört sie über diese Ausdrucksweise war, die Antwort jedoch blieb ihr erspart, denn in diesem Augenblick ließ sich ein schüchternes Klopfen an der Thür hören, und gleich darauf trat Dagobert ein, war aber kaum imstande, seinen Gruß anzubringen, denn der Onkel rief ihm mit seiner dröhnenden Stimme entgegen: „Heute wird kein Englisch getrieben! Fräulein Friedberg hat sich eben für ‚durch und durch nervös‘ erklärt, und die Nerven und die Grammatik vertragen sich nicht.“

Dem jungen Manne mußte wohl sehr an dem Unterricht gelegen sein, denn er wurde bei dieser Ankündigung ganz bestürzt. Leonie aber sagte mit aller Bestimmtheit: „Bitte, bleiben Sie, lieber Dagobert! Unsere englischen Studien sollen nicht darunter leiden, wir halten die gewohnte Stunde. Ich hole nur unsere Bücher.“ Damit stand sie auf und ging ins Nebenzimmer.

Der Doktor sah ihr ärgerlich nach. „Ich habe noch nie eine so widerspenstige Patientin gehabt! Immer der verkörperte Widerspruch! Höre, Dagobert, Du weißt ja hier ziemlich genau Bescheid – was ist das für ein Mensch, der dort drüben hängt?“

„Hängt? Wo?“ fragte Dagobert entsetzt, indem er schaudernd nach den Bäumen des Parkes hinüberblickte.

„Nun, an einen Strick brauchst Du nicht gleich zu denken,“ fuhr ihn der Onkel an. „Ich meine das Bild da über dem Schreibtisch, mit der verrückten Trauer- und Veilchenumrahmung.“

„Das ist ein Verwandter des Fräuleins, ein Vetter –“

„Ja wohl, ein ganz entfernter! Das hat sie mir auch gesagt, ich glaube es aber nicht – es wird wohl der selig verstorbene Bräutigam sein. Langweilig genug sieht er dazu aus. Weißt Du vielleicht seinen Namen?“

„Das Fräulein hat ihn mir einmal genannt – Engelbert.“

[104] „Nun heißt der Mensch auch noch Engelbert!“ rief der Doktor ärgerlich. „Der Name ist gerade so sentimental wie das ganze unausstehliche Gesicht. Engelbert und Leonie – das paßt ja ausgezeichnet zusammen! Die beiden werden wohl in schwermuthsvoller Sehnsucht miteinander gesäuselt haben wie ein paar Trauerweiden.“

„Er ist ja tot, der Arme,“ warf Dagobert ein.

„Wird wohl im Leben auch nicht viel Gescheites angefangen haben,“ grollte Hagenbach, „Und besonders gute Nahrung scheint er auch nicht gehabt zu haben, ehe er in den Wüstensand gerieth. Es ist eine wahre Jammergestalt! Uebrigens muß ich jetzt fort, ich lasse mich dem Fräulein empfehlen. Viel Vergnügen zu der ‚nervösen‘ englischen Stunde!“

Damit nahm der Doktor Hut und Stock und ging. Mißmuthig stieg er die Treppe hinunter, der „sentimentale Wüstenmensch“ schien ihm die Laune gründlich verdorben zu haben. Plötzlich blieb er stehen.

„Ich habe dies Gesicht schon irgendwo gesehen, dabei bleibe ich. Aber merkwürdig – es sah ganz anders aus!“ Mit diesem geheimnißvollen Ausspruch schüttelte er unmuthig den Kopf und verließ das Haus.

Das Wetter draußen nahm sich in der That nicht sehr einladend aus, es war einer jener kalten stürmischen Frühlingstage, wie sie in den Bergen so häufig sind. Zwar sah es nicht mehr winterlich öde aus wie vor einigen Wochen, die Bäume hatten sich schon mit frischem Grün umkleidet und auf Feldern und Wiesen erblühten die ersten Blumen, aber es ging recht langsam vorwärts mit diesem Blühen und Wachsen, denn der Sonnenschein fehlte.

Dunkle Wolkenzüge jagten am Himmel dahin, die Baumwipfel beugten sich sausend im Winde, aber das kümmerte das junge Mädchen nicht, welches mit leichten Schritten auf einem schmalen Waldpfad vorwärts eilte. Maja wußte zwar, daß der Vater es nicht liebte, wenn sie allein so weite Spaziergänge unternahm, sie war auch anfangs nur an der Grenze des Parks umhergestreift, allein dann jagte Puck über die Wiesen und sie jagte ihm nach, und dann ging es in den Wald hinein, nur eine kleine Strecke, aber es war so schön dort unter den brausenden Tannen, es lockte sie weiter und weiter in die grüne Einsamkeit. Welche Lust, einmal so ganz allein umherzulaufen, mit dem bellenden Puck um die Wette! Maja vergaß über diesem Vergnügen vollständig die Rückkehr, bis sie etwas unsanft daran gemahnt wurde.

Die dunklen Wolken, die schon den ganzen Tag gedroht hatten, schienen endlich Ernst machen zu wollen, es fing zu regnen an, erst leise, dann immer stärker, und bald stürzte ein Guß vom Himmel herab, der an Heftigkeit einem echten Gewitterregen nicht das Mindeste nachgab.

Maja hatte sich unter eine große Tanne geflüchtet, aber sie fand doch nur für den Augenblick Schutz. Es dauerte nicht lange, so tropfte und rieselte es von allen Zweigen, sie stand wie unter einer Dachtraufe. Und dabei wurde der Himmel immer dunkler. Das war kein schnell vorübergehender Regenschauer, da blieb nichts übrig, als in möglichster Eile nach dem Waldhäuschen zu laufen, das nur zehn Minuten entfernt war und ein sicheres Obdach bot. Gedacht, gethan! Das junge Mädchen stürmte dahin über Stock und Stein, auf dem nassen Moosboden, zwischen triefenden Bäumen, endlich über eine Waldlichtung, wo Wind und Regen sie mit voller Gewalt überfielen, bis sie endlich athemlos und durchnäßt mit ihrem kleinen vierfüßigen Begleiter in dem Waldhäuschen ankam.

Das Häuschen gehörte zu der Odensberger Försterei, lag aber fast eine halbe Stunde von dieser entfernt, mitten im Walde. Zur Winterszeit, wenn tiefer Schnee gefallen war, fütterte man hier das hungernde Wild und barg ebenda die Vorräthe für die Thiere. Es war eine kleine, nur aus Brettern und Baumstämmen zusammengefügte Hütte, mit einem wetterfesten Dach und zwei niedrigen Fenstern, jetzt im Frühjahr gänzlich leer und unbenutzt, aber ein willkommener Zufluchtsort für die beiden Flüchtlinge.

Maja schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen sprühten. Ihrem Regenmantel hatte der Guß nichts geschadet, obgleich das Wasser aus den Falten floß, aber ihr Hütchen, das sie jetzt vom Kopfe nahm, war um so übler zugerichtet. Das zierliche Ding mit seinen Spitzen und Federn war nur noch eine formlose Masse, und nicht viel besser nahm sich Puck aus. Sein weißes Fellchen triefte, die langen, sonst seidig glänzenden Haare hingen in nassen Strähnen herab, und er bot in seinem völlig durchweichten Zustand einen so trübseligen Anblick, daß seine Herrin laut auflachte.

„Siehst du Puck, das haben wir nun davon!“ sagte sie mit komischer Verzweiflung. „Warum sind wir nicht gescheit gewesen und im Parke geblieben. Wie sehen wir aus und wie wird der Papa schelten! Aber du bist schuld, du bist zuerst in den Wald gelaufen. Gott sei Dank, daß wir wenigstens im Trockenen sitzen, sonst wären wir alle beide nach Radefeld hinuntergeschwemmt worden, und der Egbert hätte uns auffischen müssen.“

Sie warf das gänzlich verdorbene Hütchen auf die niedrige Bank, die sich an der Seitenwand hinzog, ließ sich nieder und sah durch das kleine Fenster in das Unwetter hinaus. Der Regen stürzte noch immer mit unverminderter Gewalt vom Himmel und der Wind sauste um das Häuschen, als wollte er es fortwehen. An die Heimkehr war vorläufig nicht zu denken. Maja ergab sich in das Unvermeidliche, zog die Kapuze ihres Regenmantels über den Kopf und beobachtete Puck, der seine Nase durch den Spalt der offen gebliebenen Thür steckte und mißmuthig die fallenden Tropfen verfolgte.

Da erschien drüben am Waldesrand eine Gestalt, die einen Augenblick stehen blieb und sich suchend umschaute, dann aber im Laufschritt über die Lichtung eilte, geradeswegs auf das Waldhäuschen zu. Jetzt erreichte es der Fremde, der offenbar auch auf der Flucht vor dem Wetter war; er setzte mit einem kühnen Sprung über den kleinen See, der sich bereits vor der Thür gebildet hatte, und stieß diese so heftig auf, daß der neugierige Puck entsetzt zurückfuhr, dann aber mit lautem Gebell auf den Eindringling losstürzte, der sich unterfing, ihm und seiner Herrin den Alleinbesitz der Hütte streitig zu machen.

„Nicht so zornig, du kleiner Kläffer!“ rief der Fremde lachend. „Bist du etwa Herr und Meister hier in dem verwunschenen Häuschen oder ist’s das graue Wichtelmännlein, das auf der Bank dort kauert?“

Er hatte sich niedergebeugt, um das Thierchen zu greifen, das ihm schleunigst entwischte und in die Ecke flüchtete, aus der sich jetzt ein halbunterdrücktes Lachen und ein feines Stimmchen vernehmen ließ.

„Das Wichtel bedankt sich für die gute Meinung.“

Der Fremde wurde aufmerksam, die Antwort verrieth ihm, daß es nicht, wie er im ersten Augenblick geglaubt hatte, ein Köhler- oder Bauernkind war, das dort im Halbdunkel des dämmerigen Raumes kauerte. Er blickte schärfer hin, aber die tief herabgezogene Kapuze ließ nichts weiter sehen als einen kleinen rosigen Mund, ein zierliches Näschen und ein Paar großer brauner Augen, die nun auch neugierig und erstaunt den Eindringling musterten.

[117] Der Ankömmling in der Waldhütte war ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren mit einem hübschen offenen Gesicht, mit braunem leichtgekrausten Haar und hellen lustigen Augen. Das Wetter hatte ihn übel zugerichtet, denn er war ohne Regenmantel; der graue Reiseanzug, den er trug, triefte von Nässe, und als er jetzt grüßend den Hut zog, ergossen sich von der Krempe desselben verschiedene kleine Bäche auf den Boden.

„Ich bitte, einem verirrten und verregneten Wandersmann gütigst eine kurze Rast zu gewähren,“ sagte er, zu Maja gewandt. „Ich bin wirklich ein ganz gewöhnliches Menschenkind und kein Wassergeschöpf, wie meine äußere Verfassung vermuthen lassen könnte. Darf ich näher treten?“

„Bleiben Sie nur an der Thüre stehen,“ klang es aus der Ecke. „Wassergeister und Erdmännlein vertragen sich nicht, das wissen Sie vermuthlich aus den Märchen.“

„So? Nun, dann bleibt mir nichts übrig, als mich mit meinen sämtlichen menschlichen Eigenschaften auszuweisen mit Namen, Stand, Familie und sonstigem irdischen Beiwerk. Also: Graf Eckardstein, Lieutenant der Infanterie, Bruder des Majoratsherrn von Eckardstein und eben auf dem Wege dahin. Ich habe in Radefeld den Wagen vorausgeschickt, um den schönen Fußweg über die Odensberger Försterei zu machen als es diesen rücksichtslosen Wolken einfiel, sich in wahren Sturzbädern zu ergießen. Daher stammt meine Wassertoilette, die mich in einen so schnöden Verdacht bringt, aber auch das einzige Märchenhafte an mir ist – darf ich mich nun für genügend legitimiert erachten?“

„Ich glaube wohl. Also läßt sich Graf Viktor nach sechs Jahren doch einmal wieder in der Heimath sehen?“

Der junge Graf stutzte und trat trotz des Verbotes rasch einige Schritte näher. „Sie kennen mich?“

„Wichtelmännlein sind allwissend.“

„Aber sie bleiben nicht unsichtbar, wenn sie sich einmal zu dem Verkehr mit Sterblichen herablassen. Soll ich denn wirklich nicht schauen, was sich unter dieser grauen Hülle birgt?“ Er machte bei den letzten Worten einen neuen Versuch, dem geheimnißvollen Wesen näher ins Gesicht zu blicken aber vergebens, denn eine kleine rosige Hand, die urplötzlich zum Vorschein kam, zog die Kapuze so tief herab, daß nur noch das Näschen hervorguckte, und wieder ertönte das leise neckische Lachen, das wie Vogelgezwitscher klang.

„Rathen Sie, Herr Graf!“

„Unmöglich, wie kann ich das! Ich weiß niemand in Eckardstein oder vielleicht in Odensberg, denn wir stehen ja doch auf Odensberger Grund und Boden –“

Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, aber er vernahm nur das erneute: „Rathen Sie!“

[118] Graf Viktor sah ein, daß er auf diesem Wege nicht zum Ziele kam, das helle Lachen und die Stimme verriethen ihm aber, daß es ein noch sehr junges Mädchen sein mußte, das auf solche Weise mit ihm Verstecken spielte. Es blitzte übermüthig auf in seinen Augen, während er mit einer tiefen Verbeugung und scheinbarem Ernste sagte: „In der That, ich glaube jetzt die Stimme zu erkennen und auch die Gestalt – ich habe wohl die Ehre, dem Freifräulein Corona von Schmettwitz gegenüberstehen?“

Das Mittel half; wie von einer Feder geschnellt fuhr das Wichtel plötzlich aus der dunklen Ecke empor, die Kapuze flog zurück, und aus der hellen Fluth des offenen Blondhaars, die sich über den grauen Mantel ergoß, hob sich Majas reizendes Köpfchen mit dem süßen Kindergesicht, das in diesem Augenblick purpurroth war vor Entrüstung.

Corona von Schmettwitz! Das vierzigjährige Stiftsfräulein mit der hohen Schulter und der schnarrenden Stimme! So sollte sie aussehen? So sollte sie sprechen? Sie sah den Grafen vernichtend an.

Dieser mochte wohl nicht geglaubt haben, daß die graue Hülle etwas so Holdseliges berge, denn er blickte in starrer regungsloser Verwunderung auf das junge Mädchen, dessen lichte Erscheinung wie ein Sonnenstrahl in der düsteren Umgebung auftauchte. In der ersten Minute erkannte er sie offenbar noch nicht, dann aber dämmerte ihm eine Erinnerung auf, und beinahe jubelnd rief er: „Klein Maja! – Ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, das war noch eine Erinnerung aus der Kinderzeit!“

Maja lachte fröhlich auf. „Ja, damals trug ich noch kurze Kleidchen und lange, lange Zöpfe, an denen Sie mich immer festhielten. Aber jetzt bin ich böse, Herr Graf, sehr böse – für Corona Schmettwitz haben Sie mich gehalten!“

„Eine Kriegslist, die Sie dem Soldaten schon verzeihen müssen! Auf andere Weise hätte ich die Wahrheit nicht so rasch erfahren. Oder glauben Sie im Ernst, daß ich Sie mit jener Dame verwechseln könnte, vor der ich schon als Knabe eine solche Hochachtung hegte, daß ich regelmäßig davonlief wenn sie im Anzug gegen Eckardstein war? – Wie, noch immer böse gegen den einstigen Spielkameraden Ihres Bruders? Er ist doch oft genug auch der Ihrige gewesen.“

„Jawohl, Sie ließen sich öfter herab, mit ‚Klein Maja‘ zu spielen,“ schmollte diese, indem sie das Haar zurückwarf. „Der Name ist das Einzige, was Sie behalten haben.“

„Ich habe doch wohl noch etwas anderes behalten,“ sagte der junge Graf langsam, während sein Auge unverwandt auf dem lieblichen Gesichtchen haftete. „Ich hätte Sie sonst nicht sofort erkannt, als die graue Wichtelhülle fiel. Jedenfalls wäre ich in den nächsten Tagen nach Odensberg gekommen. Erich ist ja daheim, wie ich höre.“

„Ja, und er ist Bräutigam! Das wissen Sie vermuthlich noch gar nicht?“

„Doch, ich habe die Anzeige seiner Verlobung erhalten und bin ihm noch meinen Glückwunsch schuldig. Ich habe überhaupt so viel zu fragen und zu hören, bin ich doch ganz fremd geworden in der Heimath, und da wir gerade Zeit haben –“

„Wir haben durchaus keine Zeit,“ rief Maja, mit einem Blicke nach der offen gebliebenen Thür. „Sehen Sie nur, es hellt sich auf, der Regen hat nachgelassen. Ich glaube, das Wetter ist vorüber.“

Graf Viktor trat in die Thür und sah nach den Wolken, aber mit einer Miene, die große Enttäuschung verrieth. Er hatte vorhin die Sturzbäder des Himmels rücksichtslos gefunden, jetzt schien er die Aufklärung des Wetters noch weit rücksichtsloser zu finden. „Ja, das Regnen hört auf – aber es wird bald wieder anfangen,“ sagte er hoffnungsvoll. „Jedenfalls müssen wir noch den nächsten Guß abwarten.“

„Damit wir vollständig hier eingeregnet werden?“ fiel Maja ein. „Nein, ich benutze die Pause und laufe schleunigst nach Odensberg. Komm, Puck, wir laufen!“

„Dann laufe ich mit,“ lachte der Graf. „Also ‚Puck‘ heißt das kleine weiße Geschöpf, das mir die Gastfreundschaft im Waldhäuschen versagen wollte. Komm her, du Kläffer, wir wollen Bekanntschaft machen!“

Puck hatte anfangs den Fremden mit sehr mißtrauischer Miene betrachtet und war offenbar noch nicht mit sich einig geworden, ob er ihn als Feind oder Freund behandeln solle, entschied sich aber jetzt doch für das letztere. Als der junge Mann ihn lockte, kam er zutraulich näher und ließ sich streicheln.

So traten denn die Drei gemeinschaftlich den Rückweg an. Der Regen hatte allerdings aufgehört, doch auf der freien Lichtung stürmte es noch gewaltig, und als man in den Schutz der Bäume gelangte, führten die brausenden Wipfel ein kleines Nachspiel des Wolkenbruchs auf – es troff und rieselte von allen Zweigen. Und der etwas tief liegende Fußpfad hatte sich in ein rinnendes Bächlein verwandelt, so daß Maja und ihr Begleiter den Weg seitwärts über Moos und Baumwurzeln suchen mußten. Der Waldbach war hoch angeschwollen und hatte die Ufer zu beiden Seiten des erhöhten Stegs überschwemmt. Man mußte, von Stein zu Stein springend, den Uebergang versuchen. Dabei verlor Puck das Gleichgewicht, glitt ins Wasser und erhob ein klägliches Jammergeschrei, weil er sich in dem Strudel nicht zu halten vermochte. Maja, die bereits am andern Ufer stand, stieß vor Angst um ihren Liebling einen Schmerzensruf aus, und Graf Eckardstein sprang mit beiden Füßen in das Wasser, packte das zappelnde Geschöpf und brachte es seiner Herrin, die den muthigen Retter mit einem dankbaren Blick empfing. Endlich wurde noch mitten im Walde ein blühender wilder Apfelbaum entdeckt, der dem jungen Mädchen einen Ausruf des Entzückens entlockte und dem Grafen Gelegenheit gab, seine Turnkunst zu zeigen. Er blieb aber leider an einem Aste hängen, als er einen der Zweige brach, und kam mit einem klaffenden Riß im Aermel wieder auf den Boden.

Es war ein Weg voll Abenteuer. Die beiden jungen Wanderer kämpften sich lustig durch den Sturm, lachten hell auf, wenn ein Windstoß durch die Bäume fuhr und sie mit einem tüchtigen Sprühregen überschüttete, sprangen und kletterten unverdrossen über Steine und Wurzeln und wurden immer vergnügter, je unwegsamer sich der Wald zeigte. Das war ein Lachen und Plaudern, ein Fragen und Erzählen ohne Ende. Alle alten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurden wieder lebendig. Ringsum zwischen den Tannen schwebten graue Nebel und am Himmel jagten dunkle Wolken dahin, aber über den beiden Menschenkindern lag der helle Sonnenschein der Jugend und des Glücks. Was kümmerte sie Wind und Wetter!

Endlich war der Odensberger Park erreicht, der sich fast unmittelbar an den Bergwald anschloß. Maja näherte sich eben der kleinen Gitterthür, durch die sie vor einigen Stunden in das Freie gelangt war, als diese sich plötzlich öffnete und Oskar von Wildenrod ihr hastig entgegentrat.

„Aber Maja, wie konnten Sie in solchem Wetter allein –“ er brach plötzlich ab und musterte mit sichtbarem Befremden ihren Begleiter, den er jetzt erst bemerkte.

Maja, welche die Kapuze wieder über den Kopf gezogen hatte und das verregnete Hütchen am Arme trug, lachte übermüthig auf. „Sie glaubten wohl, ich und der Puck seien in dem Wolkenbruch zu Grunde gegangen? Nein, wir sind beide noch vorhanden und haben sogar unterwegs Gesellschaft gefunden. Doch die Herren kennen sich ja noch gar nicht! Graf Viktor von Eckardstein – Freiherr von Wildenrod, der künftige Schwager meines Bruders.“

Wildenrod erwiderte mit einer gewissen Zurückhaltung den freundlichen Gruß des Fremden, der lachend sagte: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron, obgleich dies meinerseits in einem völlig aufgeweichten Zustande geschieht. Sonst pflege ich trockener zu sein, ich versichere es Sie, aber heute war ich wirklich nicht auf eine Vorstellung gefaßt. Ich wollte nur Fräulein Dernburg bis zum Eingang des Parkes geleiten und mich dann empfehlen.“

„Sie wollen Papa und Erich nicht begrüßen?“ fiel Maja ein.

„Nein, mein gnädiges Fräulein, in solchem Aufzug möchte ich denn doch nicht im Odensberger Herrenhause erscheinen. Aber ich komme in den nächsten Tagen – wenn ich darf.“

Seine Augen suchten bei den letzten Worten die des jungen Mädchens, das neckisch sagte. „Fürchten Sie, daß ich es Ihnen verbiete?“

„Wer weiß! Wassergeist und Wichtel vertragen sich nicht, das habe ich vorhin aus Ihrem eigenen Munde hören müssen. Trotzdem will ich es wagen. Einstweilen bitte ich Sie, dieses Friedenszeichen von mir anzunehmen. Sie wissen ja, wie schwer es errungen wurde.“ Er überreichte ihr mit einer leichten Verbeugung den Blüthenzweig, den er noch in der Hand trug.

[119] Wildenrod hörte schweigend zu, aber sein Blick ruhte unverwandt auf den beiden. Der vertrauliche Ton schien ihn im höchsten Grade zu befremden, und als der Graf sich jetzt verabschiedete, neigte er nur mit kühler Artigkeit den Kopf, sprach einige ebenso kühle Worte und trat dann rasch mit Maja in den Park, während er die Gitterthür hinter sich ins Schloß fallen ließ.

„Sie scheinen mit diesem Herrn sehr genau bekannt zu sein,“ warf er hin, während sie den Weg nach dem Hause einschlugen.

„O gewiß,“ versetzte seine Begleiterin unbefangen. „Graf Viktor war Erichs Jugendgespiele und hat auch mit mir oft genug getollt. Ich freute mich sehr, als ich ihn jetzt nach sechs Jahren wiedersah.“

„So?“ sagte der Freiherr langsam. Er wandte sich um und streifte mit einem eigenthümlichen Blicke die Gestalt des Grafen, der eben zwischen den Bäumen verschwand, während Maja harmlos weiter plauderte.

„Wenn ich mich nur unbemerkt in mein Zimmer schleichen kann – Papa wird böse, wenn er mich sieht!“

„Jawohl, er wird schelten,“ sagte Wildenrod mit Nachdruck, „und ich möchte es auch thun. Ich war in den Park gegangen, um Sie zu suchen, als das Wetter ausbrach, und hörte von dem Gärtner, daß Sie schon seit einer Stunde fort seien, irgendwo im Walde. Wie unvorsichtig! Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, daß man sich daheim um Sie sorgt und ängstigt – daß ich mich ängstige?“

Die vorwurfsvolle Frage rief eine helle Röthe in das Gesicht des jungen Mädchens. „O, das war ganz unnöthig. Hier in Odensberg kennt mich jeder Arbeiter und jedes Kind.“

„Gleichviel, Sie dürfen sich nicht wieder ohne Begleitung so weit hinauswagen, Sie versprechen mir das, Maja, nicht wahr? Und zum Pfande, daß Sie Wort halten, erbitte ich mir dies da.“

Er griff plötzlich wie im Scherze nach dem Blüthenzweig, aber Maja sah ihn halb erschrocken, halb unwillig an.

„Meinen Zweig? Nein! Weshalb soll ich ihn fortgeben?“

„Weil ich darum bitte!“

Die Bitte klang wie eine Forderung, und das mochte Majas Trotz wecken. Sie trat mit entschiedener Abwehr einen Schritt zurück.

„Nein, Herr von Wildenrod – ich gebe die Blüthen nicht her.“

Ein Blitz zorniger Ueberraschung schoß aus den Augen des Freiherrn, er hatte nicht geglaubt, daß das „Kind“ eines so entschiedenen Widerstandes fähig sei, wo es seinen Willen galt, und gerade das reizte ihn, diesen Willen durchzusetzen um jeden Preis.

„Legen Sie so großen Werth darauf?“ fragte er mit herbem Spott. „Der Graf schien es auch zu thun. Das Friedenszeichen hat doch nicht irgend eine geheime Bedeutung für Sie beide?“

„Eine Neckerei, nichts weiter! Viktor ist ja doch ein alter Spielkamerad –“

„Und ich bin ein Fremder für Sie! Das wollen Sie doch wohl sagen, Maja? Ich verstehe!“

Die braunen Augen hoben sich bei diesen mit Bitterkeit gesprochenen Worten erschrocken und bittend empor. „O nein, Herr von Wildenrod, das habe ich nicht gemeint – gewiß nicht.“

„Nicht? Und doch sprechen Sie von ‚Viktor‘ und gestatten ihm sofort wieder die einstige Vertraulichkeit, Ich bin und bleibe ihnen ‚Herr von Wildenrod‘. Wie oft hab’ ich Sie schon gebeten, meinen Vornamen auszusprechen nur ein einziges Mal. Ich habe ihn noch nie von Ihren Lippen gehört!“

Maja gab keine Antwort, sie stand regungslos da, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen; aber sie fühlte den heißen Blick, der auf ihr ruhte.

„Wird es Ihnen denn so schwer, mir einen Namen zu geben, den der künftige Verwandte doch beanspruchen darf? Ist das wirklich so schwer? Nun, ich will darauf verzichten, wenn andere zugegen sind, aber jetzt sind wir allein, jetzt will und muß ich ihn hören … Maja!“

Noch ein sekundenlanges Zögern, dann kam es leise und bebend von ihren Lippen: „Oskar!“

Da leuchtete es in den düsteren Zügen des Mannes auf wie leidenschaftliches Glück, er machte eine stürmische Bewegung, als wollte er das junge Mädchen, das scheu und zitternd vor ihm stand, an seine Brust ziehen; allein er bezwang sich, nur die kleine bebende Hand schloß er fest in die seinige.

„Endlich! Und nun die andere, die zweite Bitte.“

„Herr von Wildenrod –“

„Den Zweig, Maja, den Ihnen ein anderer gab und den ich deshalb nicht in Ihren Händen lassen will. Ich bitte!“

Maja widerstrebte nicht mehr. Willenlos im Banne dieser Augen und dieser Stimme, reichte sie ihm den Blüthenzweig hin.

„Dank!“ sagte Oskar leise. Es war nur ein einziges Wort, aber es hatte den Klang mühsam verhaltener Zärtlichkeit.

Da erschien Fräulein Friedberg an einem offenen Fenster des Hauses, dem sich die beiden jetzt näherten, und schlug entsetzt die Hände zusammen, als sie ihren Zögling in diesem Aufzug gewahrte.

„Maja, ums Himmels willen, sind Sie wirklich bei diesem Wetter im Freien gewesen? Sie können sich ja auf den Tod erkälten! Wie sehen Sie aus! Rasch, legen Sie den nassen Mantel ab!“

„Ja, dazu möchte ich auch rathen,“ sagte Oskar lächelnd. „Schnell, schnell ins Haus!“

Das junge Mädchen entschlüpfte mit einem flüchtigen Gruße. Wildenrod folgte ihr langsam, im Gartensaal aber blieb er stehen und seine Stirn furchte sich von neuem, als er auf den blüthenschweren Zweig in seiner Hand blickte. Er ahnte zum ersten Male, daß bei seiner Werbung Gefahr im Verzug sein könnte, und doch wußte er, daß er jetzt noch nicht sprechen durfte. Noch stand er nicht fest genug in der Gunst Dernburgs, der seinen Liebling schwerlich ohne weiteres dem so viel älteren Manne hingeben würde, noch war er Majas nicht sicher. Ein zu früh gesprochenes unbesonnenes Wort konnte hier alles verderben. Und gerade jetzt mußte dieser Graf Eckardstein auftauchen, der ohne alles Zaudern die Vertraulichkeit des Jugendgespielen wieder in Anspruch nahm!

Einige Minuten lang stand Wildenrod in finsteres Grübeln versunken, dann aber richtete er sich mit einem Ruck empor, und in seinen Augen flammte wieder das stolze triumphierende Selbstbewußtsein. Gut … galt es den Kamps um Majas Besitz – er scheute ihn nicht! Wie kleinmüthig, an dem Siege zu zweifeln gegen diesen jungen Fant mit seinem glatten Gesicht! Der mochte sich hüten, ihm den Weg zu kreuzen!

Am Fenster ihres Zimmers stand Maja; sie hatte den nassen Mantel noch nicht abgelegt, wußte wohl gar nicht, daß sie ihn noch trug. Sie blickte träumerisch empor zu dem wolkenumlagerten Himmel, und ein leises glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Vergessen war die Begegnung im Waldhaus, versunken die Gestalt des Jugendgespielen – sie sah nur eins – die tiefen dunklen Augen, den Blick, der sie wie mit einem Zauberbann umspann, sie hörte nur jene verschleierte Stimme, in der die verhaltene Leidenschaft bebte. Es war ein süßer beängstigender Traum, eine Empfindung, von der sie selbst nicht wußte, ob sie Weh oder Glück bedeute.




Es war voller Frühling geworden! Durch Sturm und Kälte, durch Reif und Nebel hatte er sich siegreich durchgekämpft und die Erde überall zu einem neuen sonnigen Leben erweckt.

Durch den grünenden Bergwald stieg ein einsamer Wanderer rüstig bergauf. Es war noch früh am Tage; noch ruhte der Wald in tiefen bläulich dämmernden Schatten, und schwer und feucht lag der Thau auf dem moosigen Boden. Nur vereinzelte Vogelstimmen klangen durch die Morgenstille, und in den hohen Wipfeln rauschte und brauste es, wenn sie sich im Winde neigten.

Egbert Runeck war auf dem Weg nach dem Albenstein, er wollte Wort halten und das Kreuz da oben selbst untersuchen. Jetzt trat er aus dem Walde auf eine kleine hochgelegene Bergwiese hinaus und gerade vor ihm ragte die mächtige Felswand auf. Nackt und steil stieg sie empor aus den dunklen Tannen, die ihren Fuß umsäumten. Der ganze obere Theil war wild zerklüftet und zerrissen, dort wurzelten nur noch einzelne Zwergtannen und verkümmertes Gestrüpp in den Spalten. Vom Gipfel her grüßte weithin sichtbar ein riesiges Kreuz, das Wahrzeichen des Berges.

Die hohe, einsam aufragende Felsklippe spielte eine Hauptrolle in den Sagen der Umgegend. Schon ihr Name klang an die Alben- und Elfenwelt an, die einst in den Bergwäldern ihr geheimnißvolles Wesen getrieben haben sollte und noch immer in dem Aberglauben des Volkes spukte. Der Albenstein barg versunkene Schätze, die, tief in seinem Felsengrund schlummernd, auf Erlösung harrten, und schon mancher hatte den Versuch, sie zu heben, mit dem Tode gebüßt. Nur die allmächtige Springwurzel [122] öffnet die verschlossene Tiefe. Wer sie gefunden hat und damit dreimal gegen den Fels schlägt:

„Der hebt aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist sein!“

Seltsam, diese Worte klangen immer wieder in den Ohren des Mannes, der da am Rande der Bergwiese stand. Es war die letzte Strophe des alten Volksliedes, das auch er in seinen Kinderjahren gekannt, aber längst vergessen gehabt. Für ihn gab es keine versunkenen Schätze mehr, ihm war die Tiefe leer und tot, und doch klang das Lied unaufhörlich in seinem Innern oder vielmehr die Stimme, von der er es zuletzt gehört hatte. Er haßte es in tiefster Seele – das schöne verführerische Bild, dies Mädchen, das den Jugendfreund umgarnt hatte und nun Herrin in Odensberg werden sollte, aber er kam nicht los von dem berückenden Klange dieser Stimme, dem dämonischen Zauber dieser Augen, und keine Arbeit, keine Willenskraft wollte dagegen helfen.

Er schritt über die Bergwiese und blickte prüfend zu dem Albenstein hinauf. Die Schneelasten des Winters und die letzten Frühlingsstürme mochten dem Kreuz da oben wohl tüchtig zugesetzt haben, dennoch schien es fest und sicher zu stehen. Plötzlich aber stutzte Egbert, sein Fuß schien am Boden zu wurzeln, während sein Blick wie gebannt an dem Felsgipfel hing. Dort oben regte sich etwas, er sah die Umrisse einer hellen Gestalt, die sich deutlich abzeichneten – sein scharfes Auge erkannte sie, trotz der Entfernung.

Also war es doch keine bloße Prahlerei, keine flüchtige Laune gewesen: das tollkühne Mädchen hatte wirklich das Wagniß unternommen und allein unternommen, wie es schien! Egberts Stirn zog sich finster zusammen, doch an Umkehr war nicht zu denken, auch er war jedenfalls schon gesehen worden. So setzte er denn den Bergstock ein und begann langsam emporzusteigen.

Der Weg, der von hier aus auf die Klippe führte, forderte allerdings einen schwindelfreien Blick und ein furchtloses Herz. Es war eine Art Jägersteig, der sich dicht an dem jähen Abhang entlang zog und immer den Blick in die Tiefe offen ließ. Bisweilen verschwand er ganz, und dann galt es, über Steine und Geröll emporzuklimmen und sich selbst den Pfad zu suchen, bis der gebahnte Steig nach einer Weile wieder sichtbar wurde.

Der junge Ingenieur hatte die kühle Ruhe, mit der er sonst den Aufstieg machte, verloren, oft stockte sein Fuß und er brauchte beträchtlich mehr Zeit als sonst, bis er endlich den Gipfel erreichte. Da stand sie vor ihm, Cäcilie Wildenrod, vom hellen Morgenlicht umflossen, strahlend von Schönheit und Uebermuth.

„Sieh’ da, Herr Runeck; treffen wir uns hier auf dem Albenstein! Sie haben sich Zeit genommen zu Ihrem Klettern – ich war schneller oben!“

„Ich kenne die Gefahr des Weges,“ versetzte Egbert gelassen, „und eben deshalb fordere ich sie nicht heraus.“

„Gefahr? Daran habe ich gar nicht gedacht! Sie meinten, ich würde nicht wagen, den Weg zu gehen, oder nach höchstens fünf Minuten wieder umkehren. Was sagen Sie nun?“

Sie blickte ihn herausfordernd an, jetzt mußte doch endlich von diesen starren Lippen ein Wort der Bewunderung kommen! Allein es kam nur die kühle Gegenfrage:

„Weiß man in Odensberg von Ihrem Ausflug, gnädiges Fräulein?“

„Warum nicht gar!“ rief die junge Dame lachend. „Dann hätte man mir Hausarrest gegeben oder mich wenigstens auf Schritt und Tritt bewacht. Ich habe mich heute in der Frühe, als alles noch schlief, heimlich davongeschlichen, habe anspannen lassen und bin nach dem Kronswald gefahren. Von dort ist der Weg kaum zu verfehlen, und Sie sehen, ich habe ihn gefunden.“

„Allein? Das war mehr als unvorsichtig! Wenn Sie einen Fehltritt thaten, wenn Sie stürzten, war keine Hilfe in der Nähe und dann –“

„Mein Gott, fangen Sie nicht an, zu predigen,“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Ich werde schon Strafpredigten genug hören, wenn ich nach Odensberg zurückkehre.“

„Ich habe weder die Absicht noch das Recht, Ihnen zu predigen, gnädiges Fräulein, das steht höchstens Erich zu.“

„Und gerade ihm werde ich es am wenigsten zugestehen.“

„Ihrem künftigen Gatten?“

„Eben deshalb. Ich beabsichtige durchaus, die Herrschaft zu behalten.“

„Das dürfte in diesem Falle nicht schwer sein, Erich ist eine weiche nachgiebige Natur. Er wird niemals versuchen, sich zu wehren.“

„Wehren?“ wiederholte Cäcilie, gereizt und belustigt zugleich. „Sie scheinen unsere künftige Ehe als eine Art Kriegszustand aufzufassen – ein schmeichelhaftes Kompliment für mich!“

„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt das Kreuz untersuche,“ unterbrach Egbert die Baroneß. „Ich bin eigens deshalb heraufgekommen. Es gilt, der Möglichkeit eines Unfalls vorzubeugen, dessen Folgen verhängnißvoll werden könnten.“

Cäcilie biß sich auf die Lippen bei dieser Abweisung des vertraulichen Tones, den anzuschlagen sie für gut befunden, und ein zorniger Blick traf den Mann, der es wagte, ihr dergleichen zu bieten.

[133] Cäcilie sah schweigend zu, wie Runeck zu dem Kreuz schritt, das an der dem Thal zugewandten Seite des Felsgipfels dicht am Abhang stand, und es untersuchte. Er that das sehr eingehend und gründlich, und es vergingen wohl zehn Minuten, ehe er sich wieder umwandte.

„Die Herren haben sich getäuscht,“ sagte er ruhig, „das Kreuz steht vollkommen fest und sicher, und von einer Senkung ist keine Rede. Vielleicht haben Sie die Güte, das in Odensberg mitzutheilen; ich komme erst übermorgen dorthin und darf wohl annehmen, daß Sie kein Geheimniß aus Ihrem Wagniß machen wollen.“

„Im Gegentheil, ich denke tüchtig damit zu prahlen. – Schauen Sie mich nicht so erstaunt an, Herr Runeck! Sehen Sie, dieser Spitzenschleier gehört nicht eben zu meinem Touristenanzug, ich habe ihn mitgenommen, um zu beweisen, daß ich wirklich auf dem Albenstein gewesen bin. Ich vermochte ja nicht zu ahnen, daß ich Sie hier treffen und Ihr Zeugniß in Anspruch nehmen könnte.“

Und damit löste Cäcilie den weißen Spitzenschleier, der lose um Schulter und Taille geschlungen war, und schritt dem Kreuze zu.

„Was wollen Sie damit?“ fragte Egbert, ihr befremdet nachblickend.

„Ich sagte es Ihnen ja schon: ein sichtbares Zeichen zurücklassen, damit man mir in Odensberg das Wagestück glaube. Mein Schleier soll dort am Kreuze wehen.“

„Wozu? Das ist Verwegenheit, Tollkühnheit! Kommen Sie zurück!“ Der Ruf klang befehlend, angstvoll, aber Cäcilie hörte nicht darauf. Unmittelbar am Rande des Abgrundes stehend, schlang sie den Schleier um das Kreuz. Es war ein beängstigender Anblick – eine einzige unvorsichtige Bewegung, und sie lag zerschmettert drunten in der Tiefe.

„Fräulein von Wildenrod, kommen Sie zurück! Ich bitte Sie!“ Die Stimme des jungen Ingenieurs war dumpf und gepreßt, es lag etwas wie Todesangst darin.

Cäcilie wandte sich um und lächelte. „Können Sie wirklich bitten, Herr Runeck? Ich komme sogleich, nur noch einen Blick in die Tiefe, das reizt mich nun einmal.“ Und sie beugte sich, den rechten Arm um das Kreuz geschlungen, wirklich über die jäh abstürzende Felswand und blickte furchtlos hinab.

Egbert that unwillkürlich einen Schritt vorwärts, sein Arm zuckte, als wollte er sie gewaltsam von dem gefährlichem Standort wegreißen. Er that es [134] nicht, aber aus seinem Gesicht schien alles Blut gewichen zu sein, als sie endlich ihren Platz verließ und wieder zu ihm trat.

„Glauben Sie nun an meine Furchtlosigkeit?“ fragte sie neckend.

„Das verwegene Spiel war wirklich nicht nöthig, um mich davon zu überzeugen,“ sagte er herb, und doch athmete er auf, als er das tollkühne Mädchen wieder auf festem Boden sah. „Ein Fehltritt an jener Stelle und Sie waren verloren!“

Sie zuckte sorglos die Achseln. „Ich bin schwindelfrei und wollte einmal das schaurig süße Gefühl durchkosten dort oben zu stehen, dicht über dem Abgrund. Man fühlt da einen dämonischen Zug zur Tiefe, es ist, als müsse man sich hinabstürzen in das Verderben. Haben Sie dergleichen nie empfunden?“

„Nein,“ sagte Egbert kalt. „Man muß sehr viel – Zeit haben, um sich mit solchem Empfindungen abzugeben.“

„Die Sie für verwerflich halten?“

„Für ungesund wenigstens. Wer sein Leben zur Arbeit braucht, der weiß es auch zu schätzen und schlägt es höchstens im Dienst einer Pflicht in die Schanze.“

Die Zurechtweisung klang sehr schroff, und wenn sie von den Lippen eines anderen gekommen wäre, so hätte Cäcilie dem „Unverschämten“ wahrscheinlich wortlos den Rücken gekehrt. Hier schwieg sie wohl eine Minute lang, und dabei ruhte ihr Auge fest auf dem wettergebräunten Gesicht des jungen Mannes, das noch immer eine fahle Blässe zeigte. Dann lächelte sie wieder. „Ich danke für die Belehrung. Wir verstehen uns eben nicht, Herr Runeck.“

„Ich sagte es Ihnen ja schon … wir gehören zwei verschiedenen Welten an –“

„Und doch stehen wir so nahe beisammen auf dem Felsgipfel des Albensteins,“ spottete Cäcilie. „Uebrigens habe ich das sonderbare Vergnügen nun lange genug genossen. Ich steige jetzt hinunter.“

„So erlauben Sie mir, Sie zu begleiten! Der Abstieg ist weit gefährlicher als der Aufstieg, und ich könnte es vor Erich nicht verantworten, Sie allein gehen zu lassen.“

„Vor Erich? Ja so!“ Ihre Lippen kräuselten sich hochmüthig bei der Erwähnung ihres Bräutigams; dann warf sie noch einen Blick nach dem Kreuze hinauf, wo die lose herabhängenden Enden des Schleiers im Morgenwind flatterten. „Das alte Wetterkreuz hat wohl noch nie ein solches Gewand getragen! Ich schenke es den Geistern des Albensteins, vielleicht öffnen sie mir zum Dank die Felsentiefen und lassen mich die versunkenen Schätze schauen.“

Mit hellem Auflachen wandte sie sich zum Gehen. Schweigend schritt Runeck voran. Er hatte recht, die größere Gefahr lag im Abstieg.

Von Zeit zu Zeit, bei besonders bedenklichen Stellen mahnte er mit kurzen Worten zur Vorsicht oder bot mit einer Bewegung des Arms seine Hilfe an, aber sie wurde nicht angenommen. Seine schöne Begleiterin schritt auf dem schwindelnd steilen Pfade so sorglos dahin wie auf dem bequemsten Wege. Ihr leichter Fuß trug sie über das Geröll, wo Egberts wuchtiger Tritt keinen Stützpunkt fand, und wo es galt, zu klettern oder zu springen, schwang sie sich mit Hilfe ihres Bergstocks wie eine Elfe von Stein zu Stein. Es lag eine berückende Anmuth in jeder Bewegung der schlanken weißen Gestalt, zugleich jedoch jenes kecke verwegene Spiel mit der Gefahr, das jede Vorsicht außer acht läßt.

Sie hatten den größten Theil des Weges zurückgelegt, schon schimmerte das Grün der kleinen Bergwiese herauf, da setzte Cäcilie unvorsichtig wieder den Fuß auf loses Geröll. Allein diesmal gab es nach und rollte in die Tiefe, sie verlor den Halt, schwankte, strauchelte – nun der furchtbare Augenblick des Sturzes, ein lauter Angstschrei, dann wurde es dunkel vor ihren Augen.

Aber in derselben Sekunde wurde sie auch gehalten. Den Bergstock von sich schleudernd, hatte Egbert sich blitzschnell umgewandt, und, mit Riesenkraft gegen die Klippe gestemmt, fing er das bebende Mädchen auf und schloß es fest in seine Arme.

Cäcilie hatte kaum eine Minute lang das Bewußtsein verloren; schon in der nächsten hoben sich ihre großen dunklen Augen scheu empor zu dem Antlitz ihres Retters, das sich über sie neigte. Sie sah, daß es totenbleich war, sah den Ausdruck verzehrender Angst in den sonst so kalten Zügen und fühlte das wilde stürmische Pochen der Brust, an der ihr Haupt ruhte. Sie war in Gefahr gewesen, aber auf seinem Gesicht stand die Todesangst!

So verharrten sie eine Weile regungslos, dann ließ Runeck langsam die Arme sinken. „Stützen Sie sich auf meine Schulter,“ sagte er leise. „Ganz fest – blicken Sie nicht rechts noch links, nur auf den Weg vor sich – ich halte Sie.“

Er hob den Bergstock auf und legte dann stützend den rechten Arm um sie. Cäcilie gehorchte willenlos; die Gefahr, die ihr jetzt erst zum Bewußtsein gekommen war, hatte ihren Widerstand gebrochen, sie bebte noch an allen Gliedern und der Kopf schwindelte ihr. So stiegen sie langsam abwärts. Die zarte Gestalt konnte für den riesigen Mann kaum eine Last sein, und doch ging sein Athem schwer und schnell und in seinem Gesicht brannte eine dunkle Gluth.

Endlich war der feste Boden erreicht, sie standen auf der Bergwiese. Sie hatten während des ganzen Weges kein Wort gesprochen, jetzt aber richtete sich Cäcilie empor. Sie war noch bleich, doch sie versuchte zu lächeln, als sie ihrem Retter die Hand bot.

„Herr Runeck – ich danke Ihnen!“

Es war ein eigener Klang in den Worten, etwas wie warmer Herzenston, wie überquellende Dankbarkeit, allein Egbert berührte nur flüchtig die dargebotene Hand.

„Bitte, gnädiges Fräulein! Ich hätte jedem, den ich in solcher Gefahr gesehen, den gleichen Dienst geleistet. Erholen Sie sich jetzt von dem Schrecken, dann werde ich Sie bis zum Kronswalde geleiten, wo ja wohl Ihr Wagen wartet. Es ist noch weit bis dahin.“

Cäcilie sah ihn befremdet, fast bestürzt an. War das noch derselbe Mann, der sich vorhin in Todesangst über sie gebeugt, dessen ganzes Wesen in wilder fieberhafter Aufregung gebebt hatte, als er sie bergabwärts mehr trug als führte? Da stand er vor ihr mit den unbewegten Zügen und sprach mit der alten kühlen Gelassenheit, als sei in seiner Erinnerung die letzte Viertelstunde ausgelöscht. Aber diese war doch dagewesen, ein Paar dunkler Augen hatte hineingeblickt in eine sonst streng verschlossene Tiefe – sie wußten jetzt, was dort sich barg.

„Halten Sie mich für so feig, daß ich nach einer überstandenen Gefahr noch stundenlang zittere?“ fragte Cäcilie leise. „Ich bin nur müde von dem beschwerlichen Wege und die Füße schmerzen mich; ich muß mich eine Viertelstunde ausruhen.“

Sie ließ sich nieder unter einer hohen Tanne, deren riesige moosübersponnene Wurzeln einen natürlichen Ruhesitz boten. Sie war erschöpft und übermüdet, man sah es, aber ihr Begleiter hatte kein Wort des Bedauerns dafür. Er schien nur den einen Wunsch zu hegen, seiner Führerrolle sobald als möglich ledig zu sein.

Die Bergwiese leuchtete mit ihrem sonnigen Grün hell in dem Waldesdunkel. Hinter ihr stieg der Albenstein empor, nach vorn öffnete sich ein weiter Blick in die Berge hinaus. Die Landschaft hatte nichts von der heiteren Schönheit des Südens, von der überwältigenden Großartigkeit der Alpenwelt, aber es ruhte ein eigener Zauber darauf, träumerisch und schwermüthig wie ihre Sagenwelt.

Tief unten lagen die Thäler in bläulichem Schatten, während die Höhen ringsum von hellem Sonnenschein überfluthet waren, und über Thäler und Höhen breitete sich endlos das grüne Waldmeer, aus dem nur hier und da eine Felswand kahl emporstieg oder in weißem Gischt ein Wildbach herabschäumte. Geheimnißvoll wie aus weiter Ferne kam das Rauschen der Bäume herangezogen, immer mächtiger anschwellend und dann wieder sinkend, ersterbend mit dem Windeshauch.

Und noch ein anderes Tönen und Klingen trug der Wind aus der Tiefe empor. Es war ein Sonntagmorgen und die Glocken all der kleinen Walddörfer drunten riefen zum Gottesdienst. Ueberall ihr schöner Klang, der jetzt klar und voll auftönte, jetzt leise verwehte, mit dem Waldesrauschen sich mischend.

Cäcilie hatte den Hut abgenommen und lehnte sich an den Stamm des Baumes. Egbert stand einige Schritte entfernt, aber seine Augen hingen an ihr wie von einer unwiderstehlichen Macht festgehalten; es half nichts, daß er sie gewaltsam losriß, sie kehrten immer wieder zurück zu der schlanken Gestalt in dem einfachen Lodenkleide, zu dem glänzenden Haar, das heute nur leicht zurückgestrichen war und, von einem seidenen Netze gehalten, lose in den Nacken fiel. Es war eine ganz andere Erscheinung, als Egbert sie bisher gekannt, so viel lieblicher – so viel gefährlicher!

Minutenlang hatte das Schweigen gedauert, nun hob Cäcilie den Blick empor und fragte leise: „Und Sie schelten mich nicht einmal?“

„Ich? Wie käme ich dazu?“

„Doch, Sie haben ein Recht, mir zu zürnen, ich brachte mit meiner Thorheit auch Sie in Lebensgefahr. Um ein Haar hätte ich Sie mit in die Tiefe gerissen. Ich – ich schäme mich.“

Das kam bittend, fast schüchtern heraus – es war ein ganz ungewohnter Ton in diesem Munde. Auf Egberts Stirn erschien eine dunkle Röthe, doch seine Stimme behielt den eisigen Klang.

[135] „Sie haben die Gefahr nicht gekannt, in Zukunft werden Sie vorsichtiger sein.“

„Wollen Sie auch meine Abbitte nicht annehmen, wie Sie meinen Dank verschmähten?“ fragte Cäcilie vorwurfsvoll, „Sie haben mir das Leben gerettet, mit Gefahr des Ihrigen – in diesem Augenblick freilich sehen Sie aus, als ob Sie das bitter bereuten.“

„Ich?“ fuhr Egbert heftig auf.

„Ja, Sie! Sie stehen da mit einer Miene, als müßten Sie sich gegen irgend einen Feind wehren auf Tod und Leben. Mein Gott, gegen wen denn? Nur ich bin ja da!“

Wieder erhob sich das Rauschen und Brausen in den Wäldern. Gleich einem Wehen von unsichtbaren Riesenschwingen zog es dahin über die Höhen, und voller und mächtiger stieg der Glockenruf empor aus der Tiefe. Die ganze Luft war voll von Klang, er schien auf den Sonnenstrahlen zu schweben und zu schwimmen und sich zu einem seltsamen Lied zu gestalten das anfangs nur in einzelnen abgerissenen Akkorden ertönte und dann allmählich zu einer Melodie wurde, die räthselhaft, aber unendlich süß zu jubeln und zu klagen schien.

Wohl gehörten die beiden da oben auf der einsamen sonnenbeglänzten Bergwiese zwei verschiedenen Welten an, wohl schied sie eine tiefe Kluft in all ihrem Denken und Fühlen, allein das eitle verwöhnte Kind der großen Welt, das bisher nur in einem Wirbel von Zerstreuungen, in der ewigen Jagd nach Vergnügen gelebt hatte, dem sonst Einsamkeit gleichbedeutend mit tödlicher Langweile war – es lauschte jetzt wie traumverloren diesem geheimnißvollen Gesange. Und auch der Mann, dem strenge Arbeit nie Zeit gelassen hatte zum einsamen Sinnen und Träumen, wehrte sich vergeblich gegen den Zauber. Er war gewohnt, fest auf dem Boden der Wirklichkeit, im hellen Tageslicht zu stehen und mit kühlen scharfen Augen ins Leben zu blicken – in ein Leben voll Kampf und Streit, voll harter unversöhnlicher Gegensätze. Dafür war er geschaffen, was sollte ihm das Traumgespinst dieser Märchenwelten? Und doch umfingen sie ihn nun mit ihrem ganzen Zauber, und mitten heraus klang bestrickend eine Menschenstimme: „Gegen wen denn wehrst Du Dich? Nur ich bin ja da!“

Egbert strich mit der Hand über die Stirn, als wollte er sich gewaltsam zum Erwachen aus dem Traume zwingen.

„Verzeihen Sie meine finstere Miene, gnädiges Fräulein,“ sagte er. „Ich dachte an Unannehmlichkeiten, die ich in Radefeld mit meinen Leuten gehabt habe. Wer wie ich immer seine Arbeit im Kopfe hat, der taugt schlecht zur Gesellschaft, wie Sie sehen.“

„Habe ich denn Unterhaltung von Ihnen verlangt?“ fragte Cäcilie mit leiser Ungeduld. „Erich hat recht, Sie sind so hart wie Ihre Felsen, schroff und unzugänglich wie der Albenstein da oben. Wenn man endlich glaubt, das Zauberwort gefunden zu haben, wenn die Tiefe für einen kurzen Augenblick sich öffnet, im nächsten schließt sie sich, und kaltes Gestein starrt dem Suchenden entgegen.“

Runeck antwortete nicht. Er hatte dies Zusammensein nicht umsonst gefürchtet, er wußte, daß er sich in jenem Augenblick der Todesgefahr und Todesangst verrathen hatte!

Und seine Gegnerin, die jetzt ihre Macht kennengelernt hatte, war unerbittlich und wollte ihren Triumph genießen um jeden Preis. Es hatte Mühe genug gekostet, diesem starren trotzigen Manne die Fesseln anzulegen, die alle andern so gern und so willig trugen; nun war er bezwungen, und nun wollte sie ihn auch zu ihren Füßen sehen.

„Erich beklagt sich bitter, daß er Sie jetzt so wenig sieht,“ hob sie wieder an, „Wenn Sie nach Odensberg kommen – kommen müssen, so verkehren Sie ausschließlich im Arbeitszimmer seines Vaters und weichen jeder Einladung in den Familienkreis aus. Ihre Arbeiten in Radefeld liefern Ihnen den Vorwand dazu, aber ich weiß besser, was Sie fern hält – meine und meines Bruders Gegenwart.“

„Mein Fräulein –“

„Versuchen Sie nicht, mir das abzuleugnen, ich habe vom ersten Augenblick an die stumme Feindseligkeit gefühlt, die Sie uns entgegentragen, und mich oft genug gefragt, weshalb – ich habe nie eine Antwort darauf gefunden.“

„So fragen Sie Herrn von Wildenrod, er wird Ihnen die Antwort geben.“ Der Ton hätte Cäcilie warnen sollen, er klang drohend, aber sie beachtete ihn nicht.

„Es liegt also irgend etwas Feindseliges zwischen Ihnen beiden noch von jener ersten Begegnung in Berlin her? Aber seitdem sind Jahre vergangen, Oskar hat die Sache längst vergessen, wie Sie von ihm selbst gehört haben. Wollen Sie allein so unversöhnlich sein? Und darf ich nicht wissen, was damals geschehen ist – wollen Sie es auch mir nicht sagen?“

Ihre Stimme klang noch weicher und süßer als vorhin, die dunklen Augen sahen bittend empor zu dem Manne, der es deutlich fühlte, wie sich das Netz dichter und dichter um ihn zusammenzog, wie ihm Wille und Kraft erlagen unter dem Schmeichellaut dieser Stimme, so deutlich er auch fühlte, daß das schöne seelenlose Geschöpf da an seiner Seite nur ein schmähliches Spiel mit ihm treibe und nichts empfinde als den Triumph der Eitelkeit. Da raffte er sich mit einem letzten gewaltsamen Entschluß auf, um die Fesseln zu zerreißen.

„Sprechen Sie im Auftrag des Herrn von Wildenrod, gnädiges Fräulein?“ fragte er mit einer so furchtbaren Bitterkeit, daß die junge Dame stutzte und ihn befremdet ansah.

„Was meinen Sie?“

„Ich meine, daß dem Freiherrn allerdings viel daran liegen muß, zu erfahren, was ich eigentlich weiß, und seine Schwester mag ihm wohl als das geeignete Werkzeug dazu erscheinen.“

Cäcilie erhob sich bestürzt und entrüstet. Wenn die Worte ihr auch unverständlich waren, soviel begriff sie doch, daß es sich hier um etwas anderes handelte als um den erwarteten Sieg. Das war nicht die Sprache eines Mannes, auf dessen Lippen ein Liebesgeständniß schwebte. Haß und Verachtung flammten ihr aus seinen Augen entgegen.

„Ich verstehe Sie nicht, Herr Runeck,“ sagte sie mit aufwallender Heftigkeit, „aber ich fühle, daß Sie meinen Bruder und mich beleidigen. Jetzt will ich wissen, was damals zwischen Ihnen beiden geschehen ist, und Sie werden es mir sagen!“

„Sollte das wirklich noch nothwendig sein?“ fragte er schneidend. „Herr von Wildenrod wird Sie wohl hinreichend unterrichtet haben. Nun denn, so sagen Sie ihm, ich wisse mehr von seiner Vergangenheit, als ihm lieb sein dürfte!“

Cäcilie erblaßte, auch ihre Augen blitzten drohend auf, dasselbe unheimliche Feuer loderte darin wie in dem Blick ihres Bruders, wenn er gereizt wurde.

„Was soll das heißen?“ rief sie, bebend vor Entrüstung. „Wem gelten Ihre Worte? Hüten Sie sich, daß Oskar Sie nicht zur Rechenschaft zieht!“

Ihre Mahnung kam zu spät, sie fruchtete nichts mehr bei Egbert, der durch den stummen qualvollen Kampf, den er nun schon wochenlang kämpfte, aufs äußerste gebracht war. Wäre er noch der ruhige kühle Mann von früher gewesen, er hätte wenigstens nicht zu dieser Stunde und an diesem Orte gesprochen, er hätte in Cäcilie die Frau geschont. Jetzt aber gährte in ihm nur die wilde Rachsucht gegen sie, die ihm seine Seele gestohlen hatte, die all sein Denken und Fühlen dämonisch an sich fesselte und die er doch zu hassen glaubte, hassen wollte, weil er sie verachtete. Wenn er sie jetzt bis auf den Tod beleidigte, wenn er eine Kluft zwischen ihr und sich aufriß, so tief, daß kein Wort, kein Blick mehr hinüberreichte – das brachte Rettung, zerbrach den Bann, dann war es zu Ende!

„Mich soll der Freiherr von Wildenrod zur Rechenschaft ziehen?“ rief er mit bitterem Hohne. „Die Sache dürfte sich doch anders gestalten. Ich habe bisher geschwiegen, schweigen müssen, denn meine eigene Ueberzeugung, ob sie noch so fest steht, vermag nichts gegen Erichs Leidenschaft, gegen den strengen Gerechtigkeitssinn seines Vaters. Sie werden Beweise fordern, und die habe ich zur Stunde noch nicht. Aber ich werde sie zu finden wissen, und dann schone ich nicht mehr.“

„Sind Sie von Sinnen?“ unterbrach ihn Cäcilie, aber er fuhr mit steigender Heftigkeit fort:

„Erich verblutet vielleicht an der Wunde, die ich ihm schlagen muß, allein der Schlag trifft ihn doch, früher oder später. Besser, es geschieht jetzt, wo es noch ein Zurück für ihn gibt, wo er noch nicht an eine Frau gefesselt ist, die mit seiner Liebe und seinem Glücke dasselbe verwegene Spiel treiben wird, das sie vorhin mit ihrem eigenen Leben getrieben hat, das sie mit jedem treibt, der in ihre Nähe kommt. Sie sind ja die Schwester Ihres Bruders, Baroneß Wildenrod, und werden es wohl von ihm gelernt haben, wie man die Karten mischt. Er und Sie fühlen sich schon als Herren von Odensberg – triumphieren Sie nicht zu früh! Noch tragen Sie nicht den Namen Dernburg, und ehe es dahin kommt, [136] setz’ ich alles daran, diesen Namen und Odensberg davor zu bewahren, daß sie die Beute werden von zwei – Abenteurern!“

Das furchtbare Wort war heraus, und Cäcilie zuckte zusammen, als habe sie ein Schlag getroffen. Geisterbleich, keines Wortes mächtig, starrte sie den Mann an, den sie in ihren Banden zu halten wähnte und der sich nun plötzlich als ein erbarmungsloser Feind enthüllte. Sie sah ja nicht den wilden, fast bis zur Raserei gesteigerten Schmerz, der in seinem Inneren wühlte und ihn über alle Schranken der Besinnung hinwegriß, wußte nicht, daß jedes dieser Worte, die er ihr so vernichtend entgegenschleuderte, ihn selbst zehnfach traf, sie empfand nur die tödliche Beleidigung, die er ihr anthat. Erst als er schwieg, wich ihr lähmendes Entsetzen.

„Ah, das ist zuviel – zuviel! Sie häufen eine Verleumdung, eine Beschimpfung auf die andere. Ich weiß nicht, wohin Ihre Andeutungen zielen, aber ich weiß, daß alles Lüge ist, schändliche Lüge, daß Sie uns dafür Rede stehen werden. Mein Bruder erfährt diesen Auftritt Wort für Wort – er wird Ihnen die Antwort geben!“

Es war ein so glühender Ausbruch der Empörung, ein so stürmisches Aufbäumen gegen unverdiente Schmach, daß sie jeden Zweifel an der Wahrheit ihrer Worte niederschlug. Egbert schien das auch zu fühlen, denn in seinen düster drohenden Augen blitzte ein Hoffnungsstrahl auf. Mit einer hastigen Bewegung trat er einen Schritt näher.

„Sie verstehen mich nicht? Wirklich nicht? Sie sind nicht die Vertraute Ihres Bruders? Antworten Sie mir!“

„Nein – nein!“ stieß Cäcilie hervor, noch zornbebend, aber wider Willen gezwungen durch die qualvolle Spannung, die in der Frage lag.

Egbert sah sie an, sein Blick schien sich einzubohren in ihr Innerstes, als wollte er die Wahrheit darin lesen, dann hob ein tiefer, tiefer Athemzug seine Brust. „Nein!“ sagte er leise, „Sie wissen nichts!“

Es folgte eine lange schwere Pause. Die Glockenstimmen im Thale waren nach und nach verstummt, nur eine einzige klang noch leise und fern herüber. Um so lauter erhob sich der Wind, die Riesenschwingen brausten, als trügen sie das Unheil heran.

„Dann habe ich Sie um Verzeihung zu bitten,“ hob Egbert wieder an, seine Stimme hatte einen verschleierten Klang. „Meine Anklage gegen den Freiherrn nehme ich nicht zurück. Wiederholen Sie ihm Wort für Wort, was ich sagte, blicken Sie ihm dabei ins Auge – vielleicht werden Sie mich dann nicht mehr einen Lügner schelten.“

Es lag trotz des gedämpften Tones eine so eiserne Bestimmtheit in den Worten, daß Cäcilie erbebte. Zum ersten Mal stieg eine dunkle Furcht, eine geheime Angst in ihr auf. Dieser Runeck sah aus, als sei er bereit, seine Worte vor der ganzen Welt zu vertreten. Wenn er doch nicht gelogen hätte, wenn – sie warf den Gedanken weit von sich, aber es überkam sie dabei wie ein Schwindel.

„Verlassen Sie mich!“ sagte sie mit zuckenden Lippen. „Gehen Sie!“

Egberts Auge ruhte düster auf ihrem Gesicht, dann neigte er das Haupt. „Sie können mir die Beleidigung nicht verzeihen, die ich Ihnen anthat – ich begreife das. Aber glauben Sie mir, auch für mich war das eine schwere Stunde – die schwerste meines Lebens!“

Er ging, und als Cäcilie aufblickte, war er schon zwischen den Bäumen verschwunden, sie stand allein. Hoch oben am Kreuz des Albensteins wehte und flatterte ihr Schleier, um sie her brauste der Wald und leise erstarb der letzte Glockenklang in der Ferne.

[150] Auf der Terrasse des Odensberger Herrenhauses gingen Eberhard Dernburg und Oskar von Wildenrod im Gespräch auf und nieder. Sie hatten sich in eine politische Erörterung vertieft, die von seiten des älteren Herrn mit Lebhaftigkeit geführt wurde, während der jüngere sich ganz gegen seine Gewohnheiten schweigsam und zerstreut zeigte. Sein Blick flog bisweilen hinüber zu dem großen Rasenplatz, wo Maja und Graf Viktor von Eckardstein Croquet spielten.

„Es wird voraussichtlich in dieser Sitzung des Reichstags heiße Kämpfe geben,“ sagte Dernburg soeben. „Die Einberufung soll sofort nach den Wahlen erfolgen, und ich werde mich wohl darauf gefaßt machen müssen, den größten Theil des Winters meinem Mandat zu opfern.“

„Sie rechnen also mit Bestimmtheit auf Ihre Wiederwahl?“ fragte Wildenrod.

„Allerdings!“ Dernburg sah ihn befremdet an. „Ich vertrete seit zwanzig Jahren meinen Wahlkreis, und die Odensberger Stimmen allein genügen, um mir die Wahl zu sichern.“

„Eben deshalb fragte ich. Sind Sie dieser Stimmen auch wirklich gewiß? Es ist in den letzten drei Jahren vieles anders geworden.“

„Bei mir nicht,“ sagte Dernburg ruhig. „Ich und meine Arbeiter – wir kennen einander seit Jahrzehnten. Ich weiß zwar, daß auch hier allerlei Einflüsterungen und Aufreizungen stattfinden, davor kann ich Odensberg mit all meiner Macht nicht schützen; diese Einflüsterungen mögen auch hier und da bei einzelnen Gehör finden, die Masse meiner Leute aber steht fest zu mir.“

„Wir wollen es hoffen!“ Es klang ein leiser Zweifel in der Stimme des Freiherrn, der sich trotz seines kurzen Aufenthaltes doch schon mit den Verhältnissen vollkommen vertraut zeigte. „Die Sozialdemokraten in der Umgegend sind diesmal ungemein rührig, überall wird gepredigt, gehetzt, geschürt; und man hat schon in manchem Wahlkreise, der für unbedingt sicher galt, unliebsame Ueberraschungen erlebt.“

„Aber hier stehe ich – und ich glaube, den Herren denn doch noch einigermaßen gewachsen zu sein,“ sagte Dernburg mit der ruhigen Ueberzeugung eines Mannes, der sich in seiner Machtstellung unerschütterlich weiß. Wildenrod war im Begriff, zu antworten, da schallte helles Lachen vom Rasenplatz herüber, und sofort richtete sich sein Auge dorthin.

Sie boten ein anmuthiges Bild, die beiden schlanken jugendlichen Gestalten dort drüben mit den geschmeidigen Bewegungen, mit den vor Eifer und Aufregung glühenden Wangen. Jedes suchte dem anderen den Rang abzulaufen, triumphierte, wenn dem Gegner ein Wurf mißlang, und dazwischen jagten und neckten sie sich mit lustigem Uebermuth wie ein paar Kinder.

Dernburgs Auge war der Richtung gefolgt, die der Blick seines Begleiters genommen, und über seine ernsten Züge flog ein Lächeln. „Die ausgelassenen Kinder! Meiner kleinen Maja mit ihren sechzehn Jahren kann man den Uebermuth allenfalls noch hingehen lassen, aber der Herr Lieutenant vergißt bisweilen ganz, daß er kein Knabe mehr ist.“

„Ich fürchte, Graf Eckardstein wird überhaupt nie den Ernst des Mannes kennenlernen,“ sagte Wildenrod kühl. „Er ist eine liebenswürdige, aber wohl auch sehr oberflächliche Natur.“

„Da thun Sie ihm unrecht! Viktor ist ein Leichtfuß – leider – und hat seinen Eltern manche Sorge gemacht mit allerlei tollen Jugendstreichen; auch Odensberg weiß davon zu erzählen. Doch das Herz hatte er immer auf dem rechten Fleck, Er ist kein Genie, aber offen und ehrlich und begabt genug, um dereinst einen tüchtigen Offizier abzugeben“

„Um so besser,“ warf der Freiherr hin. „Für den Grafen und – für Maja.“

Dernburg wandte sich um und sah ihn fragend an. „Für Maja? Wie meinen Sie das?“

„Das bedarf wohl kaum der Erklärung, Graf Eckardstein zeigt seine Wünsche und Absichten deutlich genug, und ich bin überzeugt, daß es ihn nicht die geringste Ueberwindung gekostet hat, dem Plan seines Bruders zuzustimmen.“

„Welchem Plan?“ Zwischen den Brauen Dernburgs erschien eine Falte, als er die Frage that, Wildenrod zuckte leicht die Achseln.

„Nun, der junge Graf scheint ziemlich leichtsinnig zu sein. Sie geben ja selbst zu, daß er das von jeher gewesen ist, und er hängt gänzlich von seinem Bruder, dem Majoratsherrn, ab. Daß ein junger lebenslustiger Offizier Schulden macht, ist am Ende natürlich, aber hier muß es das zulässige Maß überschritten haben, wenigstens nach der Ansicht des Grafen Konrad. Es soll da zu heftigen Auftritten gekommen sein, und man kann es dem Majoratsherrn wirklich nicht verdenken, wenn er ein Gewaltmittel für seinen leichtsinnigen Bruder in Aussicht nimmt.“

„Und dies Mittel wäre?“

„Eine reiche Heirath! Es heißt, der junge Graf sei auf Wunsch oder Befehl seines Bruders gekommen, um die Beziehungen zu Odensberg wieder aufzunehmen, zu einem Zwecke, der sich leicht errathen läßt. Sie wundern sich, daß ich so genau darüber unterrichtet bin? Ein Zufall! Ich hörte kürzlich, als wir nach Eckardstein geladen waren, das Gespräch zweier Herren, die wohl keine Ahnung hatten, daß ich mich im Nebenzimmer befand, sonst hätten sie diese Dinge nicht so ausführlich erörtert. Sie schienen die Verbindung bereits als feststehende Thatsache anzunehmen.“

Dernburgs Stirn hatte sich bei der Erzählung tiefer und tiefer gefurcht, aber seine Stimme behielt den gewohnten Klang, als er erwiderte: „Bei einer solchen ‚Thatsache‘ hätte doch wohl ich das letzte Wort zu sprechen, denn Maja ist noch ein halbes Kind und viel zu jung, als daß eine Heirath jetzt schon in Frage kommen könnte. – Nun Erich, da bist Du ja! Hat sich Cäcilie immer noch nicht blicken lassen?“

Erich, der zu ihnen trat, sah erregt und besorgt aus. „Nein, noch immer nicht!“ antwortete er hastig. „Ich war in den Ställen drüben, um nachzufragen aber niemand weiß, wohin sie gefahren ist. Sie hat den kleinen Ponywagen anspannen lassen, schon in aller Frühe, als das ganze Haus noch schlief, und nur den Bertram mitgenommen. Ich begreife das wirklich nicht.“

„Es wird eine ihrer Launen sein,“ warf Oskar hin, „Cilly ist eben unberechenbar in ihren Einfällen, daran wirst Du Dich gewöhnen müssen, lieber Schwager.“

„Ich glaube, Erich thäte besser, seiner künftigen Frau diese Unberechenbarkeit abzugewöhnen,“ sagte Dernburg mit einiger Schärfe. „Diese Eigenschaft trägt nicht gerade zum Glück einer Ehe bei.“

Der arme Erich sah nicht aus, als ob er die Macht oder auch nur den Willen hätte, seiner Braut irgend etwas abzugewöhnen. Wildenrod aber fiel rasch und beschwichtigend ein: „Vielleicht steckt eine Neckerei dahinter. Ich wette darauf, daß Cäcilie es bei dieser geheimnißvollen Fahrt auf eine Ueberraschung abgesehen hat.“

Das Spiel auf dem Rasenplatze hatte inzwischen seinen Fortgang genommen, jetzt schien ein Streit auszubrechen, der jedoch von beiden Seiten mit offenbarem Vergnügen geführt wurde und schließlich mit einer Versöhnung und einem hellen Gelächter endete. Dernburg blickte aufs neue hinüber, aber diesmal ohne Lächeln; er rief ungeduldig: „Ich dächte, Maja, es wäre nun Zeit, aufzuhören. Komm zu mir, mein Kind!“

Maja gehorchte, sie kam, noch ganz erhitzt von dem Spiel, und Viktor Eckardstein folgte ihr auf dem Fuße.

„Ich habe Ihnen im Namen meines Bruders eine Bitte vorzutragen, Herr Dernburg,“ sagte der Lieutenant in seiner heiteren offenen Weise. „Konrad feiert am Mittwoch seinen Geburtstag – es wird nur ein kleiner Kreis von Gästen da sein, allein die Odensberger Herrschaften sollen selbstverständlich nicht darin fehlen. Wir dürfen doch auf Ihre Gegenwart rechnen?“ Die Bitte wurde in einem Ton ausgesprochen, als sei jeder Zweifel an ihrer Gewährung ausgeschlossen, jedoch die Antwort lautete sehr kühl:

„Es thut mir leid, Herr Graf, Wir erwarten am Mittwoch Gäste aus der Stadt und müssen selbst die Pflicht der Wirthe üben.“

„Gäste? Wen denn, Papa?“ fragte Maja neugierig und verwundert. „Ich habe ja noch kein Wort davon gehört.“

„So hörst Du es jetzt. Jedenfalls bedauern wir, die Einladung nicht annehmen zu können.“

Die Erklärung wurde mit einer Bestimmtheit gegeben, die jede weitere Erörterung ausschloß. Viktor schwieg, aber der ungewohnt kühle Ton fiel ihm ebenso auf wie die Anrede mit „Herr [151] Graf“, da Dernburg es sonst meist bei dem Vornamen bewenden ließ. Der Blick des jungen Mannes richtete sich unwillkürlich auf Wildenrod, als ahnte er irgend einen feindseligen Einfluß von dieser Seite.

Bei der Jugend pflegen solche Verstimmungen indes nicht lange vorzuhalten. Maja brachte mit ihrem lustigen Geplauder bald wieder ein Gespräch in Gang, bei dem sich nur Erich zerstreut und einsilbig zeigte. Er ließ sich aber doch von seiner Schwester und Viktor nach dem Treibhaus ziehen, um die neu aufgeblühten Orchideen anzusehen.

Auf der Terrasse herrschte einige Minuten lang Schweigen, dann sagte der Freiherr mit gedämpfter Stimme: „Es sollte mir leid thun, wenn mein Bericht dem jungen Grafen in Ihren Augen geschadet hätte, allein wie die Verhältnisse liegen, hielt ich mich verpflichtet, zu reden.“

Dernburg nickte. „Gewiß, ich danke Ihnen dafür. Doch pflege ich auf bloßes Gesellschaftsgeschwätz hin niemand zu verurtheilen, ich werde zu erfahren wissen, was an dieser Sache Wahrheit ist.“

„Thun Sie das,“ sagte Wildenrod mit ruhiger Zuversicht. „Was übrigens Majas allzugroße Jugend betrifft, so heirathen die Töchter in unseren Kreisen oft schon in diesen Jahren, und wenn ihre Neigung wirklich einem Manne entgegenkommt –“

„Der Jagd auf die reiche Erbin macht, um seine Verhältnisse zu ordnen,“ fiel Dernburg mit einer Bitterkeit ein, die verrieth, daß jener Bericht seine Wirkung dennoch gethan hatte. „Vor einem solchen Schicksal will ich mein Kind bewahren.“

„Das wird nicht leicht sein. Es müßte denn ein Bewerber auftreten, der frei und unabhängig dasteht und selbst reich genug ist, um über den Verdacht des Eigennutzes erhaben zu sein. Alle andern werden mit Ihren Millionen rechnen.“

„Nicht alle!“ erwiderte Dernburg mit Nachdruck. „Ich kenne einen, der arm ist und nichts besitzt als seinen Kopf – der Kopf ist freilich etwas werth und verbürgt ihm die Zukunft. Dem würde der Weg zu Unabhängigkeit und Reichthum gezeigt, er brauchte nur die Hand auszustrecken, aber es würde das Opfer einer Ueberzeugung von ihm gefordert, und er ging den Weg nicht.“

Oskar stutzte. „Von wem sprechen Sie?“

„Von Egbert Runeck! Befremdet Sie das so sehr? Ich habe längst eingesehen, daß Erich allein Odensberg dereinst nicht leiten kann, dazu gehört ein Mann meines Schlags, und das ist Egbert – er ist nicht umsonst in meiner Schule aufgewachsen. Aber da haben sie ihn in Berlin so fest in ihre sozialdemokratischen Netze verstrickt, daß ich fast daran verzweifle, ihn wieder daraus zu lösen.“

„Haben Sie das wirklich versucht, trotzdem Sie wußten –?“

„Ja, trotzdem ich alles wußte, denn ich bin überzeugt, daß ihm eines Tages die Augen aufgehen werden – wenn es dann nur nicht zu spät ist für uns beide.“

Wildenrods Lippen preßten sich fest zusammen als wollten sie eine heftige Entgegnung verschließen, endlich sagte er langsam: „Herr Dernburg, ich verstehe Sie zum ersten Male nicht.“

„Mag sein, aber Sie können es mir immerhin zutrauen, daß ich nicht mit eigener Hand die Brandfackel in mein Odensberg werfen werde. Wenn Egbert bei seinem Kopfe bleibt, so ist es zwischen mir und ihm zu Ende. Indessen – er wird es nicht thun. Der braucht freie Bahn im Leben, der will empor um jeden Preis, will kämpfen; aber auch aufbauen und schaffen und schließlich Herr sein über das, was er geschaffen hat. Solche Naturen beugen sich auf die Dauer nicht dem Joche einer Partei, die blinden Gehorsam fordert, die keine Persönlichkeit, kein mächtiges Aufstreben des Einzelnen gelten läßt. Ich fürchte nur, er kommt erst zur Besinnung, wenn er sich sein Glück verschüttet hat.“

Der Freiherr mußte bereits sehr fest in der Gunst seines künftigen Verwandten stehen, daß dieser zu ihm von Dingen sprach, die er nicht einmal mit seinem Sohne erörterte, aber Oskar schien von diesem Beweis des Vertrauens nicht eben freudig berührt zu sein. Auf seiner Stirn stand eine drohende Wolke, und mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: „Sie überschätzen Ihren Günstling, wie mich dünkt. Aber gleichviel – Sie schienen da etwas anzudeuten –“ er brach ab.

„Was denn, Herr von Wildenrod?“

„Ich thue wohl besser, es nicht auszusprechen, da es eine Unmöglichkeit in sich schließt.“

„Warum?“ fragte Dernburg gereizt. „Etwa weil Egbert der Sohn eines Hüttenarbeiters ist? Die Eltern sind tot, aber auch wenn sie noch am Leben wären – ich stehe über solchen Vorurtheilen.“

Wildenrod schwieg, er sah den Sprechenden nicht an, sondern blickte nach den Werken hinüber. Es war etwas Unheimliches in seinem Gesichte.

„Sie sind in dem Punkte anderer Meinung, ich sehe es,“ hob Dernburg wieder an. „In Ihnen regt sich der Aristokrat, dem so etwas unerhört erscheint. Ich denke anders darüber. Ich habe Erich auf eigene Verantwortung wählen lassen, für das Glück meiner Tochter habe ich einzustehen. Meine kleine Maja“ – die Stimme des sonst so strengen Mannes wurde weich – „sie ist mir spät geschenkt worden, aber sie ist der Sonnenschein meines Lebens. Wie oft habe ich mir in schweren Stunden aus ihren klaren Augen, ihrem hellen Kinderlachen Muth geholt! Sie soll nicht die Beute der Berechnung, des Eigennutzes werden, sie soll geliebt und glücklich sein – und bis jetzt kenne ich nur einen, in dessen Hände ich ihre Zukunft ohne Sorge legen könnte, denn ich bin überzeugt, daß er sie liebt. Der rechnet nicht, er hat es mir bewiesen!“

Auf dem Gesicht des Freiherrn lag eine eigenthümliche Blässe. War es Zorn oder Scham, was bei den letzten Worten in seinem Innern aufzuckte? Jedenfalls blieb ihm die Antwort erspart, denn ein Diener trat heran und meldete, der Direktor sei im Arbeitszimmer und wünsche den Herrn zu sprechen.

„Am Sonntag? Das muß etwas Wichtiges sein!“ sagte Dernburg, indem er sich zum Gehen wandte. „Aber noch eins, Herr von Wildenrod – was wir soeben erörterten, bleibt unter uns! Betrachten Sie es als Vertrauenssache!“

Er trat ins Haus und Oskar blieb allein zurück. Mit verschränkten Armen lehnte er an der Brüstung der Terrasse, in düstere Gedanken versunken.

Das war eine Gefahr, die er nicht geahnt, mit der er nie gerechnet hatte, dagegen verblich das Auftauchen des Grafen Eckardstein, das ihm eben noch so gefahrdrohend erschienen war, zu einem bloßen Schatten. Dernburg setzte offenbar eine Neigung voraus zwischen seiner Tochter und diesem Runeck! Um die Lippen Wildenrods spielte ein höhnisches überlegenes Lächeln. Er wußte es doch besser, wem Majas Liebe galt, er fühlte sich auch diesem neuen Gegner gewachsen! Und nun kein Zögern und kein Besinnen mehr, es galt, zu handeln! Oskar richtete sich entschlossen auf; es war nicht das erste Mal in seinem Leben, daß er va banque spielte, und hier war der Gewinn eine Zukunft, die ihm alles verhieß. –

*      *      *

Am Ende der ausgedehnten Parkanlagen von Odensberg, da wo sie an den Bergwald grenzten, lag der „Rosensee“, ein kleines Gewässer, von flüsterndem Schilf und Riedgras umsäumt; eine mächtige Buche streckte ihre Aeste mit dem jungen lichtgrünen Laube darüber hin und dichtes blühendes Gebüsch umschloß es von allen Seiten.

Auf einer Bank unter der Buche saß Maja, die Hände voll Blumen, die sie auf dem Wege hierher gepflückt hatte und nun ordnen wollte. Aber es kam nicht dazu, denn neben ihr saß Oskar von Wildenrod, der „zufällig“ denselben Ort aufgesucht hatte und sie mit seiner Unterhaltungsgabe so zu fesseln wußte, daß sie die Blumen und alles andere darüber vergaß.

Er sprach von seinen Reisen im Norden und Süden. Es gab kaum ein Land in Europa, das er nicht kannte, und er war ein meisterhafter Erzähler. Seine Schilderungen gestalteten sich zu farbenreichen Bildern, in denen Landschaften, Menschen und Ereignisse lebendig vor den Zuhörer hintraten. Maja lauschte denn auch mit athemloser Theilnahme – das alles klang so fremdartig, so märchenhaft für sie, deren Gesichtskreis bisher die Familie gewesen war.

„Was haben Sie alles gesehen und erlebt!“ rief sie bewundernd. „Das ist ja eine ganz andere Welt, aus der Sie zu uns nach Odensberg gekommen sind!“

„Eine andere, ja, aber keine bessere,“ sagte Wildenrod ernst. „Es hat wohl etwas Blendendes und Berauschendes – dies Leben in der schrankenlosen Freiheit, mit dem ewigen Wechsel und der Fülle von Eindrücken, und auch mich hat es einst geblendet. Doch das ist längst vorbei. Es kommt ein Tag, wo man aus dem Rausche erwacht, wo man fühlt, wie hohl und leer und nichtig das alles ist, wo man sich allein findet mitten in dem Menschengewoge und in der ersehnten Freiheit – ganz allein!“

„Aber Sie haben doch Ihre Schwester!“ warf Maja vorwurfsvoll ein.

[152] „Wie lange noch! In wenigen Monaten verläßt sie mich, um ihrem Gatten anzugehören und ich habe ein förmliches Grauen davor, einsam zurückzukehren in das ziel- und zwecklose Dasein. Sie ahnen nicht, Maja, wie ich Ihren Vater beneide. Er steht so fest und stolz auf dem Boden seiner Arbeit und seiner Erfolge, Tausenden schafft er Brot und Segen, die Liebe und Bewunderung aller umgiebt ihn und wird ihm dereinst in das Grab folgen. Wenn ich die Summe meines Lebens ziehe – was bleibt dann?“

Betroffen, fast erschrocken blickte ihn Maja bei diesen bitteren Worten an. Es war das erste Mal, daß Wildenrod ihr gegenüber einen solchen Ton anschlug; sie kannte ihn nur als den geistvollen Weltmann, der selbst da, wo er sich ihr vertraulich nahte, immer der ältere Mann geblieben war, welcher in halb tändelnder Weise mit einem jungen Mädchen verkehrte. Heute sprach er so ganz anders, heute ließ er sie einen Blick in sein Inneres thun und das überwand ihre Scheu. „Ich habe Sie glücklich geglaubt in diesem Leben, das in so lockendem Glanze erscheint, wenn Sie davon erzählen,“ sagte sie leise.

„Glücklich?“ wiederholte er düster. „Nein, Maja, ich bin es nie gewesen, nicht einen Tag, nicht eine Stunde lang.“

„Ja aber – warum haben Sie dann dies Leben so lange geführt?“

Oskar blickte in die klaren Kinderaugen, die sich mit ernster Frage zu ihm emporhoben, und unwillkürlich senkte sich sein Blick zu Boden.

„Warum? Ja warum lebt man denn überhaupt? Um das Glück zu erringen, von dem uns schon an der Wiege gesungen wird und von dem wir in der Jugend meinen, es liege da draußen in der weiten Welt, in der blauen Ferne. Ruhelos, fieberhaft jagen wir ihm nach, meinen immer wieder, es zu erreichen, während es weiter und weiter zurückweicht, bis es zuletzt verblaßt wie ein Schatten, bis wir endlich die ruhelose Jagd aufgeben – und mit ihr die Hoffnung!“ Es lag eine mühsam verhaltene Qual in den Worten, die den vollen Ton der Wahrheit hatten. Oskar Wildenrod kannte sie ja am besten, die wilde Jagd nach dem Glücke, das er gesucht hatte all die Jahre her – auf welchen Wegen freilich, das wußte nur er allein.

Das herbe Bekenntniß klang seltsam in dieser Umgebung, in dieser Frühlingswelt, wo alles nur Schönheit und Frieden athmete. Hell lag der Sonnenschein auf dem Spiegel des kleinen Sees, über den die Libellen mit bunten schillernden Flügeln traumhaft hinschwebten. Goldene Lichter fielen durch das junge Laub der Buche und spielten in dem zarten Maiengrün. Ringsum blühte der Flieder und erfüllte die Luft mit seinen Düften, dazwischen schimmerte der Goldregen, der seine leuchtenden Blüthentrauben tief herabsenkte, und das niedere Gesträuch war wie übersät mit wilden Heckenrosen. Es war ein Blühen ohn’ Ende und im Hintergrund stieg eine ferne blaue Bergwand auf und blickte ernst hinein in das kleine sonnige Eden.

Wildenrods Brust hob sich in tiefen schweren Athemzügen, als wollte er den Frieden und die Reinheit dieser Umgebung einathmen. Dann blickte er auf das junge Wesen an seiner Seite, auf das rosige Kinderantlitz, das so unberührt war von dem leisesten Hauch jenes Lebens, das er bis auf die Neige ausgekostet hatte. Aber die braunen Augen, die jetzt sich auf ihn richteten, schimmerten in Thränen, und eine leise Stimme sagte bebend: „Das klingt alles so hart, so verzweifelt, was Sie da sprechen. Glauben Sie denn wirklich an kein Glück mehr?“

„O doch, jetzt glaub’ ich daran!“ rief Oskar aufflammend „Hier in Odensberg habe ich wieder hoffen lernen. Es ist das alte Märchen von dem Kleinod, das man da draußen in der Welt auf tausend Wegen sucht, indessen es irgendwo im tiefen stillen Wald verborgen ruht, bis der Glückliche naht, der es findet – und vielleicht bin ich solch ein Glücklicher!“

Er hatte die Hand des jungen Mädchens ergriffen und schloß sie fest in die seinige. Mit jäher Gewalt erkannte Maja bei diesen Worten, dieser Bewegung, was bisher dunkel und unverstanden in ihrer Seele gelegen hatte; ein süßes Glücksgefühl stieg in ihr auf und doch zugleich wieder jene seltsame Angst, die sie schon bei der ersten Begegnung empfunden hatte, die Furcht vor jenem dunklen flammenden Blicke, der sie so willenlos zu bannen verstand. Ihre Hand zuckte in der des Freiherrn.

„Herr von Wildenrod –“

„Oskar heiße ich!“ unterbrach er sie mit stürmischer Bitte.

„Oskar – lassen Sie mich!“

„Nein, ich lasse Dich nicht!“ stieß er leidenschaftlich hervor. „Ich habe das Kleinod gefunden, nun will ich es auch fassen und halten mein Leben lang. Maja, es liegen Jahre, Jahrzehnte zwischen uns, ich habe Dir keine Jugend mehr zu bieten, aber ich liebe Dich mit der vollen heißen Gluth des Jünglings. Von dem Augenblick an, wo Du mir auf der Schwelle Deines Vaterhauses entgegentratest, wußte ich, daß Du mein Schicksal, mein Glück bist. Und auch Du liebst mich, ich weiß es – laß es mich nun auch von Deinen Lippen hören. Sprich, Maja, sage, daß Du mein sein willst! Du ahnst nicht, was dies Wort alles in mir erlösen und retten soll.“

Er hatte den Arm um sie gelegt, seine leidenschaftlich stürmischen Worte wehten wie Flammengluth über das zitternde Mädchen hin. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, unverwandt blickte sie zu ihm empor. Jetzt schreckten sie seine Augen nicht mehr, sie sah nur die glühende Zärtlichkeit darin, hörte nur das Geständniß seiner Liebe und jene ahnungsvolle Furcht ging unter in triumphierendem Glück. „Ja, ich habe Dich lieb, Oskar,“ sagte sie leise. „Grenzenlos lieb!“

„Meine Maja!“

Es klang wie ein Jubelruf. Oskar schloß sie in die Arme, er küßte wieder und wieder die lichten Haare, die rosigen Lippen seiner jungen Braut. Ein Rausch des Glücks war über ihn gekommen. Die Vergangenheit mit ihren dunklen Schatten versank, und dem Manne, der sich schon dem Herbste des Lebens nahte, erklang jubelnd die Botschaft, die rings aus all dem Blühen drang: der Lenz ist wieder da!

Nach einer Weile entwand sich Maja sanft seinen Armen, das liebliche Gesichtchen in Gluth getaucht.

„Aber mein Vater, Oskar – wird er einwilligen?“

Wildenrod lächelte. Er wußte, daß der Unterschied des Alters zwischen ihm und seiner jungen Braut bei Dernburg schwer ins Gewicht fallen, daß er dessen Einwilligung weder leicht noch schnell erhalten würde, aber das schreckte ihn nicht. „Dein Vater will Dich nur geliebt und glücklich sehen, ich weiß es aus seinem eigenen Munde,“ sagte er mit überströmender Zärtlichkeit. „Und meine Maja, mein süßes holdes Kind, Du sollst geliebt und glücklich sein!“

[165] Dernburg saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Die Besprechung mit dem Direktor war zu Ende; er sah die Papiere durch, die dieser zurückgelassen hatte, als die Thür sich von neuem öffnete. Graf Eckardstein, der als Gast des Hauses keiner besonderen Anmeldung bedurfte, trat ein.

„Ich sah eben den Herrn Direktor fortgehen,“ sagte er. „Darf ich Sie auf einige Minuten stören? Ich komme nur, um mich zu verabschieden.“

„Sie wollen nicht zu Tische bleiben wie gewöhnlich?“

„Ich danke, ich muß nach Eckardstein zurück. – Bleibt es wirklich dabei, daß ich meinem Bruder eine Absage überbringen muß? Wir hatten so fest auf Ihre und der Ihrigen Gegenwart gerechnet.“

„Ich bedaure, Sie hörten es ja bereits, wir haben selbst Gäste an dem betreffenden Tage.“

Die Ablehnung klang ebenso bestimmt als frostig, und der junge Graf mußte das fühlen. Er trat rasch einige Schritte näher und fragte halblaut: „Herr Dernburg – was haben Sie gegen mich?“

„Ich? Nichts! Wie kommen Sie darauf, Herr Graf?“

„Schon Ihre Anrede zeigt es mir. Heute morgen nannten Sie mich noch Viktor und empfingen mich mit der gewohnten Güte. Bin ich Ihnen denn in den wenigen Stunden ein Fremder [166] geworden? Ich fürchte, da ist ein anderer Einfluß thätig gewesen, den ich errathe.“

Dernburg runzelte die Stirn, die Hindeutung auf Wildenrod, die nur allzu verständlich war, verletzte ihn, aber er war gewohnt, den geraden Weg zu gehen. Weshalb auf Umwegen zu erfahren suchen, was er wissen wollte! Er blickte in das hübsche offene Gesicht des jungen Mannes, dann sagte er langsam: „Ich lasse mich nicht beeinflussen und es ist nicht meine Art, jemand ungehört zu verurtheilen, am wenigsten Sie, Viktor, den ich seit den frühsten Knabenjahren kenne. Da Sie die Sache selbst zur Sprache bringen, mag sie zwischen uns erörtert werden. Wollen Sie mir einige Fragen beantworten?“

„Ich bitte darum.“

„Sie sind Ihrer Heimath so lange fern geblieben und haben seit Jahren Eckardstein mit keinem Fuße betreten. Wie kommt das?“

„Das lag in persönlichen, in Familien-Verhältnissen –“

„Die Sie zu verschweigen wünschen – ich sehe es.“

„Nein Herr Dernburg, Ihnen will ich sie nicht verschweigen! – Mein Verhältniß zu meinem Bruder war nie ein besonders freundliches und seit dem Tode unseres Vaters ist es vollends peinlich geworden. Konrad ist der Aeltere, der Majoratsherr, ich bin auf ihn angewiesen und kann ohne seine Hilfe meine militärische Stellung nicht behaupten. Er hat mich das oft genug fühlen lassen und in einer so verletzenden Weise, daß ich es vorzog, ihm fern zu bleiben.“

Man sah es dem jungen Grafen an, daß diese Erklärung ihm schwer wurde, und doch sagte er seinem Zuhörer nichts Neues damit. Man wußte in der ganzen Nachbarschaft von der Spannung zwischen den beiden Brüdern, maß aber die Hauptschuld dem älteren bei. Der Majoratsherr, der zur Zeit noch unvermählt war und nur einige Jahre mehr zählte als Viktor, galt für hochmüthig und rücksichtslos, und sein Geiz war eine allbekannte Thatsache. Er war deshalb auch nichts weniger als beliebt. Dernburg wußte das gleichfalls, berührte es aber mit keiner Silbe, sondern fragte nur: „Und doch sind Sie jetzt gekommen?“

„Das geschah auf ausdrücklichen Wunsch meines Bruders.“

„Der ganz bestimmte Pläne mit Ihnen hat!“

Viktor stutzte, und eine dunkle Röthe begann langsam in seinem Gesichte aufzusteigen. Dernburg betrachtete ihn scharf und forschend, während er fortfuhr: „Sie errathen ohne Zweifel, was ich meine. Ich will ganz offen gegen Sie sein, erwarte dann aber auch eine ebenso offene Antwort. Es heißt, Sie seien von dem Grafen Konrad nach Eckardstein berufen worden, um Ihre einstigen Beziehungen zu Odensberg zu – verwerthen.“

Viktor zuckte bei dem verletzenden Worte zusammen. „Herr Dernburg!“

„Viktor, ich frage Sie, ist dem so?“

Die Augen des jungen Mannes senkten sich in peinlicher Verlegenheit. „Sie stellen die Frage in einer Weise –“

„Die kein Ausweichen zuläßt. Also Ja oder Nein!“

„Sie scheinen meine Werbung als eine Beleidigung aufzufassen,“ sagte Viktor, ohne den Blick vom Boden zu heben. „Mein Gott, ist es denn ein so schweres Vergehen, wenn man mit solchen Gedanken an die einstigen Jugendbeziehungen herantritt? Nun ja, ich kam hierher, um ein Glück zu erringen, das schon den Träumen meiner Jugend als lockende Zukunft vorschwebte. Was ist dabei Böses? Sie hätten in meinen Jahren vielleicht dasselbe gethan.“

„Aber nicht auf Befehl eines anderen!“ sagte Dernburg schneidend. „Und ich hatte bei meiner Werbung jedenfalls ein anderes Los zu bieten als Sie, Herr Lieutenant.“

Der junge Graf wollte auffahren, mühsam bezwang er sich, aber seine Stimme bebte, als er antwortete: „Sie lassen es mich sehr bitter empfinden, daß ich arm bin.“

„Das thue ich nicht, denn die Armuth ist in meinen Augen kein Vorwurf. Sie theilen nur das Los der jüngeren Söhne in den Familien, deren ganzes Vermögen im Majorate liegt. Aber man sagt, Ihr Bruder habe noch andere dringendere Gründe, Ihnen eine sogenannte gute Partie anzurathen. Das verletzt Sie, Herr Graf, es thut mir leid, aber Sie haben diese Unterredung herbeigeführt, nicht ich.“

„Also auch das hat man Ihnen hinterbracht, und Sie deuten es nun in der schmählichsten Weise,“ sagte Viktor bitter. „Wenn ich leichtsinnig gewesen bin, so hat es mich mein Bruder schon hinreichend büßen lassen, und ich büße es zehnfach in diesem Augenblick. Nun ja, ich habe mich von Schulden nicht frei gehalten, nicht frei halten können bei den geringen Mitteln, die mir zu Gebote standen. Es wäre für Konrad ein Leichtes gewesen, mich von meinen Verpflichtungen los zu machen, er that es nicht, stellte mich sogar vor die Möglichkeit, meinen Abschied nehmen zu müssen, und da –“

„Da gingen Sie auf seinen Vorschlag ein!“ Die Stimme Dernburgs hatte einen herben verächtlichen Klang. „Ich begreife das vollkommen, aber Sie werden es Ihrerseits begreifen, daß ich meine Tochter zu einer solchen – Finanzoperation nicht hergeben will.“

In dem Gesicht des jungen Mannes wechselten Röthe und Blässe, bei dem letzten Worte aber fuhr er mit einem halbunterdrückten Schrei auf und ballte drohend die Hand gegen den Aelteren, der ihn fest ansah.

„Was soll das, Graf Eckardstein? Wollen Sie mich vielleicht fordern, weil ich mich unterfange, Ihnen zu sagen, wie ich von der Sache denke? Ein Mann in meinen Jahren und meiner Stellung geht auf dergleichen Thorheiten nicht ein.“

Viktor ließ die Hand sinken und trat zurück.

„Herr Dernburg, Sie sind mir lange Jahre hindurch ein väterlicher Freund, Odensberg ist mir eine zweite Heimath gewesen, und Sie sind der Vater Majas, die ich –“

„Die Sie lieben,“ ergänzte Dernburg mit bitterem Spott. „Das wollten Sie ja wohl sagen.“

„Ja, die ich liebe!“ rief Viktor, sich emporrichtend, und sein Auge begegnete klar und offen dem des gereizten Mannes. „Das ist mir klar geworden in der Minute, wo ich das Kind, das noch in meiner Erinnerung lebte, als erblühendes Mädchen wiedersah. Nach Ihren Worten bleibt mir nur übrig, Ihr Haus zu verlassen und es nicht wieder zu betreten, aber ich fordere bei diesem Abschiede wenigstens Ihren Glauben an die Wahrheit meiner Gefühle für Maja – wenn sie mir auch verloren ist.“

Es lag ein wahrer Schmerz, ein echter Herzenston in den letzten Worten, die einen anderen als Dernburg wohl überzeugt hätten. Allein der ernste strenge Mann da am Schreibtische hatte nie den Leichtsinn der Jugend gekannt und verstand es nicht, mit ihren Fehlern zu rechnen. Vielleicht war auch er in diesem Augenblick überzeugt, aber er verzieh es nicht, daß man bei einer Werbung um die Hand seines Lieblings gerechnet hatte.

„Ich bin nicht befugt, Ihre Gefühle zu beurtheilen, Herr Graf,“ sagte er mit eisiger Ablehnung, „jedoch ich begreife es, daß Sie nach dieser Unterredung Odensberg meiden. Es thut mir leid, daß wir so scheiden müssen, indessen, wie die Verhältnisse liegen, läßt es sich nicht ändern.“

Viktor erwiderte keine Silbe, er verneigte sich stumm und ging. Dernburg sah ihm finster nach.

„Auch der!“ murmelte er halblaut. „Der ehrliche offene Junge, der früher nie eine Berechnung gekannt hat! Geht denn alles zu Grunde bei dieser wilden Jagd nach dem Reichthum, den sie Glück nennen!“ –

Am Fuß der große Treppe, die in das obere Stockwerk führte, standen Wildenrod und Erich im Gespräch. Der erstere war soeben aus dem Park gekommen und traf hier mit seinem Schwager zusammen, der ihm sein Herz ausschüttete.

„Ich fürchte, Cäcilie ist ernstlich unwohl,“ sagte er erregt. „Sie klagt über heftige Kopfschmerzen und sieht erschreckend bleich aus, hat mir aber aufs bestimmteste verboten, Hagenbach rufen zu lassen. Sie behauptet, ein paar Stunden ungestörter Ruhe würden sie am schnellsten herstellen. Ich sah sie nur einige Minuten bei ihrer Ankunft und habe nicht erfahren können, wo sie eigentlich gewesen ist, sie schweigt hartnäckig darüber.“

Oskar lächelte und zuckte die Achseln. „Und darüber bist Du nun ganz außer Dir? Ich sagte es Dir schon vorhin, Du mußt mit dem Eigensinn unserer kleinen verwöhnten Prinzessin rechnen. Wenn Cilly übler Laune ist, legt sie sich auf das Sofa und schmollt mit aller Welt, sie hält es jedoch zum Glück nicht lange aus, ich kenne das. Dein Vater meint freilich, Du müßtest ihr die Launen abgewöhnen, aber dazu bist Du der Mann nicht, mein guter Erich. Es wird Dir also wohl nichts anderes übrig bleiben, als Dich in christliche Geduld zu fassen und schon jetzt Vorstudien zu machen für den musterhaften Ehemann, der Du ohne Zweifel werden wirst.“

Erich sah ihn verwundert an. „Was hast Du denn, Oskar? [167] Du strahlst ja förmlich vor Vergnügen. Ist Dir irgend etwas Freudiges begegnet?“

„Wer weiß – vielleicht!“ sagte Oskar mit einem Aufblitzen seiner dunklen Augen. „Und deshalb will ich mich Deiner annehmen, Du siehst auch gar zu verzweifelt aus. Ich habe immerhin noch mehr Macht über mein Fräulein Schwester und werde ihr zu Gemüth führen, wie unverantwortlich es von ihr ist, Dich jetzt schon die Leiden des Ehestandes durchkosten zu lassen – eigentlich hat sie doch erst nach der Hochzeit ein Recht dazu. Gieb acht, sie erscheint bei Tisch ganz heiter und vergnügt, und dann wirst auch Du hoffentlich ein anderes Gesicht machen. Du tiefbekümmerter Bräutigam, der eine Mädchenlaune so ernst nimmt.“

Er lachte übermüthig auf, und einen Gruß zurückwinkend, stieg er die Treppe hinauf. Erich sah ihm kopfschüttelnd nach. Diese strahlende Heiterkeit lag sonst gar nicht im Wesen seines Schwagers, der heute kaum wiederzuerkennen war. Was konnte ihm nur begegnet sein?

Droben im Salon trat dem Freiherrn das Kammermädchen seiner Schwester mit der Erklärung entgegen, das gnädige Fräulein habe streng befohlen, sie unter keiner Bedingung zu stören und jeden ohne Ausnahme abzuweisen auch Herrn Erich Dernburg.

„Für mich gelten solche Befehle nicht, das wissen Sie doch, Nannon,“ schnitt ihr Wildenrod das Wort ab. „Ich wünsche meine Schwester zu sprechen, öffnen Sie die Thür!“

Nannon knixte und gehorchte, sie wußte sehr gut, daß es dem Freiherrn gegenüber keinen Widerspruch gab. Dieser trat ohne weiteres in das Zimmer seiner Schwester.

Cäcilie lag auf dem Ruhebett, das Gesicht in die Polster gedrückt. Sie regte sich nicht, obgleich sie das Oeffnen und Schließen der Thür hören mußte, aber ihren Bruder schien das nicht weiter zu befremden, er trat ruhig näher.

„Bist Du wieder einmal übler Laune, Cilly?“ fragte er, noch in scherzendem Tone. „Du behandelst den armen Erich wirklich in unverantwortlicher Weise, er hat mir eben seine Noth geklagt.“

Cäcilie verharrte stumm und regungslos in ihrer Stellung, und nun verlor Wildenrod die Geduld.

„Willst Du nicht wenigstens die Güte haben, mich anzusehen? Ich möchte Dich überhaupt bitten –“ er verstummte, denn seine Schwester richtete sich plötzlich auf und er blickte in ein so bleiches verstörtes Gesicht, daß er beinahe erschrak.

„Ich habe mit Dir zu sprechen Oskar,“ sagte sie leise. „Mit Dir allein. Nannon ist im Salon – schicke sie fort, damit wir ungestört sind!“

Oskar zog die Stirn kraus, er glaubte noch immer nicht, daß es sich um etwas Ernsthaftes handle, war aber in seiner glücklichen Stimmung geneigt, selbst einer Laune Rechnung zu tragen. Er ging deshalb in den Salon, sandte das Kammermädchen mit einem Auftrage fort und kehrte dann zurück. „Werde ich nun endlich erfahren, was das alles bedeutet?“ fragte er ungeduldig. „Wo bist Du überhaupt gewesen, Cilly, und was soll diese Fahrt in die Berge in aller Morgenfrühe? Dernburg hat sie bereits sehr unliebsam bemerkt! Du solltest doch wissen, daß Odensberg nicht der Ort für solche Abenteuerlichkeiten ist.“

Cäcilie hatte sich erhoben, sie vertheidigte sich mit keinem Wort gegen den Vorwurf, sondern sagte nur finster: „Ich war auf dem Albenstein.“

„Auf dem Albenstein?“ fuhr Oskar auf. „Welche Tollkühnheit! Welche unglaubliche Thorheit!“

„Laß das, es handelt sich um anderes,“ unterbrach sie ihn heftig. „Ich traf dort oben mit – mit dem Jugendfreunde Erichs zusammen, und er hat mir Dinge gesagt – Oskar, was ist zwischen Dir und diesem Runeck bei Eurer ersten Begegnung vorgefallen?“

„Nichts!“ sagte der Freiherr kalt, „Ich mag ihn damals gesehen haben, es ist möglich, man übersieht solche Persönlichkeiten leicht. Jedenfalls sprach ich nicht mit ihm und wußte gar nicht, daß er Zeuge eines peinlichen Vorfalles war, der an jenem Abend stattfand.“

„Was war das für ein Vorfall?“

„Nichts für Deine Ohren, mein Kind, und darum wäre es mir unangenehm, wenn Runeck Dir davon erzählt hätte. Was hat er Dir eigentlich gesagt?“

Die Frage wurde anscheinend gleichgültig hingeworfen, und doch lag die tiefste Spannung in den dunklen Augen des Fragenden.

„Er schien meine Kenntniß der Sache vorauszusetzen und erging sich in Andeutungen, die ich nicht verstand, hinter denen sich aber irgend etwas Furchtbares barg.“

„Wie? Er wagte?“ fuhr Oskar auf.

„Ja, er wagte es, Deine Ehre zu verdächtigen und mich als Deine Mitschuldige zu behandeln. Er sprach davon, daß er mehr aus Deinem Leben wisse, als Dir lieb sei, er nannte uns Abenteurer – hörst Du, Abenteurer! Aber Du wirst ihn zur Rechenschaft ziehen, wirst ihm die Antwort geben, die er verdient, und Dich und mich rächen!“

Wildenrod war bleich geworden, er stand da mit verfinsterter Stirn und geballter Hand, aber er schwieg. Der stürmische Ausbruch des Zorns, der Empörung, den Cäcilie erwartet, auf den sie gehofft hatte, kam nicht.

„Das hat er Dir wirklich gesagt?“ fragte er endlich langsam.

„Wort für Wort! Und Du – Du entgegnest nichts?“

Wildenrod hatte sich gefaßt, er zuckte mit spöttisch überlegener Miene die Achseln. „Was soll ich denn darauf antworten? Verlangst Du etwa, daß ich solche Tollheiten ernst nehme?“

„Ihm war es Ernst damit, und wenn ihm, wie er behauptete, bis zur Stunde noch die Beweise fehlen –“

„Wirklich?“ Oskar lachte höhnisch und triumphierend auf, während ein tiefer Athemzug der Erleichterung seine Brust hob. „Nun, er mag sie suchen, diese Beweise, finden wird er sie nicht!“

Cäcilie stützte sich auf den Sessel, an dem sie stand, ihr war jenes Aufathmen nicht entgangen, und ihre Augen waren wie in Todesangst auf den Bruder gerichtet. „Hast Du keine andere Antwort, wenn man Deine Ehre angreift? Wirst Du Runeck nicht zur Rede stellen?“

„Das ist meine Sache! Ueberlaß es mir, mit diesem Menschen fertig zu werden! Was geht es Dich an?“

„Was es mich angeht, wenn man mich und Dich bis auf den Tod beleidigt?“ rief Cäcilie außer sich. „Uns Abenteurer zu nennen, denen Odensberg zur Beute werden soll, das darf ein Mann ungestraft wagen? Oskar, sieh mir ins Auge! Du scheust Dich, diesen Runeck zu züchtigen. Du fürchtest ihn – O mein Gott, mein Gott!“

Sie brach in ein wildes leidenschaftliches Schluchzen aus. Oskar trat rasch zu ihr, und seine Stimme sank zu einem zornigen Flüstern herab.

„Cäcilie, sei vernünftig! Du benimmst Dich wie eine Unsinnige. Was ist überhaupt mit Dir vorgegangen? Du bist ja wie verwandelt seit heute morgen.“

„Ja, seit heute morgen!“ wiederholte sie leidenschaftlich. „Da bin ich aufgewacht, o, es war ein bitteres Erwachen! Weiche mir nicht aus! Du hast mir gesagt, daß unser Vermögen verloren gegangen ist, und ich war gedankenlos genug, nicht einmal zu fragen, wie es kam, daß wir trotzdem auf großem Fuße lebten. Wann ging es verloren? Wodurch? Ich will es wissen!“

Wildenrod schaute sie finster an, der drohende Ton war ihm so neu an seiner Schwester wie ihr ganzes Benehmen – er mußte es aufgeben, sie noch ferner als Kind zu behandeln.

„Wann unser Vermögen verloren ging, willst Du wissen?“ fragte er herb, „Damals, als der Zusammenbruch unseres Hauses erfolgte und der Vater – Hand an sich legte.“

„Unser Vater?!“ Die Augen des jungen Mädchens öffneten sich weit und schreckensvoll. „Er starb nicht am – Schlagfluß?“

„Das sagte man der Welt, der Nachbarschaft und Dir, dem achtjährigen Kinde – ich weiß es besser. Unser Besitz war überschuldet, der Ruin nur noch eine Frage der Zeit, und als er wirklich kam, da griff der Vater zur Pistole – und ließ uns als Bettler zurück.“

So schonungslos die Worte klangen, es lag ein dumpfer grollender Schmerz darin, man sah, der Mann litt noch jetzt nach zwölf Jahren schwer an der Erinnerung.

Cäcilie schrie nicht auf, weinte nicht, ihre Thränen schienen plötzlich versiegt zu sein, sie fragte nur leise, fast tonlos: „Und dann?“

„Dann wurde die Ehre unseres Namens durch das persönliche Eintreten des Königs gerettet. Er kaufte die Güter und befriedigte die Gläubiger. Deine Mutter erhielt eine Gnadenpension, ein Almosen an der Stelle, wo sie Herrin gewesen war, und ich – nun ich ging in die weite Welt hinaus, um mein Glück zu versuchen.“

Ein minutenlanges Schweigen folgte; Cäcilie war in den Sessel gesunken und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Endlich hob Wildenrod wieder an: „Dich trifft das schwer, ich glaube es, aber mich hat es damals noch viel schwerer getroffen. [168] Ich hatte keine Ahnung davon, wie es mit uns stand, und nun, mitten aus dem vermeintlichen Reichthum, aus einer glänzenden Lebensstellung, einer großen Laufbahn herausgerissen zu werden, um der Armuth und dem Elend ins Auge zu sehen – Du weißt nicht, was das heißt. Man bot mir dieses und jenes Amt an, beim Post- und Steuerwesen, in irgend einer entfernten Provinz, bot mir, dessen glühender Ehrgeiz von den höchsten Zielen geträumt hatte, Hungerposten, bei denen Geist und Körper in der Tretmühle eines armseligen Daseins zu Grunde gegangen wären. Dafür war ich nicht geschaffen. Ich warf alles hinter mich und verließ Deutschland, um wenigstens den Schein zu retten, daß jener Verkauf und mein Abschied freiwillig gewesen wären.“

Cäcilie ließ langsam die Hände sinken und richtete sich auf. „Und doch hast Du Deine Stellung in der Gesellschaft behauptet? Wir galten für reich in den drei Jahren, die ich mit Dir verlebte, und waren von Glanz und Luxus umgeben!“

Wildenrod hatte keine Antwort auf die bange vorwurfsvolle Frage, er vermied es, dem Blicke seiner Schwester zu begegnen. „Laß das, Cäcilie!“ sagte er dann, „Es war ein heißes wildes Ringen um diese Stellung, die ich um keinen Preis aufgeben wollte, und es ist da manches geschehen, was besser unterblieben wäre. Allein ich hatte keine Wahl. In dem Kampfe ums Dasein heißt es siegen oder untergehen. Gleichviel!“ er athmete tief auf. „Jetzt ist das überwunden, Du bist Erichs Braut und ich – habe Dir etwas Freudiges mitzutheilen.“

Er kam nicht dazu, diese Mittheilung auszusprechen, denn an der Thür des Salons ließ sich ein leises Klopfen hören, und gleich darauf fragte Erichs Stimme:

„Darf ich nun endlich eintreten?“

„Erich?“ fuhr Cäcilie auf. „Ich kann ihn nicht sehen – jetzt nicht!“

„Du mußt ihn sprechen,“ flüsterte Oskar leise, aber befehlend. „Soll Dein Benehmen noch mehr auffallen? Nur auf einige Minuten!“

„Ich kann nicht! Sag’ ihm, ich sei krank, ich schlafe, oder was Du sonst willst!“

Sie wollte aufspringen, jedoch ihr Bruder zog sie wieder auf den Sitz nieder, während er im heiteren Tone rief: „Komm nur herein, Erich! Ich habe schon seit einer halben Stunde Audienz bei dem gnädigen Fräulein!“

„Das hörte ich von Nannon!“ sagte Erich, der jetzt den Salon durchschritt und eintrat, in vorwurfsvollem Tone. „Soll mir Deine Thür verschlossen bleiben, Cilly, wenn sie sich für Oskar öffnet? Mein Gott, wie bleich und verstört Du aussiehst! Was ist denn geschehen auf dieser unglückseligen Fahrt? Ich bitte Dich, sprich!“ Er hatte ihre Hand ergriffen und sah ihr angstvoll in das Gesicht. Die kleine Hand bebte in der seinigen, aber es erfolgte keine Antwort.

„Du solltest sie lieber schelten, obgleich ich das schon hinreichend gethan habe,“ sagte Wildenrod, „Weißt Du, wo sie heute morgen gewesen ist? Auf dem Albenstein!“

„Herr des Himmels!“ fuhr Erich entsetzt auf. „Ist das wahr, Cilly?“

„Buchstäblich wahr! Natürlich wurde sie auf dem Rückweg schwindlig, kam halbtot herunter und ist nun krank von der Ueberanstrengung und der ausgestandenen Angst. Sie schämte sich, das Dir und dem Doktor einzugestehen, allein erfahren mußt Du es doch.“

„Cäcilie, wie konntest Du mir das anthun?“ sagte der junge Mann mit schmerzlichem Vorwurf. „Dachtest Du denn gar nicht an meine Angst, an meine Verzweiflung, wenn Dir etwas zustieß? Hätte ich ahnen können, daß es mehr denn Scherz war, als Du damals mir und Egbert – was hast Du denn?“

Cäcilie war bei der Nennung des Namens zusammengezuckt; jetzt rollten ein paar Thränen über ihre Wangen, während sie murmelte: „Verzeih’ mir, Erich – verzeih’ mir!“

Erich hatte seine Braut noch nie weinen sehen, noch nie um Verzeihung bitten hören. Mit überwallender Zärtlichkeit küßte er ihre Hände. „Meine Cilly, mein geliebtes Mädchen, ich schelte Dich ja nicht, ich bitte Dich nur, nie, nie wieder ein solches Wagniß zu unternehmen. Du versprichst mir das, nicht wahr? Und jetzt –“

„Jetzt wollen wir ihr Ruhe gönnen,“ fiel Wildenrod ein. „Du siehst, wie nothwendig das ist. Versuche ein paar Stunden zu schlafen, Cilly, das wird Deine überreizten Nerven beruhigen. Komm, Erich!“

Dieser folgte sichtlich sehr ungern, aber da auch Cäcilie ihn mit fieberhafter Ungeduld zum Gehen drängte, so fügte er sich. Oskar begleitete ihn bis zur Treppe und trat dann in sein eigenes Zimmer. Kaum aber war der Schritt des jungen Mannes draußen verhallt, so kehrte er zu der Schwester zurück.

[181] Nachdem Oskar die Thür des Salons verriegelt hatte, um sich vor jedem unberufenen Lauscher zu sichern, trat er vor seine Schwester hin.

„Dir fehlt noch jede Selbstbeherrschung,“ sagte er gedämpft. „Ein Glück, daß ich an Deiner Seite war. Es war unter diesen Umständen das Beste, Deine tolle Bergfahrt einzugestehen. Nun aber gilt es, eine andere Gefahr zu beschwören. Runeck wird ohne Beweise nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen, und inzwischen bereiten sich Dinge vor, die nothgedrungen zum Bruche zwischen ihm und Dernburg führen müssen. Bis dahin – nun, ich bin schon mit Schlimmeren fertig geworden!“

Die letzten Worte athmeten wieder die ganze verwegene Zuversicht des Mannes, der schon oft alles auf eine Karte gesetzt und das Spiel gewonnen hatte.

Cäcilie hatte sich erhoben; ihre Augen waren mit einem seltsamen Ausdruck auf ihn gerichtet. „Bis dahin werden wir nicht mehr in Odensberg sein,“ sprach sie. „Fahre nicht auf, Oskar! Ich will nicht wissen, was Du mir verschweigst; was Du mir sagtest, war genug. Du mußt eine Gefahr beschwören, die Dir von Runeck droht – er hat also nicht gelogen, er kann Dich anklagen. Ich aber will nicht die Abenteurerin sein, die sich hier eindrängt und die man schließlich mit Schimpf und Schande fortjagt – hörst Du, ich will es nicht. Wir reisen ab, gleichviel wohin, unter irgend einem Vorwand – nur fort von hier, fort um jeden Preis!“

„Bist Du von Sinnen?“ rief Wildenrod; indem er ihren Arm ergriff, als gelte es jetzt schon, einen Fluchtversuch zu hindern. „Fort? Wohin? Denkst Du, ich kann Dir das frühere Leben wieder öffnen? Das ist vorbei, meine Hilfsquellen sind zu Ende!“

„Mir graut auch vor diesen Hilfsquellen,“ rief Cäcilie bebend. „Ich will arbeiten –“ [182] Oskar lachte laut und bitter auf. „Mit diesen Händen vielleicht? Weißt Du, was es heißt, um das tägliche Brot zu ringen? Dazu muß man erzogen sein – unsereins verhungert dabei!“

„Ich kann aber nicht bleiben, jetzt wo mir die Augen geöffnet sind, ich kann nicht! Versuche nicht, mich zu zwingen, oder ich sage Erich noch in dieser Stunde, daß ich ihn nicht liebe, ihn nie geliebt habe, daß unsere Verlobung einzig Dein Werk gewesen ist!“

Oskar erbleichte. Cäcilie war seiner Macht entwachsen, mit Befehlen und Drohungen ließ sich hier nichts ausrichten, so griff er denn zu einem letzten Mittel.

„So thue es,“ sagte er plötzlich kalt und entschlossen, „vernichte Dich und mich! Denn für mich handelt es sich hier um Sein oder Nichtsein. Vor einer Stunde habe ich mich mit Maja verlobt.“

„Mit wem?“ Cäcilie sah ihn an, als verstehe sie die Worte nicht.

„Mit Maja. Sie liebt mich, es bedarf nur noch der Einwilligung Dernburgs. Führst Du einen Bruch mit Erich herbei, deutest Du ihm die Wahrheit an, so ist auch mir Odensberg für immer verschlossen und dann – folge ich dem Beispiele unseres Vaters.“

„Oskar!“ Es war ein Aufschrei des Entsetzens.

„Ich thue es, mein Wort darauf! Glaubst Du, daß es mir leicht geworden ist, das Leben eines Abenteurers zu führen, mir, einem Wildenrod? Weißt Du, was ich gelitten habe ehe es dahin kam? Wie oft ich nachher versuchte, mich emporzureißen? Immer umsonst! und nun endlich naht mir die Rettung, die Erlösung durch die Hand eines holden Kindes, nun erfasse ich es endlich, das so lange gesuchte, so heiß ersehnte Glück – und in dem Augenblick, wo ich es in die Arme schließe, soll es mir wieder entrissen, soll ich zurückgeschleudert werden in den alten Fluch? Das ertrage ich nicht! Eher das Ende!“

Es lag eine eiserne Entschlossenheit auf seinen Zügen, in seinem Tone; das war keine leere Drohung. Cäcilie schauderte.

„Nein,“ flüsterte sie. „Nein, nein, nur das nicht!“

„Ist es denn etwas so Furchtbares, was ich von Dir fordere?“ fragte Wildenrod milder. „Du sollst ja nur schweigen und diese unselige Stunde vergessen! Ich habe Dich retten wollen aus dem Leben, in das ich Dich führen mußte, noch ehe Dir die Augen darüber aufgingen, und jetzt rette ich mich mit Dir. Ich werfe die Vergangenheit hinter mich und beginne ein neues Leben. Hier in Odensberg öffnet sich mir ein neues großes Feld, und Dernburg soll in mir finden, was sein Sohn ihm nicht sein kann. Du wirst Erichs Gattin, er liebt, vergöttert Dich, Du kannst ihn glücklich machen und selbst glücklich sein an seiner Seite!“

Er hatte sich zu ihr herabgebeugt, und seine Stimme hatte einen weichen Klang, aber die Augen seiner Schwester blickten mit einem unendlich wehen Ausdruck zu ihm empor.

„Wie soll ich Erichs Nähe, seine Zärtlichkeit jetzt noch ertragen? Schon die wenigen Minuten vorhin sind eine Folter für mich gewesen. Und wenn ich Runeck wieder begegnen und in seinen Augen dieselbe tödliche Verachtung lesen müßte wie heute früh, ohne daß ich mich dagegen erheben könnte – Verachtung von diesem Runeck!“

Aus dem letzten Wort klang ein verzweifelnder Schmerz. Wildenrod stutzte und heftete einen forschenden Blick auf sie.

„Fürchtest Du seine Verachtung so sehr?“ fragte er langsam. „Sei ruhig, er wird nach jenem Auftritt selbst jede Begegnung vermeiden, in den Familienkreis kommt er ohnehin nicht mehr. Alles andere überlaß mir! Du sollst nur ruhig sein und schweigen. Versprichst Du’s mir?“

„Ja!“ murmelte Cäcilie kaum hörbar.

Oskar beugte sich nieder und berührte mit den Lippen ihre Stirn. „Ich danke Dir! Und nun will ich Dich wirklich allein lassen, denn ich sehe, daß Du dies Gespräch nicht länger erträgst.“

Er wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen, und wieder traf ein durchdringender Blick ihr Gesicht. „Egbert Runeck ist unser Feind, ein Todfeind, der Dich und mich vernichten will und dem ich Kampf bieten muß bis aufs Messer – vergiß das nicht!“

Cäcilie gab keine Antwort, aber ihr ganzer Körper bebte wie im Fieber, als die Thür hinter ihrem Bruder zufiel. Die Wahrheit, die er ihr nicht mehr zu verhüllen suchte, hatte ihr Innerstes getroffen. Die bunte glänzende Welt der Freude und des Genusses, die sie bisher allein gekannt, lag zertrümmert zu ihren Füßen, der Fels war gespalten – was barg sich in seiner Tiefe?




Wochen waren vergangen, der Frühling hatte Abschied genommen und der Sommer war gekommen in seiner vollen heißen Pracht. In Odensberg begann man schon Vorbereitungen zu treffen für die Vermählungsfeier, die auf die letzten Tage des August festgesetzt war. Nach der Trauung sollte eine größere Festlichkeit stattfinden, die den ganzen Umgangskreis des Dernburgschen Hauses vereinigte, und unmittelbar darauf wollte das junge Paar seine Hochzeitsreise nach dem Süden antreten.

Auch die Beamten und Arbeiter der Odensberger Werke beabsichtigten, sich an dem Feste zu betheiligen. Es galt eine Huldigung für den Chef bei der Vermählung seines einzigen Sohnes und Erben. Der Direktor stand an der Spitze eines Ausschusses, der einen großartigen Festzug plante, und alle waren mit vollem Eifer bei der Sache.

Aber trotz dieser festlichen Vorbereitungen lag es doch wie eine Wolke über dem Herrenhause und dem Dernburgschen Familienkreise. Dernburg selbst war durch allerlei äußere und innere Vorkommnisse verstimmt, die bevorstehenden Wahlen zum Reichstage begannen selbst sein Odensberg in Mitleidenschaft zu ziehen, und er wußte nur zu gut, daß auch hier Aufreizungen und Einflüsterungen stattfanden. Offen geschah das allerdings nicht, dazu hielt er die Zügel zu fest in der Hand, aber er vermochte nicht der geheimen und eben deshalb gefährlichen Thätigkeit zu steuern, mit welcher die sozialdemokratische Partei auf seinen bisher so unbedingt behaupteten Werken Schritt um Schritt vordrang.

Ueberdies machte ihm Erichs Gesundheit von neuem ernstliche Sorge; er hatte fast ganz darauf verzichten müssen, den Sohn, wie er gehofft und gewünscht, in seinen künftigen Beruf einzuführen. Der junge Mann kränkelte fortwährend, bedurfte nach wie vor der größten Schonung, und von einer regelmäßigen Thätigkeit war nicht die Rede. Endlich kam noch Wildenrods Werbung und Majas offen eingestandene Liebe, die Dernburg mit dem äußersten Befremden, ja beinahe mit Unwillen aufgenommen hatte.

Der Freiherr hatte noch an demselben Tage, an dem er sich dem jungen Mädchen erklärt, bei dem Vater um ihre Hand angehalten, aber einen viel entschiedeneren Widerstand gefunden, als er erwartet hatte. So sehr Dernburg persönlich für ihn eingenommen war, der Gatte, den er für seine Tochter wünschte, war Oskar nicht, und der Gedanke, das sechzehnjährige Kind einem Manne zu vermählen, der dem Alter nach ihr Vater hätte sein können, war ihm ebenso unfaßbar wie die Erwiderung dieser Leidenschaft von seiten Majas. Die Bitten seines Lieblings erreichten es freilich, daß er das anfängliche Nein nicht aufrecht erhielt, aber ebensowenig war er zu bewegen, jetzt schon seine Einwilligung zu geben. Er erklärte mit aller Entschiedenheit, seine Tochter sei noch viel zu jung, um sich schon für das ganze Leben zu binden, sie solle warten, sich prüfen, in zwei Jahren wolle man wieder von der Sache reden.

Warten! Das war ein verhängnißvolles, ein unmögliches Wort für den Mann, der mit der Minute rechnen mußte, und doch blieb ihm für den Augenblick nichts anderes übrig, denn Maja wurde seinem Einfluß entzogen. Er selbst hatte allerdings nach jener Werbung einen leisen, aber doch verständlichen Wink erhalten, daß unter diesen Verhältnissen das tägliche Zusammensein nicht aufrecht zu erhalten sei, indessen Odensberg jetzt verlassen, hieß soviel als sein Spiel verloren geben. Es galt, wachsam zu sein und der Gefahr zu begegnen, die seit jener Drohung Runecks wie eine Wetterwolke über seinem Haupte hing. Und er mußte auch seiner Schwester zur Seite bleiben, um sicher zu sein, daß sie das ihr abgerungene Versprechen halte – sie war unglaublich verändert seit der unglücklichen Stunde. Er hatte also jenen Wink nicht verstehen wollen und war geblieben. Aber da griff Dernburg sofort mit seiner gewohnten Entschlossenheit ein und sandte seine Tochter, unter dem Vorwande eines Besuches, zu einer [183] befreundeten Familie; sie sollte erst zur Hochzeit des Bruders zurückkehren. –

Egbert Runeck war von Radefeld gekommen, um seinem Chef den gewohnten Bericht zu erstatten. Er pflegte schon seit Wochen bei dieser Gelegenheit nur im Arbeitszimmer zu verweilen und sofort zurückzukehren, wenn das Geschäftliche erledigt war; dem Familienkreise schien er ganz fremd geworden zu sein. Heute aber hatte er zuerst Erich aufgesucht, der ihn mit freudiger Ueberraschung, aber auch mit Vorwürfen empfing.

„Endlich läßt Du Dich einmal wieder sehen! Ich glaubte schon, Du hättest mich ganz vergessen und überhaupt unser Haus in Acht und Bann gethan. Nur der Papa bekommt Dich noch zu Gesicht!“

„Du weißt, wie sehr ich in Anspruch genommen bin,“ versetzte Egbert ausweichend. „Meine Arbeiten –“

„Jawohl, Deine Arbeiten müssen immer den Vorwand liefern! Aber komm, laß uns plaudern – ich bin so froh, Dich einmal ungestört für mich allein zu haben.“

Er zog den Jugendfreund neben sich auf das Sofa nieder und begann zu fragen und zu erzählen. Er sprach jedoch fast allein. Runeck zeigte sich auffallend schweigsam und zerstreut, nur bisweilen antwortete er wie mechanisch, als habe er ganz andere Dinge im Kopfe. Erst als Erich von seiner bevorstehenden Vermählung zu sprechen begann, wurde er aufmerksamer.

„Wir wollen noch am Hochzeitstage abreisen, gleich nach dem Festmahl,“ sagte dieser mit einem glücklichen Lächeln. „Einige Wochen denke ich mit meiner jungen Frau in der Schweiz zu bleiben, dann aber fliegen wir beide nach dem Süden. Nach dem Süden! Du ahnst nicht, welchen Zauber das Wort für mich hat. Dieser kalte nordische Himmel, diese düsteren Tannenberge, dies ganze Leben und Treiben hier, das alles liegt so schwer auf mir. Ich kann hier nicht völlig genesen – Hagenbach, der soeben bei mir war, meint das auch und schlägt vor, daß wir den ganzen Winter in Italien bleiben. Leider wird Papa davon nichts hören wollen – es wird einen Kampf kosten, das bei ihm durchzusetzen.“

„Du fühlst Dich wieder leidender?“ fragte Egbert, dessen Auge mit einem seltsam forschenden Ausdruck auf den bleichen eingefallenen Zügen des Freundes ruhte.

„O, das hat nichts zu bedeuten,“ sagte Erich sorglos. „Der Doktor ist nur so unglaublich ängstlich. Er hat mir das Reiten verboten, giebt mir alle möglichen Verhaltungsregeln und jetzt will er gar die Vermählungsfestlichkeiten beschränkt wissen, weil sie mich anstrengen könnten. Nur keine Aufregung! Das ist sein erstes und letztes Wort. Ich fange nachgerade an, ärgerlich zu werden, er behandelt mich wie einen Schwerkranken, dem jede Erregung den Tod bringen kann.“

Runecks Blick haftete noch immer schwer und düster auf dem Gesicht des jungen Mannes, und es lag wie ein verhaltener Kampf in seinen Zügen und in seiner Stimme, als er fragte:

„Also Doktor Hagenbach fürchtet die Aufregung für Dich? Freilich, Du hast damals einen Blutsturz gehabt –“

„Mein Gott, das war vor zwei Jahren und ist längst ausgeheilt,“ unterbrach ihn Erich ungeduldig. „Mir bekommt nur die Luft in Odensberg nicht, und auch Cäcilie kann und wird sich nie in das Leben hier finden. Sie ist für die Freude und den Sonnenschein geschaffen, das ist das Element, in dem allein sie leben kann, hier, wo alles auf Arbeit und Pflicht gestellt ist, wo die strengen Augen meines Vaters sie wie in einem Banne halten, kann sie nicht gedeihen. Wenn Du wüßtest, was aus meiner strahlend heiteren Cilly geworden ist, die von Leben und Uebermuth sprühte, die selbst in ihren Launen so entzückend war! Wie bleich und still ist sie geworden in den letzten Wochen, wie seltsam verändert in ihrem ganzen Wesen! Manchmal fürchte ich, daß da etwas ganz anderes zu Grunde liegt. Wenn sie das Wort bereute, das sie mir gegeben, wenn – ach, ich sehe überall Gespenster!“

„Aber Erich, ich bitte Dich,“ fiel Runeck beschwichtigend ein. „Befolgst Du so die Vorschrift des Arztes? Du regst Dich in ganz unnöthiger Weise auf.“

„Nein, nein!“ rief der junge Mann leidenschaftlich. „Ich sehe und fühle es, daß Cäcilie mir irgend etwas verbirgt – vorgestern hat sie sich verrathen. Ich sprach von unserer Hochzeitsreise, von Italien, da brach es plötzlich hervor: ‚Ja, laß uns fort, Erich, wohin Du willst, nur weit weit fort von hier! Ich ertrage es nicht länger!‘ Was erträgt sie nicht? Sie wollte mir darüber nicht Rede stehen, aber es klang wie Verzweiflung.“

Erregt sprang er auf. Auch Egbert erhob sich, dabei trat er wie zufällig aus dem hellen Sonnenschein, der durch das Fenster hereindrang, in den Schatten. „Du liebst Deine Braut wohl sehr?“ fragte er langsam, mit schwerer Betonung.

„Ob ich sie liebe!“ Das blasse Gesicht Erichs röthete sich und seine Augen leuchteten auf in schwärmerischer Zärtlichkeit. „Du hast nie geliebt, Egbert, sonst könntest Du nicht so fragen. Wenn Cäcilie mir damals, als ich um sie warb, ein Nein geantwortet hätte, vielleicht hätte ich es ertragen. Wenn ich sie jetzt verlieren müßte – das gäbe mir den Tod!“

Egbert schwieg. Er stand zur Hälfte abgewendet, noch immer lag der stumme qualvolle Kampf in seinen Zügen. Bei den letzten Worten aber richtete er sich empor, trat zu dem Freunde und legte die Hand auf dessen Arm.

„Du sollst sie nicht verlieren, Erich,“ sagte er fest, aber mit zuckenden Lippen. „Du wirst leben und glücklich sein.“

„Weißt Du das so genau?“ fragte Erich, befremdet aufblickend. „Du sprichst ja, als wärest Du Herr über Leben und Tod.“

„So nimm es als eine Prophezeiung, die sich Dir erfüllen wird. – Doch ich muß fort, ich kam überhaupt nur, um Dir Lebewohl zu sagen, denn meine Thätigkeit in Radefeld ist früher zu Ende, als ich glaubte.“

„Um so besser, dann kehrst Du doch nach Odensberg zurück, und wir sehen uns hoffentlich vor meiner Abreise noch häufig genug!“

„Schwerlich, ich habe andere Pläne, die es mir nicht möglich machen, in Odensberg zu bleiben. Ich will eben heute mit Deinem Vater darüber sprechen.“

„Du bist eine beneidenswerthe Natur!“ sagte Erich mit einem Seufzer. „Immer vorwärts, immer aufwärts zu neuen Zielen, ohne Rast und Ruhe! Kaum ist eine Arbeit zu Ende, so hast Du schon wieder neue Entwürfe im Kopfe. Was sind denn das für Pläne?“

„Das wirst Du besser von Deinem Vater hören, jetzt bist Du doch nicht in der Stimmung dazu. Also – leb’ wohl, Erich!“ Er bot ihm mit mühsam unterdrückter Bewegung die Hand, die Erich unbefangen nahm.

„Aber nicht wahr, wir nehmen noch keinen Abschied voneinander? Du kehrst doch einstweilen nach Radefeld zurück?“

„Allerdings, allein ich verlasse es vielleicht schon in den nächsten Tagen, und wer weiß, wo ich mein Zelt aufgeschlagen habe, wenn Du im Frühjahr aus Italien zurückkommst.“

„Aber dann sehen wir uns doch noch bei meiner Hochzeit!“ warf Erich ein.

„Wenn es mir möglich ist –“

„Das muß Dir möglich sein, ich lasse Dich ohne dieses Versprechen nicht gehen. Dich will ich an diesem Tage nicht entbehren. Du kommst unter allen Umständen, Egbert, hörst Du? Und nun muß ich Dich wohl fortlassen, denn ich sehe, daß Dir schon wieder der Boden unter den Füßen brennt. Also auf Wiedersehen!“

„Ja – leb’ wohl, Erich!“

Es war ein heftiger, beinahe krampfhafter Druck, mit dem Runeck die Hand des Jugendfreundes preßte, dann wandte er sich rasch ab und verließ das Zimmer, als fürchtete er, zurückgehalten zu werden. Erst draußen auf dem Gang blieb er stehen und sagte leise mit einem tiefen Athemzug: „Das wäre überstanden! Er hat recht, es würde ihm den Tod geben. – Nein, Erich, Du sollst nicht sterben, nicht durch mich! Das will ich nicht auf mich nehmen!“

Dernburg befand sich wie gewöhnlich um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer. Er sah ernst und sorgenvoll aus, während er dem Doktor Hagenbach zuhörte, der ihm gegenübersaß. Oskar von Wildenrod war gleichfalls anwesend; er lehnte mit verschränkten Armen am Fenster, ohne sich an dem Gespräche zu betheiligen, dem er gleichwohl mit gespannter Aufmerksamkeit folgte.

„Sie machen sich übertriebene Sorgen,“ sagte der Arzt in beruhigendem Tone, obgleich auch seine Miene nicht besonders zuversichtlich war. „Herr Erich leidet noch unter den Nachwirkungen unseres rauhen Frühjahres. Er hätte länger im Süden bleiben und noch eine Uebergangsstation wählen müssen; der jähe [184] Klimawechsel ist ihm schädlich gewesen. Er muß einstweilen zurück nach Italien, und ich habe eben mit ihm über den Winteraufenthalt gesprochen. Er würde Rom vorziehen, der jungen Frau wegen. Ich bin eher für Sorrent oder, wenn es denn doch eine größere Stadt sein soll, für Palermo.“

Dernburgs Stirn verfinsterte sich bei den letzten Worten noch mehr, und mit kaum verhehlter Unruhe fragte er: „Halten Sie es für unbedingt nothwendig, daß Erich den ganzen Winter fortbleibt? Ich hoffte, er würde zum Weihnachtsfeste mit seiner Frau zurückkehren.“

„Nein, Herr Dernburg, das geht für diesmal nicht,“ entgegnete Hagenbach mit Bestimmtheit. „Das hieße ja alles wieder aufs Spiel setzen, was wir im vergangenen Winter gewonnen haben.“

„Und was haben wir denn gewonnen? Eine halbe Genesung, die schon nach wenigen Monaten in Frage gestellt ist! Seien Sie aufrichtig, Doktor – Sie glauben, daß mein Sohn unser Klima überhaupt nicht verträgt.“

„Vorläufig dürfte es allerdings nöthig sein –“

„Nichts von ‚vorläufig‘! Ich will die Wahrheit wissen, die volle Wahrheit! Halten Sie es für durchführbar, daß Erich dauernd in Odensberg leben, daß er mein Mitarbeiter, mein dereinstiger Nachfolger werden kann, wie ich es hoffte, als er im Frühjahr scheinbar genesen zurückkehrte?“

Sein Blick hing mit unruhiger Spannung an den Lippen des Arztes, ebenso wie das Auge Wildenrods, der aus der Fensternische hervorgetreten war. Hagenbach zögerte mit der Antwort, sie schien ihm schwer zu werden. Endlich sagte er ernst:

„Nein, Herr Dernburg – da Sie die Wahrheit verlangen – wie die Dinge liegen, ist ein dauernder Aufenthalt im Süden Lebensbedingung für Ihren Sohn. Er kann im Sommer auf einige Monate nach Odensberg kommen, aber einen Winter in unseren Bergen erträgt er nicht mehr, so wenig wie die Anstrengungen einer Berufsthätigkeit. Das ist meine feste Ueberzeugung.“

Wildenrod machte eine unwillkürliche Bewegung bei dieser mit aller Entschiedenheit gegebenen Erklärung, Dernburg schwieg, er stützte nur den Kopf in die Hand, aber man sah es, wie schwer ihn der Ausspruch des Arztes traf, obgleich er ihn geahnt haben mochte.

„Dann heißt es also Abschied nehmen von den Plänen, die ich so lange genährt habe,“ sagte er endlich. „Ich hoffte trotz alledem – gleichviel, Erich ist mein einziger Sohn, ich will ihn mir erhalten, auch wenn ich meine liebsten Hoffnungen dabei begraben muß. So mag er sich denn irgendwo im Süden ein Heim gründen und seine Thätigkeit darauf beschränken, es zu bauen und auszuschmücken – ich kann’s ihm ja gewähren.“

Ein schwerer halbunterdrückter Seufzer verrieth, was ihn der Entschluß kostete. Dann wandte er sich zu dem Arzte und bot ihm die Hand. „Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit, Doktor. Wenn die Wahrheit auch bitter ist, ich muß mich damit abfinden. Wir sprechen noch näher darüber!“

Hagenbach verabschiedete sich und ging. Einige Minuten herrschte Schweigen im Zimmer, dann fragte Wildenrod mit gedämpfter Stimme: „Hat Sie der Ausspruch überrascht? Mich nicht, ich fürchtete längst etwas dergleichen. Wenn Erich nur dauernd gesundet, dann, hoffe ich, werden Sie und er sich leichter in die Trennung finden.“

„Erich wird sich sehr leicht darein finden,“ sagte Dernburg mit aufquellender Bitterkeit. „Er hat stets Furcht vor der Lebensstellung gehabt, die seiner wartete, ihn ängstigte dies mächtige rastlose Getriebe, dessen Herr und Leiter er sein sollte, mit all seinen Anforderungen und Pflichten. Er wird weit lieber am Strande des blauen Meeres sitzen, Baupläne für seine Villa machen und froh sein, wenn ihn nichts in seiner träumerischen Ruhe stört – und ich stehe allein hier, gezwungen, mein Odensberg, das Werk meines Lebens, dereinst in fremden Händen zu lassen. Das ist hart!“

„Müssen Sie das wirklich?“ fragte Oskar bedeutungsvoll, indem er näher trat. „Sie haben ja noch eine Tochter, die Ihnen einen zweiten Sohn geben kann, aber Sie versagen ihrem Erwählten noch immer die Sohnesrechte.“

Dernburg machte eine abwehrende Bewegung.

„Lassen wir das! Nicht jetzt –“

„Gerade jetzt, in dieser Stunde möchte ich zu Ihnen sprechen. Sie haben meine Werbung um Maja in einer Weise aufgenommen, welche ich nicht erwartet und nicht verdient habe. Sie machten mir fast einen Vorwurf daraus, als hätte ich damit ein Unrecht begangen.“

„Ein Unrecht ist es auch, Herr von Wildenrod. Sie durften dem sechzehnjährigen Kinde nicht von Liebe sprechen und es mit dem Geständniß Ihrer Leidenschaft an sich ketten, ohne der Einwilligung des Vaters sicher zu sein. Einem Jüngling verzeiht man es, wenn er sich von der Empfindung des Augenblickes hinreißen läßt, einem Manne in Ihren Jahren nicht.“

„Und dieser Augenblick hat mir doch das höchste Glück meines Lebens gegeben,“ rief Oskar aufflammend, „die Gewißheit, daß auch Maja mich liebt! Sie hat dieses Geständniß vor Ihnen wiederholt – wir hofften beide auf den Segen des Vaters. Statt dessen werden wir zu einem endlosen Warten verurtheilt. Sie haben Maja aus Odensberg verbannt, sich selbst ihrer Nähe beraubt, nur um sie mir zu entziehen –“

„Und was hätte ich denn sonst thun sollen?“ fiel Dernburg ein. „Nach Ihrer übereilten Erklärung war ein unbefangener täglicher Verkehr nicht mehr möglich, wenn ich nicht sofort der Verlobung zustimmte.“

„So thun Sie es jetzt! Majas Herz gehört mir, daran wird weder Zeit noch Trennung etwas ändern, und ich liebe sie grenzenlos. Ihren Sohn müssen Sie in die Ferne ziehen lassen – nun wohl, so lassen Sie mich an seine Stelle treten! Ich habe Ihr Odensberg lieben gelernt und bringe ihm die volle ungebrochene Kraft eines Mannes entgegen, der seines zwecklosen Daseins müde ist und ein neues Leben anfangen möchte. Wollen Sie mir das versagen, nur weil zwei Jahrzehnte zwischen mir und meiner jungen Braut liegen?“

Er sprach mit heißer dringender Bitte und er hätte keine bessere Zeit wählen können als diese Stunde, in welcher dem Manne, der da mit umdüsterter Stirn vor ihm saß, all die Hoffnungen zusammenstürzten, die er auf seinen Sohn gebaut hatte und auf jenen anderen, den er seinem schwachen unselbständigen Erben dereinst an die Seite hatte stellen wollen; auch dieser Plan war gescheitert, seit Dernburg wußte, daß Majas Herz nicht mehr frei war. Und nun brauchte er sein Lieblingskind nicht von sich zu lassen, wenn sie die Gattin Wildenrods wurde, und dieser bot ihm mit seiner kraftvollen entschlossenen Persönlichkeit Ersatz für das, was er verlor! Die Wahl war in der That nicht schwer.

„Das ist ein ernster folgenschwerer Entschluß, Herr von Wildenrod,“ sagte Dernburg. „Wenn Sie sich wirklich zu einer so völligen Umgestaltung Ihres bisherigen Lebens verstehen könnten – es ist keine leichte Aufgabe, die Ihrer wartet, und sie hat vielleicht nur deshalb einen Reiz für Sie, weil sie Ihnen neu und fremd ist. Sie sind an keine regelmäßige Thätigkeit gewöhnt –“

„Aber ich werde es lernen,“ fiel Wildenrod ein. „Sie haben mich oft im Scherz Ihren Assistenten genannt, seien Sie jetzt im Ernst mein Lehrer und Führer, Sie sollen sich Ihres Schülers nicht schämen müssen! Ich habe endlich eingesehen, daß man schaffen und arbeiten muß, um glücklich zu sein, und ich werde arbeiten. Und nun gewähren Sie meine Bitte ... Sie haben Erich erlaubt, glücklich zu sein, wollen Sie es Maja und mir verweigern?“

„Wir werden sehen“ entgegnete Dernburg, aber in seinem Tone lag schon halb und halb die Gewährung. „In drei Wochen ist Erichs Hochzeit, dann kehrt Maja nach Odensberg zurück und –“

„Dann darf ich um meine Braut werben!“ fiel Oskar stürmisch ein, „O, ich danke Ihnen, wir danken beide unserem strengen und doch so gütigen Vater!“

Ein flüchtiges Lächeln erhellte Dernburgs Stirn und wenn er die Einwilligung auch noch nicht aussprach, so wies er doch den Dank nicht zurück.

„Aber nun genug davon, Oskar,“ sagte er, zum ersten Male die vertrauliche Anrede gebrauchend. „Sie zwingen mir sonst mit Ihrem stürmischen Drängen noch alles Mögliche ab, und ich habe noch Geschäftliches zu erledigen. Egbert muß gleich hier sein, er kommt heute von Radefeld herein, um mir Bericht zu erstatten.“

[186] Der strahlende Ausdruck verschwand aus Wildenrods Zügen und machte für einen Augenblick einem leisen höhnischen Lächeln Platz; dann warf er mit anscheinender Gleichgültigkeit hin: „Herr Runeck wird jetzt von anderer Seite sehr in Anspruch genommen sein. Es rührt sich ja in seiner Partei an allen Ecken und Enden!“

„Jawohl,“ entgegnete Dernburg ruhig, ohne den Ausfall bemerken zu wollen. „Die Herren Sozialisten fühlen sich, der Kamm schwillt ihnen gewaltig. Sie scheinen sogar einen eigenen Kandidaten für unseren Wahlkreis aufstellen zu wollen – zum ersten Male!“

„So heißt es allerdings. Wissen Sie, wen man dafür in Aussicht genommen hat?“

„Noch nicht, aber ich vermuthe, es wird Landsfeld sein, der bei jeder Gelegenheit den Führer spielt. Er ist freilich nur Agitator, seine Sache ist bloß das Wühlen und Hetzen, für den Reichstag taugt er nicht, und die Partei pflegt ihre Leute sehr genau zu kennen. Aber es handelt sich ja überhaupt nur um eine Kraftprobe. Die Sozialisten denken nicht ernstlich daran, mir das Mandat streitig zu machen.“

„Glauben Sie?“ Das Auge des Freiherrn ruhte mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf dem Gesichte des Sprechenden „Nun – vielleicht weiß Herr Runeck näher Bescheid darüber.“

Dernburg zuckte ungeduldig die Achseln. „Egbert wird sich allerdings jetzt entscheiden müssen, das weiß er so gut wie ich. Stimmt er mit seiner Partei, das heißt in diesem Falle gegen mich, so sind wir fertig miteinander.“

„Er hat bereits entschieden,“ sagte Wildenrod kalt. „Sie kennen den Namen des gegnerischen Kandidaten noch nicht – ich kenne ihn. Er geht Sie und Odensberg ziemlich nahe an – er heißt Egbert Runeck.“

Dernburg zuckte zusammen wie von einem Schlag getroffen; einige Sekunden lang starrte er den Freiherrn an, als glaubte er, dieser sei nicht recht bei Sinnen. Dann erklärte er kurz und bündig: „Das ist nicht wahr!“

„Bitte, meine Quelle ist die sicherste.“

„Es ist nicht wahr, sage ich Ihnen, Sie sind falsch berichtet, müssen es sein.“

„Schwerlich, aber das wird sich ja bald zeigen, da Sie Runeck erwarten.“

Dernburg sprang auf und begann in heftiger Erregung im Zimmer auf und nieder zu gehen, aber er mochte die Sache ansehen, wie er wollte, sie erschien ihm so unglaublich wie im ersten Augenblick. „Thorheit! Zu einem solchen Possenspiel giebt sich der Egbert nicht her. Er weiß es, daß er mir gegenübertreten, mich bekämpfen muß!“

„Glauben Sie etwa, daß ihn das hindern wird?“ fragte Oskar spöttisch. „Herr Runeck steht jedenfalls hoch über den veralteten Vorurtheilen von Dankbarkeit und Anhänglichkeit, und wer weiß, ob seine Wahl wirklich so aussichtslos ist. Seit Monaten ist er da draußen in Radefeld, jeder Aufsicht entzogen, und hat ein paar hundert Arbeiter zur Verfügung. Die wird er sich ohne Zweifel gesichert haben, und jeder einzelne wirbt ihm zehn, zwanzig Stimmen bei den Kameraden hier in Odensberg. Er wird die Zeit gut benutzt haben.“

Dernburg gab keine Antwort, aber sein Schritt wurde immer heftiger, seine Miene immer drohender, während Wildenrod fortfuhr: „Und diesen Menschen haben Sie mit Wohlthaten überschüttet! – Er dankt Ihnen seine Erziehung, seine Ausbildung, alles, was er ist. Sie gaben ihm eine Stellung, – um die ihn sämtliche Beamten beneiden, und er benutzt das, um heimlich gegen Sie zu wühlen und Sie hier in Odensberg mit den Stimmen Ihrer eigenen Leute zu schlagen.“

„Halten Sie das etwa für möglich?“ fragte Dernburg mit Schärfe. „Ich denke, wir brauchen uns darum keine Sorge zu machen.“

„Hoffentlich nicht, allein es wird wenigstens versucht werden, und schon das ist genug. Bis zu diesem Augenblick hat Runeck wohlweislich geschwiegen, obwohl ihm seit Monaten bekannt sein mußte, um was es sich handelte. Oeffnet Ihnen das endlich die Augen über Ihren Günstling ober glauben Sie meiner Nachricht noch immer nicht?“

„Nein! Uebrigens wird mir Egbert Rede stehen.“

„Weil er muß! Das wird eine böse Stunde, auch für Sie, denn ich sehe, wie schon die bloße Möglichkeit Sie erregt, und doch –“

„Gehen Sie, Oskar!“ unterbrach ihn Dernburg finster. „Egbert kann jede Minute kommen, und wie die Unterredung auch ausfallen mag, ich will ihn allein sprechen.“

Er reichte dem Freiherrn die Hand, und dieser ging; ein stolzer leidenschaftlicher Triumph blitzte aus seinen Augen, als er durch die anstoßenden Zimmer schritt. Endlich hatte er den Fuß auf den Boden gesetzt, wo er künftig Herr sein wollte, alleiniger Herr, wenn der jetzige Gebieter von Odensberg die Augen schloß. Erich räumte ihm freiwillig das Feld, wenn er mit seiner Gattin in die Ferne zog und sich dort der Heimath ganz entfremdete. Jetzt konnten sie zur Wahrheit werden, die stolzen Träume von Macht und Reichthum, und daneben erblühte ein holdes nie gekanntes Glück! Noch eine kleine Weile, dann war das heiß ersehnte Ziel erreicht und die Vergangenheit ausgelöscht und begraben!

Wildenrod betrat eben das Vorzimmer, als die Thür desselben sich öffnete und Egbert Runeck ihm gegenüberstand. Er that unwillkürlich einen Schritt zurück, auch Runeck stutzte und blieb stehen. Er sah es, daß der Freiherr an ihm vorüber wollte, aber er verharrte auf der Schwelle, als wollte er den Ausgang wehren. Einige Sekunden lang maßen sie sich so Auge in Auge, dann fragte Oskar scharf: „Haben Sie mir etwas zu sagen, Herr Runeck?“

„Für jetzt – nein,“ versetzte Egbert kalt. „Vielleicht später.“

„Es ist nur die Frage, ob ich dann Zeit und Neigung haben werde, Sie anzuhören.“

„Ich glaube, Sie werden Zeit haben, Herr von Wildenrod.“

Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich, der eine sprühend in wildem tödlichen Haß, der andere voll finsterer Drohung; dann sagte Oskar hochmüthig: „Einstweilen ersuche ich Sie, den Weg freizugeben, Sie sehen, daß ich hinaus will.“

Runeck wich langsam zurück und gab die Thür frei. Wildenrod schritt an ihm vorüber, und wieder spielte jenes höhnische triumphierende Lächeln um seine Lippen. Nun fürchtete er die Gefahr nicht mehr, die bisher dunkel wie eine Wetterwolke über seinem Haupte gehangen hatte. Wenn sein Gegner jetzt auch sprach, so fand er kein Gehör mehr. Die „böse Stunde“, die sich da drinnen vorbereitete, mußte den Feind für immer vernichten!

[201] Als Runeck in das Arbeitszimmer seines Chefs trat, fand er diesen am Schreibtisch, und in der Art, wie er empfangen und seine Begrüßung erwidert wurde, lag nichts Ungewöhnliches. Erst als er eine Mappe hervorzog und sie öffnete, sagte Dernburg: „Laß das, Du kannst mir später Vortrag halten; für jetzt habe ich Wichtigeres mit Dir zu besprechen.“

„Ich möchte vorher nur um einige Minuten Gehör bitten,“ entgegnete Egbert, indem er der Mappe eine Anzahl von Papieren entnahm. „Die Arbeiten in Radefeld sind beinahe vollendet, der Buchberg ist durchbrochen und die ganze Wasserkraft des Grundes für Odensberg verfügbar. Hier sind die Pläne und Zeichnungen, es handelt sich nur noch um den Anschluß der Leitung an die Werke, und das kann von jedem anderen ausgeführt werden, wenn ich zurücktrete.“

„Zurücktreten? Was soll das heißen? Du willst die Arbeiten nicht zu Ende führen?“

„Nein. Ich bin gekommen, um – meine Entlassung zu erbitten.“

Die Worte klangen schwer und dumpf und der junge Ingenieur vermied es, seinen Chef dabei anzusehen. Dieser gab kein Zeichen von Ueberraschung, er lehnte sich in seinen Sessel zurück und kreuzte die Arme.

„So! Nun, Du mußt wissen, was Du zu thun hast. Wenn Du wirklich fort willst, werde ich Dich nicht halten. Aber ich glaubte wenigstens, Du würdest erst die einmal übernommene Arbeit vollenden. Es ist doch sonst nicht Deine Sache, irgend etwas halb zu thun.“

„Eben deshalb gehe ich, mich ruft eine andere Pflicht, der ich gehorchen muß.“

„Und die es Dir unmöglich macht, in Odensberg zu bleiben?“

„Ja!“

Ein unendlich bitterer Ausdruck flog über Dernburgs Züge. [202] Da war die Bestätigung dessen, was er nicht hatte glauben wollen, er brauchte nicht erst zu fragen.

„Du meinst die bevorstehenden Wahlen,“ sagte er mit eisiger Ruhe. „Es heißt, daß die Sozialisten diesmal einen eigenen Kandidaten für unseren Bezirk aufstellen wollen, und Du bist vermuthlich entschlossen, für ihn zu stimmen. Da begreife ich allerdings, daß Du Deine Entlassung forderst. Weder die Vertrauensstellung, die Du in Radefeld einnimmst, noch Dein Verhältniß zu mir und meiner Familie kann dabei fortbestehen. Wir täuschen beide uns nicht darüber, daß ich allein es bin, der hier bekämpft werden soll.“

Egbert stand wortlos da, das Auge auf den Boden geheftet. Man sah, wie furchtbar schwer ihm ein Geständniß wurde, das man ihm mit keinem Worte, keiner Andeutung erleichterte. Plötzlich aber richtete er sich entschlossen auf.

„Herr Dernburg, ich habe Ihnen eine Eröffnung zu machen, die Sie vielleicht mißdeuten werden, aber erfahren müssen Sie es doch. Der Kandidat, den meine Partei in Aussicht genommen hat – bin ich.“

„Läßt Du Dich wirklich herab, mir das selbst mitzutheilen?“ fragte Dernburg langsam. „Ich hielt es für unmöglich. Die beabsichtigte Ueberraschung wäre jedenfalls noch vollständiger gewesen, wenn ich es durch die Zeitungen erfahren hätte.“

„Sie wissen bereits –?“ fuhr Egbert auf.

„Was Du für gut hieltest, mir bis heute zu verschweigen. Ja, ich weiß es und wünsche Dir Glück zu Deinem Erfolge. Schüchtern bist Du nicht, Du greifst mit Deinen achtundzwanzig Jahren schon keck nach einer Ehre, zu der ich mich erst berufen fühlte, als ich mich auf die Arbeit eines ganzen Lebens stützen konnte. Du hast eben erst die Lehrjahre hinter Dir und läßt Dich schon als Volkstribun auf den Schild heben. Nun, Glück auf dazu!“

In dem Gesicht Runecks wechselten bei dem herben Spott Röthe und Blässe und seine Stimme hatte nicht die gewohnte Festigkeit, als er erwiderte: „Ich habe es gefürchtet, daß Sie die Sache so auffassen würden, und das macht mir die Lage noch peinvoller, in die ich durch diesen Beschluß meiner Partei gedrängt werde. Ich habe ihn bekämpft bis zum letzten Augenblick, aber man hat mich schließlich –“

„Gezwungen, nicht wahr?“ unterbrach ihn Dernburg mit einem bitteren Auflachen. „Du bist natürlich nur ein Opfer Deiner Ueberzeugung. Ich dachte mir im voraus, daß Du Dich damit decken würdest. Gieb Dir keine Mühe, ich weiß Bescheid!“

„Ich lüge nicht, ich denke, das wissen Sie,“ sagte Egbert finster. Dernburg erhob sich und trat dicht vor ihn hin.

„Warum kamst Du nach Odensberg zurück, wenn Du wußtest, daß der Gegensatz zwischen uns ein unversöhnlicher geworden war? Du brauchtest die Stellung nicht, die ich Dir bot. Dir stand die ganze Welt offen. Doch was frage ich! Es galt, den Kampf gegen mich vorzubereiten, den Grund zu unterwühlen, auf dem ich stehe, mich auf meinem eigenen Boden erst zu verrathen und dann zu schlagen –“

„Nein, das that ich nicht!“ fiel ihm Runeck ungestüm ins Wort. „Als ich hierher kam, dachte niemand an die Möglichkeit meiner Wahl und ich am wenigsten, Landsfeld allein kam in Betracht. Erst im vergangenen Monat tauchte der Plan auf und erst in den letzten Tagen wurde er zum Beschluß erhoben, trotz meines Widerstandes. Ich durfte nicht eher reden, es war Parteigeheimniß.“

„Wirklich! Nun die Rechnung ist sehr geschickt gemacht. Weder Landsfeld noch ein anderer hätte die mindeste Aussicht gehabt, wo es galt, mich zu verdrängen, der Versuch wäre kläglich gescheitert, das wird man eingesehen haben beim ‚Sondieren‘. Du bist ein Arbeiterkind, unter meinen Leuten aufgewachsen, aus ihrer Mitte hervorgegangen, sie sind allesamt stolz auf Dich. Wenn Du es ihnen klar machst, daß ich im Grunde ein Tyrann bin, der sie in all den Jahren bedrückt und ausgesogen hat, wenn Du ihnen das Goldene Zeitalter versprichst – das packt, das verblüfft die Leute, Dir glauben sie es vielleicht, Du sollst ja ein ausgezeichneter Redner sein. Wenn der Mann, der fast ein Sohn meines Hauses gewesen ist, sich an ihre Spitze stellt, um sie zum Kampfe gegen mich zu führen, dann muß ihre Sache doch wohl die rechte sein, dann schwören sie darauf!“

Es waren fast dieselben Worte, die der junge Ingenieur vor Monaten aus dem Munde Landsfelds gehört hatte, und sein Blick sank nieder vor den durchbohrenden Augen Dernburgs, der sich jetzt zu seiner ganzen Höhe aufrichtete, als er fortfuhr:

„Aber noch sind wir nicht soweit. Ich will doch sehen, ob meine Arbeiter es vergessen haben, daß ich dreißig Jahre lang mit ihnen und für sie gearbeitet und gesorgt habe, ob ein Band, das sich in einem Menschenalter geknüpft hat, so leicht zerrissen wird. Versuche es! Wenn irgend einem, so gelingt es Dir. Du bist in meiner Schule aufgewachsen und hast vielleicht gelernt, wie man den alten Meister schlägt.“

Egbert war totenbleich; in seinen Zügen spiegelte sich der Kampf, der in seinem Inneren wühlte. Aber jetzt hob er langsam das Auge empor. „Sie verdammen mich und würden vielleicht an meiner Stelle nicht anders handeln. Ich habe es oft genug aus Ihrem eigenen Munde gehört, daß die Disciplin das erste und oberste Gesetz eines jeden großen Unternehmens ist. Ich habe mich diesem eisernen Gesetze gebeugt, beugen müssen – was es mich gekostet hat, das weiß nur ich allein.“

„Ich verlange Gehorsam von meinen Leuten,“ sagte Dernburg kalt. „Zu Verrätherdiensten zwinge ich sie nicht.“

Egbert zuckte zusammen und es blitzte beinahe drohend in seinen Augen auf.

„Herr Dernburg, ich kann viel von Ihnen hinnehmen, zumal in dieser Stunde, aber dies Wort – dies Wort ertrage ich nicht!“

„Du wirst es wohl ertragen müssen. Was hast Du denn gethan da draußen in Radefeld?“

„Was ich verantworten kann, vor Ihnen und vor mir selber.“

„Dann hast Du eben Deine Aufgabe schlecht erfüllt und man wird Dich das büßen lassen. Doch wozu um Vergangenes rechten, es handelt sich um die Gegenwart. Du bist also Kandidat Deiner Partei und hast angenommen?“

„Da es Parteibeschluß ist – ja! Ich mußte mich ihm fügen.“

„Du mußtest!“ wiederholte Dernburg mit bitterem Spott. „Das ist jetzt Dein zweites Wort, sonst kanntest Du es kaum, da wolltest Du nur. Mich hieltest Du für einen Tyrannen, weil ich nicht ohne weiteres Deinen volksbeglückenden Ideen zustimmte, und stießest diese Hand zurück, die Dich leiten wollte. Du wolltest freie Bahn im Leben. Und jetzt beugst Du Dich einem Joch, das Dein ganzes Denken und Wollen in Fesseln schlägt, Dich zwingt, mit allem zu brechen, was Dir nahe steht, das Dich bis zum Verrath erniedrigt – fahre nicht aus, Egbert, es ist so! Du durftest nicht nach Odensberg zurückkehren, wenn Du wußtest daß eine Stunde wie die jetzige kommen müsse. Du durftest nicht bleiben, als Du erfuhrst, daß man Dich in dem Kampf gegen mich voranstellen wollte – aber Du bist zurückgekommen, bist geblieben, weil man es Dir befahl. Nenne das, wie Du willst, ich nenne es Verrätherei! Und jetzt geh’, wir sind fertig miteinander!“

Er wandte sich ab; Egbert jedoch gehorchte nicht, er kam mit einer stürmischen Bewegung näher.

„Herr Dernburg – lassen Sie mich nicht so gehen! So kann ich nicht von Ihnen scheiden – Sie sind mir ja doch ein Vater gewesen!“

Es lag in diesem Ausbruch einer lange verhaltene Qual ein wilder Schmerz, der bei dem sonst so starren verschlossenen Runeck etwas Erschütterndes hatte, aber der schwer gereizte Mann, der da vor ihm stand, sah das nicht oder wollte es nicht sehen, sondern trat zurück, und sein ganzes Wesen war eisige Abwehr, als er sagte:

„Und der Sohn hebt die Hand gegen den ‚Vater‘! Ja, ich hätte Dich gerne ‚Sohn‘ genannt, Dich am liebsten von allen! Du hättest Herr sein können in Odensberg. Sieh zu, ob Deine Genossen es Dir danken, das ungeheure Opfer, das Du ihnen gebracht hast. Und nun sind wir zu Ende – geh!“

Egbert war verstummt, er machte keinen Versuch mehr zur Verständigung, langsam wandte er sich zum Gehen; nur einen letzten schweren Blick sandte er von der Schwelle aus noch zurück, dann schloß sich hinter ihm die Thür.

Dernburg warf sich in einen Sessel und legte die Hand über die Augen. Was auch alles heute auf ihn eingestürmt war – das war das Schwerste. In Egbert hatte er die junge mächtige Kraft geliebt, die der seinigen so ähnlich war, die er an sich hatte fesseln wollen für den Rest seines Lebens, und jetzt war es ihm, als scheide mit dem jungen Manne der beste Theil seiner [203] eigenen Kraft und seines eigenen Daseins von ihm, auf Nimmerwiederkehr. –

Finster eilte Runeck durch die Eingangshalle, sein Schritt war so stürmisch, als stünde der Boden unter seinen Füßen in Flammen. Man sah, wie viel diese Stunde ihn gekostet hatte, in der er sich von allem losriß, was ihm lieb war, wie lieb, das fühlte er ganz erst jetzt, wo er es verlor. „Du hättest Herr sein können in Odensberg!“ In dem einen Worte lag die Größe des Opfers, das er gebracht hatte … und wem gebracht? Er kannte längst nicht mehr jene freudige Begeisterung, die nicht fragt und nicht zweifelt. Jedoch Entschluß und Handeln stand jetzt nicht mehr in seiner freien Wahl wie einst; er hatte nicht mehr zu wollen – er mußte.

Da rauschte dicht vor ihm ein seidenes Frauengewand, er blickte auf und sah sich der Baroneß Wildenrod gegenüber. Einen Augenblick stand er wie angewurzelt, dann wollte er mit einer tiefen Verbeugung vorüber. Aber Cäcilie trat dicht an ihn heran und sagte leise: „Herr Runeck!“

„Gnädiges Fräulein?“

„Ich muß Sie sprechen.“

„Mich?“ Egbert glaubte nicht recht gehört zu haben, aber sie wiederholte im gleichen Tone:

„Allein sprechen – ich bitte Sie darum.“

„Wie Sie befehlen!“

Sie schritt voran, er folgte ihr in den Salon. Es war niemand dort, und selbst wenn jemand erschien, konnte das Zusammensein für ein zufälliges gelten. Cäcilie war an den Kamin getreten, als wollte sie vor dem Sonnenschein flüchten, der hell und goldig durch die hohen Fenster hereindrang. Es vergingen einige Minuten, ehe sie sprach. Auch Runeck schwieg; sein Blick glitt langsam über ihr Antlitz, das so ganz anders erschien als früher.

Erich hatte recht, die strahlend heitere Braut von einst war seltsam verändert. Sie war nicht mehr das berückende Geschöpf, dessen ganzes Wesen von Uebermuth und Lebensfreude sprühte – ein bleiches bebendes Mädchen lehnte an dem Marmorpfeiler des Kamins, die Augen gesenkt, einen schmerzlichen Zug um den Mund, und suchte nach Worten, die nicht über die Lippen wollten.

„Ich habe Ihnen schreiben wollen, Herr Runeck,“ begann sie endlich, „Da hörte ich, daß Sie heute im Herrenhause seien, und beschloß, Sie persönlich zu sprechen. Es bedarf noch einer Erklärung zwischen uns.“

Sie hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten, als Egbert sich aber nur stumm verneigte, fuhr sie mit sichtlicher Anstrengung fort: „Ich muß Sie an unser Zusammentreffen am Albenstein erinnern, Sie werden es so wenig vergessen haben, wie ich die Worte, die Drohungen vergessen habe, die Sie mir zuschleuderten. Diese sind mir damals dunkel geblieben und sind es mir heute noch, aber ich weiß seit jener Stunde, daß Sie meinem Bruder und mir als ein unversöhnlicher Feind gegenüberstehen –“

„Ihnen nicht, Baroneß!“ fiel Runeck ein. „Ich war in einem schweren Irrthum begriffen, der mir damals sofort klar wurde. Ich habe um Verzeihung gebeten, freilich ohne sie zu erhalten. Meine Worte wie meine Drohungen galten einem andern.“

Cäcilie hob die Augen zu ihm empor, es stand eine flehende angstvolle Bitte darin zu lesen.

„Aber dieser andere ist mein Bruder, und was ihn trifft, trifft auch mich. Wenn Sie ihm jemals so gegenübertreten wie mir in jenem Augenblick, so wird der Ausgang ein blutiger, furchtbarer sein. Ich habe wochenlang davor gezittert, jetzt ertrage ich es nicht länger. Ich will Gewißheit haben – was denken Sie zu thun?“

„Weiß Herr von Wildenrod von jenem Auftritt am Albenstein?“

„Ja!“ Das Wort war fast unhörbar.

Runeck fragte nicht weiter, er brauchte nicht erst zu erforschen, was Wildenrod geantwortet hatte, in den verstörten Blicken Cäciliens stand das deutlich genug, und er ersparte ihr die peinvolle Frage.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte er ernst. „Die Begegnung, die Sie fürchten, wird nicht stattfinden, denn ich verlasse schon morgen Radefeld und das Odensberger Gebiet. Und da Sie mit Erich nach dem Süden gehen, hat auch Herr von Wildenrod keine Veranlassung und keinen Vorwand mehr, nach Ihrer Vermählung hier zu bleiben. Damit fällt für mich die Nothwendigkeit fort, ihm feindlich entgegenzutreten. Vor Ihnen aber brauche ich Odensberg und das Dernburgsche Haus nicht zu schützen, das weiß ich jetzt!“

Er ahnte nicht, wie schwer seine Worte Cäcilie trafen. Sie kannte Oskars hochfliegende Pläne, sie wußte, daß er sich mit ihrer Verlobung nur den Weg zu seinen eigenen Zielen gebahnt hatte, daß das Band zwischen ihm und Maja sich doch früher oder später knüpfen werde, um ihn zum Herrn in Odensberg zu machen, aber sie schwieg mit fest zusammengepreßten Lippen, schwieg im vollen Bewußtsein des Unrechtes, das sie beging, um das kaum beschworene Unheil nicht von neuem zu entfesseln.

Es war totenstill in dem weiten Gemach, nur der einförmige Pendelschlag der großen Standuhr ließ sich vernehmen, die Sekunden, die Minuten verrannen – sie verrinnen so beängstigend schnell in der Abschiedsstunde!

Da trat Egbert einen Schritt näher und sprach mit einem bebenden Klang in der Stimme: „Ich habe Ihnen mit meinen schonungslosen Worten ein großes Unrecht angethan, so groß, daß Sie es mir nicht vergeben können. Ich mußte glauben, daß Sie mit offenen Augen inmitten der Verhältnisse standen, die Sie umgaben, ich konnte nicht ahnen, daß man Sie in völliger Unkenntniß gelassen hatte. Wollen Sie trotz alledem eine letzte Bitte, eine Warnung von mir hören?“

Das junge Mädchen neigte stumm bejahend den Kopf.

„Ihre Vermählung entreißt Sie jenen Verhältnissen und befreit Sie von der Herrschaft Ihres Bruders – so machen Sie sich auch frei von seinem Einfluß, um jeden Preis! Lassen Sie ihm keine Macht mehr über Ihr künftiges Leben, sie ist unheilvoll und bringt Verderben. Was ich früher nur ahnte, weiß ich jetzt gewiß. Der Weg des Freiherrn führt an einem Abgrund hin – wer kann sagen, wo er endigt!“

Cäcilie zuckte bei den letzten Worten zusammen. Sie dachte an die düstere Drohung Oskars, als sie sich weigerte, in Odensberg zu bleiben, und das Bild des toten Vaters tauchte vor ihr auf.

„Nicht weiter, Herr Runeck,“ sagte sie, sich gewaltsam zusammenraffend. „Sie sprechen von meinem Bruder!“

„Ja, von Ihrem Bruder,“ wiederholte er mit Nachdruck. „Und Sie widerlegen mich nicht, Sie wissen also –“

„Ich weiß nichts, will nichts wissen – o mein Gott, so haben Sie doch Erbarmen mit mir!“

Sie schlug beide Hände vor das Gesicht und wankte, als wollte sie zusammenbrechen. In demselben Augenblick war Egbert auch schon an ihrer Seite und stützte sie; wie damals am Albenstein lag das bleiche schöne Haupt mit den geschlossenen Augen an seiner Schulter.

„Cäcilie!“

Es war nur ein einziges Wort, aber es kam in heißem leidenschaftlichen Tone von den Lippen Egberts, und bei diesem Klang öffneten sich langsam die großen dunklen Augen und begegneten den seinen. Ihre Blicke ruhten ineinander eine Sekunde – eine Ewigkeit lang.

Die Uhr verkündete mit lauten hellen Schlägen die Mittagsstunde, Egbert ließ die Arme sinken und richtete sich empor.

„Machen Sie Erich glücklich!“ sagte er dumpf. „Leben Sie wohl, Cäcilie!“

In der nächste Minute hatte er das Zimmer verlassen, und Cäcilie, die heiße Stirn gegen die kalte Marmorwand des Kamins gepreßt, weinte, weinte, als sollte ihr das Herz brechen.




Die Wohnungen der zahlreichen Beamten von Odensberg bildeten fast eine kleine Stadt für sich; dort lag auch das Haus des Doktor Hagenbach, eine kleine Villa im Schweizerstil. Sie war offenbar auf eine größere Familie berechnet, aber der alternde Junggesell hatte nicht ans Heirathen gedacht und hauste schon seit Jahren einsam mit einer alten Wirthschafterin, der sich jetzt sein Neffe zugesellt hatte. Als Hauptarzt von Odensberg hatte Hagenbach am Orte selbst eine ausgedehnte Berufsthätigkeit, er wurde aber auch oft von auswärts in Anspruch genommen.

Auch heute saß in seinem Sprechzimmer ein fremder Patient, der freilich nicht das Aussehen eines Kranken hatte. Der etwa vierzigjährige Mann war mit einem sehr ansehnlichen Leibesumfang begabt, seine Hände falteten sich über einem umfangreichen Bäuchlein und die Augen verschwanden fast hinter den vollen rothglänzende Wangen. Trotzdem berichtete er eine lange [204] Leidensgeschichte und zählte eine ganze Reihe von Uebeln auf, bis ihn Hagenbach ungeduldig unterbrach.

„Was Sie mir da erzählen, weiß ich auswendig, Herr Willmann. Ich habe es Ihnen schon das letzte Mal vorgehalten, Sie pflegen Ihr werthes Ich gar zu gut. Wenn Sie nicht Maß halten im Essen und Trinken und sich keine Bewegung machen, können auch die Mittel nicht wirken, die ich Ihnen verordnet habe.“

„Maß halten?“ wiederholte Willmann in einem sanften wehmüthigen Tone. „O Gott, Herr Doktor, ich bin die Mäßigkeit selbst. Aber ein Gastwirth ist in dem Punkte leider ein Opfer seines Berufes. Ich muß doch bisweilen mit den Gästen plaudern und trinken, das bringt das Geschäft so mit sich, und –“

„Sie nehmen dies Märtyrerthum mit Selbstverleugnung auf sich! Meinetwegen – aber dann verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen helfen soll. Mir liegt überhaupt gar nichts an der auswärtigen Praxis, ich habe in Odensberg alle Hände voll zu thun. Warum wenden Sie sich denn nicht an meine Kollegen, die weit mehr Zeit haben?“

„Weil mir das Vertrauen fehlt,“ sagte Herr Willmann feierlich, ohne sich durch die derbe Erklärung aus der Fassung bringen zu lassen. „Sie haben etwas so Vertrauenerweckendes, Herr Doktor.“

„Ja, Gott sei Dank, ich verfüge über die nöthige Grobheit,“ versetzte Hagenbach mit Seelenruhe, „Dann haben die Leute immer Vertrauen. Also wollen Sie sich meinen Vorschriften fügen? Ja oder Nein?“

„Lieber Himmel, ich füge mich ja in alles. Wenn Sie wüßten, was ich in den letzten Tagen ausgestanden habe, diese entsetzlichen Magenbeschwerden –“

„Daran sind die guten Braten und Saucen schuld,“ warf der Doktor kaltblütig dazwischen.

„Und diese Athemnoth, dieser Schwindel im Kopfe –“ „Kommt von dem Bier, bei dem Sie täglich Ihr bester Stammgast sind. Das Bier wird gestrichen, das Essen auf das Nothwendige beschränkt. Also –“ er begann eine Reihe von Verordnungen aufzuzählen, die Herrn Willmann in helles Entsetzen jagten.

„Das ist ja eine wahre Hungerkur, Herr Doktor,“ jammerte er. „Dabei muß ich zu Grunde gehen.“

„Wollen Sie lieber als Opfer Ihres Berufs zu Grunde gehen?“ fragte Hagenbach. „Mir ist’s recht, aber dann lassen Sie mich in Ruhe!“

Der Patient seufzte tief und schmerzlich auf; indessen die vertrauenerweckende Grobheit des Doktors mußte wohl den Sieg über seine Bedenken davontragen, er faltete die Hände und blickte zur Decke empor. „Wenn es nicht anders geht – in Gottes Namen!“ sagte er salbungsvoll.

Der Arzt stutzte plötzlich, heftete einen scharfen Blick auf ihn und fragte dann ganz unvermittelt: „Haben Sie vielleicht einen Bruder, Herr Willmann?“

„Nein, ich war das einzige Kind meiner Eltern.“

„Sonderbar! Mir fällt da eine Aehnlichkeit auf, das heißt, eigentlich ist es gar keine Aehnlichkeit – im Gegentheil, Sie haben keinen Zug von dem Betreffenden.“

Herr Willmann schüttelte sanft das Haupt, zum Zeichen, daß ihm diese dunklen Worte unverständlich seien, während Hagenbach fortfuhr: „Oder haben Sie sonst einen Verwandten, der in Afrika gewesen ist, in Aegypten, in der Sahara oder sonst irgendwo da herum im Wüstensande?“

Die vollen Wangen des Herrn Willmann verloren etwas von ihrer rosigen Farbe, und er machte sich mit seiner schweren goldenen Uhrkette zu schaffen, als er antwortete: „Ja – einen Vetter.“

„Der Missionär wurde?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Und dann dem Fieber erlag?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Er hieß Engelbert? Stimmt! Und wie heißen Sie denn eigentlich?“

„Pan-kra-tius,“ versetzte Willmann gedehnt, während er noch immer mit der Uhrkette spielte.

„Ein schöner Name! Also Herr Pankratius Willmann, in drei Wochen kommen Sie wieder, und wenn ich inzwischen beim ‚Goldenen Lamm‘ vorbeikommen sollte, werde ich nachfragen. Adieu!“

Willmann verabschiedete sich mit mildem Danke für den gespendeten Rath und Hagenbach blieb allein.

„Die Sache stimmt,“ murmelte dieser vor sich hin „Also ein Vetter dieses selig verstorbenen Engelbert mit der Trauerschleife! Den frommen Augenaufschlag haben sie beide, das scheint ein Familienfehler zu sein. Ob ich es ihr erzähle? Ich werde mich hüten! Sie ließe den theuren Anverwandten auf der Stelle kommen, und dann würde die ganze Wehmuthsgeschichte noch einmal durchgesäuselt und aufs neue ewige Treue gelobt. Uebrigens werde ich dem Dagobert das versprochene Rezept mitgeben, er wollte ja gerade nach dem Herrenhause zu Leonie.“

Damit ging er hinüber in das Zimmer seines Neffen, den er auch noch antraf. Der junge Mann hatte sich bereits zum Ausgehen fertig gemacht. Hut und Handschuhe lagen auf dem Tische neben einem umfangreichen blauen Heft, er selbst aber stand vor dem Spiegel und betrachtete angelegentlich seine eigene werthe Persönlichkeit. Er zupfte die Halsbinde zurecht, fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar und versuchte, seinem noch sehr in den Anfangsgründen steckenden Schnurrbärtchen einen kühnen Schwung zu geben.

Endlich schien Dagobert mit der Erscheinung seines äußeren Menschen zufrieden; er trat einige Schritte zurück, legte betheuernd die Hand aufs Herz, seufzte herzbrechend und begann dann halblaut etwas zu sprechen, was der Doktor, der von der Thürschwelle aus mit wachsendem Erstaunen zusah, nicht verstehen konnte.

[230] Eine Weile beobachtete Doktor Hagenbach das seltsame Gebahren seines Neffen mit steigender Verwunderung, dann aber fuhr er in seiner derben Art dazwischen. „Junge, bist Du verrückt geworden?“ rief er geärgert. Dagobert zuckte zusammen und wurde dunkelroth vor Verlegenheit. „Ich glaube, Du bist plötzlich übergeschnappt,“ fuhr sein Onkel fort und trat näher. „Was sollen denn diese Anstalten bedeuten?“

„Ich – ich lerne englische Wörter,“ erklärte Dagobert. Der Doktor schüttelte mißtrauisch den Kopf. „Englische Wörter, mit solchen herzbrechenden Seufzern? Das ist eine merkwürdige Art zu lernen.“

„Es war ein englisches Gedicht, das ich noch einmal – bitte, lieber Onkel, gieb her, das sind meine Aufsätze!“

Wie ein Stoßvogel schoß Dagobert auf den Tisch und das blaue Heft zu, aber zu spät, der Doktor hatte es bereits aufgeschlagen und begann darin zu blättern.

„Warum so aufgeregt? Du brauchst Dich ja offenbar Deiner Arbeiten nicht zu schämen und scheinst ziemlich weit gekommen zu sein. Fräulein Friedberg hat sich aber auch redliche Mühe mit Dir gegeben, und ich hoffe, Du bist ihr dankbar dafür.“

„Jawohl, sie gab sich Mühe – ich gab mir Mühe – wir gaben uns Mühe,“ stotterte Dagobert, der augenscheinlich gar nicht wußte, was er sagte, denn seine Augen waren in Todesangst auf die Hand des Onkels gerichtet, der eine Seite nach der andern umschlug, während er trocken bemerkte: „Nun, wenn Du ihr Deinen Dank in dieser Weise vorstotterst, wird sie nicht gerade sehr erbaut darüber sein – ja, was ist denn das?“

Er war auf ein lose eingelegtes Blatt gestoßen, bei dessen Anblick sein unglücklicher Neffe fast zusammenknickte.

„An Leonie!“ las Hagenbach verblüfft. „Das sind ja Verse! – ‚O zürne nicht, wenn ich zu Deinen Füßen‘ – oho, was soll denn das heißen?“

Dagobert stand da wie ein ertappter Verbrecher, während der Doktor das Gedicht durchlas, das nichts Geringeres als eine vollständige Liebeserklärung an die heimlich angebetete Lehrerin enthielt und die Ewigkeit dieser Gefühle mit den feierlichsten Schwüren betheuerte.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Hagenbach die Sache überhaupt begriff, so ungeheuerlich erschien sie ihm. Als er aber endlich zum Verständniß gekommen war, da brach ein Ungewitter mit ungeheurem Blitz und Donner über den armen Dagobert los. Dieser ließ sich eine Zeitlang geduldig abkanzeln, als aber das Gewitter kein Ende nehmen wollte, machte er einen Versuch zum Widerspruch.

„Onkel, ich bin Dir Dank schuldig,“ sagte er feierlich, „wo es sich jedoch um die heiligsten Empfindungen meines Herzens handelt, endet Deine Macht wie mein Gehorsam. Ja, ich liebe Leonie, ich bete sie an – und das ist kein Verbrechen“

„Aber eine Dummheit ist es!“ rief der Doktor zornig, „eine Dummheit, wie sie noch nicht dagewesen ist! Ein Junge, der kaum die Schulbank hinter sich hat, der noch nicht einmal Student [231] ist … und verliebt sich in eine Dame, die seine Mutter sein könnte! Das also waren die ‚englischen Wörter‘! Die Liebeserklärung hast Du da vor dem Spiegel einstudiert! Nun, ich werde Fräulein Friedberg über ihren sauberen Schüler die Augen öffnen, und gnade Dir Gott wenn sie die Geschichte erfährt. Sie wird empört, außer sich sein.“

Er faltete grimmig das verhängnißvolle Blatt zusammen und steckte es zu sich. Der junge Mann sah seine Verse, die er im Schweiße seines Angesichts zusammengeschmiedet hatte, in der Rocktasche des Gefühllosen verschwinden, und der Muth der Verzweiflung gab ihm sein Selbstbewußtsein zurück.

„Ich bin kein Knabe mehr,“ erklärte er, sich in die Brust werfend. „Du hast kein Verständniß für die Gefühle, die in der Brust eines Jünglings stürmen, Dein Herz ist längst erstorben. Wo schon der Reif des Alters das Haupt deckt –“

Er hielt plötzlich inne und flüchtete schleunigst hinter den großen Lehnstuhl, denn der Doktor, der Anspielungen auf seine ergrauenden Haare nicht vertragen konnte, rückte ihm drohend auf den Leib.

„Ich verbitte mir solche Anzüglichkeiten!“ rief er wüthend. „Reif des Alters? Wie alt glaubst Du denn, daß ich bin? Du bildest Dir wohl ein, Dein Erbonkel werde bald das Zeitliche segnen, aber daran denk’ ich noch lange nicht, merke Dir das! Ich gehe jetzt mit Deinem Geschreibsel zu Fräulein Friedberg, und Du kannst inzwischen hier die Gefühle Deiner Jünglingsbrust ausstürmen lassen, das wird eine ganz nette Unterhaltung werden!“

„Onkel, Du hast kein Recht, meine Liebe zu verhöhnen,“ sagte Dagobert etwas kleinlaut hinter seinem Lehnstuhl hervor, doch der Doktor war schon aus der Thür und schritt nach seinem Wohnzimmer, wo er Hut und Stock nahm.

„Reif des Alters!“ brummte er. „Dummer Junge! Ich werde Dich mein ‚längst erstorbenes‘ Herz kennenlehren, Du sollst Dich wundern!“ Und damit begab er sich im Sturmschritt nach dem Herrenhaus.

Leonie Friedberg saß am Schreibtisch und beendete eben einen Brief, als der Arzt bei ihr eintrat; verwundert blickte sie auf. „Sie sind es, Herr Doktor? Ich erwartete eigentlich Dagobert, er pflegt sonst pünktlich zu sein.“

„Dagobert kommt heute nicht,“ erwiderte Hagenbach kurz.

„Weshalb nicht? Ist er unwohl?“

„Nein, aber ich habe ihm Hausarrest gegeben – dem verwünschten Jungen!“

„Sie halten den jungen Mann zu streng. Sie behandeln ihn immer noch wie einen Knaben, trotz seiner zwanzig Jahre!“

Der Doktor hörte kaum auf den Einwurf, er setzte sich nieder und fuhr grimmig fort: „Eine heillose Geschichte hat er da wieder angestiftet. Ich hätte sie Ihnen am liebsten verschwiegen, um Ihnen den Aerger zu ersparen, aber es hilft nichts, Sie müssen sie erfahren.“

„Mein Gott, was ist denn geschehen?“ fragte Leonie unruhig. „Doch hoffentlich nichts Ernstes?“

Die Züge Hagenbachs ließen allerdings auf etwas Ernstes schließen, als er aus seiner Rocktasche den dichterischen Erguß seines Neffen hervorzog und ihn mit unheilverkündender Miene dem Fräulein überreichte.

„Lesen Sie!“

Leonie begann zu lesen, sie las die Verse von Anfang bis zu Ende mit einer unbegreiflichen Ruhe durch, ja es zuckte dabei sogar ein Lächeln um ihre Lippen. Der Doktor, der vergeblich auf einen Ausdruck der Empörung wartete, sah sich endlich veranlaßt, ihrem Verständniß zu Hilfe zu kommen.“

„Es ist ein Gedicht,“ erläuterte er.

„Das sehe ich.“

„Und es ist an Sie gerichtet.“

„Aller Wahrscheinlichkeit nach, da mein Name darüber steht. Von Dagobert vermuthlich?“

„Das ist Ihnen wohl gar angenehm?“ rief Hagenbach gereizt. „Sie finden es, wie es scheint, ganz in der Ordnung, daß er sich ‚zu Ihren Füßen‘ legt – so heißt es wohl in dem Geschreibsel.“

Leonie zuckte immer noch lächelnd die Achseln. „Lassen Sie Ihrem Neffen seine jugendliche Schwärmerei, sie ist ungefährlich genug. Ich habe wirklich nichts dagegen.“

„Aber ich!“ rief der Doktor. „Wenn der dumme Junge sich noch ein einziges Mal untersteht, Sie anzusingen und Ihnen die stürmenden Gefühle seiner Jünglingsbrust zu Füßen zu legen, dann –“

„Was geht denn das Sie an?“ fragte Leonie, erstaunt über diesen heftigen Ausbruch, zu dem ihrer Meinung nach gar kein Grund vorlag.

„Was es mich angeht? Ja so! Freilich – Sie wissen noch gar nicht –“ Hagenbach stand plötzlich auf und trat dicht vor sie hin.

„Sehen Sie mich einmal an, Fräulein Friedberg!“

„Ich finde nichts besonders Merkwürdiges an Ihnen.“

„Merkwürdig sollen Sie mich auch nicht finden,“ sagte der Doktor beleidigt. „Aber ich sehe doch noch ganz leidlich aus für meine Jahre.“

„Gewiß, Herr Doktor.“

„Ich habe eine einträgliche Stellung, ein nicht unbedeutendes Vermögen, ein hübsches Haus – das für mich allein viel zu groß ist.“

„Das alles bezweifle ich nicht, aber was soll –?“

„Und was meine Derbheit betrifft,“ fuhr Hagenbach fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, „so ist die nur äußerlich. Im Grunde bin ich ein wahres Lamm.“

Leonie sah bei dieser Behauptung sehr ungläubig aus und hörte mit steigendem Befremden zu.

„Alles in allem ein Mann, mit dem sich leben läßt,“ schloß der Doktor mit großem Selbstbewußtsein, „Finden Sie das nicht auch?“

„Nun ja, aber –“

„Gut, so sagen Sie ‚ja‘, dann ist die Geschichte abgemacht!“

Leonie fuhr vom Stuhl auf und wurde dunkelroth. „Herr Doktor – was soll das heißen?“

„Was das heißen soll? Ach so, ich habe ganz vergessen Ihnen einen förmlichen Antrag zu machen. Aber das läßt sich nachholen. Also – ich biete Ihnen meine Hand und bitte um Ihr Jawort – schlagen Sie ein!“

Er streckte die Hand aus, jedoch seine Erwählte wich drei Schritte zurück und sagte scharf: „Sie müssen schon meiner Ueberraschung Rechnung tragen. Ich habe es wirklich nicht für möglich gehalten, daß Sie mich mit einem Antrage beehren würden.“

„Sie meinen, weil Sie ‚Nerven‘ haben?“ sagte Hagenbach ganz unbekümmert. „O, das thut nichts, das werde ich Ihnen schon abgewöhnen, dafür bin ich Arzt.“

„Ich bedaure nur, Ihnen dazu keine Gelegenheit geben zu können,“ war die sehr kühle Antwort, die den Doktor stutzig machte.

„Soll ich das etwa als einen Korb betrachten?“ fragte er in gedehntem Tone.

„Wenn Sie es so nennen wollen – jedenfalls ist es die Antwort auf Ihren so ungemein zart und rücksichtsvoll gestellten Antrag.“

Das Gesicht des Doktors verlängerte sich bedeutend. Er hatte es nicht für nöthig gehalten, seiner Derbheit Zügel anzulegen und bei seiner Werbung Umstände zu machen. Er wußte sehr gut, daß er trotz seiner Jahre und seiner ergrauenden Haare eine „Partie“ war und daß mehr als eine Dame seiner Bekanntschaft bereit war, seine Lebensstellung und sein Vermögen zu theilen – und hier, wo sein Antrag zweifellos ein großes, kaum noch erhofftes Glück für das mittellose Mädchen war, wurde er ohne weiteres abgewiesen! Er glaubte, nicht recht gehört zu haben.

„Sie weisen also wirklich meinen Antrag zurück?“ fragte er.

„Ich bedaure, auf die mir zugedachte Ehre verzichten zu müssen.“

Es trat eine kurze Pause ein, Hagenbach blickte abwechselnd auf Leonie und auf den Schreibtisch oder vielmehr auf das Bild über demselben, dann aber brach der zurückgehaltene Aerger bei ihm durch. „Warum?“ fragte er herrisch.

„Das ist doch wohl meine Sache.“

„Bitte sehr, es ist meine Sache, wenn ich einen Korb erhalte; ich will wenigstens wissen, weshalb. Da steht mir irgend etwas anderes entgegen, eine Erinnerung, eine Jugendliebe, mit einem Worte – der da!“

Er wies auf das Bild mit der Trauerschleife, Leonie schwieg – ihr stürzten plötzlich die heißen Thränen aus den Augen.

„Dacht’ ich’s doch!“ rief der Doktor ingrimmig. „Aber so lasse ich mich nicht abweisen, mein Fräulein. Wer war dieser sogenannte Vetter? Wo hat er gelebt? Wie ist er nach Afrika gekommen? Das werde ich doch wenigstens erfahren?“

Er that bei jeder Frage einen Schritt vorwärts und ging schließlich so wüthend auf das Bild los, daß Leonie wie zum Schutze vor dasselbe trat.

„Wenn Sie so großen Werth darauf legen“ sagte sie, ihre Thränen unterdrückend, „so mag es sein. Ja, Engelbert war mein Verlobter, den ich ewig beweinen werde. Er weilte als Hauslehrer in der Familie, in der ich Erzieherin war, unsere Herzen fanden sich und unsere Seelen flossen ineinander.“

[232] „So, das muß recht rührend gewesen sein!“ brummte Hagenbach, zum Glücke so leise, daß Leonie ihn nicht verstand; sie fuhr mit bebender Stimme fort: „Engelbert ging dann als Reisebegleiter nach Aegypten, doch kam es über ihn wie eine Offenbarung und er beschloß, sein künftiges Leben der Bekehrung der armen Heiden zu weihen. Er gab mir großmüthig mein Wort zurück, ich nahm das jedoch nicht an, sondern erklärte mich bereit seinen schweren aufopferungsvollen Beruf mit ihm zu theilen. Es sollte nicht sein! Er schrieb mir noch einmal vor seinem Abgang in das Innere Afrikas, und dann“ – ihre Stimme brach im Schluchzen – „dann hörte ich nichts mehr von ihm.“

Hagenbach theilte diesen Schmerz durchaus nicht, er empfand vielmehr eine außerordentliche Genugthuung darüber, daß der besagte Bräutigam und Heidenbekehrer wirklich tot und verschollen war. Die Erzählung besänftigte seinen Unmuth, sie nahm der Abweisung, die er erhalten, alles Verletzende. Er gerieth in eine versöhnliche Stimmung, die sich sogar auf seinen Nebenbuhler erstreckte.

„Friede seiner Asche!“ sagte er, „Aber Sie werden doch einmal aufhören, ihn zu beweinen, und ihn nicht zeitlebens betrauern. Das mag in den Wertherzeit Mode gewesen sein, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts weint die Braut dem Entschlafenen die üblichen Thränen nach und nimmt dann einen anderen – wenn nämlich einer da ist. In unserem Falle ist er da und wiederholt seinen Antrag. Also, Leonie, wollen Sie mich? Ja oder nein?“

„Nein!“ sagte Leonie, sich empört ausrichtend. „Wenn ich noch nicht wüßte, was ich in der zarten anbetenden Liebe meines Engelbert besessen habe, so würde es mir Ihre Werbung zeigen. Vielleicht wären Sie einer anderen Dame doch nicht in solch – formloser Weise genaht, aber das verblühte einsame Mädchen, die arme abhängige Erzieherin muß es ja als ein Glück betrachten, wenn ihr eine ‚gute Versorgung‘ geboten wird. Wozu da noch Umstände machen? Ich denke aber doch zu hoch von der Ehe, um sie nur aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten. Lieber will ich meine Armuth und meine Abhängigkeit behalten, als die Frau eines Mannes werden, der es nicht einmal als Freier der Mühe werth hält, mir die nöthige Rücksicht zu erweisen. – Und nun haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen, Herr Doktor.“ Sie machte ihm eine Verbeugung und ging aus dem Zimmer.

Hagenbach stand da und sah ihr verblüfft nach. „Das nennt man abgekanzelt werden!“ sagte er, „und ich habe mir das ganz ruhig gefallen lassen. Uebrigens sah sie in dieser Entrüstung mit den purpurrothen Wangen und den blitzenden Augen durchaus nicht schlecht aus. Ich habe gar nicht gewußt, daß sie so hübsch ist. – Ja, diese verwünschten Junggesellengewohnheiten! Man verkommt ganz dabei.“

Er nahm seinen Hut und machte Anstalt zum Gehen, da fiel sein Blick wieder auf das Bild des vielbeweinten Nebenbuhlers und sein ganzer Zorn wandte sich gegen die unschuldige Photographie.

„Dieser Jammermensch! Dieser Hungerleider! Dieser – Engelbert!“ Er legte das ganze Maß seiner Verachtung in den Namen. „Und darum schlägt sie einen Mann wie mich aus, der ihr Lebensstellung und Vermögen bietet. Es ist ein Unsinn, eine Verrücktheit!“ Er hielt inne und schlug auf den Schreibtisch, daß der arme Engelbert samt seiner Trauerschleife erzitterte. „Und doch gefällt mir das an ihr und darum werde ich sie heirathen, sie mag wollen oder nicht!“




In Odensberg flatterten die Fahnen, krachten die Böllerschüsse von den umliegenden Höhen, und Ehrenpforten, Laubgewinde und Blumen grüßten überall das junge Ehepaar, das soeben von der Trauung zurückkehrte.

Die Vermählung hatte in der etwas entlegenen Patronatskirche stattgefunden, wo einst auch Dernburg mit seiner Gattin vor den Altar getreten war; jetzt kam der Hochzeitszug zurück, eine lange Reihe von Wagen, an der Spitze die Equipage der Neuvermählten. Die Werke feierten heute selbstverständlich, sämtliche Arbeiter bildeten Spalier auf dem Wege zum Herrenhaus, und der goldene Sonnenschein des schönen Spätsommertages erhöhte noch die Festfreude und den Festjubel, die in ganz Odensberg herrschten.

Jetzt fuhr der Brautwagen durch die große Ehrenpforte, die sich mit ihren Fahnen und Laubgewinden prachtvoll ausnahm, und hielt an der Terrasse; Erich hob seine Gattin heraus. Der Fuß der jungen Frau schritt buchstäblich auf Blumen dahin, die man in überreicher Fülle auf ihren Weg gestreut hatte. Die Eingangshalle war in einen duftenden blühenden Garten verwandelt, und auch die weitgeöffneten Festräume des Hauses empfingen blumendurchduftet die neue Herrin.

Dernburg folgte mit seiner Schwester am Arme, eine tiefe Bewegung sprach aus seinen Zügen, als er den Sohn und die Schwiegertochter umarmte. Er hatte ein schweres Opfer gebracht, als er in die Trennung und den dauernden Aufenthalt des jungen Paares im Süden willigte, aber die grenzenlose Glückseligkeit, die aus dem Gesicht Erichs leuchtete, vergalt es dem Vater doch einigermaßen. Dann fiel dessen Blick auf Maja, die jetzt an Wildenrods Seite eintrat. Er musterte die hohe stolze Erscheinung des Mannes, der wie geschaffen schien, dereinst die herrschende Stellung in Odensberg einzunehmen. Er sah das holde Gesichtchen seines Lieblings ebenso verklärt von Freude und Glück, und da wich der Schatten auch von seiner Stirn. Das Schicksal bot ihm vollen Ersatz für das, was er aufgeben mußte!

Maja flog in die Arme ihres Bruders und küßte dann mit hingebender Zärtlichkeit die schöne Schwägerin. Auch Oskar umarmte das junge Paar, aber als er sich zu Cäcilie niederbeugte, richtete er einen finsteren Blick auf sie, besorgt und drohend, und sie mußte das wohl fühlen, sie zuckte leise zusammen und machte sich mit einer hastigen Bewegung los aus seinen Armen.

Es blieb der Familie nicht viel Zeit zum Alleinsein, denn inzwischen waren auch die anderen Wagen vorgefahren und die Hochzeitsgesellschaft versammelte sich. Die Neuvermählten wurden von allen Seiten beglückwünscht und bildeten bald den Mittelpunkt des glänzenden Kreises, der sich hier zusammengefunden hatte. Es fehlte keine der hervorragenden Persönlichkeiten der Umgegend, mit alleiniger Ausnahme des Majoratsherrn Grafen Eckardstein, der die Einladung abgelehnt hatte.

Der junge Ehemann schwamm in Seligkeit. An diesem Tage, der den heißesten Wunsch seines Herzens erfüllte und sein Glück besiegelte, schien ihm auch die Gesundheit zurückgekommen zu sein. Er sah nicht mehr kränklich und gebeugt aus. Mit heiß gerötheten Wangen und leuchtenden Augen nahm er lächelnd die Glückwünsche entgegen und zeigte eine Heiterkeit und Lebendigkeit, die sonst gar nicht in seinem Wesen lag. Dabei verwandte er die Augen kaum von seiner jungen Frau, als könnte er selbst auf Minuten ihren Anblick nicht entbehren.

Und diese Bewunderung war verzeihlich genug. Cäcilie sah hinreißend schön aus in ihrem bräutlichen Schmucke. Das weiße Atlasgewand, der kostbare Spitzenschleier und die Diamanten, die an Hals und Armen funkelten, das Brautgeschenk Erichs, hoben den eigenartigen Reiz ihrer Erscheinung noch mehr. Nur das schöne Antlitz erschien seltsam bleich unter dem Myrthenkranz. Auch sie neigte lächelnd den Kopf gegen jeden der Gratulanten, der zu ihr trat, und sprach die üblichen Dankesworte, aber es lag etwas Starres, Kaltes in diesem Lächeln und die Stimme war völlig klanglos. Zum Glück fiel das niemand besonders auf, man gestand heute der Braut gerne das Recht zu, blaß und ernst zu sein.

Der Direktor der Odensberger Werke und Doktor Hagenbach, die gleichfalls zu den Gästen gehörten, standen etwas abseits am Fenster. Der erstere hatte die Leitung der festlichen Veranstaltungen übernommen, mit denen die Arbeiterschaft den Sohn ihres Chefs an seinem Ehrentag begrüßte. Es war alles über Erwarten gelungen, die Ehrenpforten, die Ausschmückung des Weges zur Kirche, die Abordnungen und Glückwünsche in Versen und Prosa, die zum Theil schon gestern stattgefunden hatten. Die Hauptsache jedoch kam noch – der große Festzug der Arbeiter, der sich eben draußen ordnete. Der Direktor befand sich in gelinder Aufregung, weil es sich um seine Glanznummer handelte, und sprach leise und angelegentlich auf den Doktor ein, dieser aber hörte zerstreut zu und blickte öfter zu dem jungen Paare hinüber, das noch immer von einem Kreise von Freunden umgeben war.

„Ich wollte, Sie hätten den Festzug auf gestern angesetzt,“ sagte er leise. „Der Vorbeimarsch wird weit über eine Stunde dauern, und so lange muß das Brautpaar auf der Terrasse aushalten. Es wird zuviel für Erich. Die Trauung, der Festzug, dann das große Diner und schließlich die Abreise. – Ich war überhaupt von Anfang an gegen diese großen und rauschenden Festlichkeiten, doch ich wurde von allen Seiten überstimmt, selbst Herr Dernburg wünschte eine möglichst glänzende Feier.“

„Bei der Hochzeit seines einzigen Sohnes ist das ganz in [234] der Ordnung,“ meinte der Direktor, „und die Theilnahme der Odensberger Arbeiterschaft ließ sich auch nicht zurückweisen. Ich denke, wir werden Ehre einlegen mit unserem Zuge, er muß sich in dem hellen Sonnenschein prächtig ausnehmen. Ich begreife übrigens Ihre Besorgniß für den jungen Herrn nicht. Er sieht vortrefflich aus – ich habe ihn nie so heiter und frisch gesehen wie heute.“

„Eben deshalb fürchte ich. Es liegt etwas Fieberhaftes in seiner Aufregung, und jede Aufregung ist Gift für seinen Zustand. Ich wollte, er säße erst ruhig mit seiner Frau im Wagen und hätte den ganzen Jubel hinter sich.“

Sie wurden unterbrochen, ein Diener meldete, daß die Aufstellung des Zuges vollendet sei und daß nur noch auf das Erscheinen der Herrschaften gewartet werde. Der Direktor trat zu dem jungen Ehepaar und bat im Namen der gesamten Arbeiterschaft von Odensberg, deren Huldigung anzunehmen. Erich lächelte und bot seiner jungen Frau den Arm, um sie nach der Terrasse zu führen. Dernburg und die Gäste schlossen sich an.

Es war ein mächtiges und fesselndes Bild, das sich jetzt draußen in dem hellen Mittagssonnenschein entfaltete. Die Oberbeamten standen am Fuße der Terrasse, während ihre Untergebenen die einzelnen Gruppen des Festzuges anführten, der auf der weiten Strecke bis nach den Werken hinüber Aufstellung genommen hatte und sich nun in Bewegung setzte. In dichten endlosen Scharen, mit Musik und wehenden Fahnen zogen die Tausende von Arbeitern vorüber, denen sich auch die Leute aus den Eisenhütten oben im Gebirge angeschlossen hatten. In sehr geschickter Anordnung hatte man Kindergruppen dazwischen gestellt, die wirksam die Einförmigkeit des Zuges unterbrachen. Die Schüler der von Dernburg gestifteten Schulen marschierten in ihrem Sonntagsstaate daher, die helle Festfreude leuchtete aus den Gesichtern; als sie der Braut ansichtig wurden, schwenkten sie Mützen und Blumensträuße und die kleinen Kehlen brachten jubelnd ein Hoch nach dem andern aus.

Es kostete Mühe, die Bahn für den Zug frei zu halten, denn die Frauen der Arbeiter mit den kleinsten Kindern auf den Armen hielten die Ränder des Weges besetzt und außerdem war die Bevölkerung der ganzen Umgegend herbeigeströmt. Alle Blicke waren auf die Terrasse gerichtet, auf die weiße Gestalt der Braut, vor der sich alle Fahnen senkten, der all dieser Jubel galt; sie war der Mittelpunkt des ganzen Festes und empfing Huldigungen, wie sie sonst nur einer Fürstin zutheil werden. Unaufhörlich neigte sie mit freundlichem Danke das Haupt, aber es lag wie ein Zwang in dieser Bewegung und die großen dunklen Augen blickten fremd auf den Jubel und die Festfreude, als sähen sie gar nichts davon, als suchten sie in weiter weiter Ferne etwas ganz anderes.

Erich dagegen nahm, ganz wider seine Gewohnheit, den lebhaftesten Antheil. Er machte Cäcilie auf Einzelheiten des Zuges aufmerksam, wandte sich wiederholt zu dem Direktor, um ihm seinen Dank und seine Freude auszusprechen, und schien seine Schüchternheit und Zurückhaltung völlig abgelegt zu haben. Sonst war es ihm peinlich und drückend, die Hauptperson bei derartigen Veranstaltungen zu sein, heute begrüßte er sie um seines jungen Weibes willen mit freudigem Stolze.

Dernburg stand neben seinem Sohne und nahm mit ernster Freundlichkeit den Jubel hin. Wer konnte es ihm verdenken, daß seine Brust sich stolzer hob und seine mächtige Gestalt sich höher aufrichtete beim Anblick der Tausende, die an ihm vorüberzogen. Das waren seine Arbeiter, denen er dreißig Jahre lang ein Herr, aber auch ein Vater gewesen war, für deren Wohl er gesorgt und gearbeitet hatte wie für sein eigenes, und die wollte man ihm entfremden! Die sollten sich von ihm abwenden, um einem anderen zu folgen, der noch nichts für sie gethan hatte, der seine Laufbahn damit begann, daß er dem Manne, der ihm ein größerer Wohlthäter gewesen war denn allen sonst, als Feind gegenübertrat! Ein verächtliches Lächeln spielte um die Lippen des Herrn von Odensberg – der Grund, auf dem er stand, war felsenfest, das fühlte er heute mächtiger denn je.

Aber noch ein anderer blickte mit hochgeschwellter Brust und blitzenden Augen auf die vorbeifluthenden Massen, Oskar von Wildenrod, der mit Maja unter einem der Orangenbäume stand. Wie großartig ihm auch das Getriebe der Odensberger Werke von jeher erschienen war, die volle Macht und Bedeutung der Stellung, die Dernburg einnahm, hatte sich ihm noch nie so deutlich gezeigt – und das war seine dereinstige Stellung. Der Gebieter einer solchen Welt zu sein, sie mit einem Worte, einem Winke zu lenken, das war sein Ziel gewesen von jenem ersten Abend an, an welchem er nach den im nächtlichen Dunkel liegenden Werken hinübergeblickt hatte – jetzt endlich stand er dicht vor der Erfüllung.

Sein Blick wandte sich auf Maja, und der stolze Triumph in seinen Zügen ging unter in einem glücklichen Lächeln. Die halb komische, halb feierliche Würde, mit der das junge Mädchen die ungewohnte lange Schleppe des blauen Seidengewandes trug, kleidete sie zum Entzücken; das rosige Gesichtchen glühte vor freudiger Erregung. Mit dem Frohsinn eines Kindes ließ sie sich von den Wogen des Festjubels und des Glückes tragen, das sich in ihrem Herzen barg. Sie wußte ja bereits, daß der Vater den Widerstand gegen ihre Liebe aufgegeben hatte.

„Ist es nicht schön?“ fragte sie, die braunen strahlenden Augen emporhebend. „Und Erich ist so glücklich!“

Oskar lächelte und beugte sich zu ihr herab.

„O, ich kenne einen, der noch glücklicher sein wird als Erich, wenn er dort an jener Stelle steht; sein junges bräutliches Weib zur Seite, wenn –“

„Still, Oskar!“ unterbrach ihn Maja mit erglühendem Gesicht. „Du weißt – Papa will nicht, daß schon jetzt etwas davon verlautet.“

„Es hört uns niemand,“ sagte Oskar, und in der That verschlang der Lärm der Musik und der Hochrufe sein leidenschaftliches Flüstern. „Auch ist der Papa nicht so streng, wie er sich anstellt. Mir hat er freilich die Bitte versagt, unsere Verlobung schon heute zu verkündigen, es war schwer genug, ihm die Einwilligung überhaupt abzuringen. Aber jetzt bist Du hier, und wenn sein Liebling ihn bittet, wird er nicht Nein sagen. Ich wage morgen einen erneuten Sturm – wirst Du mir helfen, meine Maja?“

Sie antwortete nicht, nur ihre Augen sagten ihm, daß es an der erbetenen Hilfe nicht fehlen werde; mit leisem innigen Drucke faßte er ihre Hand. Er hatte offenbar gar nichts dagegen, wenn die Gesellschaft errieth, was sie vorläufig noch nicht erfahren sollte.

Eben zog die letzte Gruppe der Arbeiter vorüber, der Vorbeimarsch war zu Ende und die ganze Masse der Zuschauer wogte in die nun freigegebene Bahn, um sich dem Zuge anzuschließen. Auch auf der Terrasse kam jetzt alles in Bewegung. Der Direktor nahm nochmals den Dank Dernburgs und seines Sohnes und die Artigkeiten der Gesellschaft für den gelungenen Festzug in Empfang, dann begab sich das junge Ehepaar mit seinen Gästen in das Haus zurück.

In dem großen Festsaal empfing rauschende Musik und eine reich mit Blumen und Silbergeräth geschmückte Tafel die Eintretenden. So wenig Dernburg es liebte, mit seinem Reichthum zu prahlen, heute ließ er alle Schätze seines Hauses glänzen. Das Mahl verlief in der bei solchen Gelegenheiten üblichen Weise, es wurden Reden gehalten, Gesundheiten ausgebracht, und als nach Verlauf von einigen Stunden die Tafel aufgehoben wurde, begann der Tanz, den der jüngere Theil der Gesellschaft sehnsüchtig erwartet hatte.

Die Neuvermählten nahmen nur an dem ersten großen Rundgang theil und zogen sich dann zurück. Maja, die von Wildenrod nach ihrem Platze zurückgeleitet wurde, sah mit einiger Verwunderung, daß sie den Saal verließen.

„Warum brechen denn Erich und Cäcilie schon auf?“ fragte sie. „Die Abreise sollte ja erst in einer Stunde stattfinden.“

„Das ist Doktor Hagenbachs Schuld,“ erklärte Oskar. „Er fürchtet, daß Erich sich zu viel zugemuthet habe – ganz unnöthigerweise, wie mir scheint, denn Erich hat nie wohler ausgesehen als heute.“

„Das finde ich auch, aber Cäcilie sieht um so bleicher aus. Sie war überhaupt so ernst und still – eine glückliche Braut habe ich mir ganz anders gedacht.“

Wildenrods Blick war gleichfalls der Schwester gefolgt und die tiefe düstere Falte erschien auf seiner Stirn. Aber dann zuckte er die Achseln und entgegnete in gleichgültigem Tone:

„Sie ist ermüdet und abgespannt, und das ist kein Wunder. Der Herr Direktor hat uns etwas viel zugemuthet mit diesem endlos langen Festzug, dem wir bis zur letzten Gruppe stand halten mußten.“

Maja schüttelte das Köpfchen, ihre kindlichen Züge wurden ernst und nachdenklich. „Erich meint, es sei etwas anderes, das er schon erfahren werde.“

„Was will Erich erfahren?“ fragte Wildenrod plötzlich so scharf, daß das junge Mädchen ihn befremdet ansah.

„O, er irrt sich vielleicht, aber er klagte mir schon bei meiner Rückkehr über die Veränderung, die seit Wochen mit Cäcilie vorgegangen sei. [235] Er fürchtet, daß sie sich durch irgend etwas Ungewöhnliches bedrückt fühle, und hoffte, sie würde mir eher Rede stehen als ihm. Ich that ihm gern den Gefallen, nachzuforschen, aber ich erreichte nichts. Sie blieb verschlossen auch gegen mich – Erich war ganz unglücklich darüber.“

Oskar biß sich auf die Lippen, ein Ausdruck trat in seine Züge, der Maja erschreckte. Als er jedoch ihren fragenden Blick bemerkte, lachte er kurz auf und sagte leichthin: „Ich fürchte, Erich wird mit seiner übertriebenen Zärtlichkeit sich und seiner Frau das Leben schwer machen. Zum Glück ist Cäcilie für solche Empfindsamkeiten nicht angelegt, sie wird ihn auslachen mit seiner Gespensterseherei!“

Der eben beginnende Walzer unterbrach das Gespräch der beiden. Ein junger Offizier, dem die Tochter des Hauses diesen Tanz zugesagt hatte, kam herbei, um sie abzuholen, Maja, die zum ersten Male in einem größeren Kreise tanzte, gab sich mit voller Freude diesem Vergnügen hin, aber ihr Auge kehrte doch bald wieder zu dem Orte zurück, wo der Freiherr stand oder vielmehr gestanden hatte, denn er war nicht mehr dort. Sie suchte ihn vergebens, er mußte den Saal verlassen haben.

Erich hatte seine junge Gattin nach ihrem Zimmer geleitet und sich dann in seine eigene Wohnung begeben, um den Anzug zu wechseln. Er lächelte über die peinliche Vorsicht des Arztes, der es nicht lassen konnte, ihn immer noch als Kranken zu behandeln, er hatte sich nie wohler gefühlt als heute. Aber mit der Anordnung selbst war er ganz einverstanden – nicht eine einzige Minute des Alleinseins mit seiner Frau war ihm bisher gegönnt worden. Der Reiseanzug war schnell angelegt, und nun blieb noch eine halbe Stunde für ein süßes trauliches Geplauder, das niemand störte.

Voll Ungeduld eilte der junge Ehemann hinaus, um sich zu seiner Frau zu begeben, aber am Fuße der Treppe blieb er einen Augenblick stehen und blickte durch die weit geöffneten Pforten der großen Eingangshalle.

Draußen lag die Landschaft im vollen Glanze der Abendsonne, deren goldiger Schein auch die blumenbestreute Terrasse überfluthete, und ein breiter leuchtender Strahl fiel in die Halle. Von den Werken drüben, wo die Festlichkeiten für die Arbeiter stattfanden, tönte Musik und Jubel herüber und aus den geöffneten Fenstern des Tanzsaales, wo gerade eine Pause stattfand, drang das heitere Plaudern und Lachen der Gesellschaft.

Erich athmete tief und freudig auf – es war ein schöner Tag gewesen, sein Vermählungstag. Und jetzt erst begann das Leben für ihn, jetzt winkte ihm die weite Welt, der sonnige Süden, er wurde frei von den drückenden Pflichten und durfte dort am Strande des blauen Meeres, an der Seite eines geliebten Weibes einen zauberischen Traum des Glückes träumen. Im tiefsten Herzen empfand er die Gunst des Himmels, die ihn mit allen Gaben überschüttet hatte.

Mit raschen Schritten stieg er die Treppe hinauf und wollte in den kleinen Salon eintreten, der die Zimmer Cäciliens und ihres Bruders voneinander schied, als er bemerkte, daß von innen der Riegel vorgeschoben war; auch auf sein leises Klopfen öffnete niemand. Er wurde ungeduldig und nahm einen andern Weg.

Oskars Zimmer hatte noch einen besonderen Eingang, eine kleine Tapetenthür, die selten oder nie benutzt wurde. Erich öffnete sie und durchschritt das Zimmer seines Schwagers und den anstoßenden Salon. Auf den weichen Teppichen war sein Schritt nicht hörbar und überdies war die Thür zu Cäciliens Zimmer geschlossen. Da vernahm der junge Mann Wildenrods Stimme von drinnen und blieb stehen.

Der Bruder hatte vermuthlich die junge Frau aufgesucht, um sie noch einmal allein zu sehen und ihr Lebewohl zu sagen. Das war natürlich und der jedenfalls nur kurze Abschied der Geschwister sollte nicht gestört werden. Doch was war das? Die Stimme des Freiherrn klang scharf und drohend, und jetzt ließ sich ein wildes leidenschaftliches Schluchzen vernehmen. War das Cäciliens Stimme? Seine Gattin konnte es doch nicht sein, die so angstvoll, so verzweifelt weinte! Erich erbleichte, die Ahnung eines Unheils legte sich ihm plötzlich eiskalt auf die Brust.

[252] Erich stand regungslos an seinem Platze, durch die geschlossene Thür von Cäciliens Zimmer drang jedes Wort Wildenrods zu ihm.

„Sei vernünftig, Cäcilie! Hast Du denn jede Selbstbeherrschung verloren? Du mußt Dich beim Abschied wieder den Gästen zeigen, Erich kann jede Minute kommen. Nimm Dich zusammen!“

Keine Antwort, nur dies krampfhafte trostlose Weinen.

„Ich habe etwas dergleichen gefürchtet, darum suchte ich Dich auf, aber auf einen solchen Ausbruch war ich nicht vorbereitet. Cäcilie, hörst Du mich nicht? Du mußt Dich fassen.“

„Ich kann nicht!“ stieß Cäcilie mit halb erstickter Stimme hervor. „Laß mich, Oskar! Ich habe lächeln und lügen müssen den ganzen Tag lang, muß es wieder thun, wenn ich mit Erich im Wagen sitze – ich sterbe, wenn ich mich nicht einmal, nur ein einziges Mal ausweinen kann.“

Der Bruder mochte wohl einsehen, daß er hier mit dem herrischen Tone nichts ausrichtete, seine Stimme klang milder, als er entgegnete: „Das ist wieder die unselige Leidenschaftlichkeit Deiner Natur, Du solltest Dir sagen, daß Du ihr in dieser Stunde am wenigsten nachgeben darfst. Ich habe alles gethan, um Dir Dein Glück zu sichern, und Du –“

„Mein Glück?“ wiederholte Cäcilie mit tiefster Bitterkeit. „Wozu die Lüge, Oskar – wir sind ja allein! Du hast mich täuschen können, so lange ich noch ein gedankenloses Kind war, aber Du kennst den Tag, der mir die Augen öffnete. Du hast Dir nur den Weg zu Deinem eigenen Glücke bahnen wollen, als Du alles daran setztest, mich mit Erich zu verloben. Du wolltest Herr werden in Odensberg, deshalb mußte ich das Opfer sein.“

„Und wenn ich dies Ziel im Auge hatte, so hob ich Dich mit mir empor zur Höhe,“ rief Wildenrod mit Nachdruck. „Ich habe es Dir oft genug gesagt, daß es sich für uns beide hier um Sein oder Nichtsein handelte. Als ein Opfer betrachtest Du Dich? Du hast heute fürstliche Huldigungen empfangen, und als jene endlosen Massen an Dir vorüber zogen, da ist es Dir doch wohl klar geworden, welche Bedeutung der Name, den Du jetzt trägst, in der Welt hat. Und das Leben in Odensberg, das Dich immer schreckte, bleibt Dir erspart. Ihr kehrt nach Italien zurück, Erich betet Dich an, er hängt nur an Deinen Blicken und wird Dir keinen Wunsch versagen, Dich mit allem überschütten, was der Reichthum zu geben vermag, Was verlangst Du weiter von Deiner Ehe? Das ist Glück, und Du wirst es mir dereinst noch danken.“

„Nie! Niemals!“ rief die junge Frau außer sich. „O wäre ich doch diesem Glücke entflohen, aber Du – Du banntest mich mit der furchtbaren Drohung, dem Beispiel unseres Vaters zu folgen, und ich mußte bleiben, um Dich zu retten. Du ahnst nicht welche Qual ich seitdem ausgestanden habe bei all der Güte und Zärtlichkeit Erichs. Ich habe ihn nie geliebt, werde ihn nie lieben, und jetzt, wo die Kette unzerreißbar geschmiedet ist, jetzt fühle ich, daß sie mich erdrücken wird. Ich möchte lieber in den Tod als in seine Arme!“

Sie verstummte plötzlich. „Was war das?“ fragte sie hastig.

„Was?“

„Ich weiß nicht – es klang wie ein Seufzer!“

„Einbildung! Wir sind allein, ich habe uns vor Lauschern gesichert. – Was soll dieser verzweifelte Ausbruch? Ist Dir etwa jetzt erst an Deinem Vermählungstag klar geworden, daß Du einen andern liebst? Weißt Du die Wahrheit nicht oder willst Du sie nicht wissen? Ich ahnte sie seit dem Tage, wo Du mit Egbert Runeck auf dem Albenstein warst. Du bist ja wie von Sinnen gewesen bei dem bloßen Gedanken, von diesem Manne verachtet zu werden, vor ihm als Abenteurerin dazustehen. Ich habe Dich nicht mahnen, nicht aufschrecken wollen – Nachtwandler weckt man nicht auf ihrem gefährlichen Wege. Jetzt aber ist es Zeit, aufzuwachen. Seit dieser Egbert in Dein Leben getreten ist –“

„Nein! nein!“ unterbrach ihn Cäcilie mit angstvoller Abwehr.

„Ja!“ sagte Oskar mit eisiger Bestimmtheit. „Denkst Du, es sei mir entgangen, wie Du heute morgen, während ich als Brautführer mit Dir zur Kirche fuhr, totenbleich wurdest und dann wie gebannt nach der einen Stelle im Walde blicktest? Du hattest ihn bemerkt, der vermuthlich gekommen war, um Dich noch einmal zu sehen. Er stand freilich fern genug, halb verborgen hinter den Bäumen. In solcher Entfernung erkennt man nur seinen Todfeind oder den Mann, den man liebt – und wir haben ihn beide erkannt.“

Die junge Frau antwortete nicht und widersprach nicht, ihr Schweigen gestand alles zu. Jetzt aber war es Oskar, der aufschreckte. Er hatte nebenan ein Geräusch wie von einer leise zufallenden Thür gehört, und von einer unbestimmten Ahnung ergriffen, öffnete er hastig die nach dem Salon führende Thür. Täuschung! Der Salon war leer, der Riegel noch vorgeschoben. Aber ein Blick auf die Kaminuhr überzeugte den Freiherrn, daß es die höchste Zeit sei, die Unterredung zu beendigen; er kehrte zu seiner Schwester zurück.

„Ich muß wieder in den Saal,“ sagte er gedämpft, „und auch Du mußt Dich zur Abreise fertig machen. Du hast Dich ausgeweint, jetzt bedenke, was Du Dir und mir schuldig bist! Du bist Erichs Gattin, und morgen schon liegen Meilen zwischen Dir und jenem anderen, den Du hoffentlich nie wiedersiehst. Ich habe dafür gesorgt, daß er hier in Odensberg nicht mehr schaden kann, und Du wirst ihn vergessen, denn Du mußt.“

Er riegelte die Thüre auf und klingelte dem Kammermädchen, das er fortgeschickt hatte, um mit Cäcilie allein zu sein. Die verweinten Augen der jungen Frau konnten in dem Abschied von dem Bruder ihre Erklärung finden, trotzdem wollte er sie keinen Augenblick mehr sich selbst überlassen. Erst als Nannon eintrat, verließ er das Zimmer.

Unten in der Eingangshalle begegnete der Freiherr einem Diener, der den Handkoffer und Reisemantel Erichs trug, und fragte im Vorbeigehen flüchtig: „Herr Dernburg ist wohl noch in seinem Zimmer?“

„Nein, Herr Baron, er ist oben bei der jungen gnädigen Frau,“ lautete die verwunderte Antwort.

„Noch nicht, ich komme eben von meiner Schwester.“

„Ich sah den jungen Herrn aber doch selbst die Treppe hinaufgehen,“ wagte der Diener zu entgegnen. „Es war etwa vor einer halben Stunde. Haben der Herr Baron ihn denn nicht gesprochen? Er trat in Ihr Zimmer durch die kleine Tapetenthür.“

Wildenrod wurde bleich bis in die Lippen, an diesen Eingang hatte er nicht gedacht. Wenn Erich wirklich im Salon gewesen war, wenn er gehört hatte, was – Oskar wagte es nicht, den Gedanken auszudenken, er ließ den Diener stehen und eilte nach der Wohnung seines Schwagers.

Im ersten Zimmer war niemand, als der Freiherr aber die Thür des Schlafgemachs öffnete, fuhr er unwillkürlich zurück.

[254] Erich lag auf dem Boden ausgestreckt, anscheinend leblos, mit geschlossenen Augen. Das Haupt war zurückgesunken und die Brust, der Anzug, der Teppich ringsum überströmt mit hellem rothen Blut, das noch immer in einzelnen Tropfen von den Lippen floß.

Wildenrod bedurfte keiner weiteren Erklärung, der Anblick sprach deutlich genug. Mitten in seinem vermeinten Glücke war dem jungen Ehegatten die Binde von den Augen gerissen worden. Er hatte es aus dem Munde seiner angebeteten Frau selbst hören müssen, daß sie ihn nie geliebt habe, daß sie lieber in den Tod wolle als in seine Arme. Jeder andere wäre da losgebrochen und hätte seinem Zorne, seiner Verzweiflung Luft gemacht, der arme Erich hatte weder die Kraft noch den Muth dazu. Stumm hatte er die Todeswunde empfangen und lautlos war er gegangen, um hier zusammenzubrechen und sich zu verbluten.

Einige Sekunden lang stand Oskar wie erstarrt, dann riß er an der Klingel, hob mit Hilfe des herbeieilenden Dieners den Bewußtlosen auf und befahl, den Doktor Hagenbach zu rufen, möglichst ohne Aufsehen, und den Unfall einstweilen noch zu verschweigen.

Schon nach wenigen Minuten erschien der Arzt. Er hörte schweigend den Bericht Wildenrods an, während er Puls und Herzschlag prüfte, dann richtete er sich empor und sagte leise: „Holen Sie Ihre Schwester, Herr Baron, bereiten Sie sie auf das Schlimmste vor. Ich lasse Herrn Dernburg und Maja rufen.“

„Sie fürchten –?“ fragte Oskar ebenso leise, aber Hagenbach schüttelte den Kopf.

„Hier giebt es weder Furcht noch Hoffnung mehr. Holen Sie die junge Frau – vielleicht kommt er noch einmal zum Bewußtsein.“

Eine Viertelstunde später wußte das ganze Haus, daß Erich Dernburg, den man eben noch strahlend von Glück gesehen hatte, im Sterben liege. Es war nicht möglich gewesen, die Unglückskunde zu verschweigen, sie flog wie ein Lauffeuer umher. Im Tanzsaal brach die Musik jäh ab, die Gäste standen in angstvoll flüsternden Gruppen bei einander, die Dienerschaft lief mit verstörten Gesichtern umher – es war wie ein Blitzstrahl in die Freude des Festes gefahren.

Im Schlafzimmer war die Familie um den Sterbenden versammelt. Doktor Hagenbach bemühte sich noch mit allerlei Hilfeleistungen, aber man sah es ihm an, daß er nichts mehr davon erwartete. An der Seite des Lagers kniete die junge Frau, in dem weißen Brautgewande, das sie noch nicht abgelegt hatte, als die Unglücksbotschaft kam, thränenlos, totenbleich. Sie ahnte irgend einen geheimen furchtbaren Zusammenhang.

An der anderen Seite stand Dernburg, in stummem Schmerze, die Augen unverwandt auf seinen Sohn gerichtet, dem er jedes Opfer hatte bringen wollen, um ihn sich zu erhalten und der ihm nun doch entrissen wurde. Maja schluchzte an der Brust des Vaters. Wildenrod wagte es nicht, ihr und dem Sterbebette zu nahen, er hielt sich stumm und finster im Hintergrund. Er hatte sein Spiel verloren geglaubt, jetzt sollte er es dennoch gewinnen. Der Arme, dessen Leben sich da so langsam verblutete, konnte keine Anklage mehr aussprechen, sondern nahm mit sich in das Grab, was er gehört und was ihm den Tod gegeben hatte.

Regungslos, mit geschlossenen Augen lag Erich da und schien kaum zu leiden; sein Atem ging leiser und leiser, und jetzt legte der Arzt die Hand nieder, an der er bisher die Pulsschläge gezählt hatte. Cäcilie sah es und errieth die Bedeutung.

„Erich!“ schrie sie auf. Es war ein Ruf der Verzweiflung, der Todesangst, und er schreckte den Sterbenden auf aus seiner Bewußtlosigkeit. Langsam schlug er die Augen auf, der schon vom Tode umflorte Blick suchte das geliebte Antlitz, das sich über ihn beugte, aber aus dem Blicke sprach ein so grenzenloses Weh, eine so tiefe stumme Klage, daß Cäcilie schaudernd zusammenbebte. Es war nur ein Augenblick des Bewußtseins, der letzte – noch ein tiefer Athemzug der wunden Brust, und alles war vorüber.

„Es ist zu Ende!“ sagte der Arzt leise.

Maja sank laut aufweinend an der Leiche ihres Bruders nieder, und auch über Dernburgs Wangen rollten ein paar schwere Thränen, als er die erkaltende Stirn des Sohnes küßte. Dann aber wandte er sich zu der jungen Frau, hob sie sanft empor und schloß sie in die Arme.

„Hier ist jetzt Dein Platz, Cäcilie,“ sagte er mit tiefer Bewegung. „Du bist die Witwe meines Sohnes, bist meine Tochter – Du sollst in mir einen Vater finden!“


In der Stadt, die zugleich die Bahnstation für Odensberg und dessen ganze Umgegend war, lag das Wirthshaus zum „Goldenen Lamm“, ein bekannter und besuchter Gasthof. Die unmittelbare Nähe des Bahnhofes und der lebhafte Verkehr, der stets zwischen diesem und den Dernburgschen Werken stattfand, brachte dem Hause viel Zuspruch. Alles, was von Odensberg kam oder dorthin wollte, pflegte im „Goldenen Lamm“ einzukehren, das auch hinsichtlich seiner Leistungen im besten Rufe stand.

Der ursprüngliche Besitzer war längst tot, aber seine Witwe hatte ihm einen Nachfolger gegeben in der Person des Herrn Pankratius Willmann. Dieser war einst als einfacher Gast hergekommen, in der Absicht, sich nach einer kleinen Anstellung in der Stadt umzuthun, hatte es aber dann vorgezogen, sich um die reiche Witwe zu bewerben und in das behagliche Nest zu setzen. Das war ihm denn auch geglückt und er befand sich sehr wohl dabei. Er überließ es seiner Frau, in Küche und Keller zu schaffen, und behielt sich den angenehmeren Theil der Pflichten vor, die Gäste zu unterhalten und ihnen an seinem eigenen Beispiel zu zeigen, wie vortrefflich die Küche des „Goldenen Lammes“ sei.

Es war an einem trüben, rauhen Oktobertage, der den Herbst schon recht fühlbar machte, als der kleine halbverdeckte Wagen des Doktors Hagenbach vor dem Wirthshaus hielt; der Doktor selbst aber saß mit seinem Neffen in dem behaglichen Herrenstübchen, das im oberen Stock lag und nur bevorzugten Gästen offen stand. Dagobert war zur Reise gerüstet; er sollte mit dem nächsten Zuge nach Berlin fahren, um dort die Hochschule zu beziehen. Der Aufenthalt in Odensberg schien dem jungen Mann trotz der strengen Zucht seines Onkels nicht schlecht bekommen zu sein, denn er sah weit wohler und gesünder aus als im Frühjahr.

Herr Willmann, der es sich nicht nehmen ließ, den Doktor selbst zu bedienen, hatte wehmüthig berichtet, daß es ihm allerdings besser gehe, seit er die ärztlichen Vorschriften streng befolge, daß er aber beinahe dabei verhungert sei. Hagenbach hörte ganz ungerührt zu und verordnete die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise, ohne sich an das Entsetzen des dicken Lammwirthes zu kehren.

„Es geht heute bei Ihnen recht lebhaft zu, Herr Willmann,“ sagte er. „Da unten im Gastzimmer schwärmt es wie in einem Bienenstock. Sie haben große Wahlversammlung, wie ich höre, die ganze Sozialdemokratie der Stadt tagt bei Ihnen? Es ist jedenfalls ein gutes Zeichen, daß die Herren sich gerade das ‚Lamm‘ ausgesucht haben, das deutet wenigstens auf friedliche Absichten.“

Herr Willmann faltete die Hände und machte ein wahres Jammergesicht. „O Gott, Herr Doktor, spotten Sie nicht, ich bin in heller Verzweiflung. Ich habe im vorigen Jahre den neuen Saal herstellen lassen, zu harmloser und erbaulicher Unterhaltung, es ist der größte in der ganzen Stadt – und nun halten die Umstürzler, die Revolutionäre, die Anarchisten darin ihre Zusammenkünfte – es ist fürchterlich!“

„Wenn es Ihnen so fürchterlich ist, warum nehmen Sie dann die Umstürzler ins Haus?“ fragte Hagenbach trocken.

„Soll ich denen etwas verweigern? Sie würden mir Haus und Geschäft ruinieren, vielleicht sogar Dynamit legen!“ Der Wirth schauderte bei dieser entsetzlichen Vorstellung. „Ich habe es nicht gewagt, Nein zu sagen, als dieser Landsfeld kam und meinen Saal forderte. Ich zitterte vor diesem Menschen, ja wahrhaftig, ich zitterte an allen Gliedern.“

„Das wird dem Herrn Landsfeld sehr schmeichelhaft gewesen sein,“ meinte der Doktor und that einen kräftigen Zug aus dem vor ihm stehenden Bierglase, während Willmann zu klagen fortfuhr:

„Aber wie stehe ich nun da vor meinen anderen Gästen, sie werden es mich entgelten lassen – und was wird Herr Dernburg dazu sagen!“

„Herrn Dernburg wird es vermuthlich sehr gleichgültig sein, ob die Sozialisten im ‚Goldenen Lamm‘ oder anderswo tagen, [255] und seine Kundschaft verlieren Sie dadurch auch nicht … er ist doch noch nie bei Ihnen abgestiegen.“

„O, Herr Doktor, wo denken Sie hin, in meinem bescheidenen Hause! Die Odensberger Herrschaften fahren immer gleich zur Bahn. Jedoch die sämtlichen Herren Beamten kehren bei mir ein; ich bin ja überhaupt auf den Verkehr mit Odensberg angewiesen und möchte um keinen Preis –“

„Es mit einer Partei verderben!“ ergänzte Hagenbach. „Natürlich, das ist Geschäftssache. Nicht wahr, Runeck soll heute sprechen? Da wird in Ihrem großen Saale kein Plätzchen leer bleiben, und Sie haben einen hübschen Verdienst.“

Herr Pankratius Willmann hob abwehrend beide Hände und blickte nach der Decke hinauf. „Was frage ich nach dem Verdienst! Aber ich kann mein Geschäft in diesen schweren Zeiten nicht zu Grunde gehen lassen. Ich bin Familienvater, habe sechs Kinder –“

„Nun, die schweren Zeiten sieht man Ihnen nicht an,“ spottete der Doktor. „Uebrigens haben Sie in diesem Augenblick wieder eine merkwürdige Aehnlichkeit mit Ihrem seligen Vetter, dem Wüstenmenschen, der blickte gerade so wehmuthsvoll gen Himmel. Aber komm, Dagobert, wir müssen aufbrechen sonst versäumen wir den Zug.“

Er trank sein Bier aus und stand auf. Der dicke Lammwirth begleitete ihn bis zur Hausthür und bat noch einmal de- und wehmüthig, Herrn Dernburg doch gütigst mittheilen zu wollen, daß er einerseits fest zur Partei der Ordnung und Autorität halte, aber daß er als Familienvater und bei diesen fürchterlichen Zuständen –“

„Ich werde ihm sagen, daß Sie wieder einmal das Opfer Ihres Berufes sind,“ unterbrach Hagenbach das Klagelied. „Zittern Sie nur ruhig weiter und streichen Sie das schöne Geld ein. Ihr Bier ist vortrefflich und die Herren wissen das ohne Zweifel zu schätzen. Es wird sie menschlicher stimmen und das ‚Goldene Lamm‘ retten, wenn es zum äußersten kommt.“

Herr Willmann schüttelte bei dieser leichtfertigen Auffassung der Dinge sanft und vorwurfsvoll das Haupt und verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung von seinen Gästen, die nach dem nur einige hundert Schritt entfernten Bahnhof hinübergingen, wo der Zug schon vorgefahren war. Während Hagenbach mit seinem Neffen über den Bahnsteig schritt, hielt er ihm noch eine eindringliche Abschiedsrede. „Das eine möchte ich mir ausgebeten haben, daß Du in Berlin ordentlich studierst und nicht auf Dummheiten verfällst wie zum Beispiel dieser Runeck,“ sagte er mit Nachdruck. „Der war bis dahin ganz vernünftig, in Berlin ist er aber unter die Umstürzler gegangen. Junge, ich sage Dir, wenn Du Dir dergleichen einfallen läßt –“

Er machte ein so grimmiges Gesicht, daß der blonde Dagobert erschrak und betheuernd die Hand auf die Brust legte. „Ich gehe nicht unter die Umstürzler, lieber Onkel, gewiß nicht,“ versicherte er mit rührender Aufrichtigkeit.

„Einen besonderen Fang würden sie auch nicht an Dir machen,“ meinte der Doktor geringschätzig. „Aber Du bist leider zu allerlei Dummheiten angelegt. Ich hoffe nur, daß jenes verrückte Gedicht ‚An Leonie‘ Dein erstes und letztes gewesen ist, wenigstens habe ich Dir den Standpunkt nachdrücklich genug klar gemacht. – Doch da wird schon das Zeichen zur Abfahrt gegeben! Hast Du Dein Handgepäck? Dann steig' ein, und glückliche Reise!“

Er schlug die Wagenthür zu und trat zurück. Dagobert athmete förmlich auf, als er sich durch die solide Wagenwand von seinem Onkel getrennt sah, denn in seiner Brusttasche ruhte ein langes rührendes Abschiedsgedicht „An Leonie“. Der junge Dichter hatte zwar nach jenem ersten mißglückten Versuche es nicht wieder gewagt, der Angebeteten diesen Erguß seiner Gefühle in die Hände zu spielen, aber er hatte beschlossen, ihn von Berlin aus brieflich zu senden, mit der Versicherung, daß seine Liebe ewig sei, wenn die rauhe Welt sich auch trennend zwischen ihn und den Gegenstand seiner Sehnsucht dränge.

Diese „rauhe Welt“ in der Gestalt des Doktors stand auf dem Bahnsteig und winkte noch einen Abschiedsgruß, als der Zug sich jetzt in Bewegung setzte. Dann suchte Hagenbach den Stationsvorstand auf und erkundigte sich, ob der Berliner Schnellzug etwa Verspätung habe.

„Nein, Herr Doktor, der Zug kommt pünktlich in zehn Minuten,“ versetzte der Beamte. „Sie erwarten jemand?“

„Den jungen Grafen Eckardstein, der heute eintreffen will.“

Der Stationsvorstand machte ein verwundertes Gesicht. „Graf Viktor kommt? Es hieß ja, es hätte ein unheilbares Zerwürfniß zwischen ihm und seinem Bruder gegeben damals im Frühjahr, als er so urplötzlich abreiste. Dann steht es wohl schlimm in Eckardstein?“

„Wenigstens so, daß Graf Viktor davon benachrichtigt werden mußte. Er ist der einzige Bruder.“

„Ja, ja – der Majoratsherr ist unvermählt,“ ergänzte der Beamte bedeutungsvoll. „Wollen Sie nicht in das Wartezimmer treten, Herr Doktor?“

„Ich danke, ich bleibe draußen, es handelt sich ja nur noch um einige Minuten.“

Hagenbach blieb nicht der einzige Wartende, Landsfeld erschien mit einem Trupp Arbeiter, die offenbar auch jemand empfangen wollten, denn sie pflanzten sich auf dem Bahnsteig auf und unterhielten sich laut und erregt über die bevorstehende Wahlversammlung. Endlich brauste der Zug heran. Er brachte ziemlich viel Reisende, die hier auf der größeren Haltestation ausstiegen, und einige Minuten lang herrschte ein ungewohntes Gewühl in der Bahnhofshalle.

Hagenbach schritt suchend an der Wagenreihe entlang, als er plötzlich die hohe Gestalt Runecks vor sich sah, der eben den Wagen verlassen hatte. Beide stutzten im ersten Augenblick, dann machte Egbert eine rasche Bewegung, als wollte er auf den Arzt zutreten; aber Landsfeld hatte ihn bereits entdeckt und drängte sich mit seinen Gefährten heran mit lärmender Begrüßung umringten sie den jungen Ingenieur, nahmen ihn in die Mitte und brachten, als sie den Bahnhof verließen, ein stürmisches Hoch auf ihn aus.

„Der Herr Volkstribun segelt in recht hübschem Fahrwasser,“ brummte der Doktor ärgerlich. „Eine nette Ueberraschung, die er Herrn Dernburg da beschert hat! Ich bin nur neugierig, was unsere Odensberger dazu sagen. Die sind auch dabei und, wie es scheint, in ziemlicher Menge.“

Er beschleunigte seinen Schritt, denn er sah eben den jungen Grafen Eckardstein in Begleitung eines älteren Herrn aus dem letzten Wagen steigen. Auch Viktor bemerkte den Arzt und eilte ihm entgegen „Es ist doch nichts vorgefallen in Eckardstein?“ fragte er hastig.

„Nein, Herr Graf, der Zustand des Kranken ist seit vorgestern unverändert. Da ich aber gerade an der Bahn war, wollte ich Sie doch empfangen.“

„Herr Doktor Hagenbach,“ wandte sich der junge Graf an seinen Begleiter. „Mein Onkel, Herr von Stetten!“

Hagenbach verbeugte sich, er kannte den Namen und wußte, daß er den Bruder der verstorbenen Gräfin Eckardstein vor sich hatte. Stetten reichte ihm die Hand.

„Sie behandeln also meinen Neffen, Herr Doktor?“

„Jawohl, Herr von Stetten, ich wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Hausarztes zugezogen. Mein Kollege wollte die Verantwortung nicht allein übernehmen.“

„Da hatte er vollkommen recht. Seine Nachrichten lauteten so bedenklich, daß ich mich entschloß, Viktor zu begleiten. Die Sache ist ernst?“

„Eine Lungenentzündung ist immer ernst,“ versetzte der Arzt ausweichend. „Wir müssen auf die kräftige Natur des Kranken bauen. Immerhin hielten wir es für Pflicht, dem Herrn Grafen die Gefahr nicht zu verschweigen, in der sein Bruder schwebt.“

„Ich danke Ihnen dafür,“ sagte Viktor gepreßt. Er sah bleich und erregt aus; der Gedanke, den Bruder, von dem er in bitterem Unfrieden geschieden war, vielleicht auf dem Sterbebett wiederzusehen, bedrückte ihn offenbar schwer. Er verhielt sich meist schweigsam, während Stetten die eingehendsten Fragen that und sich ausführlich über den Zustand des Majoratsherrn unterrichten ließ. Draußen vor dem Bahnhof hielt ein Eckardsteinscher Wagen, und der Doktor verabschiedete sich von den beiden Herren mit dem Versprechen, morgen früh nach dem Schlosse zu kommen. Dann ging er nach dem „Goldenen Lamm“ hinüber, um seinem Kutscher zu sagen, daß er sich zur Abfahrt bereit machen solle.

[272] Im Hausflur des „Goldenen Lamms“ traf Doktor Hagenbach nochmals mit Runeck und Landsfeld zusammen, die sich von ihren Genossen losgemacht hatten und eben den Wirth fragten, ob er nicht ein besonderes Zimmer für sie habe, da sie etwas besprechen wollten.

Diesmal grüßte Egbert und blieb zögernd stehen, als sei er im Zweifel, ob er den Doktor anreden solle oder nicht. Dabei flog ein fast scheuer Blick nach der Treppe hinüber, wo Landsfeld stand.

„Nun?“ fragte dieser scharf; das Wort klang mehr wie ein Befehl als wie eine Aufforderung.

Das entschied; der junge Ingenieur warf trotzig den Kopf zurück und trat auf den Arzt zu. „Auf ein Wort, Herr Doktor! Wie steht es in Odensberg – im Herrenhaus meine ich?“

Hagenbach hatte den Gruß sehr kühl erwidert und antwortete zurückhaltend: „Wie es in einem Trauerhaus stehen kann, wo der Tod so jäh und plötzlich eingekehrt ist – Sie werden erfahren haben, wie der junge Herr starb.“

„Ja, ich weiß es,“ sagte Egbert mit einer Stimme, der man die unterdrückte Bewegung anhörte. „Wie trägt es Herr Dernburg?“

„Schwerer, als er zeigen will. Doch er ist eine eiserne Natur, die aufrecht bleibt bei jedem Schlage, und er hat auch nicht viel Zeit, seinem Schmerze sich hinzugeben. Die Verhältnisse in und um Odensberg nehmen ihn mehr als je in Anspruch, Sie werden das ja besser wissen als ich, Herr Runeck!“

Der Hieb des Doktors glitt vollständig ab an der düsteren Ruhe Egberts, der gelassen weiter fragte: „Und Maja? Sie hat den Bruder sehr lieb gehabt.“

„Fräulein Maja ist jung. In ihrem Alter weint man sich aus und tröstet sich dann. Dagegen leidet Frau Dernburg so tief unter dem Verlust, wie ich es kaum für möglich hielt.“

„Die junge Witwe?“ fragte Egbert leise.

„Ja, sie war in den ersten Tagen so fassungslos, daß ich ernste Besorgnisse hegte, und auch jetzt noch ist sie wie gebrochen. Ich hätte ihr diese leidenschaftliche Empfindung nicht zugetraut.“

Runecks Lippen zuckten, aber er erwiderte nichts auf die letzte Bemerkung. „Grüßen Sie Fräulein Maja – sie wird vielleicht meinen Gruß noch annehmen,“ sagte er dann rasch. „Leben Sie wohl, Herr Doktor!“

Damit wandte er sich nach der Treppe, wo Landsfeld stehen geblieben war, und begab sich mit diesem hinauf, während Hagenbach seinen Kutscher rief und dann in den Wagen stieg.

Herr Willmann machte noch vom Hausflur aus eine tiefe Verbeugung. Im nächsten Augenblick eilte er, so schnell es ihm seine Leibesfülle erlaubte, den beiden anderen nach. Und er zitterte durchaus nicht, als er vor dem gefürchteten Landsfeld stand, sondern bückte sich gemüthsruhig ebenso tief wie vorhin vor dem Doktor und ersuchte die geehrten Gäste, doch gefälligst in das Herrenstübchen einzutreten, dort seien sie ganz ungestört; er werde dafür sorgen, daß niemand hineinkomme. Ob die Herren sonst noch Wünsche und Befehle hätten, Küche und Keller, ja das ganze Haus stehe den Herren zu Diensten.

„Nein, wir brauchen für jetzt nichts,“ sagte Landsfeld nachlässig. „Sorgen Sie nur dafür, Herr Wirth, daß heute abend nichts mangelt. Der Andrang wird sehr groß werden.“

Der dicke Lammwirth erschöpfte sich in Versicherungen, daß alles aufs beste hergerichtet sei, und dann begab er sich seelenvergnügt in seinen großen Saal, um noch persönlich einige Anordnungen zu treffen. Herr Pankratius Willmann besaß im höchsten Grade die Kunst, zwei Herren zu dienen.

Die beiden Gäste waren inzwischen eingetreten. Egbert hatte sich niedergesetzt und stützte den Kopf in die Hand. Er sah bleich und überwacht aus, in seinem Gesicht stand ein herber bitterer Zug, der ihm sonst fremd gewesen war. Viel Freude schien der neue Wahlkandidat nicht an der Ehre zu haben, die man ihm zu theil werden ließ. Landsfeld schloß die Thür und trat zu Runeck.

„Hast Du nun endlich Zeit für uns?“ fragte er mit Schärfe.

„Ich dächte, die hätte ich immer,“ war die kurze Antwort.

„Es scheint doch nicht so. Du ließest mich wie einen Schuljungen an der Treppe stehen, während Du Dich mit dem Doktor unterhieltest.“

„Du brauchtest ja nicht zuzuhören. Weshalb bist Du nicht vorausgegangen?“

„Weil es mir Spaß machte, zu sehen, wie Du noch immer nicht loskannst von denen, die Dich längst in Acht und Bann gethan haben, indessen Du Dich höchst sentimental nach ihrem Befinden erkundigst!“

„Was geht das Dich an?“ sagte Egbert schroff. „Das ist meine Sache.“

„Nicht so ganz, mein Junge. Du bist unser Wahlkandidat, und da hast Du entschieden und endgültig mit allen Beziehungen im feindlichen Lager zu brechen. Du hast jetzt vor allen Dingen für Deine Popularität zu sorgen und machst Dich mißliebig, ja verdächtig durch solche Geschichten, merke Dir das!“

Runeck zuckte verächtlich die Schultern. „Ich danke Dir für Deinen guten Rath, ich weiß aber selbst, was ich zu thun habe.“

„Ei, ei – Du sprichst in sehr hohem Tone!“ spottete Landsfeld. „Du siehst Dich wohl schon als allmächtigen Führer der Partei, als Hauptperson im Reichstag? Hast überhaupt eine ganz gefährliche Ader vom ‚Herrn‘ in Dir. Darin ähnelst Du merkwürdig dem Alten in Odensberg, wirst es wohl auch von ihm gelernt haben. Aber daß das bei uns nicht geht, mein Junge, das solltest Du nachgerade wissen. Wenn Du so fortfährst, so gebe ich Dir mein Wort darauf, daß Du Dich unmöglich machst.“

Egbert erhob sich plötzlich und trat mit gefurchter Stirn dicht vor Landsfeld hin. „Wozu das alles? Sag’ es lieber gerade heraus, daß Du mir die Stellung mißgönnst, zu der die Partei mich berufen hat. Du hattest Dir Rechnung darauf gemacht und vergiebst es mir nicht, daß ich Dir vorgezogen wurde. Und Du weißt es doch am besten, daß diese Stellung mir aufgedrängt wurde. Ich hätte sie Dir gern überlassen – nur zu gern!“

„Was ich wollte oder erwartete, kommt hier nicht in Betracht,“ antwortete Landsfeld kalt. „Ich habe keine Aussicht, bei einer Wahl durchzudringen, Du hast sie, also muß ich Dir das Feld räumen, und das thue ich ohne Widerspruch. Ich kenne die Disciplin und halte sie – wenn andere das nur auch thäten!“

Runeck schien die letzte Bemerkung nicht zu hören, er war an das Fenster getreten und blickte hinaus. „Wie steht es in Odensberg?“ fragte er abbrechend.

„Gut, wenigstens besser, als wir zu hoffen wagten. Der Alte“ – Landsfeld gebrauchte mit Vorliebe diese Bezeichnung für Dernburg, weil er wußte, daß sie seinen Gefährten verletzte – „der Alte dünkt sich freilich noch unangreifbar in seiner Hochburg, die Augen werden ihm wohl erst am Wahltag aufgehen. Wir haben aber auch tüchtig gearbeitet, und das war hier wahrhaftig nicht leicht. Jetzt ist es an Dir! Von Deiner heutigen Rede hängt viel, vielleicht alles ab. Ein Theil der Odensberger steht noch fest zu Dernburg, die anderen schwanken, und die sollst Du heute packen und zu uns herüberziehen. Du verstehst das ja ausgezeichnet, hast es wenigstens früher verstanden.“

„Ich werde meine Pflicht thun,“ sagte Egbert finster, ohne sich umzuwenden. „Allein ich zweifle an dem Erfolg.“

„Weshalb? Höre, Du scheinst mir flügellahm geworden zu sein, seit wir Dich gegen den Alten in Odensberg ausspielen. Was Du da in den letzten Wochen in Berlin gesprochen hast, war ziemlich matt und langweilig. Sonst sprühtest Du von Feuer und Begeisterung und rissest jeden mit fort, jetzt, wo alles auf dem Spiele steht, bist Du nicht kalt, nicht warm. Hast Du denn an diesem Dernburg einen ebensogroßen Narren gefressen wie er an Dir? Ich glaube, er hat den Tod seines [274] Sohnes leichter verwunden als Deinen Abfall. Das wird ein rührendes Schauspiel, wenn Ihr Euch jetzt auf Leben und Tod bekämpft.“

„Landsfeld, jetzt ist es genug!“ brauste der junge Ingenieur in höchster Gereiztheit auf. „Ich habe Dich schon einmal ersucht, Dich nicht um meine persönlichen Verhältnisse zu kümmern, jetzt verbiete ich es Dir ein für allemal. Schweig’ davon!“

„Ja, ja, Du drohtest damals in Radefeld, mich zur Thür hinauszuwerfen,“ höhnte Landsfeld, dem Runecks Zorn Spaß zu machen schien. „Aber hier sind wir in einem fremden Hause, da wirst Du das wohl bleiben lassen. Doch zur Sache! Ich wollte Dir nur klar machen, daß Du heute abend alle sentimentalen Rücksichten beiseite lassen mußt, wenn Deine Rede wirken soll. Du weißt, was die Partei von Dir erwartet.“

„Ja – ich weiß es.“

„Nun also, nimm Dich zusammen! Die Odensberger müssen wir haben, denn bei ihnen liegt die Entscheidung. Du mußt daher energisch Front machen gegen Dernburg und gegen alles, was er ins Werk gesetzt hat. Du mußt den Leuten zeigen, daß seine Schulen und Krankenhäuser und Pensionskassen, mit denen er sie kirrt, in unseren Augen gar nichts werth sind, ein Bettelpfennig, den er seinen Arbeitern hinwirft, während er die Millionen einstreicht. Uns glauben die Leute das nicht, Dir werden sie es glauben, denn sie wissen, wozu der Alte Dich erzogen hat. Du solltest der künftige Leiter seiner Werke werden, der Erste nach ihm, und Du hast ihm das vor die Füße geworfen um unserer Sache willen: das ist es, was Dich bei den Odensbergern allmächtig macht, und darum allein haben wir Dich für die Wahl aufgestellt. Mit allgemeinen Redensarten kommst Du da nicht durch – Du mußt dem Gegner zu Leibe gehen und ihn aufs Haupt schlagen.“

Egbert wandte sich langsam um, in seinen Zügen stand eine düstere Entschlossenheit, aus seiner Stimme sprach bitterer Hohn, als er antwortete: „Ja wohl, ich muß – muß! Einen Willen habe ich nicht mehr. – Laß uns zu den anderen gehen!“




In Odensberg war das heitere gesellige Leben verstummt, das den ganzen Sommer hindurch dort geherrscht hatte und dessen Mittelpunkt das junge Brautpaar gewesen war. Die Familie trug noch die erste tiefe Trauer um den, welchen man vor kaum zwei Monaten ins Grab gesenkt hatte, und die Stimmung im Hause war so schwer und trübe wie die nebelerfüllten Herbsttage draußen.

Nur Maja machte eine Ausnahme. Doktor Hagenbach hatte recht: mit siebzehn Jahren weint man sich aus und tröstet sich dann, selbst über den Verlust eines geliebten Bruders; und hier war zudem ein besonderer Tröster ganz in der Nähe. Oskar von Wildenrod war selbstverständlich in Odensberg geblieben, und wenn auch jetzt von einer öffentlichen Verlobung nicht die Rede sein konnte, so hatte doch der Vater seine Einwilligung nunmehr in aller Form gegeben.

Maja war unendlich lieblich in ihrem stillen verschwiegenen Glück und Oskar bewies ihr im Kreise der Familie, wo er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, die zärtlichste Aufmerksamkeit und Hingebung. Er schien sehr verändert; der herbe Zug verschwand mehr und mehr aus seinem Gesicht, sein ganzes Wesen milderte sich unter dem Einfluß dieses aufblühenden Glückes, das ihn an das Ziel seiner Wünsche brachte.

Dernburg selbst trug den Schmerz um seinen Sohn, wie er alles Schwere im Leben zu tragen pflegte, gefaßt und schweigsam und suchte seinen Trost in der Arbeit, der er sich mit noch größerem Eifer als sonst hingab. Zwischen ihm und seiner Schwiegertochter hatte der Tod Erichs ein unerwartet inniges Band geknüpft. Denn wenn der Vater auch die Braut seines Sohnes als Tochter empfangen und behandelt hatte, in seinem Innersten war er früher dieser Verbindung stets abgeneigt geblieben; das eitle übermüthige Weltkind hatte dem Manne der strengen Pflicht immer fern gestanden. Die junge Witwe aber mit ihrem anfangs so verzweiflungsvoll ausbrechenden Schmerze und der stillen verschlossenen Schwermuth, die dann folgte, fand seine ganze väterliche Liebe. Von dem Augenblick an, da er sie am Sterbebette Erichs in seine Arme geschlossen hatte, nahm sie auch einen Platz in seinem Herzen ein.

Er ahnte freilich nicht, daß dieser leidenschaftliche Schmerz Cäciliens nur Reue war, Reue über jene Stunde, in welcher sie lieber in den Tod hatte flüchten wollen als in die Arme ihres Gatten, der in eben jenen Minuten sterbend zusammenbrach. Sie wußte das Schlimmste freilich nicht: daß gerade ihre unseligen Worte ihm den Tod gegeben. Oskar hatte sich das Schweigen des Dieners gesichert, der Erich hatte hinausgehen und eintreten sehen, und sonst wußte niemand darum. Aber die junge Frau ahnte etwas von dem Zusammenhang und flüchtete zu dem Vater, weil sie ein geheimes Grauen vor ihrem Bruder nicht zu überwinden vermochte.

Im übrigen konnte sich Dernburg jetzt nur wenig seiner Familie widmen, denn neben der gewohnten Arbeitslast, die er nach wie vor auf seine Schultern nahm, forderten die bevorstehenden Wahlen seine Zeit und seine Kräfte im höchsten Maße. In seiner Partei galt es als selbstverständlich, daß ihm das Mandat für den Reichstag, das er so lange ausgeübt hatte, auch diesmal wieder zufallen werde, aber man kam bald zu der Einsicht, daß der Sieg diesmal erst erstritten werden müsse, daß die Gegner mit Hochdruck arbeiteten. Da galt es, nach allen Richtungen hin thätig zu sein, und dabei fand Dernburg eine ganz unerwartete Stütze an Oskar von Wildenrod. Dieser hatte sich unglaublich rasch mit den politischen Verhältnissen vertraut gemacht, und sein scharfer Blick, sein sicheres treffendes Urtheil erregten die Bewunderung der anderen, die seit Jahren mitten in diesen Verhältnissen standen. Der Freiherr war überall, wo es nothwendig schien, er nahm an allen Versammlungen und Sitzungen theil und trat mit einem wahren Feuereifer für die Sache ein. Der einstige Diplomat segelte wieder im vollen Fahrwasser der Politik, und es war kein Wunder, daß sein Einfluß auf Dernburg, dem er fast nicht von der Seite wich, mit jedem Tage größer wurde.

Endlich war der Tag gekommen, wo der letzte entscheidende Kampf an der Wahlurne selbst ausgefochten werden sollte. Im Direktionsgebäude der Odensberger Werke herrschte schon seit den Morgenstunden eine ungewöhnliche Thätigkeit. Die unteren Räume enthielten den Sitzungssaal, wo sonst die größeren Vorträge und Berathungen stattfanden; hier hatten sich heute sämtliche Oberbeamten eingefunden, hier trafen die telegraphischen Nachrichten aus der Stadt und die Boten aus den Landbezirken ein, die wenigstens annähernd den Stand der Wahlbewegung verkündeten. Das sonst so friedliche Sitzungszimmer sah aus wie ein Feldlager, dessen Mittelpunkt der Direktor bildete; und unaufhörlich gingen die Botschaften nach dem Herrenhaus hinüber.

Es war in den Nachmittagsstunden, als Doktor Hagenbach eintrat und von den anwesenden Herren mit Vorwürfen wegen seines Ausbleibens empfangen wurde.

„Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, Doktor?“ rief ihm der Direktor ärgerlich entgegen. „Wir sitzen hier allesamt in Sorge und Aufregung, und Sie machen in aller Gemüthlichkeit Ihre Krankenbesuche und lassen sich gar nicht sehen!“

„Ich kann den Leuten doch nicht verbieten, am Wahltag krank zu sein und zu sterben,“ sagte Hagenbach ernst. „Ich mußte nach Eckardstein, schon heute vormittag, und da ließ man mich nicht eher fort, als bis alles vorüber war.“

So sehr die Herren auch heute von anderen Dingen in Anspruch genommen waren, diese Nachricht erregte doch allgemeine Aufmerksamkeit. „Ist der Graf tot?“ fragte der Direktor überrascht.

„Er starb vor zwei Stunden.“

„Das ist für den Grafen Viktor ein jäher Glückswechsel,“ bemerkte der Oberingenieur. „Gestern noch ein armer abhängiger Lieutenant und heute Besitzer der großen Eckardsteinschen Herrschaft. Graf Konrad soll nicht eben freundlich gegen seinen jüngeren Bruder gewesen sein.“

„Nein; trotzdem hat sich dieser aber in der ganzen letzten Zeit aufs liebevollste gezeigt. – Und nun, meine Herren, bin ich wohl genügend entschuldigt wegen meines Ausbleibens, nothwendig war ich hier ja nicht. Wie steht es eigentlich? Hoffentlich gut.“

„So besonders gut gerade nicht,“ meinte der Oberingenieur. „Die Nachrichten aus den Landbezirken sind befriedigend, aber in der Stadt haben offenbar die Sozialdemokraten das Heft in der Hand.“

[275] „Nun, darauf mußten wir von vornherein gefaßt sein,“ fiel Winning, der Leiter des technischen Bureaus, ein. „Den Ausschlag giebt Odensberg und damit sichern wir uns die Majorität.“

„Wenn wir unbedingt darauf rechnen können – ja,“ sagte der Direktor. „Aber ich fürchte –“

„Was fürchten Sie?“ fragte Hagenbach betroffen, als jener abbrach.

„Daß wir falsch gerechnet haben. Runecks Anhang unter den Leuten scheint größer zu sein, als wir voraussetzten – die Anzeichen davon traten freilich erst in letzter Stunde zu Tage.“

„Runeck ist ein ausgezeichneter Redner,“ sagte Winning ernst, „und seine große Wahlrede neulich im ‚Goldenen Lamm‘ hat die ganze Zuhörerschaft mit fortgerissen. Allerdings, auf seiner sonstigen Höhe stand sie nicht. Sonst sprach er kalt, mit eiserner Ruhe, aber jedes Wort war ein wuchtiger Keulenschlag, diesmal stürmte er dahin wie ein toll gewordenes Pferd, ohne Maß und Ziel.“

„Er wird Angst um sein Mandat gehabt haben,“ spottete der Oberingenieur. „Doch da kommt Helm, vielleicht bringt er etwas Wichtiges.“

Es war einer der jüngeren Beamten, der jetzt eintrat und ein eben eingetroffenes Telegramm überreichte. Der Direktor öffnete und las es und reichte es dann schweigend dem Doktor Hagenbach, der neben ihm stand. Dieser warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. „Das ist sehr unangenehm! Also in der Stadt ist nach Schätzung unserer Vertrauensmänner der Sieg der Sozialisten so gut wie entschieden! Lesen Sie, meine Herren!“

Das Telegramm machte die Runde, während der Direktor an das Telephon trat, welches das Sitzungszimmer mit dem Herrenhause verband, um dem Chef vorläufige Nachricht zu geben.

„Jetzt ist die Entscheidung einzig und allein auf Odensberg gestellt,“ sagte der Oberingenieur. „Es war jedenfalls unklug, den Schreier, den Fallner, gerade jetzt zu entlassen, unmittelbar vor den Wahlen. Das hat böses Blut gemacht und kostet uns vielleicht Hunderte von Stimmen. Aber Herr Dernburg war ja unbeugsam!“

„Sollte er sich vielleicht gefallen lassen, daß dieser Mensch in seiner Werkstatt ganz offen gegen ihn predigte und hetzte?“ fiel Winning ein. „Dergleichen ist überhaupt nie in Odensberg geduldet worden und jetzt wäre es vollends ein Beispiel von unverzeihlicher Schwäche gewesen.“

„Ich fürchte aber, daß es sich hier nur um ein Wahlmanöver gehandelt hat,“ beharrte der andere. „Fallner wußte ganz genau, was ihm bevorstand, mußte es wissen, allein er gehörte zu den Neueingetretenen, die noch nicht viel verlieren, wenn sie gehen, deshalb gab er sich zu der Geschichte her. Er sollte entlassen werden, die Sache sollte böses Blut unter den Leuten machen, darauf war es abgesehen. Ich habe das dem Herrn auch vorgestellt – vergebens. ‚Ich dulde keine Auflehnung und keine Hetzereien auf meinem Gebiet – dem Manne wird sofort gekündigt!‘ das war seine einzige Antwort, und damit gab er unseren Gegnern die Waffe in die Hand.“

Winning schwieg, ärgerlich darüber, daß er keine Widerlegung fand. Der Direktor aber, der jetzt vom Telephon zurückkam und die letzten Worte gehört hatte, sagte bedeutsam: „Wenn die Sache nur mit dem Verlust an Stimmen zu Ende ist! Mir wurde schon gestern berichtet, daß die Arbeiter von allen Seiten bearbeitet werden, für Fallner einzutreten und sein Bleiben zu fordern. Thun sie das wirklich, dann haben wir den Kampf.“

„Sie werden es aber nicht thun, denn sie kennen den Herrn,“ mischte sich Doktor Hagenbach ein. „Der läßt sich nichts abzwingen, und wenn er seine sämtlichen Werke schließen müßte. Unsere Odensberger wären ja geradezu toll, wenn sie es darauf ankommen ließen!“

„Und wenn es das Tollste wäre, was fragt Landsfeld und sein Anhang danach,“ rief der Oberingenieur. „Die wollen den Kampf, gleichviel um welchen Preis und mit welchen Opfern. Ich bleibe dabei, es war ein Fehler, den Fallner zu entlassen. Leider ist er noch hier und tritt erst übermorgen aus der Arbeit. Wer weiß, was uns noch daraus erwächst! Wenn die Wahl verloren geht und infolgedessen die Leidenschaften wachsen, können wir eine böse Ueberraschung erleben.“

„Unsinn! Sie sehen Gespenster!“ schalt Winning; der Direktor aber sagte ernst: „Ich wollte, der Tag wäre vorbei!“

Drüben im Herrenhause harrte man mit der gleichen gespannten Erwartung auf den Ausfall der Wahl, und im Arbeitszimmer des Hausherrn ging es fast ebenso lebhaft zu als im Direktionsgebäude. Dernburg freilich nahm die eintreffenden Berichte, das Gehen und Kommen seiner Beamten, die von Zeit zu Zeit mündlich Meldung erstatteten, mit der gewohnten Ruhe hin. Für ihn handelte es sich ja nicht um eine Frage des Ehrgeizes, er brachte seinem Mandat Zeit zum Opfer und Kräfte, die er seinem Berufe entzog und deren Versagen er jetzt, bei beginnendem Alter, doch bisweilen fühlte. Einem Gesinnungsgenossen hätte er daher willig den Platz geräumt, aber so, wie die Sache lag, knüpfte sich an seinen Namen der Sieg seiner Partei, und zudem war es Odensberg, das seine Wahl entschied, da war diese Wahl eine Ehrensache für ihn.

Dernburg befand sich eben allein mit seiner Schwiegertochter. Die junge Frau, die ernst und bleich in ihrer Witwentrauer am Fenster lehnte, war ihrem Schwiegervater in der letzten Zeit immer vertrauter geworden. Ihr gestattete er bisweilen einen Einblick in sein sonst so streng verschlossenes Innere; sie wußte auch allein, was seine Stirn heute so schwer und düster furchte. Es war nicht die Besorgniß vor einer Niederlage, die er überhaupt nicht für möglich hielt, die Bitterkeit dieses Kampfes lag für ihn darin, daß der Gegner Egbert Runeck hieß.

„Oskar ist in einer Aufregung, als gelte es seine eigene Wahl,“ sagte Dernburg, nachdem er die ihm überbrachten Depeschen nochmals durchlesen hatte.

„Auch mich überrascht es, daß mein Bruder so ganz in der Politik aufgeht,“ entgegnete Cäcilie, mit einem leisen Kopfschütteln. „Er hat sich sonst wenig darum gekümmert.“

„Weil er jahrelang seinem Vaterland fern geblieben ist! Es war unverantwortlich, daß er seine Kräfte so lange brach liegen ließ. Ich sehe jetzt erst, was er leisten kann, wenn ihm das Feld einer großen Thätigkeit gegeben ist.“

„O, ich glaube, Oskar kann unendlich viel, wenn er ernstlich will, und er will in Odensberg ein neues Leben anfangen, er hat es mir versprochen.“

Die Worte klangen eigenthümlich, fast wie eine Entschuldigung, aber Dernburg achtete nicht darauf. „Dazu wünsche ich ihm und mir Glück,“ sagte er ernst. „Ich gestehe es Dir offen, Cäcilie, ich hegte bisher immer noch ein gewisses Vorurtheil gegen Deinen Bruder, jetzt ist es gefallen. Er ist mir in diesen letzten Wochen die treueste zuverlässigste Stütze gewesen – das werde ich ihm danken.“

Die junge Frau antwortete nicht, sie blickte hinaus in den trüben nebelerfüllten Oktobertag, der sich jetzt seinem Ende zuneigte. Es dämmerte bereits; der Diener brachte die Lampe und mit ihm traten Wildenrod und Maja in das Zimmer. Der Freiherr sah erregt und finster aus; Dernburg wandte sich rasch zu ihm.

„Nun, wie steht es, Oskar? Was bringen Sie? Nichts Gutes, das sagt mir schon Ihr Gesicht! Sind neue Nachrichten gekommen?“

„Ja, aus der Stadt. Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt, die Sozialisten haben dort die Mehrheit.“

„Also doch!“ rief Dernburg heftig. „Es ist das erste Mal, daß sie das durchsetzen. Nun, wir werden ihnen mit Hilfe der Odensberger Stimmen die Siegesfreude schon dämpfen!“

Cäciliens Blick suchte mit bangem Ausdruck den des Bruders und seine Züge verriethen ihr, daß er diese Zuversicht nicht theile. Es lag auch ein gewisses Zögern in seiner Stimme, als er antwortete: „Odensberg hat allerdings das entscheidende Wort und wird es hoffentlich für uns sprechen. Trotzdem müssen wir mit jeder Möglichkeit rechnen –“

„Aber doch nicht mit der Möglichkeit, daß meine Arbeiterschaft mich im Stiche läßt?“ fiel Dernburg ein. „Dergleichen traue ich den Leuten ein für allemal nicht zu. Fassen Sie sich in Geduld, Oskar, man merkt Ihnen an Ihrer fieberhaften Unruhe den Neuling an. Die Wahl muß übrigens gleich zu Ende sein.“

Er erhob sich, aber die Art, wie er im Zimmer auf und ab schritt und immer wieder nach der Uhr blickte, verrieth, daß er doch keineswegs so kaltblütig war, als es den Anschein haben sollte.

[288] Ruhelos durchwanderte Dernburg das Gemach. Da fiel sein Blick auf Maja, die fast mit Scheu ins Zimmer getreten war und sich sofort zu ihrer Schwägerin Cäcilie gesellt hatte, und er blieb stehen. „Meine arme Kleine ist heute ganz verschüchtert,“ sagte er mitleidig, „Ja, die böse Politik! Die nimmt uns Männer so in Anspruch, daß wir für nichts anderes mehr Sinn haben. Komm zu mir, Maja!“

Maja eilte zu dem Vater und schmiegte sich an ihn. Ihre Stimme klang sehr zaghaft, als sie erwiderte: „Ach, Papa, ich verstehe so wenig von politischen Dingen. Ich schäme mich bisweilen recht sehr darüber.“

Dernburg lächelte und strich zärtlich über das lichte Haar seines Lieblings. „Du sollst Dein junges Köpfchen auch nicht damit anstrengen, mein Kind. Das kannst Du getrost Oskar und mir überlassen.“

„Ich werde es aber doch wohl lernen müssen,“ sagte Maja mit einem schweren Seufzer. „Cäcilie hat es ja auch gelernt. O, Papa, ich bin eifersüchtig auf Cilly. Die hast Du jetzt ganz allein ins Herz geschlossen, mit ihr besprichst Du alles, während ich immer als kleines dummes Ding beiseite geschoben werde.“

„Wie abscheulich von mir!“ entgegnete Dernburg scherzend indem er einen zärtlichen Blick zu seiner Schwiegertochter hinüber warf. Diese lächelte, aber es war ein trauriges freudloses Lächeln.

„Ich begreife wirklich nicht, weshalb Ihr alle in solcher Unruhe und Aufregung seid,“ fuhr das junge Mädchen schmollend fort. „Der Papa wird ja doch gewählt wie immer!“

[290] „Ich denke, ja!“ sagte Dernburg mit ruhiger Zuversicht.

„Nun, dann ist die Sache in Ordnung und wir brauchen uns nicht weiter darum zu grämen,“ erklärte Maja, indem sie unmuthig ihr weises Köpfchen schüttelte. „Freilich, dieser böse Egbert macht dem Papa viel zu schaffen, alle Welt spricht von ihm und –“

„Schweig davon, Maja!“ unterbrach sie der Vater schroff und finster. „Der Name des Herrn Ingenieurs Runeck wird mir im Wahlkampf täglich aufgedrängt, in meiner Familie aber wünsche ich ihn nicht zu hören, seine Beziehungen zu uns sind ein für allemal zu Ende!“

Das Mädchen verstummte, eingeschüchtert durch den ungewohnten Ton, und es trat ein längeres Schweigen ein. Die Zeit verrann, aber die erwarteten Nachrichten blieben noch immer aus. Endlich trat der Diener ein und sagte dem Freiherrn leise einige Worte, dieser erhob sich rasch und ging hinaus. In dem matt erleuchteten Vorzimmer fand er den Direktor und Winning, die ihn hier erwarteten.

„Sie wollen mich sprechen, meine Herren?“ fragte Wildenrod hastig. „Was bringen Sie?“

„Leider Unangenehmes, Herr Baron,“ begann der Direktor zögernd, „sehr Unangenehmes! Herr Dernburg wird sich auf eine schwere Enttäuschung gefaßt machen müssen.“

„Was soll das heißen? Haben Sie die erwarteten Nachrichten?“

„Runeck ist gewählt!“ sagte der Direktor leise. „Dreiviertel der Odensberger Stimmen waren für ihn.“

Der Freiherr erbleichte und seine Hand ballte sich krampfhaft. „Unglaublich! Unerhört!“ stieß er hervor. „Und die Landbezirke? Unsere Gruben und Hütten? Haben Sie schon Nachrichten von dort?“

„Nein, aber sie können am Hauptergebniß nichts mehr ändern. Runeck hat in der Stadt und in Odensberg gesiegt, das genügt, um ihm die Mehrheit zu sichern. – Hier sind die Zahlen verzeichnet.“

Wildenrod nahm stumm das Papier aus den Händen des Beamten und las die Notizen durch; sie stimmten – die Wahl war endgültig entschieden, gegen Dernburg und seine Partei.

„Wir wagten nicht, diese Nachricht dem Herrn zu überbringen,“ meinte Winning, „er ist so gar nicht darauf vorbereitet.“

„Ich werde es ihm mittheilen,“ sagte der Freiherr, indem er das Papier zusammenfaltete und zu sich steckte. „Aber noch eins, meine Herren! Es ist immerhin möglich, daß beim Bekanntwerden dieses Ausganges Kundgebungen versucht werden, die in diesem Falle eine unmittelbare Beleidigung für den Chef sind. Die siegestrunkene Bande,“ hier brach seine ganze Gereiztheit durch die mühsam erzwungene Fassung, „ist zu allem fähig, man muß darauf gefaßt sein. Jeder Versuch zu Demonstrationen wird mit der größten Strenge unterdrückt, gleichviel, was daraus entstehe. Ich mache Sie dafür verantwortlich, Herr Direktor, daß nichts dergleichen geschieht. Wir haben jetzt keine Rücksichten mehr zu nehmen und werden das fühlen lassen.“ Er grüßte kurz und ging.

Die beiden Beamten sahen einander an, endlich sagte der Direktor gedämpft: „Ja, wer ist denn nun eigentlich unser Chef, Herr Dernburg oder Baron Wildenrod?“

„Der Baron, wie es scheint,“ antwortete Winning gereizt. „Er ertheilt Befehle in aller Form, und zwar Befehle, welche die schwersten Folgen haben können. Diese Kundgebungen werden kommen, dafür wissen Fallner und Genossen schon zu sorgen.“ –

Es war keine beneidenswerthe Aufgabe, die Wildenrod übernommen hatte. Als er wieder in Dernburgs Zimmer trat, empfing ihn dieser mit der ungeduldigen Frage: „Was gab es denn da draußen? Man soll uns doch jetzt nicht mit anderen Dingen behelligen; wir haben wahrlich keine Zeit dazu. Uebrigens begreife ich nicht, was das hartnäckige Schweigen da drüben bedeutet. Die Nachrichten könnten schon da sein –“

„Die Nachrichten sind bereits eingetroffen, wie ich eben hörte,“ entgegnete Wildenrod.

„So? Weshalb unterbleibt dann die Meldung?“

„Der Direktor und Winning wollten sie Ihnen nicht persönlich überbringen. Sie kamen zu mir –“

Dernburg stutzte; zum ersten Male flog ein unheilvoller Gedanke durch seine Seele. „Zu Ihnen? Warum nicht zu mir? Was fällt den Herren ein!“

„Man wollte es mir überlassen, Ihnen die betreffende Eröffnung zu machen,“ sagte der Freiherr mit verhaltener Erregung. „Die Beamten wagten es nicht, Ihnen damit zu nahen.“

Dernburg wechselte die Farbe, aber er richtete sich hoch und fest auf. „Ist es schon so weit, daß man Komödie mit mir spielen muß? Heraus mit der Sprache!“

„Runeck hat in der Stadt gesiegt –“ begann Wildenrod zögernd.

„Das weiß ich! Weiter!“

„Und auch in Odensberg.“

„In Odensberg?“ wiederholte Dernburg und sah den Sprecher an, als verstehe er die Worte nicht. „Meine Arbeiter –“

„Haben zum größten Theil für Ihren Gegner gestimmt. Runeck ist gewählt!“

Ein halb unterdrückter Ausruf klang durch das Zimmer, er kam von den Lippen Cäciliens. Maja blickte angstvoll auf den Vater; soviel begriff sie doch, daß diese Nachricht ein furchtbarer Schlag für ihn war. Dernburg sprach nicht und regte sich nicht. Es trat ein unheimliches Schweigen ein. Endlich streckte er die Hand nach dem Papier aus, das Wildenrod hervorgezogen hatte. „Sie haben das Wahlergebniß?“

„Ja, hier ist es.“

Dernburg trat an den Tisch, um zu lesen, immer noch mit derselben starren Ruhe, aber man sah jetzt, wo er im vollen Scheine der Lampe stand, daß er totenbleich war. Regungslos sah er auf die Zahlen nieder, die ihre wortlose unerbittliche Sprache redeten. „Ganz recht,“ sagte er endlich kalt. „Drei Viertel der Stimmen sind für ihn, und mich haben sie verworfen!“

„Es ist ein förmlicher Verrath, eine Fahnenflucht ohnegleichen,“ fiel Wildenrod ein. „Freilich, wenn monatelang gewühlt und gehetzt wird … dahin hat Ihre Großmuth, Ihr unbedingtes Vertrauen geführt! Sie kannten die Ansichten, die Verbindungen dieses Menschen und ließen ihn trotzdem Fuß fassen in Odensberg. Er hat das klug benutzt, um sich seine Wähler zu sichern. Jetzt brauchte er nur zu winken und sie liefen in hellen Haufen zu ihm hinüber. Sie gaben ihm Sohnesrechte – heute stattet er Ihnen den Dank dafür ab!“

„Oskar, um Gotteswillen, hör’ auf!“ bat Cäcilie leise. Sie fühlte, daß jedes dieser Worte wie Gift in die Seele des Mannes fiel, dessen Herz ebenso tödlich verwundet war wie sein Stolz.

Aber Oskar kannte keine Rücksicht gegen den verhaßten Gegner, er fuhr mit steigender Heftigkeit fort: „Runeck wird triumphieren und er hat alle Ursache dazu. Das ist ein glänzender Sieg, den er erfochten hat, und gegen wen erfochten! Daß er Sie überwand, das allein macht ihn schon zum berühmten Manne. Und in dieser Stunde erfährt Odensberg den Ausgang der Wahl – man wird ihn feiern, den Erwählten, wird ihn bejubeln, daß der Jubel bis zum Herrenhaus herüberdringt und Sie werden das mit anhören müssen –“

„Das werde ich nicht!“ erklärte Dernburg heftig, einen Schritt zurücktretend, „Die Leute haben ihr Wahlrecht gebraucht – gut, ich werde mein Hausrecht brauchen und mich vor Beleidigungen zu schützen wissen. Jede etwaige Kundgebung infolge dieser Wahl wird unterdrückt. Der Direktor soll die nöthigen Maßregeln treffen, sagen Sie ihm das, Oskar!“

„Das ist bereits geschehen. Ich sah den Befehl voraus und gab die nöthigen Weisungen. Ich glaubte das in diesem Falle verantworten zu können.“

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Dernburg ein derartiges Eingreifen sehr unangenehm empfunden; jetzt sah er darin nur eine Fürsorge und dachte nicht an eine Rüge. „Es ist gut,“ versetzte er kurz. „Vertreten Sie mich für heute, Oskar, ich kann jetzt niemand sehen – und nun geht und laßt mich allein!“

„Papa, laß mich wenigstens bei Dir bleiben,“ flehte Maja in rührender Bitte; aber in dieser Stunde war ihr Vater nicht einmal für ihre Zärtlichkeit empfänglich, er schob sie sanft zurück.

„Nein, mein Kind, auch Du nicht! Oskar, nehmen Sie Maja mit – ich will allein sein!“

Oskar flüsterte seiner Braut einige Worte zu und führte sie aus dem Zimmer. Die Thür schloß sich hinter ihnen, und jetzt, wo Dernburg sich allein glaubte, verließ ihn die mühsam behauptete Fassung. Er drückte die geballten Hände an die Schläfen, ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Er fühlte in diesem Augenblick nicht die Demüthigung der Niederlage, es war etwas Edleres als gekränkter Ehrgeiz in diesem Schmerze. Verlassen von seinen Arbeitern, deren Dank er sich durch eine dreißigjährige väterliche Fürsorge verdient zu haben glaubte! Aufgegeben, um eines anderen willen, den er geliebt hatte wie seinen eigenen Sohn, und der ihm nun so dankte! Unter diesem Schlage brach auch seine eiserne Kraft zusammen.

[291] Da fühlte er, wie zwei Arme sich um seinen Hals legten, und auffahrend gewahrte er die Witwe seines Sohnes, deren blasses thränenüberströmtes Antlitz ihn anblickte mit einem Ausdruck, wie er ihn noch nie darin gesehen.

„Was soll das, Cäcilie?“ fragte er rauh. „Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich allein sein will? Die anderen sind gegangen –“

„Aber ich gehe nicht,“ sagte Cäcilie mit bebender Stimme. „Stoße mich nicht zurück, Vater! Du hast mich in Deine Arme und an Dein Herz genommen in der schwersten Stunde meines Lebens, jetzt naht Dir diese Stunde und jetzt theile ich sie mit Dir!“

Da brach die starre Bitterkeit des furchtbar erregten Mannes, er wiederholte nicht den rauhen Befehl. Stumm zog er die junge Frau an seine Brust, und als er sich zu ihr niederbeugte, fiel eine glühende Thräne auf ihre Stirn. Sie zuckte leise und schmerzvoll zusammen – sie wußte es, wem diese Thräne galt.




Eckardstein hatte einen neuen Herrn. Seit acht Tagen ruhte Graf Konrad in der Familiengruft und sein jüngerer Bruder hatte das Majorat angetreten. Der junge Offizier, der bisher immer nur in seiner Garnison gelebt hatte und mit Ausnahme jenes kurzen Besuches im Frühjahr den väterlichen Gütern fern geblieben war, sah sich nun plötzlich vor eine ganz neue Aufgabe und in völlig neue Verhältnisse gestellt. Da war es ein Glück, daß ihm sein Oheim und ehemaliger Vormund zur Seite stand, der selbst Gutsherr war und jetzt seinen Aufenthalt verlängerte, um den Neffen mit Rath und That zu unterstützen.

Dem trüben Nebelwetter der letzten Woche war ein klarer milder Herbsttag gefolgt. Der Sonnenschein lag hell auf den ausgedehnten Forsten, die sich zwischen Odensberg und Eckardstein hinzogen und größtentheils zu der letzteren Herrschaft gehörten.

Auf einem der Waldwege schritten Graf Viktor und Herr von Stetten dahin. Sie hatten die Forstbestände besichtigt und waren nun auf der Rückkehr nach dem Schlosse begriffen.

„Ich würde Dir rathen, den Abschied zu nehmen und Dich ganz Deinem Eckardstein zu widmen,“ sagte Stetten. „Weshalb willst Du die Güter fremden Händen überlassen?“

„Ich bin zum Soldaten erzogen,“ wandte Viktor ein, „und verstehe sehr wenig von der Landwirthschaft.“

„Das lernt sich mit einigem guten Willen, und wie mir scheint, hängst Du gar nicht so sehr am bunten Rock, um den Verzicht darauf als ein Opfer zu empfinden. Warum gehorchen wollen, wenn man Herr sein kann auf eigenem Grund und Boden? Oder hast Du sonst etwas gegen Eckardstein?“

„Ich? Nicht im geringsten!“

„Dein letzter Besuch im Frühjahr mag Dir freilich peinliche Erinnerungen hinterlassen haben,“ warf Herr von Stetten hin. „Es sind damals wohl bittere Scenen vorgefallen?“

„Onkel, ich bitte Dich!“ fiel der junge Graf abwehrend ein.

„Nun, ich weiß, es war in erster Linie Konrads Schuld, das zeigte mir die Art, wie er sich auf dem Sterbebett mit Dir aussöhnte. Aber eben deshalb sollte die Erinnerung doch keinen Stachel mehr für Dich haben.“

„Das ist es auch nicht! Aber ich bin fremd geworden in Eckardstein und denke vorläufig nicht daran, hierzubleiben. Einstweilen lasse ich die Güter verwalten – später wird sich ja alles finden.“ Die Worte klangen gepreßt. Der neue Majoratsherr sah ernst und niedergeschlagen aus und zeigte keine Spur mehr von dem einstigen lebensfrohen Uebermuth. Der Oheim sah ihn forschend an, äußerte aber nichts, sondern ließ den Gegenstand fallen.

„Es ist doch seltsam, daß niemand von den Odensbergern zum Begräbniß erschienen ist,“ hob er nach einem kurzen Schweigen wieder an. „Bei der Art Eueres früheren Verkehrs wäre eine persönliche Betheiligung doch wohl Pflicht gewesen, statt dessen kam nur ein höflich kühles Beileidschreiben.“

„Dernburg wird es jetzt mit den Höflichkeitspflichten nicht so genau nehmen,“ sagte Viktor ausweichend. „Er hat so viel andere Dinge im Kopfe. Die letzten Vorfälle in Odensberg waren doch sehr unangenehmer Natur.“

„Allerdings, und die Sache scheint noch nicht zu Ende zu sein. Doktor Hagenbach, den ich gestern sprach, hegt ernste Besorgnisse; bei der Unbeugsamkeit Dernburgs sei auf einen Ausgleich nicht zu hoffen. Er muß ein Eisenkopf sein.“

„In diesem Falle ist er es mit Recht. Die Kundgebungen, die am Abend des Wahltages in Odensberg statt fanden, mußten für ihn tief beleidigend sein. Sollte er es dulden, daß seine eigenen Arbeiter seine Niederlage bejubelten und seinen Gegner in allen Tonarten feierten? Dazu gehört mehr als Langmuth.“

„Man hätte einige der ärgsten Schreier entlassen und den übrigen verzeihen sollen. Statt dessen wurde gleich Hunderten gekündigt. Jeder, der sich nur irgendwie betheiligt hatte, bekam den Laufpaß. Daß jetzt die andern das Bleiben ihrer Kameraden fordern und mit einem Massenausstand drohen – das kann zu bösen Geschichten führen!“

„Auch ich fürchte es. Es hat ganz und gar den Anschein –“ Viktor verstummte plötzlich und blieb wie angewurzelt stehen. Sie waren im Begriff, die Fahrstraße zu kreuzen, die hier mitten durch den Wald führte, als in rascher Fahrt ein offener Wagen vorüberrollte, in dem zwei Damen in Trauerkleidung saßen. Die Jüngere wandte sich mit dem Ausdruck freudiger Ueberraschung um, als sie den jungen Grafen gewahrte, sie rief dem Kutscher einige Worte zu und der Wagen hielt.

„O, Graf Viktor, ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen – wenn die Veranlassung nur nicht eine so traurige wäre!“

Viktor trat mit einer tiefen Verbeugung an den Schlag, aber es sah aus, als hätte er einen Gruß aus der Ferne vorgezogen. Er berührte auch nur flüchtig die kleine Hand, die sich ihm vertraulich entgegenstreckte, und es lag eine merkliche Zurückhaltung in seinen Worten, als er antwortete: „Jawohl, eine sehr traurige Veranlassung ... Aber Sie gestatten wohl, mein gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen meinen Onkel Herrn von Stetten vorstelle – Fräulein Maja Dernburg – Fräulein Friedberg.“

„Ich habe eigentlich nur eine frühere Bekanntschaft zu erneuern,“ sagte Stetten lächelnd zu Maja, indem er gleichfalls herantrat. „Als ich vor Jahren in Eckardstein zum Besuch war, habe ich Sie hie und da gesehen. Aus dem Kinde von damals ist freilich eine Dame geworden, die sich meiner nicht mehr erinnern wird.“

„Wenigstens nur dunkel, Herr von Stetten, aber um so deutlicher erinnere ich mich all der frohen Stunden, die ich in Eckardstein verlebt habe, mit Graf Viktor und Erich –“ die Augen des jungen Mädchens füllten sich plötzlich mit Thränen, als sie den Namen des Bruders aussprach. „Ach, in unserem Hause hat der Tod ja auch Einkehr gehalten! Sie wissen, Viktor, wann und wie unsere armer Erich starb?“

„Ich habe es erfahren,“ sagte der junge Graf leise, „und habe bitter empfunden, wieviel ich an meinem Jugendfreund verlor. – Seine Witwe bleibt vorläufig in Odensberg, wie ich höre?“

„O gewiß, wir lassen sie nicht wieder fort! Erich hat Cäcilie so sehr geliebt … sie bleibt bei uns.“

„Und – Freiherr von Wildenrod?“ Viktor that die Frage ganz unvermittelt; seine Augen hefteten sich dabei mit einem fast angstvollen Forschen auf das Gesicht des jungen Mädchens, das sich mit dunkler Gluth bedeckte.

„Herr von Wildenrod?“ wiederholte sie befangen. „Er ist ebenfalls noch in Odensberg.“

„Und bleibt vermuthlich dort?“

„Ich glaube wohl,“ sagte Maja mit einer seltsamen Beklemmung, deren sie nicht Herr zu werden vermochte und die im Grunde doch recht thöricht war. Was lag denn daran, wenn der Jugendgespiele heute schon errieth, was doch nicht mehr lange Geheimniß bleiben sollte! Aber weshalb sah er sie so düster und vorwurfsvoll an, als habe sie ein Unrecht begangen, weshalb war er überhaupt so fremd und zurückhaltend?

Herr von Stetten, der inzwischen mit Leonie gesprochen hatte, wandte sich jetzt wieder zu den beiden; es wurden noch einige Fragen und Erkundigungen ausgetauscht, dann beendete Viktor, dem der Boden unter den Füßen zu brennen schien, das Gespräch mit der Bemerkung: „Ich fürchte, Onkel, wir halten die Damen zu lange auf. Darf ich bitten, unsere beiderseitigen Empfehlungen an Herrn Dernburg auszurichten?“

„Ich werde es Papa bestellen – aber Sie kommen doch selbst nach Odensberg?“

„Wenn es mir möglich ist, gewiß,“ erklärte der Graf in einem Tone, der verrieth, daß es ihm jedenfalls nicht möglich sein werde. Er verneigte sich und trat zurück, die Damen grüßten, und in der nächsten Minute rollte der Wagen davon.

[302] Diese Maja Dernburg ist ja ein reizendes Mädchen geworden!“ sagte Stetten zu Viktor von Eckardstein, als der Wagen mit den beiden Damen sich etwas entfernt hatte. „Da würde es sich schon verlohnen, ein bißchen weniger förmlich zu sein, als Du soeben gewesen bist. Ich denke doch, Du warst mit ihrem Bruder eng befreundet!“

Viktor hörte nicht, er blickte finster und mit fest zusammengepreßten Lippen dem Wagen nach. Erst als der Onkel seine Frage wiederholte, schreckte er aus seinem Brüten auf. „Mit wem? Ah so, Du meinst den armen Erich! Du hast ihn in Nizza gesehen, wie Du mir erzähltest, gerade damals, als er sich verlobte. Das Glück war ihm kurz genug zugemessen – ein hartes Schicksal!“

„Wer weiß, die Ehe hätte ihm vielleicht Enttäuschungen gebracht,“ bemerkte Stetten in einem eigenthümlich kühlen Tone. „Er starb im Glück und im vollen Glauben daran, das ist eher beneidenswerth … Wie hat sich denn die junge Frau in ihr Geschick gefunden?“

„Sie soll im Anfang ganz fassungslos gewesen sein, und das ist nur zu begreiflich.“

„Sie wird den Schlag überwinden,“ meinte Stetten, wieder in jenem kalten, halb verächtlichen Tone. „Eine junge und reiche Witwe weiß sich zu trösten. Ihre Vermählung giebt ihr Anspruch auf einen Theil des Dernburgschen Vermögens, und auf dieses wird es von vornherein abgesehen gewesen sein.“

Viktor sah betreten seinen Onkel an, dessen Art es sonst gar nicht war, so lieblos über Menschen zu urtheilen, die er nur oberflächlich kannte. „Du glaubst, daß die Berechnung bei dieser Verbindung eine Rolle gespielt habe?“ fragte er ungläubig.

„Gewiß, wenigstens soweit Oskar von Wildenrod dabei ins Spiel kommt. Er brauchte eine reiche Partie für seine Schwester und setzte alle Segel bei, um das zu erreichen.“

„Verzeih’, Onkel, aber da bist Du im Irrthum! Die Wildenrods sind reich, sehr reich sogar, wie man sagt.“

„Sagen mag man so, dafür wird der Freiherr schon Sorge getragen haben. In Wirklichkeit liegt die Sache ganz anders. Doch was geht das uns an! Wenn Dernburg sich hat täuschen lassen, so ist das seine Sache – er hätte vorsichtiger sein müssen.“

„Onkel, was sollen diese Andeutungen?“ forschte Viktor unruhig. „Kennst Du diesen Wildenrod näher? Weißt Du etwas von ihm?“

„Ich weiß manches, fühle mich aber durchaus nicht verpflichtet, den Warner zu spielen; Dernburg ist mir so gut wie fremd. Die Augen werden ihm allerdings aufgehen, früher oder später. Zu seinem Glücke hat der Tod seines Sohnes die Familienverbindung eigentlich schon wieder gelöst, und die Wildenrods werden sich abfinden lassen. Und nun genug davon, ich spreche nicht gern darüber.“

„Aber zu mir mußt Du sprechen!“ rief der Graf mit ausbrechender Heftigkeit. „Ich bitte, ich beschwöre Dich, theile mir offen mit, was Du erfahren hast! Ich will und muß es wissen!“

„Oho! Ich muß? Weshalb? Nimmst Du soviel Antheil an den Odensbergern? Vorhin schienen sie Dir sehr gleichgültig zu sein.“

Viktor antwortete nicht und senkte den Blick vor den fragenden Augen seines Oheims, der jetzt stehen blieb. „Ich habe längst bemerkt, daß Du irgend etwas Schweres mit Dir herumträgst,“ sagte dieser. „Etwas, das Dein ganzes Sein und Wesen verändert hat. Was ist Dir? Sei aufrichtig, Viktor – vielleicht kann Dein väterlicher Freund Dir rathen und helfen.“

„Helfen kannst Du mir nicht,“ erklärte der junge Majoratsherr finster. „Aber ich will Dir beichten, die Sache drückt mir sonst noch das Herz ab. – Du kennst den Grund des Zerwürfnisses zwischen Konrad und mir. Konrad war bisweilen hart gegen mich und schließlich machte er seine Hilfe, die ich nothwendig brauchte, von einer Bedingung abhängig. Er plante zwischen Maja Dernburg und mir eine Verbindung, die ihn jeder weiteren Sorge für mich überheben sollte, und ich – nun ich war gereizt, erbittert, ich wollte um jeden Preis diese drückende Abhängigkeit loswerden und stimmte zu. Ich kam hierher, sah Maja wieder, und da war es vorbei mit jeder Ueberlegung und Berechnung, da wuchs die volle heiße Liebe zu dem süßen Geschöpf in mir empor. Und dann – dann bin ich hart genug dafür gestraft worden, daß ich einmal rechnete.“

„Du hast ein Nein erhalten? Unmöglich! Das junge Mädchen war ja vorhin die Unbefangenheit selbst.“

„Maja weiß von meiner Bewerbung überhaupt nichts, ich kam gar nicht dazu, mich ihr zu erklären. Ihrem Vater wurde Konrads Plan hinterbracht, in der gehässigsten Weise. Er stellte mich zur Rede, und als ich die Wahrheit nicht ableugnen konnte und nicht wollte, behandelte er meine Werbung als eine Spekulation der niedrigsten Art, mich selbst als einen Glücksjäger. Er hat mir schonungslose Dinge gesagt, Dinge –“ Viktor biß die Zähne zusammen. „Erlaß mir das Weitere!“

„So also steht die Sache?“ sagte Stetten nachdenklich. „Ja freilich, was fragt dieser stolze Industriefürst nach einem Grafen Eckardstein! Nun, sieh nur nicht so verzweifelt aus, mein armer Junge, die Verhältnisse liegen jetzt anders als vor sechs Monaten. Das Schicksal hat Dich inzwischen zum Herrn von Eckardstein gemacht und Du hast es in der Hand, durch eine Erneuerung Deiner Werbung Dich bei dem alten Starrkopf da drüben glänzend zu rechtfertigen.“

„Ich werde mich dazu nicht verstehen – niemals! Maja ist und bleibt für mich verloren.“

„Nur nicht so stürmisch! Dem künftigen Schwiegervater kann man immerhin ein paar herbe Worte verzeihen, vollends da er in der Sache selbst gar nicht so sehr unrecht hatte. Verbietet Dir Dein Stolz eine Wiederannäherung, so überlaß mir die einleitenden Schritte. Ich werde mit Dernburg reden.“

„Damit er Dir mit höflichem Bedauern erklärt, seine Tochter sei die Braut des Freiherrn von Wildenrod?“ fuhr Viktor auf. „Das können wir uns ersparen!“

„Was fällt Dir ein! Wildenrod steht im Beginn der Vierzig und Maja Dernburg –“

„O, er hat eine dämonisch zwingende Macht und weiß sie zu brauchen. Ich bin überzeugt, daß jene Einflüsterung, die Dernburg so gegen mich aufbrachte, von ihm stammt. Ich war ihm im Wege, er rechnete schon damals auf Majas Besitz! Und sie ist nicht gleichgültig gegen ihn geblieben, man spricht schon überall von einer Verlobung, und vorhin habe ich Gewißheit erhalten. Maja verrieth sich – ich habe nichts mehr zu hoffen!“ Die Verzweiflung des jungen Mannes zeigte deutlich, wie tief ihm die Leidenschaft für seine Jugendgespielin im Herzen saß.

Stetten war sehr ernst geworden. „Das wäre allerdings ein Meisterstreich Wildenrods,“ sagte er mit gefurchter Stirn. „Also er hat an dem Antheil seiner Schwester nicht genug und will für sich selbst die Odensberger Millionen erobern! Da ist es freilich Zeit, Dernburg die Augen zu öffnen – seine Tochter soll nicht die Beute dieses Abenteurers werden.“

„Ein Abenteurer? Der Freiherr von Wildenrod?“

„Er ist es geworden, als Glück und Glanz seines Hauses zusammenbrachen. Vielleicht war ebensoviel Verhängniß als Schuld dabei – gleichviel! Er hat das Recht verwirkt, sich mit einer ehrenwerthen Familie zu verbinden.“

„Und das wußtest Du schon damals in Nizza und hast geschwiegen?“ rief Viktor mit bitterem Vorwurf.

„Sollte ich etwa den Angeber machen? Und bei wem? Welches Recht hatte ich, mich in die Verhältnisse einer fremden Familie einzudrängen? Was gingen mich damals die Dernburgs an? Man stellt den Sohn eines Mannes, in dessen Hause man jahrelang als Freund verkehrt hat, nicht an den Pranger ohne zwingende Nothwendigkeit –“

„Aber Du hättest Erich auf irgend eine Weise warnen können!“

„Da hätte keine Warnung gefruchtet. Wenn Erich hätte sehen wollen – die zweideutige Rolle, die sein künftiger Schwager spielte, war in ganz Nizza bekannt; ich war nicht der [303] einzige Wissende. Aber er ging blindlings in das aufgestellte Netz. Doch beruhige Dich! Jetzt, wo ich weiß, wie nahe seine Schwester Deinem Herzen steht, jetzt werden jene Rücksichten fallen.“

„Ja, Maja muß geschützt werden vor diesem Manne, koste es, was es wolle!“ rief Viktor stürmisch. „Onkel, ich habe Dir nichts verhehlt, jetzt sei auch Du offen gegen mich! Wer und was ist dieser Wildenrod?“

„Du sollst es erfahren,“ sagte Stetten ernst. „Aber hier im Walde können wir solche Dinge nicht erörtern. In zehn Minuten sind wir im Schlosse, dort laß uns weiter von der Sache reden.“




Maja und ihre Begleiterin waren inzwischen weiter gefahren. Sie wollten nach der Bahnstation, Frau von Ringstedt abzuholen, die sich nach Berlin begeben hatte, um in dem dortigen Wohnsitz der Familie die Anstalten für einen Winteraufenthalt zu treffen. Dernburgs Wiederwahl war mit einer solchen Bestimmtheit erwartet worden, daß man auch bei den häuslichen Anordnungen darauf Bedacht genommen hatte. Jetzt war der ganze Berliner Aufenthalt in Frage gestellt, und die alte Dame kehrte vorläufig nach Odensberg zurück.

„Was war das nur heute mit dem Grafen Viktor?“ sagte Maja nachdenklich. „Er gab sich ganz anders als sonst und schien nicht einmal über unser Wiedersehen erfreut zu sein.“

„Er ist noch in der ersten Trauer um den Bruder,“ warf Leonie ein. „Da ist es nur natürlich, wenn er sich ernster und gehaltener zeigt als sonst.“

Maja schüttelte das Köpfchen, die Erklärung wollte ihr nicht einleuchten. „Nein, nein – es war etwas anderes. Viktor ist auch damals im Frühjahr ohne Abschied fortgegangen! Papa sagte zwar, er sei in dienstlichen Angelegenheiten ganz plötzlich abberufen worden, aber dann hätte er doch schreiben können. Und als ich ihn jetzt einlud, nach Odensberg zu kommen, sah er aus, als hätte er gar keine Lust dazu. Was soll das alles bedeuten?“

„Mir ist die Zurückhaltung des Grafen auch aufgefallen,“ sagte Leonie, „und eben deshalb hätten Sie ihm nicht mit einer solchen Vertraulichkeit entgegenkommen dürfen, Maja. Sie sind jetzt eine erwachsene Dame und dürfen sich den Gutsnachbarn gegenüber nicht mehr die Freiheiten eines Kindes erlauben.“

„Viktor ist kein bloßer Gutsnachbar!“ rief das junge Mädchen ärgerlich. „Er ist als Knabe beinahe ebenso in Odensberg zu Hause gewesen wie in Eckardstein. Es ist garstig von ihm, jetzt auf einmal so fremd und förmlich zu thun, und das werde ich ihm auch sagen, wenn er zu uns kommt. O, ich werde ihm schon den Text lesen!“

Fräulein Friedberg nahm eine zurechtweisende Miene an und verbreitete sich noch einmal sehr ausführlich über die Rücksichten, welche eine erwachsene Dame zu nehmen habe, aber sie predigte tauben Ohren. Maja träumte mit offenen Augen vor sich hin; sie sah noch immer den düsteren vorwurfsvollen Blick des Jugendgespielen, und wenn sie auch weit entfernt war, den Grund seines veränderten Wesens zu ahnen, seine Zurückhaltung that ihr doch weh, Sie fühlte erst jetzt wie lieb Viktor ihr war.

Am Bahnhofe empfing Doktor Hagenbach die beiden Damen mit unerfreulichen Nachrichten. Er hatte in der Stadt von einem Eisenbahnunfall gehört, der sich im Laufe des Vormittags ereignet haben sollte. Da er wußte, daß Frau von Ringstedt unterwegs war, so hatte er schleunigst Erkundigungen eingezogen, die zum Glück beruhigend lautete. Infolge der letzten Regengüsse hatte ein Dammrutsch stattgefunden, das Geleise war auf eine größere Strecke gesperrt, man mußte die Züge halten und die Fahrgäste umsteigen lassen – der Berliner Schnellzug konnte daher nur mit namhafter Verspätung eintreffen; ein Unfall aber bei dem Zuge selbst war nicht vorgekommen.

Auf diese Mittheilung hin blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Da sich jedoch auf dem Bahnhof eine größere Truppenabtheilung befand, die vom Manöver zurückkehrte und ihre Weiterbeförderung erwartete, so waren sämtliche Räume überfüllt, die Wartezimmer fast gänzlich von den Offizieren in Beschlag genommen, und überall herrschte ein lärmendes Treiben, das einen längeren Aufenthalt für Damen sehr unangenehm machte. Der Doktor rieth deshalb, nach dem „Goldenen Lamm“ hinüberzugehen, sich ein Zimmer geben zu lassen und dort die Ankunft des Zuges abzuwarten. Der Vorschlag wurde angenommen, und da Herr Willmann gerade nicht zu Hause war, so wurden die Gäste von seiner Ehegattin empfangen, die auf die Nachricht hin, daß die Odensberger Herrschaften das „Goldene Lamm“ mit ihrer Gegenwart beehrte, was bisher noch niemals geschehen war, aus der Küche herbeigestürzt kam, um dieser Ehre pflichtschuldigst Rechnung zu tragen.

Die Vorzüge der Frau Willmann mochten wohl nach der wirthschaftlichen Seite hin liegen, in ihrer Erscheinung traten jedenfalls keine hervor. Sie war bedeutend älter als ihr Mann, mit einem abstoßenden Aeußeren und einer lauten scharfen Stimme begabt, die ihren Worten etwas Keifendes verlieh. Und die Hauskleidung, in der sie ihre Gäste empfing, ließ an Geschmack wie an Sauberkeit sehr viel zu wünschen übrig.

Sie öffnete schleunigst das beste Gastzimmer, riß ein Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen, schob Tisch und Stühle zurecht und versicherte den Herrschaften, daß sie ihnen in der allerkürzesten Zeit den allervortrefflichsten Kaffee vorsetzen würde. Dann verschwand sie schleunigst, ganz Eifer und Dienstfertigkeit.

Nach Aussage des Bahnbeamten hatte man mindestes noch eine Stunde auf den Berliner Zug zu warten. Fräulein Maja fand das sehr langweilig; sie bekam Lust, eine Entdeckungsreise im „Goldenen Lamm“ anzustellen, und als sie vollends durch das Fenster eine Kinderschar gewahrte, die in dem Gärtchen an der Rückseite des Hauses spielte, da war es vorbei mit ihrer Fähigkeit, stillzusitzen. Sie schlüpfte, trotz aller Vorstellungen ihrer Erzieherin, aus dem Zimmer und überließ die anderen sich selber.

Einige Minuten lang herrschte ein verlegenes Schweigen. Der Doktor und Fräulein Friedberg hatten zwar längst eine stille Uebereinkunft geschlossen, jenen verunglückten Heirathsantrag als nicht geschehen zu betrachten. Es war die einzige Möglichkeit, bei dem beinahe täglichen Verkehr, zu dem sie gezwungen waren, die nöthige Unbefangenheit zu bewahren, aber im einzelnen sah es mit dieser Unbefangenheit doch recht mißlich aus. Hagenbach konnte es nicht lassen, seinem Groll über den Korb, den er erhalten hatte, in allerlei versteckten Andeutungen Luft zu machen, und Leonie befand sich ihm gegenüber fortwährend im Vertheidigungszustand. Trotz dieses unerquicklichen Verhältnisses aber war es eine Thatsache, daß der Herr Doktor viel mehr Sorgfalt auf seine äußere Erscheinung verwendete als früher und sich auch bemühte, seiner Derbheit soviel wie möglich Zügel anzulegen. Das letztere gelang ihm zwar nur in sehr bescheidenem Maße, doch zeigte er wenigstens den guten Willen dazu.

„Maja ist nicht zu berechnen!“ begann Fräulein Friedberg endlich mit einem Seufzer. „Ich bin wirklich bisweilen in Verzweiflung. Was soll man mit einer jungen Dame anfangen, die bereits Braut ist und noch immer nicht die Nothwendigkeit einsehen will, daß man sich den gesellschaftlichen Formen zu beugen hat!“

„Nun, über diese Nothwendigkeit ließe sich streiten,“ warf Hagenbach ärgerlich hin.

„Nein, darüber läßt sich nicht streiten,“ war die sehr entschiedene Antwort. „Das ist die Grundlage, auf der die ganze Geselligkeit beruht.“

„Jawohl, die Formen!“ spottete Hagenbach mit unverhohlener Gereiztheit, „die sind die Hauptsache in der Welt! Was kommt’s auch darauf an, ob ein Mann ehrlich, tüchtig, gediegen ist – er muß dem ersten besten Gecken weichen, der es versteht, Verbeugungen zu machen und Redensarten zu drechseln – der hat natürlich den Vortritt!“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber gemeint! Ich habe mich mein Lebtag nicht viel mit den Formen abgegeben, habe es auch in meiner Praxis nicht nöthig gehabt und in meiner Häuslichkeit erst recht nicht. Bin ich doch noch Junggeselle – Gott sei Dank!“

Der Doktor stattete dem Himmel seinen Dank ob des glücklich bewahrten Junggesellenthums in einem so grimmigen Tone ab, daß Leonie es vorzog, gar nicht zu antworten. Sie trat ans Fester und blickte hinaus. Zum Glück erschien jetzt eine der Mägde mit den Kaffeetassen und einem riesigen Kuchen, der für mindestes zehn Personen ausreichte, und meldete, die Herrschaften möchten sich nur noch eine kleine Weile gedulden, Frau Willmann bereite den Kaffee selbst.

[304] Leonie stutzte bei dem Namen und wandte sich heftig um. „Wer, sagten Sie?“

„Frau Willmann, gnädige Frau.“

„So heißt die Wirthin vom ‚Goldenen Lamm‘,“ erläuterte Hagenbach, der jetzt einsah, daß ein Verschweigen nichts mehr nütze und daß die „ganze Wehmuthsgeschichte doch noch einmal durchgesäuselt werden müsse“. Leonie sagte zwar kein Wort, aber die fliegende Röthe, die ihr Gesicht färbte, verrieth, wie sehr diese Erinnerung an den einstigen Verlobten sie erschütterte. Der Doktor zog es deshalb vor, die Sache selbst zur Sprache zu bringen, als das Mädchen das Zimmer verlassen hatte.

„Der Name fällt Ihnen auf?“ fragte er.

„Er war mir einst sehr theuer und ist es noch. Es kann sich wohl hier nur um einen Zufall handeln, aber ich werde doch bei der Wirthin zu erfahren suchen –“

„Das ist nicht nothwendig, das können Sie auch von mir erfahren. Der Wirth dieses Hauses ist ein Vetter des seligen Herrn Engelbert, des Heidenbekehrers, der im Wüstensande begraben liegt. Er hat es mir selbst gesagt – das heißt, nicht der Begrabene, sondern der lebendige Herr Pankratius Willmann vom ‚Goldenen Lamm‘.“

„Ein Vetter Engelberts?“ wiederholte Leonie befremdet. „Ich habe nie von einer solchen Verwandtschaft gehört. Dieser Herr Pankratius Willmann ist wohl nach dem Alter seiner Frau zu schließen schon ziemlich bei Jahren?“

„Bewahre, er ist mindestens zwölf Jahre jünger als seine bessere Hälfte, ein angehender Vierziger. Er war eben ein armer Schlucker und sie eine reiche Witwe. Uebrigens ist der Mann gar nicht ungebildet, er hat sogar studiert, wie er mir neulich einmal erzählte, hat es aber dann doch vorgezogen, sich in die Wolle des ‚Goldenen Lamms‘ zu setzen.“

Die Lippen Leonies kräuselten sich verächtlich. „Welch ein Entschluß! Diese gewöhnliche Frau –“

„– hat Geld und kocht ausgezeichnet,“ ergänzte Hagenbach, der eine Genugthuung darüber empfand, daß wenigstens der Vetter des seligen Engelbert nicht auch in idealer Verklärung dastand. „Uebrigens scheint die Ehe der beiden sehr glücklich zu sein, und eine zahlreiche Nachkommenschaft haben sie auch – sehen Sie nur da drunten im Garten springen die sechs kleinen Lämmer herum!“ Er war gleichfalls an das Fenster getreten und wies in das Gärtchen hinunter, wo sich die Sprößlinge des Willmannschen Ehepaares schreiend und lärmend umhertrieben. Durch besonderen Liebreiz zeichneten sie sich allerdings nicht gerade aus, es waren kleine wohlgenährte dickköpfige Geschöpfe mit strohgelben Haaren und schienen wesentlich nach der Frau Mutter gerathen zu sein.

Leonie zuckte die Achseln. „Ich begreife nicht, wie ein gebildeter Mann zu einer solchen Ehe herabsteigen kann. Freilich, der Vortheil regiert jetzt die Welt. Wer fragt noch nach dem Idealen!“

„Herr Pankratius Willmann jedenfalls nicht,“ meinte Hagenbach trocken. „Der hält es mit dem Praktischen, ganz im Gegensatz zu seinem Vetter. Herr Engelbert ließ die Heimath im Stich, um da hinten in Afrika die schwarzen Heiden zu taufen. Nun liegt er im Wüstensand – das hat er davon!“

Leonie nahm eine vernichtende Miene an. „Einen solchen Entschluß vermögen Sie allerdings nicht zu würdigen, Herr Doktor. Engelbert Willmann war eine ideale Natur, die ohne jede Rücksicht auf irdische Vortheile einer höheren Eingebung folgte, und man muß selbst etwas davon in sich tragen, um das verstehen zu können.“

„Nun, ich verstehe das nicht!“ erklärte Hagenbach mit ausbrechendem Aerger. „Ich mache schlecht und recht die Menschen gesund, ohne höhere Eingebung, und bin selbst ein ganz gewöhnlicher Mensch, ohne jede ideale Zuthat – also eigentlich gar nichts werth.“

So war der Streit zwischen den beiden wieder einmal recht hübsch im Zuge, als jetzt die Thür sich öffnete und Herr Pankratius Willmann auf der Schwelle erschien, in seiner ganzen stattlichen Leibesfülle, mit dem breiten rothen Gesicht. Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Arzte, eine zweite vor der Dame am Fenster und begann dann mit seiner sanften, wehmüthigen Stimme:

„Ich hörte eben von meiner Frau, daß die Odensberger Herrschaften hier seien, und konnte es mir nicht versagen, meine Freude und meinen Dank auszusprechen für die Ehre, die meinem bescheidenen Hause widerfahren ist.“

„Gut, daß Sie kommen, Herr Wirth!“ sagte der Doktor. „Eben sprach ich noch von Ihnen mit Fräulein Friedberg –“ Weiter ließ ihn die Scene nicht kommen, die sich plötzlich vor seinen Augen entwickelte.

Leonie war beim Klange der fremden Stimme in jähem Schrecken zusammengefahren, und Herr Willmann zeigte sich nicht weniger erschrocken beim Anblick des Fräuleins. Er knickte förmlich zusammen, seine rothen Wangen erbleichten, ganz fassungslos starrte er die Dame an, die sich ihm rasch näherte.

„Mein Herr,“ begann sie mit bebender Stimme, „Sie tragen einen Namen, der mir nicht fremd ist, und ich höre von dem Herrn Doktor, daß in der That eine Verwandtschaft besteht –“

Sie hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten, doch Herr Pankratius neigte nur das Haupt, bejahend, aber so tief daß fast nichts mehr von seinem Gesicht zu erblicken war.

„Ich finde allerdings etwas Verwandtes in Ihren Zügen,“ fuhr Leonie fort, „und auch Ihre Stimme hat eine fast erschreckende Aehnlichkeit mit der Ihres verstorbenen Vetters, dessen Sie sich vielleicht kaum noch erinnern.“

Willmann antwortete auch diesmal nicht, er machte eine verneinende Bewegung, aber ohne das Gesicht emporzuheben.

„Nun, haben Sie denn die Sprache verloren?“ rief der Doktor. „Was soll dies stumme Nicken und Schütteln bedeuten?“

Aber Herr Pankratius verharrte in seinem Schweigen, es schien, als habe er eine förmliche Angst, seine Stimme wieder ertönen zu lassen. Statt dessen warf er einen scheuen Blick auf die Thür, wie wenn er die Möglichkeit eines Rückzuges erwägen würde. Jetzt verlor Hagenbach die Geduld. „Was steckt denn hinter diesem Benehmen?“ rief er mit erwachendem Argwohn. „Ist am Ende die ganze Geschichte mit der Verwandtschaft nicht wahr? Rücken Sie gefälligst heraus mit der Sprache!“

Der von zwei Seiten Bedrängte wußte sich offenbar nicht mehr zu helfen. Er hob die Augen zur Stubendecke empor, genau mit demselben frommen wehmüthigen Ausdruck, der den Doktor zuerst stutzig gemacht hatte, und seufzte. „O Gott, Herr Doktor, der Himmel ist mein Zeuge –“

Ein lauter Aufschrei unterbrach ihn. Leonie wurde plötzlich totenbleich und umfaßte krampfhaft mit beiden Händen die Lehne des vor ihr stehenden Sessels. „Engelbert! Allmächtiger Gott – er ist es selbst!“

Herr Willmann schien in diesem Augenblick den dringenden Wunsch zu hegen, daß sich die Erde zu seinen Füßen öffnen und ihn verschlingen möchte. Da aber ein solcher Eingriff des Himmels nicht erfolgte, so blieb er mitten im Zimmer im hellen Sonnenschein stehen. Doktor Hagenbach aber ließ sich auf den nächsten Stuhl nieder; er hatte starke Nerven, doch diese Enthüllung griff ihn einigermaßen an.

Merkwürdigerweise hatte Leonie trotz dieser für sie vernichtenden Entdeckung in wenigen Augenblicken ihre Fassung wiedergewonnen. Sie fiel weder in Ohnmacht, noch bekam sie Weinkrämpfe; regungslos stand sie da und blickte auf ihren einstigen Bräutigam, der keinen Versuch zum Leugnen machte.

„Leonie, Du hier?“ stammelte er in tödlicher Verlegenheit. „Ich hatte keine Ahnung – ich werde alles erklären –“

„Ja, darum möchte ich auch ernstlich bitten!“ rief der Doktor, der jetzt die Sprache wiederbekam und entrüstet aufsprang. „Was, Sie lassen sich zwölf Jahre lang als verunglückter Heidenapostel beweinen und dabei sitzen Sie äußerst lebendig hier im ‚Goldenen Lamm‘ als glücklicher Ehegatte und sechsfacher Familienvater? Das ist ja niederträchtig!“

„Herr Doktor,“ unterbrach ihn Leonie, noch an allen Gliedern bebend, aber doch mit Selbstbeherrschung, „ich habe mit diesem – diesem Herrn da zu reden. Bitte, lassen Sie uns allein!“

Hagenbach sah sie etwas bedenklich an, er traute dieser Fassung nicht recht; da er jedoch einsehen mußte, daß bei einer solchen Auseinandersetzung die Gegenwart eines Dritten überflüssig sei, so verließ er das Zimmer. So wenig er sich sonst mit dem Horchen abgab, diesmal blieb er ohne alle Gewissensbisse dicht an der Thürspalte stehen. Die Sache, die da drinnen verhandelt wurde, ging ihn doch auch einigermaßen an.

Herr Engelbert Willmann schien sich sehr erleichtert zu fühlen, als der Zeuge des peinlichen Auftrittes fort war, und machte [306] nun endlich Anstalt zu der verheißenen Erklärung. Er hob in reuevollem Tone an: „Leonie, höre mich!“

Sie stand noch immer an ihrem Platze, ohne sich zu regen, und sah ihn an, als könne und wolle sie es nicht glauben, daß diese behäbig spießbürgerliche Erscheinung und die Idealgestalt ihrer Jugend eine und dieselbe Person seien.

„Es bedarf keiner Erklärung,“ sagte sie mit einer Ruhe, die ihr selbst unbegreiflich vorkam. „Ich verlange nur, daß Sie mir einige Fragen beantworten. Sind Sie wirklich der Gatte jener Frau, die uns vorhin empfing, der Vater der Kinder, die drunten im Garten spielen?“

„Höchst vernünftig und praktisch!“ brummte beifällig der Doktor draußen. „Nichts von Weinkrämpfen! Die Sache läßt sich ganz gut an.“

Leonies Frage schien Herrn Willmann vollends niederzuschmettern. „Verdamme mich nicht, Leonie!“ bat er stammelnd. „Der Zwang der Verhältnisse – eine unglückliche Verkettung von Umständen –“

„Reden Sie mich nicht mit dem vertraulichen Tone von einst an, Herr Willmann,“ schnitt ihm Leonie das Wort ab. „Wie lange sind Sie verheirathet?“

Willmann zögerte, er hätte gern eine möglichst kurze Dauer seines Eheglückes angegeben, aber da draußen lärmte seine gesamte Nachkommenschaft, und sein Aeltester, ein zehnjähriger Bube, war auch dabei. „Elf Jahre,“ sagte er endlich leise.

„Und vor zwölf Jahren haben Sie mir geschrieben, daß Sie als Missionär in das Innere Afrikas gehen wollten, und seitdem blieben Ihre Briefe aus. Sie sind also wohl unmittelbar darauf nach Deutschland zurückgekehrt – ohne mir Nachricht zu geben?“

„Es geschah allein um Deinet – um Ihretwillen, Leonie,“ versicherte Engelbert mit einem Versuche, seiner Stimme einen zärtlichen Klang zu geben. „Wir waren beide arm, ich hatte keine Aussichten, es konnten Jahre vergehen, ehe ich imstande war, Ihnen meine Hand zu reichen. Sollte ich zugeben, daß Sie mir zulieb Ihre Jugend vertrauerten, ein anderes, vielleicht besseres Glück verscherzten? Niemals! Und da ich Ihre Großmuth kannte, da ich wußte, daß Sie nie Ihr Wort von mir zurückgefordert hätten, so that ich mit blutendem Herzen, was ich mußte – ich gab Ihnen die Freiheit zurück, durch meinen angeblichen Tod –“

„– und machte selbst schleunigst eine reiche Partie,“ ergänzte der Doktor draußen. „Der Mensch lügt das Blaue vom Himmel herunter! Gnade Dir Gott, Du sanfter Engelbert, wenn Du mir nachher unter die Hände geräthst!“

Der sanfte Engelbert schien indessen mit seiner aufopfernden Liebe und seinem blutenden Herzen gar keinen Eindruck auf die einstige Braut zu machen. „Geben Sie sich keine Mühe, ich lasse mich nicht mehr täuschen,“ erwiderte sie verächtlich. „Den Treubruch hätte ich Ihnen verziehen, diese erbärmliche Komödie hier verzeihe ich Ihnen nicht. Hätte ich geahnt, daß ich Ihnen zu arm, daß unsere Verlobung Ihnen eine Fessel war, ich hätte sofort den Ring zurückgesandt. Ein offenes ehrliches Wort hätte Ihnen all dies Lügen und Heucheln erspart und mir diese bittere Stunde.“ Jetzt zum ersten Male drohte das Schluchzen ihre Stimme zu ersticken, doch nur einen Augenblick lang, dann zwang sie es nieder und fuhr mit ausbrechender Empörung fort: „Und einen Menschen wie Sie habe ich geliebt! Um Ihretwillen habe ich meine Jugend verloren, um Ihres Andenkens willen die Hand eines ehrenwerthen Mannes zurückgewiesen!“

„Das wird ja ausgezeichnet,“ meinte Doktor Hagenbach an seiner Thürspalte und rieb sich vergnügt die Hände. „Na, die Sache kann ja wieder in Ordnung gebracht werden.“

„Leonie, Sie zerreißen mir das Herz!“ versicherte Herr Willmann, indem er beide Hände auf die Magengegend legte. „Wenn Sie wüßten, was ich litt – ich habe ja doch nur Sie allein geliebt!“ Er machte einen Versuch, sich ihr zu nähern, allein sie wich mit einem Ausdruck des Widerwillens zurück.

„Bitte, Herr Willmann, wir sind zu Ende und haben uns nichts mehr zu sagen. Ich fordere nur noch eins von Ihnen: wenn der Zufall uns wirklich noch einmal im Leben zusammenführen sollte, so kennen wir uns nicht und haben uns nie gekannt.“

Engelbert athmete bei dieser Erklärung verstohlen auf, er hatte nicht gehofft, so leichten Kaufes loszukommen, und schickte sich nun schleunigst zu einem würdevollen Abgang an. „Sie verurtheilen mich – ich muß es tragen!“ sagte er sanft und schmerzerfüllt. „Lebe wohl, Leonie, der Schein ist gegen mich, aber Du bist dennoch meine erste und einzige Liebe gewesen!“

Er warf noch einen wehmuthsvollen Blick auf seine einstige Braut und trat dann eilig den Rückzug an. Draußen aber ereilte ihn das Verhängniß in der Gestalt des Doktors Hagenbach, der ihn ohne weiteres am Arme packte. „Jetzt wollen wir ein paar Worte miteinander reden, Herr Engelbert Willmann,“ sagte er und schleppte den Erschrockenen rücksichtslos nach dem anderen Ende des Ganges, wo man außer Hörweite des Gastzimmers war. „Viel werde ich mich allerdings nicht mit Ihnen abgeben, aber sagen will ich es Ihnen denn doch, daß Sie ein Lump sind!“

„Herr Doktor – nicht so laut!“ flehte Willmann und schielte angstvoll nach der Treppe, wo jede Minute seine Frau oder irgend jemand anderes erscheinen konnte.

Aber Hagenbach kehrte sich nicht daran. „Ein ausgemachter Lump!“ wiederholte er. „Mir persönlich ist das zwar sehr angenehm, aber Sie bleiben doch, was Sie sind. Und solch einem Menschen weint man zwölf Jahre lang nach und umgiebt ihn mit einem förmlichen Heiligenschein. Er wird aufgehängt –“

„Um Gotteswillen!“ jammerte der Bedrohte, während der Doktor ingrimmig fortfuhr: „Aufgehängt mit einer Trauerschleife und einem Veilchenstrauß! Jetzt wird aber die Geschichte hoffentlich von der Wand genommen. Wie gesagt, Sie sind keinen Schuß Pulver werth!“ Dabei schüttelte er den Unglücklichen, dem er diese Artigkeiten sagte, mit einem Ingrimm, daß Herrn Willmann Hören und Sehen verging.

„Ich verstehe kein Wort,“ stöhnte dieser, der sich aus Furcht vor noch größerem Lärm nicht zu befreien wagte. „Haben Sie Mitleid, Herr Doktor, und schweigen Sie über die Sache! Wenn meine Frau es erfährt, meine Kundschaft, die Stadt – ich wäre ein geschlagener Mann.“

„Ja, das wäre allerdings etwas für die Stammtische im ‚Goldenen Lamm‘,“ sagte Hagenbach mit einem zornigen Auflachen, „diese Geschichte von dem verunglückten Heidenapostel und Wüstenmenschen! Um Ihretwillen schweige ich wahrhaftig nicht. Sie verdienen es, daß man Sie an den Pranger stellt, aber für Fräulein Friedberg wäre das eine peinliche Sache, also mag es verschwiegen bleiben! Und nun, Gott befohlen, Herr Engelbert, wir beide haben uns auch nichts mehr zu sagen!“

Er schüttelte den ganz vernichteten Willmann noch einmal gründlich, ließ ihn dann stehen und kehrte in das Zimmer zurück, wo seine ärztliche Hilfe jedenfalls nöthig war. Wenn Fräulein Friedberg sich auch bisher über Erwarten tapfer gezeigt hatte, jetzt mußten doch die unumgänglichen Ohnmachten und Weinkrämpfe eintreten! Aber nichts von alledem. Leonie kam ihm entgegen, sie war noch immer sehr bleich und man sah, daß sie heftig geweint hatte, allein sie behauptete auch jetzt ihre Haltung.

„Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht,“ sagte der Doktor mit einer gewissen Verlegenheit. „Ich fürchtete – ja, mein Fräulein, heute gestehe ich Ihnen ohne weiteres das Recht zu, ‚Nerven‘ zu haben – Sie sollen keinen Spott darüber hören.“

„Ich bin ganz wohl,“ versicherte Leonie, ohne den Blick zu erheben. „Ich habe freilich eine sehr schmerzliche Enttäuschung durchgemacht, Sie werden errathen, wie die Sache zusammenhängt, Herr Doktor – ersparen Sie mir die Beschämung, es Ihnen ausführlich erzählen zu müssen.“

„Sie brauchen sich gar nicht zu schämen!“ rief Hagenbach warm und herzlich. „Es ist doch keine Schande, an das Gute und Edle im Menschen fest und unverbrüchlich zu glauben. Und wenn Sie einer getäuscht hat, so brauchen Sie deshalb noch nicht den Glauben an alle zu verlieren. Es giebt noch manchen unter uns, der diesen Glauben verdient.“

„Ich weiß es,“ entgegnete Leonie leise und bot ihm die Hand. „Und ich will einer Erinnerung nicht nachweinen, die es nicht werth ist, daß man auch nur eine Thräne darum vergießt – mag sie begraben sein!“

„Bravo!“ rief der Doktor, indem er die dargebotene Hand ergriff und Miene machte, sie herzhaft zu schütteln. Aber auf einmal besann er sich und hielt inne. Die „rauhe Schale“ mußte doch schon einigermaßen gelockert sein, denn es geschah das Unerhörte – Herr Doktor Hagenbach beugte sich nieder und drückte einen äußerst zarten Kuß auf diese Hand.

[319] Das Herrenstübchen im „Goldenen Lamm“ war fast ganz leer, wie gewöhnlich in den frühen Nachmittagsstunden. Die Besucher pflegten sich erst gegen Abend einzustellen. Augenblicklich befand sich nur ein einziger Gast dort, Landsfeld, der gekommen war, um wegen einer zweiten größeren Versammlung, die in den nächsten Tagen stattfinden sollte, mit dem Wirthe Rücksprache zu nehmen. Dieser war augenblicklich nicht zu Haus, und Landsfeld, der die Sache abzumachen wünschte, hatte ohne weiteres von dem Herrenstübchen Besitz ergriffen, wo er schon seit einer Viertelstunde wartete. Er ahnte nicht, daß Herr Willmann bereits nach Hause gekommen war, auch von seinem Hiersein erfahren hatte, es aber vorzog, erst den Odensberger Herrschaften eine unterthänige Verbeugung zu machen, ehe er ebenso unterthänig den Führer der Sozialisten begrüßte. Landsfeld begann schon ungeduldig zu werden, als endlich die Thür sich öffnete. Aber statt des Erwarteten trat Egbert Runeck ein.

Der junge Abgeordnete, der unmittelbar nach seiner Wahl auf einige Tage nach Berlin gegangen war, um mit den Parteihäuptern Rücksprache zu nehmen, grüßte auffallend kurz und kalt den Genossen, der auch seinerseits nur mit einem flüchtigen Kopfnicken antwortete.

„Schon zurück von Berlin?“ fragte Landsfeld.

„Ich bin vor einer Stunde angekommen,“ versetzte Runeck. „Ich war in Deiner Wohnung und hörte dort, daß ich Dich voraussichtlich im ‚Goldenen Lamm‘ finden werde.“

„In meiner Wohnung? Das ist ja eine seltene Ehre! Ich will uns hier den Saal für übermorgen sichern, da sich die Nothwendigkeit herausgestellt hat, eine zweite Versammlung einzuberufen. Uebrigens erwarteten wir Dich noch gar nicht zurück. Seid Ihr schon fertig?“

„Für den Augenblick ja, es handelte sich nur um Vorbesprechungen. Erst in vier Wochen, wenn die Sitzungen des Reichstages beginnen, ist meine dauernde Anwesenheit in Berlin erforderlich, und wie mir scheint bin ich jetzt hier nothwendiger als dort.“

„Da bist Du im Irrthum,“ erklärte Landsfeld. „Wir brauchen Dich hier nicht mehr, seit Deine Wahl durchgesetzt ist. Aber ich dachte mir, daß Du schleunigst zurückkehren würdest, sobald Du hörtest, es gehe in Deinem geliebten Odensberg drunter und drüber. Ja, dem Alten haben wir den Unfehlbarkeitsdünkel gründlich ausgetrieben. Er stand bisher so unnahbar da, als könne sich nichts an ihn wagen, jetzt muß er sich wie alle seine Kollegen mit uns herumschlagen – es mag ihn sauer genug ankommen.“

„Ich meine, Ihr hättet keine Ursache, zu triumphieren“ sagte Egbert finster. „Dernburg hat auf Eure Herausforderung mit einer Massenentlassung geantwortet.“

„Natürlich! Das war von dem alten Starrkopf zu erwarten und darauf waren wir auch vollkommen gefaßt.“

„Oder vielmehr, Ihr habt es darauf angelegt! Und was nun?“

„Nun heißt es biegen oder brechen. Entweder der Alte nimmt die Entlassungen zurück oder die Arbeit wird auf allen seinen Werken niedergelegt.“

„Dernburg beugt sich nicht, das wißt Ihr alle, und ihn zu brechen habt Ihr nicht die Macht. Aber er hat sie, Euch zu brechen und er wird sie schonungslos brauchen, nun er einmal so weit getrieben worden ist. Er kann es aushalten, wenn seine Werke wochen- und monatelang feiern – Ihr nicht. Der Ausstand ist völlig aussichtslos und die Führer unserer Partei wollen ihn nicht, haben ihn überhaupt nie gewollt. Jetzt ist der Beschluß endgültig dagegen gefaßt worden.“

„So, so? Da wirst Du wohl Dein Möglichstes gethan haben, diesen Beschluß durchzusetzen?“ fragte Landsfeld mit einem stechenden Blick. „Bist ja jetzt auch einer von den Führern! Der jüngste von allen und der herrischste von allen. Du scheinst die anderen schon recht hübsch in der Hand zu haben.“

Runeck machte eine Bewegung gereizter Ungeduld. „Hast Du nur persönliche Ausfälle gegen mich, wo es sich um eine Entscheidung der Partei handelt? Ich bringe Dir die bestimmte Weisung, es nicht zum äußersten kommen zu lassen – richte Dich danach!“

„Thut mir leid, dazu ist es zu spät, die Weisung hätte früher kommen müssen,“ versetzte Landsfeld kalt. „Die Forderung ist gestellt und im Falle der Nichtannahme der Ausstand angekündigt. Die Leute können nicht mehr zurück – das wird man auch in Berlin einsehen.“

„Oho, zeigst Du Dein wahres Gesicht?“ rief Egbert erbittert „Du, der Du immer die Disciplin im Munde führst, hast also ganz auf eigene Faust gehandelt?“

„Auf eigene Verantwortung, ja! Diese beschränkten Feiglinge, die Odensberger, mußten endlich einmal aufgerüttelt werden aus ihrem Vertrauensdusel. Was haben wir für Mühe gehabt, Deine Wahl bei ihnen durchzusetzen, mit welchem Hochdruck haben wir arbeiten müssen, und bis zur letzten Stunde stand alles auf dem Spiele! Jetzt ist die träge Masse endlich in Bewegung gerathen, jetzt gilt es, sie vorwärts zu treiben!“

„Und wohin? Zur gewissen Niederlage! Zur Wahlurne sind sie Euch gefolgt, und auch jetzt noch gehen sie blindlings mit Euch – der Siegesrausch ist ihnen zu Kopf gestiegen. Ihr habt ihnen nicht umsonst eingeredet, daß sie allmächtig seien. Aber der Rausch wird verfliegen. Laß die Leute nur erst zur Besinnung kommen und einsehen, was sie verlieren, wenn sie Odensberg den Rücken kehren müssen, was ihre Weiber und Kinder dabei dransetzen – ich sage Dir, Du hältst sie nicht acht Tage mehr beisammen, sie laufen in hellen Haufen zu Dernburg zurück. Aber er wird ein anderer sein als früher, er wird und kann die Beleidigung nicht verzeihen, die man ihm angethan hat.“

Der junge Ingenieur hatte längst seine anfängliche kalte Ruhe verloren und sich in immer größere Erregung hineingesprochen. Landsfeld blieb ruhig sitzen und sah ihn unverwandt an; ein böses Lächeln spielte um seine Lippen, als er entgegnete: „Du scheinst eine solche Rache des Alten ganz in Ordnung zu finden. Auf welcher Seite stehst Du denn eigentlich, wenn man fragen darf?“

„Auf der Seite der Vernunft und des Rechtes!“ brauste Runeck leidenschaftlich auf. „Daß die Odensberger mich wählten, [320] gegen Dernburg, das war ihr Recht und das wird auch er ihnen nicht bestreiten, so tief es ihn kränken mag. Daß sie aber meinen Sieg auf seinen eigenen Werken feierten, daß sie Umzüge hielten und vor seinen Augen, fast unter seinen Fenstern, seine Niederlage bejubelten, das ist eine freche Herausforderung, und er hat ihnen nur die verdiente Antwort darauf gegeben!“

„So? Die verdiente?“ wiederholte Landsfeld in einem Tone, der seinen jungen Genossen hätte warnen sollen; aber dieser achtete nicht darauf und fuhr mit steigender Heftigkeit fort: „Du hast durch Fallner die Leute hetzen lassen, ich weiß es; Du hast sie zu der unsinnigen Forderung getrieben, die auf eine unglaubliche Demüthigung ihres Chefs hinausläuft. Kennt Ihr den Mann wirklich so schlecht oder wollt Ihr nur den Krieg bis aufs Messer? Nun, Ihr werdet ihn haben! Dernburg hat seinen Arbeitern lange genug den Beschützer gezeigt, jetzt wird er ihnen den Herrn zeigen, und er thut recht daran – ich handelte nicht anders an seiner Stelle!“

Ein lautes bitteres Auflachen Landsfelds unterbrach Egbert, der die letzten Worte in unbedachter Empörung herausgeschleudert hatte. „Bravo! O, das ist ein unbezahlbares Geständniß! Also endlich zeigst Du Dein wahres Gesicht! Das war der Alte von Odensberg, wie er leibt und lebt – er hat sich an Dir einen würdigen Schüler erzogen. Was meinst Du, wenn ich das, was Du mir eben anzuhören gabst, nach Berlin berichtete?“

Runeck mochte wohl selbst fühlen, daß er sich zu weit hatte fortreißen lassen, aber er richtete sich nur trotziger auf. „Meinetwegen! Denkst Du, ich ließe mich so knechten, daß ich es nicht einmal wagte, meine Meinung frei herauszusagen wenn wir unter uns sind?“

„Unter uns! Erweisest Du uns wirklich noch die Ehre, Dich zu uns zu rechnen? Freilich, Du bist ja unser Abgeordneter! Ich habe genug gewarnt und abgerathen, denn ich wußte längst, wohin wir schließlich mit Dir kommen würden – man wollte nicht auf mich hören, wollte sich die ‚geniale Kraft‘ für die Partei sichern, und deshalb mußte die Wahl durchgesetzt werden, mit allen Mitteln, die zu Gebote standen. Es war das Schwerste, was im ganzen Wahlfeldzuge zu leisten war – und für wen! Darüber werden wohl auch den anderen die Augen bald aufgehen.“

„Willst Du ihnen dabei helfen, so thue es!“ sagte Egbert herb und stolz. Jetzt aber sprang Landsfeld auf und trat dicht vor ihn hin. „Damit wärst Du vielleicht ganz einverstanden, Du legst es ja förmlich darauf an, einen Bruch herbeizuführen. Gieb Dir keine Mühe, mein Junge, den Gefallen thun wir Dir nicht, wir geben Dich nicht frei! Wenn Du zum Verräther, zum Ueberläufer werden willst, so soll die ganze Schande davon auch auf Dich fallen.“

Ein bitterer Ausdruck zuckte bei diesen höhnischen Worten um Runecks Lippen. „Verräther? Das also hat es mir eingetragen, daß ich mich Euch mit Leib und Seele ergab, daß ich Euch das Opfer einer Zukunft brachte, so groß und glänzend, wie sie nicht leicht einem anderen geboten wird!“

„Und das bereust Du jetzt natürlich?“ warf Landsfeld lauernd ein.

„Das Opfer nein! Aber die Genossenschaft mit Euch – ja, die habe ich längst bereut.“

„Du bist wenigstens aufrichtig,“ spottete Landsfeld, „und zeigst uns rückhaltlos, welche Ruthe wir uns mit Deiner Wahl aufgebunden haben. Doch das ist nicht mehr zu ändern, und vorläufig wirst Du wohl Deine Pflicht im Reichstage thun müssen. Zum Glück sind Deine früheren Reden noch in aller Munde – Du würdest Dir selbst ins Gesicht schlagen, wolltest Du jetzt auf einmal eine andere Melodie anstimmen. Und noch eins, mein Junge“ – er ließ plötzlich den höhnischen Ton fallen und seine Stimme wurde drohend – „versuche nicht etwa, Dich in die Odensberger Verhältnisse einzumischen, die habe ich jetzt in die Hand genommen. Ich werde das vor der Partei zu verantworten wissen – sieh nur zu, wie Du mit Deiner Verantwortung fertig wirst. Erspart bleibt sie Dir nicht, darauf verlaß Dich!“ Damit kehrte er dem Genossen ohne Gruß den Rücken und verließ das Zimmer.

Egbert blieb allein; stumm und finster brütete er vor sich hin. Er konnte es nicht hindern, daß ihm immer und immer wieder die Worte in den Ohren klangen, mit denen ihn Dernburg damals entlassen hatte: „Du hättest Herr sein können in Odensberg. Sieh’ zu, ob Deine Genossen es Dir danken, das ungeheure Opfer, das Du ihnen gebracht hast!“ Er hatte ihn soeben empfangen, diesen Dank!

Da wurde leise die Thür geöffnet, nur zur Hälfte, und ein lieblicher Mädchenkopf blickte, schüchtern und neugierig zugleich, durch die Spalte. Es war Maja, die auf ihrer Entdeckungsreise im „Goldenen Lamm“ schließlich bis zu dem Herrenstübchen gelangt war. Sie hatte aber kaum einen Blick hineingeworfen, als sich ein Ausruf freudiger Ueberraschung ihren Lippen entrang.

„Egbert!“

Er fuhr empor aus seinem Brüten, sah sie einen Augenblick mit starrer Verwunderung an und sprang dann auf. „Maja – Du hier?“

Maja schlüpfte rasch ins Zimmer und zog die Thür hinter sich zu. Fräulein Friedberg und Doktor Hagenbach durften von diesem Zusammentreffen nichts wissen, sonst erlaubte man ihr gar nicht, mit Egbert zu reden – er war ja verfehmt in Odensberg!

Auch Runeck schien sich dessen plötzlich zu erinnern, er ließ die zur Begrüßung ausgestreckte Hand langsam wieder sinken und trat einen Schritt zurück. „Darf ich Dich denn noch bewillkommnen wie einst?“ fragte er leise.

Ueber Majas eben noch so strahlendes Gesicht legte sich ein Schatten, aber sie trat ohne Zögern näher und bot dem Jugendgespielen die Hand. „Ach, Egbert, daß es so weit kommen mußte! Wenn Du wüßtest, wie es jetzt bei uns aussieht!“

„Ich weiß es,“ war die kurze düstere Alltwort.

„Unser Odensberg ist gar nicht mehr wiederzuerkennen,“ klagte das junge Mädchen. „Sonst, wenn wir durch die Werke gingen oder mit den Arbeitern verkehrten – wie freudig wurden wir da von allen begrüßt, und wenn vollends der Papa sich zeigte, dann hingen aller Augen an ihm und jeder war stolz darauf von ihm angeredet zu werden. Jetzt“ – es klang ein unterdrücktes Schluchzen in ihrer Stimme – „jetzt hat Papa Cäcilie und mir verboten, den Umkreis des Parkes zu verlassen, da wir draußen vor Beleidigungen nicht sicher seien. Er selbst geht freilich täglich nach den Werken, aber ich sehe es an den Gesichtern unserer Beamten, daß sie das für ein Wagniß halten, daß sie fürchten, er sei unter seinen eigenen Arbeitern in Gefahr. Und was vollends am Wahltag vorgefallen ist, das frißt ihm am Herzen – das hat er doch nicht um sie verdient!“

Sie ahnte nicht, was sie mit diesen Worten dem Manne anthat, der halb abgewendet vor ihr stand. Es kam kein Laut über seine Lippen, aber in seinem Gesicht zuckte eine mühsam verhaltene Qual; Maja sah es und legte mit der alten Zutraulichkeit die Hand auf seinen Arm. „Du hast das nicht gewollt, ich weiß es,“ sagte sie tröstend. „Aber ich bin auch die einzige, die in Odensberg noch zu Dir hält, und darf kaum wagen, das zu zeigen. Papa ist furchtbar gereizt und erbittert gegen Dich, und Oskar – ich meine Herr von Wildenrod – bestärkt ihn noch darin. Da hilft auch mein Bitten nichts, und nun vollends Cäcilie –“

„Auch sie?“ unterbrach sie Runeck, sich jäh umwendend. „Auch sie verdammt mich?“

„Ich bin nicht sicher,“ sagte Maja, erschreckt durch den seltsamen Blick, den Egbert ihr zuwarf. „Allein Cäcilie will nie hören, wenn ich von Dir spreche, und ergreift förmlich die Flucht davor. Ach, Egbert, wenn es nur ein anderer wäre, der meinem Vater gegenüberstände – ich glaube, er würde es leichter tragen. Daß Du es bist, das verwindet er nicht!“

„Ich auch nicht!“ erwiderte Egbert dumpf. „Sage das Deinem Vater, Maja, wenn Du willst.“

Das junge Mädchen schüttelte traurig den Kopf. „Das kann ich nicht, Dein Name darf nicht mehr vor ihm genannt werden. Er geräth in heftigen Zorn, wenn es dennoch geschieht. Und er hat Dich doch so lieb gehabt. Mein Gott, warum muß man sich denn auf Tod und Leben hassen, wenn man zwei verschiedenen politischen Parteien angehört!“

Die süße Kinderstimme Majas klang so weich und bittend und doch bohrte sich jedes ihrer Worte wie ein brennender Vorwurf in Egberts Seele. Er hielt es nicht länger aus. „Laß das, Maja,“ sagte er mit innerer Bewegung. „Wir müssen es als ein Verhängniß nehmen, an dem wir alle schwer zu tragen haben. Und Dich, Du armes Kind, haben wir auch mit hineingezogen, Deine ganze sonnige Heiterkeit ist dabei verloren gegangen.“

Das Gesicht des jungen Mädchens erglühte plötzlich, sie senkte den Kopf, und leise, fast zaghaft entgegnete sie: „Nein, [322] nein – ich schäme mich oft genug, daß ich trotz alledem so grenzenlos glücklich bin, und ich kann es doch nicht ändern. Sieh mich nicht so verwundert an, Egbert, Fremde sollen es freilich noch nicht wissen, weil wir noch Trauer tragen um unseren armen Erich, aber Dir kann ich es schon sagen, daß ich – nun daß ich Braut bin.“

Egbert fuhr erstaunt zurück. Er hatte in Maja bisher immer nur das Kind gesehen, es war ihm gar nicht eingefallen, daß ihr schon die Liebe genaht sein könnte. Jetzt rief die unerwartete Nachricht ein flüchtiges Lächeln in sein düsteres Gesicht, und voll Herzlichkeit streckte er der Jugendgespielin die Hände entgegen. „Giebt sich unsere kleine Maja wirklich schon mit solchen Dingen ab?“ fragte er mit einem Versuch, zu scherzen.

„Aber ich bin gar nicht mehr so klein!“ versicherte Maja mit einem reizenden Schmollen, indem sie sich auf den Fußspitzen erhob und ihm schelmisch ins Auge blickte. „Siehst Du, ich reiche Dir schon bis zur Schulter und ihm auch.“

„Ihm? Ja so, ich habe noch nicht einmal nach dem Namen Deines Erwählten gefragt. Wie heißt er denn?“

„Oskar!“ antwortete Maja leise.

„Wie sagtest Du?“ rief Egbert zusammenzuckend.

„Oskar von Wildenrod! Du kennst ihn ja – mein Gott, Egbert, was hast Du denn?“

Runeck war bleich geworden und seine Rechte ballte sich unwillkürlich; mit einem finsteren Ausdruck blickte er auf das junge Mädchen, das ihn beklommen und fragend ansah. „Der Freiherr von Wildenrod ist Dein Verlobter?“ wiederholte er endlich. „Und Dein Vater hat eingewilligt?“

„Gewiß. Er war anfangs dagegen, wegen des großen Altersunterschiedes, aber Oskar hat ihn so lange bestürmt und ich habe so lange um unser Glück gebeten und gebettelt, bis er nachgab.“

Egbert blieb stumm, er schaute auf das junge liebliche Geschöpf, das so ahnungslos von seinem „Glücke“ sprach, wo ihm namenloses Unglück bereitet war. Stellte ihn denn das Schicksal zum zweiten Male vor die Aufgabe, einem Wesen, das ihm lieb war, den tödlichen Schlag zu versetzen und das vermeinte Glück mit erbarmungsloser Hand zu zertrümmern? Bei Erich war es ihm in letzter Stunde erspart worden, er durfte schweigen, als er Cäcilie in ihrer wahren Gestalt kennengelernt, hier gab es keine Wahl und kein Schweigen.

„Und Du freust Dich nicht einmal?“ fragte Maja gekränkt und vorwurfsvoll, als er noch immer schwieg. „Freilich, Du hast etwas gegen Oskar und er hat sehr viel gegen Dich. Ich weiß es längst, wenn auch keiner von Euch es eingestehen will. Aber einen Glückwunsch kannst Du mir doch sagen – ich bin ja so unbeschreiblich glücklich!“

Runeck biß die Zähne zusammen. Er konnte nicht, auch nur der Form wegen, aussprechen, was unter diesen Umständen der bitterste Hohn gewesen wäre, und doch fühlte er, daß er jetzt und hier sein Geheimniß nicht enthüllen dürfe. Glücklicherweise kam ihm der Zufall zu Hilfe, man vernahm draußen auf dem Gange die Stimme des Doktors Hagenbach: „Haben Sie Fräulein Dernburg nicht gesehen? Wir müssen nach dem Bahnhof, der Zug kommt in zehn Minuten.“

„Ich muß fort!“ flüsterte Maja aufhorchend. „Leb’ wohl, Egbert. Ich behalte Dich doch lieb, was auch kommen mag! Und nicht wahr, auch Du vergißt nicht, daß Odensberg so lange Deine Heimath gewesen ist?“

Die braunen Augen blickten noch einmal innig bittend zu ihm empor, dann huschte das junge Mädchen eilig davon. Runeck athmete auf, als er diesen ahnungslosen glücklichen Augen nicht mehr stand zu halten brauchte, aber zugleich wogte jetzt, wo er sich allein sah, eine Fluth der Empörung durch seine Brust. Also das war das Endziel Wildenrods gewesen! Er hatte sich Odensberg nun einmal zur Beute erlesen und ließ es nicht wieder los – Majas Hand sollte ihm die Beute erringen. Und Cäcilie wußte das und ließ es geschehen! Freilich, er war ihr Bruder, den sie trotz alledem liebte – nur um ihn zu retten, war sie Erichs Weib geworden! Und sie kannte die Wahrheit nicht. O, warum hatte er sie ihr damals verhehlt! Aber jetzt durfte auch sie nicht mehr geschont werden – es galt, Maja zu retten; jetzt wurde ein längeres Schweigen zum Verbrechen.

„Nein, ich will nicht vergessen, daß Odensberg so lange meine Heimath gewesen ist,“ murmelte Egbert, indem er sich entschlossen aufrichtete, „wenn ich Dir das auch anders beweisen muß, als Du glaubst, meine arme kleine Maja. Ob ich an Dernburg schreibe? Unmöglich! Er glaubt das Schlimmste von mir, er würde den Brief für eine elende Verleumdung halten und Wildenrod würde sein Spiel dennoch gewinnen. Es hilft nichts, ich muß Auge in Auge den Kampf führen und darf nicht eher weichen, als bis er entschieden ist, bis Maja gelöst ist aus diesen Banden. Sei es denn – ich gehe nach Odensberg!“

[336] In Odensberg herrschte eine schwüle gewitterschwere Stimmung. Es lag Sturm in der Luft und allen Anzeichen nach mußte das ausbrechende Wetter ein schweres werden.

Heute war der Tag, wo die Arbeiter, denen infolge der Vorgänge des Wahltages gekündigt worden war, die Arbeitsstätte verlassen mußten. Es waren Hunderte und ihre sämtlichen Genossen hatten erklärt, die Arbeit gleichfalls niederlegen zu wollen, wenn jene Entlassungen nicht zurückgenommen würden.

Wohl hatten sich die Gemäßigten und Besonnenen, und das war der größere Theil der Odensberger, nach Kräften gegen diesen Beschluß gewehrt, aber vergeblich. Die kleinere energischere Partei hatte der Mehrheit ihren Willen aufgezwungen und diese hatte sich gefügt. Der Siegesrausch war den Leuten in der That zu Kopf gestiegen. Seit sie ihrem Chef das so lang behauptete Mandat für den Reichstag entrissen und es einem der Ihrigen zugewendet hatten, glaubten sie, alles erreichen zu können, und Landsfeld hatte diese Stimmung zu benutzen gewußt.

Jetzt freilich, wo es ernst wurde, zeigte die Sache bereits ein anderes Gesicht. Dernburg hatte die Arbeiter, die ihm ihre Bedingungen überbrachten, gar nicht empfangen, sondern ihnen durch den Direktor ein schroffes Nein antworten lassen. Dann hatte er, ohne sich auf irgend eine Verhandlung einzulassen, ohne auch nur zu fragen, ob die Leute auf ihrem Sinne beharrten, die gemessensten Befehle gegeben, an dem betreffenden Tage sämtliche Werkstätten zu schließen und die Anstalten zum Auslöschen der Hochöfen zu treffen. Er hatte seinen Beamten gegenüber rückhaltlos ausgesprochen, daß er den Kampf eher bis zur eigenen Vernichtung durchführen, als auch nur einen Deut jener Forderungen bewilligen werde, deren bloße Zumuthung er schon als eine Schmach empfand. Man kannte diesen Ausspruch auf den Werken und er hatte überall Bestürzung hervorgerufen, denn man wußte, daß der Chef Wort halten werde. Er war trotz seiner Niederlage der Alte geblieben und machte bitteren Ernst, das sah man wohl. Der Rausch der Odensberger verflog, als sie statt des erträumten Sieges jetzt einen langen und schweren Kampf vor sich erblickten, der nur zu leicht mit ihrer Niederlage enden konnte.

Im Arbeitszimmer Dernburgs hatte soeben eine Sitzung stattgefunden. Außer dem Freiherrn von Wildenrod, der bei solchen Veranlassungen niemals fehlte, waren die drei obersten Beamten anwesend; sie hatten sich nach Kräften bemüht, den Chef zu einer milderen Auffassung des Geschehenen zu bestimmen – es war vergebens gewesen.

„Es bleibt dabei, die befohlenen Maßregeln werden mit aller Entschiedenheit durchgeführt!“ erklärte er. „Sie werden dafür sorgen, meine Herren, daß die Unterbeamten sich genau nach den gegebenen Anweisungen richten. Jeder besondere Vorfall wird mir sofort gemeldet. Wir gehen einer ernsten, vielleicht schweren Zeit entgegen und ich rechne darauf, daß ein jeder von Ihnen im vollsten Maße seine Pflicht thut.“

„Bei uns ist das wohl selbstverständlich, Herr Dernburg,“ entgegnete der Direktor, „und auch für unsere Untergebenen glaube ich mich verbürgen zu können. Vielleicht kommt es aber doch nicht zum äußersten. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Stimmung auf den Werken eine sehr gedrückte ist. Viele bereuen schon jetzt den Entschluß, zu dem sie halb und halb gezwungen wurden. Wir wissen es ja genau, welche Hände da thätig gewesen sind; die Leute sind in unerhörter Weise gehetzt und aufgereizt worden.“

„Das weiß ich,“ sagte Dernburg kalt. „Aber sie haben sich doch hetzen lassen, von Fremden – gegen mich. Jetzt mögen sie ihren Willen haben.“

Die Antwort klang so schroff, daß der Direktor den Muth verlor, weitere Vorstellungen zu machen; er warf seinen Kollegen einen bedeutsamen Blick zu, und jetzt nahm der Oberingenieur das Wort. „Ich bin gleichfalls überzeugt, daß die Mehrheit schon jetzt anfängt, ihre Uebereilung einzusehen. Man wird die unsinnige Forderung, in die ja auch Fallners Bleiben eingeschlossen war, stillschweigend fallen lassen. Ein großer Theil wird ruhig weiter arbeiten, die anderen werden früher oder später folgen, und die ganze Bewegung verläuft schließlich im Sande, wenn Sie sich entschließen könnten, Herr Dernburg, auch nur das geringste Entgegenkommen zu zeigen.“

„Nein!“ sagte Dernburg mit eisiger Schärfe.

„Aber was soll denn mit den Leuten geschehen, die sich morgen wie gewöhnlich zur Arbeit stellen?“

„Sie haben die ausdrückliche Erklärung abzugeben, daß sie mit ihren Genossen nicht einverstanden sind und sich bedingungslos meinen Beschlüssen unterwerfen – dann steht ihnen die Wiederaufnahme der Arbeit frei.“

„Das wird nicht zu erreichen sein!“

„Gut, dann bleiben die Werkstätten geschlossen. Wir wollen sehen, wer es länger aushält – sie oder ich!“

„Ganz meine Meinung!“ fiel Wildenrod ein. „Das sind Sie sich und Ihrer Stellung schuldig. Sie scheinen anderer Ansicht zu sein, meine Herren, aber Sie werden sich bald überzeugen, daß dies der einzig richtige Weg ist, daß wir damit die gesamte Arbeiterschaft zur Unterwerfung zwingen und zwar in kürzester Zeit.“

Die Beamten schwiegen, sie waren es bereits gewohnt, daß der Freiherr sich in solcher Weise an die Seite ihres Chefs stellte und daß ihm dies Recht zugestanden wurde. Für besonders heilbringend hielten sie allerdings den Einfluß Wildenrods nicht, hatte er doch auch jetzt wieder alles mögliche gethan, um Dernburg in seiner Haltung zu bestärken. Aber man mußte allmählich in ihm den künftigen Schwiegersohn Dernburgs und den dereinstigen Herrn von Odensberg sehen; sie versuchten also keinen Widerspruch, der doch nutzlos gewesen wäre, und als Dernburg jetzt das Zeichen zur Entlassung gab, indem er sich erhob, verabschiedeten sie sich mit stummer Verbeugung.

„Ich glaube, die Herren haben Angst vor einer etwaigen Empörung,“ spottete Oskar, als die Thür sich geschlossen hatte. „Sie würden um des lieben Friedens willen alle nur möglichen Zugeständnisse machen. Es freut mich, daß Sie fest geblieben sind; hier wäre jede Nachgiebigkeit eine unverzeihliche Schwäche.“

Dernburg war ans Fenster getreten. Er schien in den wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein, aber wie bitter auch die Erfahrung gewesen sein mochte, niedergeworfen hatte sie ihn nicht – in seiner Haltung prägte sich noch der alte eiserne Wille aus. Die starre Härte seiner Züge hatte etwas Unheimliches, jede Regung von Milde war daraus geschwunden. Er blickte schweigend zu den Werken hinüber. Noch rauchten dort die Essen, glühten die Hochöfen, noch regte sich das mächtige rastlose Getriebe, noch arbeiteten Tausende von Händen. Morgen lag das alles tot und still da – auf wie lange?

Er hatte unwillkürlich den letzten Gedanken laut ausgesprochen, und Wildenrod, der zu ihm getreten war, verstand ihn. „Nun, [338] lange wird es nicht dauern,“ sagte er zuversichtlich. „In Ihren Händen liegt die Macht, und den Odensbergern kann es nicht schaden, wenn ihnen das endlich einmal fühlbar gemacht wird. Dieses Gesindel, das Sie ohne weiteres im Stiche ließ, um dem ersten besten Hetzer nachzulaufen! Eine solche Bande –“

„Oskar, Sie sprechen von meinen Arbeitern!“ unterbrach ihn Dernburg finster.

„Jawohl von Ihren Arbeitern, die Ihnen am Wahltag in so rührender Weise Ihre Anhänglichkeit gezeigt haben! Ich kann es Ihnen nachfühlen, was damals in Ihrer Seele vorging.“

„Nein, Oskar, das können Sie nicht,“ sagte Dernburg mit düsterem Ernste. „Sie sind als ein Fremder nach Odensberg gekommen, für Sie ist Ihre künftige Stellung hier nur eine Machtfrage. Vielleicht wird sie es in Zukunft auch für mich sein müssen, aber sonst war das anders. Ich stand an der Spitze meiner Arbeiter, und alles, was ich that, geschah mit ihnen und für sie, und wie jeder in Noth und Gefahr auf mich rechnen konnte, so glaubte ich auf jeden rechnen zu können. Das ist jetzt vorbei! Thor, der ich war! Sie wollen keinen Frieden, sie wollen den Krieg!“

„Ja, sie wollen ihn,“ fiel Wildenrod ein, „und sie sollen uns bereit finden! Wir werden dies rebellische Odensberg schon niederzwingen.“

„O gewiß, wir werden siegen,“ rief Dernburg mit tiefster Bitterkeit aus. „Ich werde meine Arbeiter zur Unterwerfung zwingen und sie werden unterliegen mit Haß und Wuth im Herzen, mit Haß gegen mich! Jeder scheinbare Ausgleich wird nur ein Waffenstillstand sein, in dem sie neue Kräfte sammeln, um wieder gegen mich anzustürmen, und dann werde ich sie von neuem niederwerfen müssen, und so wird das weiter und weiter gehen, bis eine Partei vernichtet ist. Ein solches Leben kann ich nicht ertragen!“

Er wandte sich mit einer heftigen Bewegung vom Fenster ab, wie wenn er nichts mehr von seinen Werken drüben sehen wollte, und seine Stimme hatte einen müden Klang, als er fortfuhr: „Ich habe immer geglaubt, ich würde die Zügel der Herrschaft in Odensberg bis zu meinem Tode festhalten, seit acht Tagen denke ich anders darüber. Wer weiß, Oskar, ob ich die Leitung nicht schon bald in Ihre Hände lege. Sie sind in der Zeit, der wir entgegengehen, vielleicht besser am Platze als ich.“

„Mein Gott, welche Anwandlung!“ rief Wildenrod bestürzt und doch zugleich geblendet von der ungeahnten Aussicht, die sich ihm eröffnete. „Sie denken doch nicht im Ernste daran, zurückzutreten?“

„Für jetzt – nein!“ sagte Dernburg, sich hoch aufrichtend. „Ich bin noch nie einem Kampfe ausgewichen, der mir aufgedrängt wurde, ich werde auch diesen durchfechten.“

„Und dabei rechnen Sie ganz auf mich!“ sagte Oskar, ihm die Hand bietend. „Aber noch eins! Der Direktor scheint zu fürchten, daß es heute da drüben auf den Werken bei der Lohnzahlung und Verabschiedung Unruhen geben könnte. Die nöthigen Maßregeln sind zwar getroffen, dennoch stelle ich mich zur Verfügung, wenn die Autorität der Beamten nicht ausreichen sollte. Sie selbst dürfen nicht persönlich eingreifen, Sie sind es sich und Ihrer Stellung schuldig, sich nicht wörtlichen, vielleicht sogar thätlichen Beleidigungen auszusetzen. Ueberlassen Sie das mir!“

Um Dernburgs Lippen spielte ein unendlich bitteres Lächeln, aber er machte eine abwehrende Bewegung. „Ich danke Ihnen, Oskar. An Ihrem Muthe habe ich nie gezweifelt, doch bei solchen Gelegenheiten lasse ich keinen anderen an meine Stelle treten. Aber an meiner Seite sollen Sie bleiben. Man soll sehen und wissen, daß ich Ihnen die Rechte eines Sohnes zugestehe, ich mache kein Geheimniß mehr daraus.“

Die beiden Männer wechselten noch einen Händedruck, dann ging Wildenrod. Im Vorzimmer trat einer der Diener an ihn heran und meldete: „Auf dem Schreibtisch des Herrn Baron liegt ein Brief aus Schloß Eckardstein, der vor einer halben Stunde gekommen ist. Wir wagten nicht zu stören, der Bote sollte auch nicht auf Antwort warten.“

„Es ist gut!“ sagte der Freiherr zerstreut. Er hatte jetzt andere Dinge im Kopfe, ihn beschäftigte jene Aeußerung, die vorhin gefallen war, die Andeutung Dernburgs, daß er möglicherweise schon bald die Leitung von Odensberg niederlegen werde. War das nur eine Aufwallung des Unmuthes gewesen, eine flüchtige Laune, die man nicht ernst nehmen durfte? Nein, der Mann war in tiefster Seele verwundet – wenn er wirklich zu einem dauernden Kampfe mit seinen Arbeitern gezwungen wurde, war es wahrscheinlich, ja gewiß, daß er jenen Gedanken zur That werden ließ … und an seine Stelle trat Oskar von Wildenrod. So nahe sollte das heiß erstrittene Ziel liegen? Oskars Augen blitzten. O, er würde keine sentimentalen Anwandlungen haben wie sein künftiger Schwiegervater – dies Odensberg sollte den neuen Herrn kennenlernen, das gelobte er sich.

Erst als er in sein Zimmer trat und den Brief auf dem Schreibtisch liegen sah, fiel ihm die Meldung des Dieners wieder ein und er nahm mit einigem Befremden das Schreiben zur Hand. Von Schloß Eckardstein? Was konnte man ihm denn von dort mittheilen? Der neue Majoratsherr wußte oder ahnte doch zweifellos, wer seiner Bewerbung um Maja im Wege gestanden hatte, und machte sicher nicht den Versuch zu einer nachbarlichen Annäherung.

Oskar erbrach den Brief, überflog die ersten Zeilen und stutzte. Hastig wandte er das Blatt um, sah nach der Unterschrift und erbleichte. „Friedrich von Stetten!“ murmelte er. „Welch böser Geist führt den nach Eckardstein und was will er von mir?“

Er begann zu lesen. „Es ist eine sehr ernste und sehr peinliche Angelegenheit, die ich mit Ihnen erörtern muß,“ schrieb Herr von Stetten. „Ich habe lange geschwankt, in welcher Form das geschehen soll, und habe schließlich die mildeste gewählt, denn ich kann die Freundschaft nicht vergessen, die mich mit Ihrem Vater verbunden hat. So sage ich Ihnen denn nur, ich kenne Ihre Vergangenheit, von dem Augenblick an, wo Sie Deutschland verließen, bis zu Ihrem letzten Aufenthalt in Nizza. Als wir uns dort unvermuthet wieder trafen, habe ich mir – gleichviel, auf welche Weise – diese Kenntniß verschafft. Unter solchen Umständen werden Sie es wohl begreifen, wenn ich Sie auffordere, den Platz zu räumen, den Sie gegenwärtig in Odensberg einnehmen. Man sagt, Sie seien der Verlobte der Tochter des Hauses; Sie selbst wissen aber am besten, daß Sie das Recht verwirkt haben, ein junges reines Wesen an Ihr Leben zu ketten. Es wäre ein Verbrechen gegen Herrn Dernburg und seine Familie, wenn ich das geschehen ließe, ohne ihm die Augen zu öffnen. Ersparen Sie mir die bittere Nothwendigkeit, als Ihr Ankläger auftreten zu müssen, verlassen Sie Odensberg! Ein Vorwand für Ihre Abreise wird sich finden – es ist dann Ihre Sache, wie Sie aus der Ferne Ihre Beziehungen zu der Familie lösen wollen. Ich gebe Ihnen acht Tage Frist, sind Sie alsdann noch in Odensberg, so muß ich sprechen und Dernburg erfährt die Wahrheit! Ich lasse Ihnen Zeit zum Rückzug, es ist das Einzige, was ich noch für den Sohn eines ehemaligen Freundes thun kann.
 Friedrich von Stetten.“

Oskar ließ den Brief sinken. Er kannte den ernsten besonnenen Stetten von den Besuchen im väterlichen Hause her. Der gab sich nicht mit leeren Drohungen ab; wurde der von ihm verlangte Rückzug verweigert, so that er ohne Zögern, was er für seine Pflicht hielt, und dann – dann war alles verloren!

Oskar sprang auf und schritt stürmisch im Zimmer auf und nieder. Gerade jetzt, wo er schon die Hand ausstreckte nach dem höchsten Preise, kam der vernichtende Schlag. Aber die jäh hereinbrechende Gefahr rief auch seine ganze Entschlossenheit und Tollkühnheit wach. Er sollte weichen, sollte Odensberg, als dessen unumschränkten Herrn er sich eben noch gefühlt, in feiger heimlicher Flucht den Rücken kehren? Nimmermehr!

Acht Tage ließ man ihm Zeit, das war eine lange Frist, was konnte da nicht alles geschehen! Er hatte so oft schon am Abgrund gestanden, wo der Sturz unausbleiblich schien, und immer hatte ihn irgend ein verwegener Entschluß oder ein unerhörter Glücksfall gerettet, jetzt galt es, aufs neue dies Glück zu erproben. In dem wilden Wirbel der Gedanken und Pläne, die durch sein Inneres stürmten, stand nur eines klar und deutlich vor ihm: er mußte sich Majas versichern, um jeden Preis, mußte sie so fest an sich ketten, daß keine Macht der Erde, auch die des Vaters nicht, sie von ihm losreißen konnte. Sie war der Schild, der ihn gegen jeden Angriff deckte, sie, deren ganze Seele er an sich gerissen hatte, deren ganzes Denken und Fühlen ihm gehörte – diese Liebe sollte seine Rettung werden.

Oskar nahm den Brief wieder auf und las ihn nochmals von Anfang bis zu Ende, dann zerknitterte er ihn und warf ihn [339] in das Kaminfeuer. Das Papier flammte auf und sank in Asche zusammen, während der Freiherr sich in einen Sessel warf und in die Gluth starrte, immer neue Pläne entwerfend.

Eine halbe Stunde mochte so vergangen sein, da öffnete sich die Thür und der eintretende Diener meldete: „Herr Ingenieur Runeck.“

„Wer?“ rief Wildenrod auffahrend.

„Herr Runeck wünscht den Herrn Baron in einer dringenden Sache zu sprechen.“

Es war wirklich Egbert, der dem Diener auf dem Fuße folgte. Er trat ein, ohne die Antwort abzuwarten, und sagte mit einer kurzen Verbeugung: „Ich bitte mich nicht abzuweisen, Herr von Wildenrod, ich komme in der That in einer wichtigen und dringenden Angelegenheit.“

Oskar war aufgesprungen und gab jetzt schweigend dem Diener einen Wink, sich zu entfernen. Er täuschte sich keinen Augenblick darüber, was dies Erscheinen Runecks bedeute. Aber der Brief Stettens hatte ihn vorbereitet und gestählt für alles – auf eine Gefahr mehr oder weniger kam es nicht mehr an in dem Kampfe, in dem es sich für ihn so wie so um Sein oder Nichtsein handelte.

„Was führt Sie zu mir?“ fragte er kalt. „Sie werden es begreifen, Herr Runeck, daß nach dem, was vorgefallen ist, Ihr Erscheinen mich einigermaßen befremdet. Ich glaubte nicht, daß Sie Odensberg wieder betreten würden.“

„Mein Kommen gilt Ihnen allein,“ entgegnete Egbert in gleichem Tone, „und ich ersuche Sie in Ihrem eigenen Interesse, mich anzuhören.“

„Ich höre,“ war die kurze Antwort.

„Es bedarf keiner langen Einleitung,“ begann Runeck, „Sie wissen, was damals am Albenstein zwischen Ihrer Schwester und mir zur Sprache gekommen ist. Ich habe mich längst überzeugt, daß sie unwissend und schuldlos Ihr Leben getheilt hat, und um ihretwillen allein habe ich so lange geschwiegen.“

„Um Cäciliens willen?“ rief Oskar mit einem spöttischen Auflachen. „Das begreife ich vollkommen, Sie hat allerdings Anspruch auf jede Rücksicht von Ihrer Seite.“

Egbert trat einen Schritt zurück und seine Stirn zog sich drohend zusammen.

„Was wollen Sie damit sagen?“

Wieder kam das kurze höhnische Lachen von den Lippen Wildenrods, als er entgegnete: „Spielen Sie doch keine Komödie mit mir, ich weiß vollkommen Bescheid. Der arme Erich, wenn er geahnt hätte, daß sein geliebter Jugendfreund ihm die Braut abwendig gemacht hatte! Wer weiß, vor welcher bitteren Erfahrung ihn sein schneller Tod bewahrt hat.“

„Das ist eine schändliche Voraussetzung,“ rief Egbert empört, „und Sie beschimpfen Ihre Schwester ebenso wie mich! Sie sprechen, als ob ein Einverständniß zwischen uns bestanden hätte. Erichs Braut ist für mich so unnahbar gewesen, als es jetzt seine Witwe ist – über meine Gefühle habe ich niemand Rechenschaft abzulegen.“

„Auch nicht dem Bruder Cäciliens?“

Diesem Bruder – nein!“

„Herr Runeck, Sie sind in meinem Zimmer,“ erinnerte Oskar mit Schärfe.

„Das weiß ich, aber ich bin nicht gekommen, um Höflichkeiten mit Ihnen auszutauschen, sondern um einer Auseinandersetzung willen, die sich nicht länger verschieben läßt.“

„Worüber?“ fragte Wildenrod, der unbeweglich mit gekreuzten Armen dastand.

„Muß ich Ihnen das erst noch erklären?“

„Wenn ich Sie verstehen soll – allerdings.“ Runeck machte eine Bewegung der Ungeduld, aber er bezwang sich und fuhr mit anscheinender Ruhe fort: „Es handelt sich in erster Linie um jenen Vorfall in Berlin bei Frau von Sarewski, dessen Bedeutung für jeden der Anwesenden zweifellos war. Da ich aber nicht in jenem Kreise verkehrte und keinen der Betheiligten näher kannte, kümmerte ich mich nicht weiter darum. Erst als Sie in Odensberg auftauchten und ich die Gefahr erkannte, die Erich und seinem Vater von Ihnen drohte, forschte ich weiter nach. Ich erfuhr, daß damals nur Ihre schleunige Abreise und der dringende Wunsch der Betheiligten, einen öffentlichen Skandal zu verhüten, Sie rettete. Ich habe die Beweise in Händen und die Zeugen stehen mir zur Verfügung. Wollen Sie dem gegenüber wirklich noch den Unwissenden spielen?“

Oskar machte keinen Versuch mehr, zu leugnen, aber seine Augen flammten in so wildem tödlichen Hasse, als wollte er den Gegner vernichten. Es war nicht die Anklage selbst, die ihm keinen Ausweg mehr ließ, es war die grenzenlose Verachtung in dem Tone dessen, der sie aussprach, die den Freiherrn aufs äußerste reizte. Der ganze Stolz und Trotz seiner Natur bäumte sich dagegen auf. Er richtete sich hoch empor. „Und wozu sagen Sie mir das alles? Ich weiß längst, was ich von Ihnen zu erwarten habe, und werde mich zu wehren wissen. Was sollen die Drohungen, warum haben Sie nicht längst zugeschlagen?“

„Weil ich voraussetzte, daß Sie Odensberg früher oder später verlassen würden. Weder Erichs Vermählung noch sein Tod gab Ihnen ein Recht, dauernd hier zu bleiben. Erst gestern erfuhr ich von Maja, daß Sie ihr Verlobter sind, und Sie werden mich wohl verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß dies Band nicht geknüpft werden wird. Ich verbiete es Ihnen.“

„Wirklich? Und mit welchem Rechte?“

„Mit dem Rechte eines ehrlichen Mannes, der nicht zugeben wird, daß die Tochter Eberhard Dernburgs und sein Odensberg in die Hand eines Schurken fallen.“

Wildenrod zuckte zusammen und sein Gesicht wurde fahl wie das eines Toten. „Wahren Sie sich!“ stieß er mit halberstickter Stimme hervor, die Faust wie zum Schlage erhebend. „Sie werden mir Rechenschaft geben für dies Wort.“

„Das werde ich, aber nicht in der Art, wie Sie es meinen,“ sagte Egbert, das Auge fest auf ihn richtend. „Solche Dinge werden nur im Gerichtssaal ausgefochten, da giebt man nur mit Zeugen und Beweisen Rechenschaft. – Blicken Sie nicht so angelegentlich nach dem Revolver, der da über Ihrem Schreibtisch hängt, Herr von Wildenrod. Ich glaube es wohl, daß er geladen ist, aber ich bin auf meiner Hut – beim ersten Schritte, den Sie dorthin thun, werfe ich mich auf Sie.“

Oskars Auge hatte sich in der That auf den Revolver geheftet und ein unsinniger Gedanke war dabei in ihm aufgeblitzt, um freilich im nächsten Augenblick schon wieder verworfen zu werden. Was half es, wenn er diesen Gegner niederschoß? Stetten erhob ja die gleiche Anklage, Viktor von Eckardstein war jedenfalls auch eingeweiht und wer weiß wie viele noch – das Netz zog sich von allen Seiten zusammen.

„Ich lasse Ihnen noch einen Ausweg, den letzten,“ hob Runeck wieder an. „Verlassen Sie Odensberg für immer – heute noch, denn Maja darf auch nicht eine Stunde länger Ihre Braut heißen. Wie viel man dann auch errathen mag, die volle Wahrheit erfährt niemand, und Ihrer Schwester und Maja bleibt das Bitterste erspart. Ich schweige, wenn Sie sich verpflichten, zu gehen.“

„Nein!“ sagte Wildenrod mit unheimlicher Ruhe.

„Herr von Wildenrod –“

„Nein, sage ich Ihnen.“

„So gehe ich sofort zu Herrn Dernburg und enthülle ihm alles. Ihr Spiel ist verloren, geben Sie es auf!“

„Meinen Sie?“ fragte Oskar mit wildem Hohne. „Warten Sie erst das Ende ab, Herr Egbert Runeck. Was auch kommen mag. Ihnen weiche ich nicht.“

„Und das ist Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes – ich bleibe!“

Egbert wandte sich schweigend nach der Thür, die sich in der nächsten Minute hinter ihm geschlossen hatte.

Wildenrod war allein. Er trat langsam zum Schreibtisch und nahm den Revolver von der Wand, den er lange in der Hand hielt. Diesen Weg war der Vater einst gegangen, als alles um ihn her zusammenbrach, um die Schande des Ruins nicht zu überleben. Hier galt es eine größere Schmach zu sühnen! Der matt blinkende Lauf der Waffe schien dem Sohne den gleichen Weg zu weisen. Aber da bäumte sich die heiße Lebenslust wieder auf in dem Manne, dem das Leben und seine Güter verlockender gewesen waren als die Ehre. Mußte denn das Spiel schon verloren gegeben werden? Er legte die Waffe nieder und versank in dumpfes Brüten, aus dem er sich plötzlich gewaltsam losriß, eiserne Entschlossenheit in den finsteren Zügen.

„Zu Maja!“ sagte er düster. „Ich will doch sehen, ob ihre Liebe zu mir die Probe aushält. Giebt sie mich preis – nun, dann ist es immer noch Zeit, ein letztes Wort mit diesem letzten Freunde hier zu reden!“

[351] „Wo ist Frau Dernburg und Fräulein Maja? Sie sind doch hoffentlich im Park und im Schutze des Hauses geblieben?“ Mit dieser hastigen Frage trat Doktor Hagenbach in den Salon, wo sich augenblicklich nur Fräulein Friedberg befand.

„Die Damen wollten zum Grabe des jungen Herrn, so viel ich weiß,“ antwortete sie erschrocken. „Es ist doch nichts vorgefallen?“

„Noch nicht, aber man kann nicht wissen, was die nächste Stunde bringt. Also zur Grabstätte sind die Damen gegangen? Nun, die liegt am Ende des Parkes, in entgegengesetzter Richtung von den Werken, da ist hoffentlich nichts zu fürchten. Es wäre aber doch gut, wenn sie bald zurückkämen.“

„Ich erwarte sie jede Minute – steht es denn so bedrohlich drüben auf den Werken?“

Hagenbach nickte und nahm dem Fräulein gegenüber Platz. „Leider! Die Beamten thun alles mögliche, damit die Ablohnung und Entlassung der Arbeiter sich in Ruhe und Ordnung vollziehe, allein das paßt dem Fallner und seinem Anhang nicht; die wollen um jeden Preis Lärm haben. Ein Theil der Leute hat die Absicht kundgegeben, morgen weiter zu arbeiten, die anderen haben das mit Drohungen und Schimpfereien beantwortet, schließlich ist es hier und da zu Thätlichkeiten gekommen – es scheint schon heut’ abend losbrechen zu wollen.“

Leonie faltete mit angstvoller Miene die Hände. „Mein Gott, was wird daraus werden! Herr Dernburg ist hart und unzugänglich wie Stein. Sie ahnen nicht, in welcher Stimmung er ist! Er wird allem Trotz bieten – ich schwebe in Todesangst!“

„Nun, das brauchen Sie nicht, wofür bin ich denn da?“ sagte Hagenbach mit Nachdruck. „Ich würde Sie nöthigenfalls [352] schon schützen. Doch diese Nothwendigkeit wird gar nicht eintreten. Das Haus und seine Bewohner sind unbedingt sicher, mag es da drüben auch zu noch so argen Ausschreitungen kommen. In jedem Falle können Sie auf mich rechnen.“

„Das weiß ich,“ entgegnete Leonie warm, indem sie ihm die Hand reichte, die der Doktor auch sehr bereitwillig nahm; er behielt sie auch gleich und dachte nicht daran, sie wieder frei zu geben. „Ich war heute morgen bei Ihnen,“ hob er wieder an, „bin aber nicht vorgelassen worden!“

Leonie senkte die Augen und ihre Stimme bebte, als sie leise antwortete: „Sie werden begreifen, daß es mir peinlich war, nach dem Erlebniß von gestern –“

„Bitte, ich kam nur als Arzt, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen,“ fiel Hagenbach ein. „Sie sehen angegriffen aus, haben vermuthlich eine schlaflose Nacht gehabt – ich übrigens auch!“

„Sie, Herr Doktor?“

„Nun ja, mir ging so allerlei im Kopfe herum, zum Beispiel, daß Sie ganz recht haben, wenn Sie mich für einen halben Bären halten. Es fragt sich nur, ob der Versuch lohnen würde, noch irgend etwas Menschliches aus mir zu machen. Was meinen Sie dazu?“

„Ich – ich meine gar nichts,“ sagte Leonie, mit einem vergeblichen Versuch, ihre Hand frei zu machen.

„Mir liegt aber an Ihrer Meinung ganz besonders,“ fuhr er fort. „Sehen Sie, mein Fräulein, wenn man so als alter Junggeselle durch das Leben läuft, ohne nach einem Menschen zu fragen, und mit dem Bewußtsein, daß auch kein Mensch nach einem fragt – das ist eine traurige Geschichte. Wenn man wenigstens noch eine Mutter oder Schwester besitzt, dann geht es allenfalls; ich aber habe nur den dummen Jungen, den Dagobert, und was ich an dem habe, das wissen Sie ja!“

„Aber Herr Doktor, müssen wir das denn gerade heute erörtern?“ versuchte Leonie auszuweichen. „In dieser Stunde, wo ganz Odensberg –“

„Odensberg wird uns hoffentlich den Gefallen thun, mit seiner Rebellion so lange zu warten, bis wir miteinander in Ordnung sind,“ unterbrach Hagenbach sie. „Und in Ordnung müssen wir jetzt kommen, das hab’ ich mir in der besagten schlaflosen Nacht feierlich gelobt. Ich war vorhin zum zweiten Male bei Ihnen, fand Sie aber nicht, Sie waren bei Frau von Ringstedt. Ich habe mir trotzdem die Freiheit genommen, einzutreten, denn ich wollte mir Ihren Schreibtisch einmal ansehen. Ueber diesem hängt jetzt das Bild Ihrer seligen Frau Mutter, und der gönne ich den Platz von Herzen, denn die ist in Ehren selig geworden. Sie haben kurzen Prozeß gemacht und tapfer aufgeräumt mit den alten Erinnerungen und deshalb – und darum – ja was wollte ich denn eigentlich sagen?“

Der Herr Doktor fing an, sich zu verwickeln. Er war bei seinem ersten Antrag mit der Thür ins Haus gefallen und wollte bei dem zweiten nun recht zartsinnig zu Werke gehen, allein dabei blieb er stecken. Doch er faßte einen raschen Entschluß, erhob sich und trat zu seiner Erwählten, „Ich habe Sie lieb, Leonie,“ sagte er mit einfacher Herzlichkeit, „und wenn ich auch ein derber Geselle bin – so im Handumdrehen läßt sich das ja nicht ändern – so meine ich es doch ehrlich und treu, und wenn Sie es mit mir wagen wollten, so würde mich Ihr Jawort sehr glücklich machen. Sie sagen nichts? Gar nichts? Darf ich das als ein gutes Zeichen nehmen?“

Leonie saß mit tieferglühenden Wangen und gesenkten Augen da, sie fühlte die ganze Großmuth und Herzensgüte des Mannes, den sie so herb zurückgewiesen hatte und der ihr nun von neuem Herz und Hand bot. Sie antwortete auch jetzt nicht, aber sie reichte ihrem Bewerber wortlos die Hand. Er verstand das auch vollkommen und brachte die Sache nun schleunigst in Ordnung, indem er seine Braut in die Arme nahm und küßte.

„Gott sei Dank, endlich sind wir so weit,“ sagte er aus tiefster Seele. „Ich werde es morgen dem Jungen, dem Dagobert schreiben. Nun kann er uns ein Hochzeitsgedicht machen und bei sonstigen passenden Gelegenheiten seine künftige Tante ansingen, das will ich ihm allenfalls erlauben.“

„Aber Herr Doktor,“ mahnte Leonie vorwurfsvoll.

„Peter heiß’ ich!“ unterbrach er sie. „Der Name gefällt Dir nicht, das weiß ich noch von früher her, er ist Dir nicht poetisch genug, aber ich bin nun einmal so getauft, und Du wirst Dich daran gewöhnen müssen. Fräulein Leonie Friedberg und Doktor Peter Hagenbach – so wird es auf den Verlobungskarten stehen.“

„Aber Du hast doch wohl noch andere Taufnamen außer dem einen?“ wagte die Braut einzuwerfen.

„Versteht sich! ‚Peter Franz Hugo‘ heiße ich.“

„Hugo? Wie schön! So werde ich Dich in Zukunft nennen.“

„Das verbitte ich mir,“ erklärte Hagenbach mit einer Entschiedenheit, die schon sehr an den künftigen Eheherrn erinnerte. „Peter heiße ich nach meinem Vater und Großvater, so bin ich stets genannt worden und so wird mich auch meine künftige Frau nennen.“

Leonie legte mit schüchterner Vertraulichkeit, die ihr sehr gut stand, die Hand auf den Arm des Bräutigams und sah ihm bittend ins Auge. „Lieber Hugo – findest Du nicht, daß das sehr schön klingt?“

„Nein!“ brummte der Doktor, indem er sich abwendete.

„Nun, wie Du willst, Hugo, ich richte mich darin ganz nach Deinen Wünschen. Aber Peter und Leonie paßt so gar nicht zusammen, das mußt Du doch einsehen.“

Hagenbach brummte wieder, doch diesmal schon um vieles sanftmüthiger. Er fand den Namen, in diesem Tone ausgesprochen, gar nicht so übel. Allein sofort tauchte die düstere Vorstellung von der Möglichkeit eines Pantoffelregimentes in ihm auf, und er fühlte sich verpflichtet, seine Oberherrschaft ein für allemal zu wahren. „Es bleibt bei dem ‚Peter‘!“ entschied er. „Darin mußt Du Dich fügen, Leonie.“

„Ich füge mich in alles,“ versicherte Leonie im weichsten Tone. „Ich bin ja überhaupt ein schwaches unselbständiges Wesen, das gar keinen eigenen Willen hat. Du wirst in unserer Ehe nie einen Widerspruch hören, lieber Hugo – aber willst Du mir wirklich die erste Bitte abschlagen am Verlobungstage?“

Dem lieben Hugo wurde es ganz schwül bei dieser weichen Stimme und diesen bittenden Augen, und seine Unerschütterlichkeit wie seine Oberherrlichkeit kamen bedenklich ins Wanken. „Nun, wenn es Dir so großes Vergnügen macht, kannst Du mich allenfalls so nennen“ gestand er zu. „Aber auf den Verlobungskarten steht –“

„Leonie Friedberg und Doktor Hugo Hagenbach! Ich danke Dir, Hugo, von ganzem Herzen danke ich Dir für diesen Beweis Deiner Liebe!“

Was wollte der arme Peter Hagenbach machen? Er steckte den Dank ein und deckte seinen schmählichen Rückzug damit, daß er seiner Braut einen Kuß gab. Bei diesem ersten Streite hatte der „schwächere“ Theil glänzend gesiegt und der stärkere war unterlegen – es mochte eine Vorbedeutung sein. –

Inzwischen empfing Dernburg in seinem Arbeitszimmer die Meldungen von den Werken, die nichts weniger als beruhigend lauteten. Sonst hatte ihn jeder ungewöhnliche Vorfall in der Mitte oder an der Spitze seiner Arbeiter gefunden, jetzt wich er jeder Berührung mit ihnen aus. Er hatte in der letzten Zeit keinen der Leute angeredet, keinen auch nur beachtet, obgleich er täglich seine Werke betrat.

In düsteres Sinnen verloren stand er, augenblicklich ganz allein, am Fenster, und als die Thüre geöffnet wurde, wandte er sich langsam um, in der Meinung, es treffe eine neue Meldung ein. In der nächsten Sekunde aber zuckte er zusammen und starrte den Eintretenden an, als traue er seinen Augen nicht.

„Egbert!“

Egbert schloß die Thür hinter sich und blieb dicht an der Schwelle stehen, während er leise sagte: „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von meinem alten Rechte, unangemeldet einzutreten, noch einmal Gebrauch mache – es geschieht zum letzten Male.“

Dernburg hatte sich bereits wieder gefaßt, seine Augen blitzten drohend auf, aber seine Stimme klang eisig. „Ich habe allerdings nicht erwartet, Sie wieder in Odensberg zu sehen, Herr Runeck. Was führt den Herrn Abgeordneten zu mir? Ich dächte, wir beide hätten uns nichts mehr zu sagen.“

Runeck mochte einen solchen Empfang erwartet haben, aber sein Blick richtete sich doch vorwurfsvoll auf den Sprechenden. „Herr Dernburg, Sie sind zu gerecht, um mich für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen, die am Abend des Wahltages stattgefunden haben. Ich war in der Stadt –“

„Ich weiß – mit Landsfeld! Und von dort wurde die Bewegung geleitet.“

Egbert erbleichte und trat rauh einen Schritt näher. „Soll der Vorwurf auch mir gelten? Ist es denn möglich, daß Sie glauben, ich hätte Antheil an jenen Beleidigungen, ich hätte darum gewußt und sie nicht verhindert?“

[354] „Lassen wir das“, sagte Dernburg in demselben kalten Tone. „Wir sind jetzt nur noch politische Gegner, Herr Runeck. Als solche werden wir uns wohl bisweilen im öffentlichen Leben treffen, anderweitige Beziehungen aber giebt es nicht mehr zwischen uns. Wenn Sie mir wirklich noch Mittheilungen zu machen haben, so würde ich den schriftlichen Weg vorziehen. Da Sie jedoch einmal hier sind – was wünschen Sie von mir?“

„Ich konnte den schriftlichen Weg nicht wählen“, entgegnete Runeck fest. „Wenn mein Kommen Sie befremdet –“

„Durchaus nicht! Es wundert mich nur, daß Sie mich hier in meinem Arbeitszimmer aufsuchen. Ihr Platz ist doch wohl drüben auf den Werken, bei Ihren Wählern, die eben dabei sind, die Vorgänge des Wahltages zu wiederholen. Wollen Sie sich nicht an ihre Spitze stellen, um sie gegen mich zu führen? Ich bin bereit zu dem Gange!“

Man sah es dem jungen Ingenieur an, wie tief ihn diese grausamen Worte verwundeten, er war nicht mehr imstande, seine ruhige Haltung zu bewahren. „Herr Dernburg, nicht diesen Ton!“ fuhr er auf. „Schütten Sie Ihren ganzen Zorn über mich aus, ich will es tragen, aber sprechen Sie nicht in dieser Weise zu mir – eine solche Strafe habe ich nicht verdient.“

„Strafe? Ich dächte, Du wärest meiner Zucht entwachsen,“ sagte Dernburg, der jetzt wirklich den höhnischen Ton fallen ließ mit tiefer Bitterkeit. „Noch einmal, was willst Du hier? Mir vielleicht Deinen Schutz anbieten gegen die da drüben? Ihrem Abgeordneten werden sie ja wohl folgen auf den bloßen Wink. Ich danke Dir, ich werde allein mit ihnen fertig. Die Hälfte der Leute bereut den erzwungenen Beschluß, die Arbeit heute niederzulegen, und wird morgen wiederkommen. Aber ich verbiete ihnen die Arbeit, wenn sie sich nicht bedingungslos unterwerfen und sich lossagen von ihren Führern.“

„Herr Dernburg –“

„Das werden sie nicht wagen, meinst Du? Ich glaube es, Ihr haltet sie noch zu fest an der Kette. Gut, dann ist der Krieg offen erklärt. Sie haben mich erst zum äußersten gezwungen, jetzt will ich dies äußerste!“

Runeck schwieg einige Sekunden lang, dann sagte er mit düsterem Ernste: „Das ist ein schweres Wort!“

„Das weiß ich! Denkst Du, ich kenne nicht die Tragweite des Kommenden, wenn die Zehntausend meiner Werke wochenlang, vielleicht monatelang feiern? Die Leute werden ins Elend, in die Verzweiflung getrieben und ich muß das mit ansehen. Aber die Verantwortung dafür fällt auf Dich und Deinesgleichen, Ihr habt mir keine Wahl gelassen. Ein Menschenalter lang war Friede und Segen in Odensberg, und was ein Mann thun kann für seine Arbeiter, das habe ich gethan. Ihr habt die Zwietracht, den Haß hereingetragen, die Drachensaat ist aufgegangen, nun seht zu, wie Ihr mit der Ernte fertig werdet!“

Er wandte sich heftig ab und schritt einigemal durch das Zimmer. Dann blieb er vor dem jungen Ingenieur stehen, der finster und mit gesenkten Augen dastand, ohne zu antworten. „Du hast wohl Furcht bekommen vor den Geistern, die Du selbst gerufen, und möchtest jetzt den Vermittler spielen?“ fragte er mit herbem Spotte. „Du wärst der letzte, dem ich ein solches Recht zugestehe! Ich will überhaupt nichts von Vermittlung hören. Zwischen mir und den Odensbergern ist das Band zerrissen, wir haben hinfort nur noch als Feinde miteinander abzurechnen.“

„Ich kam nicht als Vermittler,“ sagte Egbert, sich emporrichtend. „Mein Kommen hat überhaupt mit dieser Angelegenheit nichts zu thun. Was mich herführt, ist eine peinvolle Pflicht, der ich mich nicht entziehen kann. Es betrifft den Freiherrn von Wildenrod, dem Sie Majas Hand zugesagt haben.“

Dernburg stutzte und sah ihn betroffen an. „Du weißt von dieser Verbindung? – Doch gleichviel, ich mache kein Geheimniß mehr daraus.“

„Und ich erfuhr es zum Glücke noch rechtzeitig, um dazwischenzutreten.“

„Willst Du Einspruch dagegen erheben?“ fragte Dernburg scharf. „Es gab eine Zeit, wo ich einen solchen Einspruch hätte gelten lassen, wo Dir der Weg zu Majas Hand und Herz offen stand – Du weißt, was ihn Dir verschloß. Du hast auch Deine Liebe Deiner ‚Ueberzeugung‘ geopfert wie alles andere.“

„Ich habe Maja nie geliebt,“ entgegnete Runeck fest. „Ich habe in ihr immer nur die Jugendgespielin, die Schwester Erichs gesehen und nie andere Gefühle als die eines Bruders für sie gehegt.“

Die Erklärung wurde mit einer solchen Bestimmtheit gegeben, daß ein Zweifel daran nicht möglich war. „Dann habe ich mich also auch hier geirrt,“ sagte Dernburg langsam. „Aber was geht Dich dann die Heirath meiner Tochter an?“

„Ich will Maja davor bewahren, die Beute eines – Schurken zu werden.“

„Egbert, bist Du von Sinnen?“ fuhr Dernburg auf. „Weißt Du, was Du sprichst? Diese unsinnige Anklage –“

„Werde ich beweisen. Ich hätte längst gesprochen, aber erst jetzt ist es mir gelungen, die Beweise zu erhalten, erst jetzt habe ich den Plan des Freiherrn erfahren, mit Majas Hand auch Odensberg an sich zu reißen. Jetzt muß ich reden und Sie müssen mich anhören.“

Dernburg war bleich geworden, aber noch wehrte er sich gegen das Unerhörte, das ihm undenkbar schien. „Ich werde sie vollgültig von Dir fordern, die Beweise,“ versetzte er drohend. „Und nun sprich, ich höre!“

„Freiherr von Wildenrod gilt hier für reich,“ hob Egbert in gedämpftem Ton an, „er besitzt jedoch nicht das Geringste. Er mußte vor zwölf Jahren die diplomatische Laufbahn verlassen, weil der Ruin seines Vaters ihn aller Mittel beraubte. Der alte Freiherr erschoß sich und die Familie dankte es nur ihrem alten Namen, daß der Landesfürst für sie eintrat. Er kaufte die Güter, die überschuldet waren, befriedigte die Gläubiger und zahlte der Witwe bis an ihr Lebensende eine kleine Pension. Der Sohn verließ Deutschland und blieb lange für seine Heimath verschollen.“

Dernburg hörte mit finster zusammengezogenen Brauen zu. Er hatte einst eine andere Auskunft empfangen, die freilich keine direkte Unwahrheit enthielt, aber doch das Entscheidende, den Ruin der Familie, verschwieg.

„Ich lernte Oskar von Wildenrod schon vor drei Jahren kennen,“ fuhr Runeck fort. „Es war in Berlin, im Hause einer Frau von Sarewski, einer reichen verwitweten Dame, die auf großem Fuße lebte. Ich gab ihren Kindern Zeichenunterricht, sah sie dabei öfter und entwarf auf ihren Wunsch für den geplanten Umbau ihrer Villa eine Skizze, die ihren Beifall fand. Sie wollte mir wohl ein Zeichen der Anerkennung geben, indem sie mich zu einer ihrer Abendgesellschaften einlud. Ich durfte das nicht ablehnen, denn ich war zur Fortsetzung meiner Studien auf den Zeichenunterricht angewiesen. Völlig fremd in dem großen Kreise, der mir nicht das mindeste Interesse abgewann, zog ich mich an jenem Abend in ein Nebenzimmer zurück, wo der Bruder der Dame des Hauses mit einigen Herren beim Spiele saß. Unter ihnen befand sich auch Freiherr von Wildenrod, der, wie ich aus dem Gespräch entnahm, seit drei Monaten in Berlin war und den ganzen Winter dort zubringen wollte. Er wurde beim Spiel auffallend vom Glücke begünstigt, während die anderen ebenso entschiedenes Unglück hatten. Der Bruder der Frau von Sarewski, ein leidenschaftlicher Spieler, trieb die Einsätze immer höher und gerieth in immer größere Verluste, während Wildenrod bereits ein kleines Vermögen gewonnen hatte. Mich widerte dies ganze Treiben an und ich war eben im Begriff, mich zu entfernen, als ein älterer Herr, ein Graf Almers, der sich gleichfalls unter den Mitspielern befand, plötzlich die Hand des Freiherrn packte, sie festhielt und ihn mit wuthbebender Stimme einen Falschspieler nannte.“

„Das hast Du selbst gesehen?“ fiel Dernburg heftig ein.

„Mit eigenen Augen! Ich war auch Zeuge dessen, was nun folgte. Die Herren sprangen auf, alles gerieth in Bewegung, das laute Hin- und Herreden rief noch andere Gäste herbei, auch Frau von Sarewski erschien. Sie bat und beschwor die Anwesenden, die Sache ruhen zu lassen und ihr Haus mit einem öffentlichen Skandal zu verschonen. Wildenrod spielte den Empörten, Tiefbeleidigten, er drohte, den Grafen zu fordern, benutzte aber diese Empörung als Vorwand, um sich schleunigst zu entfernen. Jetzt erklärte Graf Almers, er sei dem Betrüger schon seit längerer Zeit auf der Spur, habe aber erst heute Gelegenheit gefunden, ihn zu entlarven. Er bestand auf Verfolgung der Sache, da Wildenrod in den ersten Kreisen verkehre und man derartige Elemente rücksichtslos ausstoßen müsse. Den Bitten der Frau von Sarewski und den Vorstellungen ihres Bruders gelang es endlich, die Zeugen zum Schweigen zu bewegen, unter der Bedingung, daß Wildenrod zur sofortigen Abreise veranlaßt werde. Das war überflüssig; dieser dachte weder daran, den Grafen zu fordern, noch Rechenschaft zu geben. Am andern Morgen erfuhr man, daß er noch in der Nacht abgereist sei.“

[355] Es waren einfache Thatsachen, die Runeck berichtete, aber seine Haltung und sein Ton gaben der Erzählung einen furchtbaren Nachdruck. Man sah, wie vernichtend diese Enthüllungen den Zuhörer trafen, obgleich er kein Zeichen der Theilnahme gab. „Weiter!“ sagte er kurz und rauh.

„Ich sah und hörte nichts weiter von Wildenrod bis zu dem Augenblick, wo er hier in Odensberg als Erichs Schwager erschien. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick, während er sich meiner Persönlichkeit wohl nicht mehr erinnerte; eine Andeutung, die ich machte, wies er mit Hochmuth zurück.“

„Und Du verschwiegst mir das? Du sprachest nicht sofort?“

„Hätten Sie mir geglaubt, ohne Beweise?“

„Nein, aber ich hätte Nachforschungen angestellt und die Wahrheit erfahren.“

„Das that ich an Ihrer Stelle. Ich besaß vielfache Beziehungen in Berlin, die ich jetzt benutzte, ich wandte mich nach der Heimath Wildenrods und nach Nizza, wo Erich jene Bekanntschaft gemacht hatte. Es war nicht meine Schuld, daß Monate darüber vergingen. Was Sie irgend hätten thun können, das geschah durch mich, und mir als einem Fremden stand man offener Rede, als es Ihnen gegenüber der Fall gewesen wäre. Ich dachte freilich trotzdem daran, Sie wenigstens vorläufig zu warnen, aber dann hätten Sie vermuthlich das Band zerrissen, an dem Erichs Lebensglück hing, und das hätte ihm den Tod gegeben. Er sagte, als ich einmal scheinbar absichtslos auf eine solche Möglichkeit hindeutete, es mir selbst, Cäciliens Verlust würde sein Tod sein. Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach – solche Folgen konnte und wollte ich nicht auf mich nehmen.“

„Cäcilie?“ wiederholte Dernburg mit aufblitzendem Argwohn. „Ganz recht, sie wird ja in erster Linie dadurch betroffen. Welche Rolle spielte sie bei der Sache? Was wußte sie davon?“

„Nichts, nicht das geringste! Sie lebte ahnungslos an der Seite des Bruders, den sie für reich hielt. In diesem Wahn ist sie Erichs Braut geworden; erst hier in Odensberg erfuhr sie durch mich, daß irgend etwas Schweres, Dunkles in ihres Bruders Vergangenheit liege. Was es war – das hatte ich nicht das Herz, ihr zu sagen, aber die Art, wie sie meine Andeutungen aufnahm, gab mir den überzeugenden Beweis, daß ihr auch nicht der leiseste Vorwurf zu machen ist.“

Das tiefe erleichterte Aufathmen Dernburgs verrieth, wie sehr er gefürchtet hatte, daß auch auf seine Schwiegertochter ein Schatten fallen könnte. Ein kaum hörbares „Gott sei Dank!“ kam von seinen Lippen.

Egbert zog eine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Anzahl von Papieren „Hier ist ein Brief des Grafen Almers, der mit seinem Ehrenwort für seine damalige Behauptung eintritt; hier sind Berichte über die Vorgänge beim Tode des alten Freiherrn und hier Nachrichten aus Nizza. Erich muß blind gewesen sein oder man hat ihn absichtlich von jeder anderweitigen Beziehung ferngehalten, sonst hätte er wissen müssen, daß sein Schwager in ganz Nizza bereits für eine zweideutige Persönlichkeit, für einen gewerbsmäßigen Spieler galt. Wie er sein ‚Glück‘ zu erzwingen wußte, das ahnte man vielleicht da und dort, zu beweisen war es nicht, und das gab ihm die Möglichkeit, seine äußere Stellung zu behaupten.“

Dernburg nahm die dargereichten Papiere und trat zugleich zum Tische, wo sich die Klingel befand. „Vor allen Dingen muß ich Wildenrod selbst hören! Du scheust Dich doch hoffentlich nicht, ihm Deine Anklage ins Gesicht zu wiederholen?“

„Das that ich soeben, ich komme aus seinem Zimmer. Es war ein letzter Versuch, die Sache schonend zu erledigen, er ist gescheitert. Der Freiherr weiß, daß ich in dieser Stunde Ihnen alles enthülle – er ist mir nicht gefolgt, um sich zu verantworten.“

„Gleichviel, er soll mir Rede stehen!“ Dernburg drückte auf die Klingel und rief dem eintretenden Diener zu: „Ich lasse Herrn von Wildenrod bitten, sofort zu mir zu kommen!“

Der Diener ging; eine lange schwere Pause trat ein. Man hörte nur das Knittern der Papiere, die Dernburg eins nach dem anderen öffnete und durchsah; er wurde immer bleicher dabei. Egbert verharrte schweigend und unbeweglich an seinem Platze – so verrannen die Minuten. Es dauerte lange, sehr lange, bis die Thür sich von neuem öffnete, aber nicht Wildenrod, sondern der Diener trat wieder ein. „Der Herr Baron ist nicht in seinen Zimmern und überhaupt nicht im Hause zu finden,“ berichtete er. „Vielleicht ist er schon abgefahren.“

„Abgefahren? Wohin?“

„Wahrscheinlich nach der Stadt. Er hat befohlen, den Wagen anspannen zu lassen und an der hinteren Parkpforte vorzufahren. Er wird schon fort sein.“

Ein stummer Wink verabschiedete den Diener, und dann brach die Selbstbeherrschung Dernburgs zusammen. Er sank in einen Sessel, und ein Ausruf der Verzweiflung entrang sich seinen Lippen. „Mein Kind! Meine arme arme Maja! Sie liebt diesen Mann mit ganzer Seele!“

Es lag etwas Erschütterndes in dem Schmerze des Mannes, der mit ungebeugter Stirn in einen Kampf ging, welcher seine Existenz bedrohte, der aber das Unglück seines Lieblings nicht ertragen zu können schien.

Egbert trat zu ihm und beugte sich nieder. „Herr Dernburg!“ sagte er mit bebender Stimme.

Eine finster abwehrende Bewegung wies ihn zurück. „Geh! Was willst Du?“

„Erich ist tot, und den Mann, der an seine Stelle treten sollte, müssen Sie verwerfen. Geben Sie mir nur einmal noch, nur für diese Stunde das Recht, das ich einst besaß.“

„Nein!“ rief Dernburg, sich emporrichtend, und die alte starre Härte lag wieder in seinen Zügen. „Du hast Dich losgesagt von mir und den Meinen, Du hast das Recht verwirkt, das Leid mit uns zu tragen. Geh hinüber zu Deinen Freunden und Genossen, die jetzt wie eine losgelassene Meute gegen mich anstürmen, denen Du mich geopfert hast! Zu ihnen gehörst Du, dort ist Dein Platz! Sie haben mir Schlimmes angethan, Du aber das Aergste, denn Du standest meinem Herzen am nächsten. Von Dir will ich keine Theilnahme und keine Stütze – eher ginge ich zu Grunde!“

Er schritt in die anstoßende Bibliothek und schmetterte die Thür hinter sich zu. Die Brücke zwischen ihm und Egbert war abgebrochen.

[366] Die Bäume des Parkes rauschten und schwankten im Winde, der jetzt, gegen Abend, zum Sturme zu werden drohte. Er trieb die rothen und gelben Blätter in wirbelndem Spiel durch die Luft und ein grauer wolkenverhüllter Himmel blickte nieder auf die herbstliche Erde.

Maja kam allein zurück von der Ruhestätte ihres Bruders, während Cäcilie noch dort geblieben war; sie hatte sich überreden lassen, vorauszugehen. Das junge Mädchen, mitten im sonnigen Lenz des Lebens, empfand ein geheimes Grauen vor allem, was mit Tod und Grab zusammenhing. Ihr winkte ja das Dasein und das Glück an der Seite eines geliebten Mannes!

Auf dem Rückweg kam sie an dem Rosensee vorüber, wo Oskar ihr damals seine Liebe gestanden hatte. Freilich, heute sah der Ort anders aus als an jenem Maientag im Sonnen- und Frühlingsglanze. Welkes Laub bedeckte den Boden und welkes Riedgras die Ufer des Sees, der im düsteren Lichte des Sturmtages schwarz und unheimlich dalag. Kein süßes Vogelgezwitscher tönte mehr aus den herbstlich gelichteten Gebüschen, alles war stumm und tot, und die Bergwand, die einst so duftig blau aus der Ferne herübergeblickt, hüllte sich heute in dichten Nebel.

Maja war unwillkürlich stehen geblieben; sie blickte starr auf den so traurig veränderten Ort und zog fröstelnd den Mantel fester um die Schultern. Da hörte sie nahende Schritte, und in der nächsten Minute trat Oskar von Wildenrod aus den Gebüschen hervor. „Ich suchte Dich im ganzen Parke, Maja,“ sagte er hastig, „und verzweifelte schon daran, Dich zu finden.“

„Ich war mit Cäcilie an Erichs Grab,“ entgegnete das junge Mädchen. „Sie ist noch dort.“

„Um so besser, denn ich habe mit Dir allein zu reden. Willst Du mich anhören?“

Ohne die Antwort abzuwarten, zog er sie auf die Bank nieder, über welche die Buche ihre halbentlaubten Aeste gespenstisch hinstreckte. Erst jetzt sah Maja, daß er in Hut und Mantel war und daß seine Züge einen seltsam verstörten Ausdruck hatten.

„Es ist doch nichts Schlimmes geschehen?“ fragte sie erschrocken. „Der Papa –?“

„Nicht um ihn handelt es sich, sondern um mich, oder vielmehr um uns beide, Maja, ich habe Dir Ernstes, Schweres zu sagen. Du sollst mir jetzt zeigen, ob Deine Liebe zu mir echt und groß ist. Du liebst mich doch, nicht wahr? Hier an dieser Stelle hast Du Dich einst mir zu eigen gegeben. Ich glaubte Deine Hand nur für das Glück zu fordern, für ein Leben voll Sonnenschein und Freude – hast Du den Muth, auch das Leid mit mir zu tragen?“

Maja war wie betäubt von diesen sich überstürzenden Worten; sie bebte zusammen. „Oskar, um Gotteswillen, was meinst Du? Du ängstigst mich namenlos mit diesen dunklen Andeutungen!“

„Ich verlange ein Opfer von Dir, ein großes schweres Opfer. Wirst Du es mir bringen?“

„Das fragst Du noch? Alles, alles, was Du verlangst!“

„Und wenn ich nun forderte, Du sollest den Vater, die Heimath verlassen und mit mir gehen, weit fort in ein fremdes Land – würdest Du mir folgen?“

„Den Vater? Die Heimath?“ wiederholte das junge Mädchen verständnißlos. „Aber wir bleiben ja hier in Odensberg.“

„Nein! Ich muß fort – wirst Du mit mir gehen?“

„Ich – ich verstehe Dich nicht,“ sagte Maja, an allen Gliedern zitternd. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sein Gesicht war totenbleich und in seinen Augen loderte jene düstere Gluth, die sie damals bei der ersten Begegnung so erschreckt hatte.

„Ich habe Dir einmal von meinem früheren Leben erzählt,“ hob er an, „von einer wilden ruhelosen Jagd nach dem Glück, das mich immer wieder zu fliehen schien, bis ich es endlich hier fand, in Deinem Besitz – erinnerst Du Dich dessen?“

„Ja“ flüsterte Maja. Ob sie sich dessen erinnerte! War es doch in jener Stunde gewesen, in der er ihr seine Liebe gestanden hatte!

„Ich konnte die Vergangenheit Deinen reinen Kinderaugen nicht entschleiern,“ fuhr Wildenrod mit sinkender Stimme fort, „und kann es auch heute nicht, aber es liegt ein Schatten darin –“

„Ein Unglück – nicht wahr?“ Die Frage klang angstvoll.

„Ja – ein Unglück, das mich aus meiner Bahn schleuderte und mich dann in Unheil und Schuld verstrickte. Ich hatte das alles von mir geworfen und wollte hier an Deiner Seite ein neues Leben beginnen. Da taucht der alte Schatten wieder auf und droht mir von neuem und droht, Dich, Maja, mir zu entreißen.“

„Nein, nein, ich lasse nicht von Dir, was auch geschehen ist, was auch kommen mag!“ rief Maja heftig, sich an ihn klammernd. „Mein Vater ist Herr in Odensberg, er wird Dich schützen.“

„Dein Vater wird unsere Verlobung zerreißen und uns trennen, unwiderruflich. Der eiserne Mann mit seinen starren Grundsätzen wird Dich lieber tot sehen als an der Seite eines Gatten, dessen Vergangenheit nicht rein ist. Nur ein Mittel giebt es, Dich mir zu retten, ein einziges – aber Du mußt Muth haben.“

„Was – was soll ich thun?“ stammelte sie, willenlos im Banne seiner Augen und seiner Stimme. Er beugte sich tiefer zu ihr hinab und die Worte strömten heiß und leidenschaftlich über seine Lippen. „Du bist meine Braut – ich habe das Recht, Dich zum Weibe zu fordern! Wir fliehen aus Odensberg, und sobald wir die deutsche Grenze überschritten haben, führe ich Dich zum Altare. Dann hat niemand, auch Dein Vater nicht, das Recht, Dich von mir zu reißen, an unserer Ehe scheitert jede Macht – Du bist unwiderruflich mein.“

Oskar von Wildenrod wußte sehr gut, daß eine derartige Trauung vor dem Gesetz ungültig war, aber was kam darauf an, wenn nur Maja sie für gültig hielt, wenn sie sich nur als sein Weib wußte. Dann mußte Dernburg einwilligen, er durfte um der Ehre seines Namens willen nicht zugeben, daß seine Tochter mit einem anderen als ihrem Gatten in der Ferne weile, und die gültigen Formen konnten nachträglich vollzogen werden. War dann auch die Herrschaft in Odensberg verloren, Maja blieb doch die Erbin ihres Vaters, Freiheit und Reichthum hingen an ihrer Hand.

Es war ein unsinniger tollkühner Plan, den die Verzweiflung dem Freiherrn eingegeben hatte, indessen der Plan war ausführbar, wenn Maja zustimmte. Aber sie schreckte jetzt entsetzt auf aus seinen Armen. „Oskar! Allmächtiger Gott, was forderst Du?“

„Meine Rettung!“ rief er stürmisch aus. „Ich bin verloren, wenn ich bleibe – Du allein kannst mich retten. Geh’ mit mir, Maja, sei mein Weib, mein Schutzgeist, und ich will Dir auf den Knien danken. Nur zwei Wege kann ich noch gehen – den einen mit Dir in das Leben, den anderen ohne Dich –“

„In den Tod?“ schrie Maja auf. „Nein, nein, Oskar, Du sollst nicht sterben! Ich gehe mit Dir, wohin Du willst!“

Ein Jubelruf entrang sich seinen Lippen; er überschüttete seine Braut mit leidenschaftlichen Liebkosungen. „Meine Maja! Ich wußte es ja, Du würdest mich nicht verlassen, wenn auch alles mich verläßt. Und nun komm’, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Jetzt? In dieser Stunde?“ fragte Maja zusammenzuckend. „Ich soll den Vater nicht mehr sehen?“

„Unmöglich! Du würdest Dich verrathen! Wir müssen auf der Stelle fort. Am hinteren Parkthor hält der Wagen, der uns zur Bahn bringt, meine Papiere und eine Summe Geldes trage ich bei mir. Bei der Aufregung, die heute in Odensberg herrscht, bleibt unsere Abreise unbemerkt. Ich werde dafür sorgen, daß man die Spur nicht findet, bis ich Deinem Vater unsere Vermählung melden kann.“

Majas Augen waren unverwandt auf den Sprechenden gerichtet, aber das waren nicht mehr die frohen harmlosen Kinderaugen, es stand ein Ausdruck darin, den Oskar nicht zu enträthseln vermochte.

[367] „Dem Vater nicht Lebewohl sagen?“ wiederholte sie mechanisch. „Nicht einmal das, wenn ich auf immer von ihm gehe?“

„Nicht für immer,“ beruhigte sie Wildenrod. „Dein Vater wird sich versöhnen lassen. Ich nehme die ganze Schuld und Verantwortung dieses Schrittes auf mich allein. Wir werden zurückkehren.“

„Ich nicht!“ sagte das junge Mädchen leise. „Ich werde sterben an diesem Leben in der Fremde, an der Trennung von dem Vater, an jenem – jenem Furchtbaren, das Du mir nicht nennen willst. Deine Liebe ist mein Tod!“

„Maja!“ unterbrach er sie mit zorniger Bestürzung, sie aber fuhr unbeirrt fort: „Ich habe das eigentlich immer gewußt. Als Du zuerst unser Haus betratest und ich zum ersten Mal in Deine Augen sah, da überfiel mich eine Angst, als stände ich an einem Abgrund und müßte hinabstürzen. Und die Angst ist immer wieder gekommen, selbst in der Stunde, in der Du mir Deine Liebe gestandest, selbst in dem Glück der letzten Wochen. Ich habe es nur nicht wissen wollen, habe mich dagegen gewehrt und an das Glück der Gegenwart geklammert. Nun zeigst Du mir den Abgrund, und ich – ich muß hinunterstürzen.“

„Und Du willst doch mit mir gehen?“ fragte Oskar langsam; es war, als versagte ihm der Athem.

„Ja, Oskar! Du sagst, ich könne Dich retten, wie darf ich zögern?“ Sie legte den Kopf an seine Brust, mit einem leisen herzzerreißenden Weinen, in dem das junge Wesen sein Glück begrub. Wildenrod stand regungslos da und blickte auf sie herab; von der Buche rieselten langsam die welken Blätter auf die beiden nieder.

Endlich richtete sich Maja auf und trocknete ihre Thränen. „Laß uns gehen – ich bin bereit!“

„Nein!“ sagte Oskar, beinahe rauh, indem er sie aus den Armen ließ.

Das junge Mädchen sah ihn betroffen an. „Was sagtest Du?“

Er nahm den Hut ab und strich über die Stirn, als wollte er dort etwas wegwischen. Seine Züge erschienen auf einmal so seltsam verändert, vor wenigen Minuten stürmte noch die ganze wilde Leidenschaft seiner Natur darüber hin, jetzt lag eine kalte starre Ruhe darauf. „Ich sehe ein, daß Du recht hast,“ sagte er und seine Stimme klang unnatürlich ruhig. „Es wäre grausam, Dir den Abschied von dem Vater zu verwehren. Geh’ zu ihm und sage ihm – was Du willst.“

„Und Du?“ fragte Maja, bestürzt über diese plötzliche Sinnesänderung.

„Ich warte hier auf Dich. Es ist vielleicht besser, Du sprichst ihn noch einmal, ehe wir den letzten äußersten Schritt wagen, vielleicht gelingt es Dir, ihn umzustimmen.“

Es war nur ein karger Lichtschimmer, den er ihr zeigte, aber mehr bedurfte es nicht, um in dem Herzen Majas die Hoffnung hell wieder aufflammen zu lassen. „Ja, ich will zum Vater!“ rief sie. „Ich will ihn auf meinen Knien bitten, uns nicht zu trennen. Du kannst ja nichts so Schweres, Unsühnbares begangen haben, und er wird und muß mich hören. Aber – wäre es nicht besser, Du gingest mit mir?“

„Nein, das wäre umsonst! Aber nun geh’, geh’ – die Zeit ist kostbar.“

Er drängte sie beinahe angstvoll von sich, doch als sie sich dann wirklich zum Gehen wandte, streckte er plötzlich beide Arme nach ihr aus. „Komm’ zu mir, Maja! Sage mir noch einmal, daß Du mich liebst, daß Du mit mir gehen wolltest, trotzalledem!“

Das junge Mädchen flog wieder zu ihm zurück und schmiegte sich an ihn. „Du fürchtest, ich könnte nicht standhaft bleiben? Ich theile alles mit Dir, Oskar, und wäre es das Schlimmste, mich reißt nichts von Deiner Seite!“

„Dank!“ sagte er innig. In seiner Stimme bebte ein weicher verschleierter Klang, aus seinen Augen war die düstere Gluth gewichen, sie strahlten jetzt voll tiefer Zärtlichkeit. „Dank, meine Maja! Du ahnst nicht, was dies Wort alles in mir befreit und erlöst, was Du mir damit giebst. Vielleicht erfährst Du jetzt aus dem Munde Deines Vaters, was ich Dir nicht sagen kann. Wenn sie mich dann alle verdammen und verwerfen, so denke daran, daß ich Dich geliebt habe, grenzenlos geliebt. Wie sehr, das fühle ich erst in diesem Augenblick – und ich werde es Dir beweisen.“

„Oskar, Du bleibst doch hier?“ fragte Maja, von einer dunklen Ahnung geängstigt.

„Ich bleibe in Odensberg, mein Wort darauf – und nun geh’, Kind!“

Er küßte seine Braut noch einmal und gab sie dann frei. Sie schritt langsam davon; am Rande des Gebüsches wandte sie sich um. Wildenrod stand regungslos da und sah ihr nach, aber er lächelte, und das beruhigte das junge Mädchen, das nun rasch in den nebelerfüllten Park eilte.

Oskar folgte der schlanken Gestalt mit seinen Blicken, bis sie verschwunden war, dann ging er langsam zu der Bank zurück und legte prüfend die Hand an die Brusttasche. Dort ruhten seine Papiere, die Geldsumme, die er bei sich trug, und – noch etwas anderes, das er für alle Fälle zu sich gesteckt hatte. Jetzt galt es … doch nein, nicht hier, nicht im Umkreis des Hauses! Es kam ja auch auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an – die Nacht paßte besser zu seinem Vorhaben.

„Arme Maja!“ sagte er leise. „Du wirst bitter weinen; aber Dein Vater wird Dich in seine Arme nehmen. Du hast recht, Du würdest sterben an einem solchen Leben und an meiner Schuld – Du sollst gerettet werden. Ich gehe allein – ins Verderben!“

*      *      *

Das Erbbegräbniß der Dernburgschen Familie lag an der Rückseite des Parkes. Es war kein prunkendes Mausoleum, nur ein von dunklen Tannen umfriedeter Ort. Einfache marmorne Gedenksteine schmückten die grünen epheuumrankten Hügel. Hier ruhten Dernburgs Vater und Gattin und hier hatte auch sein Sohn Erich die letzte Ruhestätte gefunden.

Die junge Witwe weilte noch allein am Grabe, doch der immer stürmischer sich erhebende Wind mahnte auch sie jetzt zum Aufbruch. Sie hatte sich eben niedergebeugt, um den frischen Kranz auf dem Grabe besser zu befestigen, und richtete sich nun empor, als sie auf einmal jäh zusammenzuckte. Egbert Runeck war aus den Tannen hervorgetreten und stand ihr gegenüber. Er hatte offenbar nichts geahnt von diesem Zusammentreffen, aber er faßte sich rasch und sagte mit einer Verbeugung. „Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich störe. Ich glaubte den Platz leer zu finden!“

„Sie sind in Odensberg, Herr Runeck?“ fragte Cäcilie, ohne ihr Befremden zu verbergen.

„Ich war bei Herrn Dernburg und wollte die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne die Grabstätte meines Jugendfreundes zu besuchen. Es ist das erste und wohl auch das letzte Mal, daß ich sie sehe.“

Sein Blick streifte dabei düster die schwarz verschleierte Gestalt Cäciliens; dann trat er zum Grabe und blickte lange und schweigend darauf nieder. „Armer Erich!“ sagte er nach einer Weile. „Er mußte so früh scheiden, und dennoch – es ist ein beneidenswerther Tod, so mitten im Glück zu sterben!“

„Sie irren – Erich starb nicht im Glück!“ sagte Cäcilie leise.

„Sie glauben, daß er das Nahen des Todes gefühlt und den Trennungsschmerz empfunden hat? Ich hörte doch, der Blutsturz habe ihn bei anscheinend voller Gesundheit befallen und er sei dann nicht wieder zur Besinnung gekommen.“

„Ich weiß nicht, für mich liegt etwas Räthselhaftes in den letzten Augenblicken Erichs,“ entgegnete die junge Frau gepreßt. „Als er noch einmal die Augen aufschlug, kurz vor seinem Tode, da sah ich, daß er mich noch erkannte. Der Blick verfolgt mich immer noch, ich kann ihn nicht loswerden. Er war so voll Klage und Vorwurf, als hätte Erich gewußt oder geahnt –“ sie brach plötzlich ab.

„Was soll er geahnt haben?“ fragte Runeck hastig.

Cäcilie schwieg, sie konnte hier doch am wenigsten sagen, was sie fürchtete. „Mein Bruder meint, es sei Einbildung,“ entgegnete sie dann ausweichend. „Er mag recht haben, und doch bleibt diese Erinnerung für mich ein Stachel, der immer schmerzen wird.“

Sie neigte das Haupt zum Gruße gegen Egbert und wollte gehen; er kämpfte offenbar mit sich selbst, dann machte er eine Bewegung, als wollte er die Scheidende zurückhalten. „Ich glaube, [368] es ist besser, ich bereite Sie auf die Nachricht vor, gnädige Frau, mit der man Sie im Hause empfangen wird – Freiherr von Wildenrod ist abgereist.“

„Mein Bruder?“ fuhr Cäcilie in ahnungsvoller Angst auf. „Und Sie sind in Odensberg? Was haben Sie gethan?“

„Eine bittere Pflicht erfüllt!“ entgegnete er ernst. „Ihr Bruder hat mir keine Wahl gelassen, Er war gewarnt durch Sie – er hätte sich mit dem Erreichten begnügen können … Maja durfte nicht geopfert werden! Ich habe ihrem Vater die Augen geöffnet.“

„Und Oskar? Er ist abgereist, sagen Sie – wohin?“

„Das weiß augenblicklich niemand, Ihnen wird er jedenfalls Nachricht senden. Aber Sie verlieren nichts von der Liebe Ihres Schwiegervaters. Er weiß, daß Sie auch nicht der leiseste Vorwurf trifft.“

„Handelt es sich hier denn um mich?“ rief die junge Frau heftig. „Glauben Sie, daß ich ruhig hier in Odensberg leben kann, wenn mein Bruder in der Welt da draußen umherirrt, wieder im Kampfe mit all den unseligen Mächten, die ihn so weit gebracht haben? Sie haben Ihre Pflicht gethan – ja wohl! Was fragt eine eiserne Natur wie Sie danach, wen und was sie dabei vernichtet!“

„Cäcilie!“ unterbrach Runeck sie und der Ton verrieth die ganze Qual, die er bei diesen Vorwürfen ausstand. Aber Cäcilie hörte nicht darauf, sie fuhr mit steigender Bitterkeit fort: „Majas Hand und Liebe hätten Oskar gerettet, ich weiß es, denn in ihm lag eine mächtige Kraft zum Guten wie zum Bösen. Jetzt ist er wieder zurückgeschleudert in das alte Leben, jetzt ist er verloren.“

„Durch mich – das wollen Sie doch wohl sagen?“

Sie antwortete nicht, aber ihre Augen blickten mit bitterem verzweifelten Vorwurf zu dem Mann auf, der finster und ungebeugt vor ihr stand.

„Sie haben recht,“ sagte er herb, „Das Schicksal hat mich nun einmal dazu verdammt, allem, was mir lieb ist, Weh und Schmerz zu bringen. Den Mann, der mir mehr als ein Vater gewesen ist, mußte ich kränken bis in die tiefste Seele hinein; das Herz der armen Maja mußte ich tödlich verwunden. Aber das Schwerste war doch das, was ich Ihnen anthun mußte, Cäcilie, und wofür Sie mich nun verdammen!“

Er wartete vergebens auf eine Erwiderung; Cäcilie verharrte in ihrem Schweigen. Um die beiden her brauste und rauschte es wie damals, als sie am Fuße des Albensteins standen; geheimnißvoll wie aus weiter Ferne kam dies Brausen herangezogen, immer mächtiger anschwellend und dann sinkend und ersterbend mit dem Windeshauch. Aber jetzt wühlte der Herbststurm in halbentlaubten Bäumen, die ersten grauen Schatten der Dämmerung begannen aufzusteigen, und was sich in das Rauschen und Brausen mischte, das waren nicht friedliche Glockenklänge wie damals, sondern fremde und unheimliche Töne. Es war ein fernes verworrenes Geräusch, zu unbestimmt, als daß man hätte unterscheiden können, was es war, denn der Sturm verschlang es immer wieder. Aber jetzt setzte der Wind für einige Minuten aus, da klang es lauter, deutlicher herüber. Cäcilie richtete sich betroffen auf. „Was war das? Kam das vom Hause her?“

„Nein, es scheint von den Werken zu kommen,“ erklärte Runeck. „Ich hörte es schon vorhin.“

Beide lauschten jetzt gespannter, und plötzlich fuhr Egbert auf. „Das sind Menschenstimmen! Das ist das Toben einer empörten Menge! Drüben auf den Werken geschieht etwas – ich muß hinüber!“

„Sie, Herr Runeck? Was wollen Sie dort?“

„Den Herrn von Odensberg schützen vor seinen Leuten! Ich weiß am besten, wie die Arbeiter gegen ihn gehetzt und aufgereizt worden sind, Wenn er sich jetzt zeigt – er ist nicht mehr sicher unter seinen Arbeitern.“

„Um Gotteswillen!“ rief die junge Frau entsetzt.

„Fürchten Sie nichts,“ fiel Runeck ein. „So lange ich an seiner Seite bin, naht ihm keiner. Wehe dem, der es wagen sollte!“

Cäcilie war aufgesprungen; noch vor wenigen Minuten hatte sie geglaubt, dem Ankläger ihres Bruders nicht verzeihen zu können, und jetzt ging aller vermeintliche Haß unter in der Angst um ihn, um sein Leben. Sie flog herbei und umfaßte mit beiden Händen seinen Arm.

„Egbert!“

Er war im Begriff, fortzueilen, und blieb jetzt wie gebannt stehen. „Cäcilie! Sie nennen mich so?“

„Sie wollen die empörte Menge dort drüben herausfordern? O, Sie suchen den Tod!“ rief die junge Frau außer sich. „Egbert, denken Sie an mich und meine Todesangst um Sie!“

Mit einem stürmischen Ausruf des Jubels wollte Egbert die Geliebte an sich ziehen, da fiel sein Blick auf ihre Trauerkleidung, auf das Grab seines Jugendfreundes, und still zog er nur ihre Hand an seine Lippen; aber ein heller Strahl des Glückes blieb in seinem Gesicht zurück, als er leise sagte: „Ich werde daran denken – leb’ wohl, Cäcilie!“ Damit stürmte er fort. –

Die Odensberger Werke waren am Abend der Schauplatz wilder und wüster Scenen geworden. Die Besonnenheit, mit der die Beamten versucht hatten, die Gährung der Arbeitermassen niederzuhalten und bei den Entlassungen Ruhe und Ordnung zu wahren, war vergebens gewesen; es scheiterte alles an der herausfordernden Haltung jener Partei, die Landsfeld im geheimen lenkte und an deren Spitze hier auf den Werken der Arbeiter Fallner stand. Heute hatte der Sozialistenführer es allerdings für nothwendig befunden, selbst nach Odensberg zu kommen, was er sonst vermied; denn er wußte, was diesmal auf dem Spiele stand. Die meisten Arbeiter waren schon zur Besinnung gekommen, mehr als die Hälfte war entschlossen, morgen die Arbeit wieder aufzunehmen und sich den Bedingungen des Chefs zu fügen. Die Wirkung dieses Beispiels auf die übrigen war vorauszusehen. Da galt es, um jeden Preis Gewaltscenen herbeizuführen, welche die Verständigung unmöglich machten. Und das war bereits gelungen.

Die Werke waren erfüllt von wogenden lärmenden Massen, die sich vorläufig noch untereinander bedrohten. Fallner und sein Anhang schleuderten der Gegenpartei wüthende Schimpfworte zu; „Feiglinge! Verräther! Elende Hunde!“ scholl es wild durcheinander, und die solchermaßen Angegriffenen blieben die Antwort nicht schuldig. Sie warfen ihren Genossen vor, sie in den Ausstand hineingehetzt, ihnen einen Beschluß, von dem sie nichts wissen wollten, gewaltsam aufgezwungen zu haben. Einstweilen spielten die Fäuste nur noch eine nebensächliche Rolle, aber jeden Augenblick konnte ein blutiger Zusammenstoß erfolgen und die ganze Wildheit der aufgeregten Menge entfesseln.

Im Direktionsgebäude hatten die Beamten eine förmliche Belagerung auszuhalten. Die Jüngeren waren aus den nunmehr geschlossenen Werkstätten und Bureaus hierher geflüchtet zu ihren Vorgesetzten, die selbst völlig rathlos waren. Die getroffenen Maßregeln hatten sich als wirkungslos erwiesen, man berieth eben in erregtester Weise, was nun zu thun sei.

„Es hilft nichts, wir müssen den Herrn herbeirufen,“ sagte der Direktor. „Er war so wie so entschlossen, im Nothfall persönlich einzugreifen – jetzt weiß ich keinen anderen Rath mehr.“

„Um Gotteswillen nicht!“ fiel Winning ein. „Er darf sich nicht zeigen. Seine Stimmung ist wahrhaftig nicht danach, den Leuten gute Worte zu geben, und tritt er ihnen schroff entgegen, dann ist das Schlimmste zu fürchten.“

„Was wollen diese Menschen da draußen denn eigentlich?“ rief Doktor Hagenbach, der gleichfalls anwesend war, weil er fürchtete, daß seine ärztliche Thätigkeit nothwendig werden könnte. „Wen bedrohen sie denn? Herrn Dernburg? Uns? Oder sich untereinander?“

„Das wissen sie vermuthlich selbst am wenigsten,“ entgegnete der Oberingenieur. „Höchstens wird ihr Führer, der Landsfeld, darüber im klaren sein. Er soll heute in Odensberg sein, da haben wir mit Sicherheit irgend etwas Ernstes zu erwarten.“

„Um so weniger kann ich die Verantwortung noch länger auf mich allein nehmen,“ erklärte der Direktor. „Ich werde unserem Chef melden, daß wir nicht mehr Herren der Lage sind. Er mag dann thun, was er will.“

Er wollte ans Telephon, als auf einmal der Lärm draußen aufhörte. Er verstummte ganz plötzlich, nur noch einzelne Stimmen wurden laut, dann schwiegen auch diese und es herrschte eine Totenstille. Die Beamten eilten an die Fenster, um zu sehen, was es gebe.

„Da ist der Herr!“ rief Winning. „Ich dachte mir, daß er ungerufen erscheinen würde, wenn er das Toben hört.“

[370] „Aber wie sieht er aus!“ fügte Hagenbach leise hinzu. „Ich fürchte, das giebt ein Unglück.“

„Wir wollen die Thüren öffnen, damit er sich im Nothfall hierher zurückziehen kann,“ sagte der Direktor, der gleichfalls herbeigeeilt war. „Er ist ja ganz allein, nicht einmal Wildenrod ist bei ihm. Wir müssen zu ihm. Schnell, meine Herren!“

Die von innen verschlossenen Thüren wurden geöffnet, aber die Beamten konnten weder zu ihrem Chef, noch dieser zu ihnen gelangen, eine dichte Menschenmasse stand dazwischen und hielt den Platz vor dem Hause besetzt. Der Versuch des Direktors und seiner Kollegen, diese lebendige Mauer zu durchbrechen, war vergeblich – die zunächststehenden Arbeiter nahmen eine so drohende Haltung an, daß die Herren zurückwichen, um nicht eine Gewaltthat hervorzurufen, die sich dann sofort auch gegen Dernburg gekehrt haben würde.

Dieser hatte den kleinen Seitenweg benutzt, der vom Herrenhaus nach dem Direktionsgebäude führte, ohne die Werke zu berühren. Niemand hatte ihn kommen sehen, und nun stand er auf einmal wie aus der Erde gewachsen mitten unter seinen Arbeitern. Die ganze Macht seiner Persönlichkeit zeigte sich in diesem Augenblick – sein bloßes Erscheinen wirkte mit zwingender Gewalt auf die eben noch wild erregte Menge, die plötzlich wie von einem Banne gefesselt stand. Aller Augen waren auf die hohe Gestalt mit den finster zusammengezogenen Brauen gerichtet, alles wartete auf das erste Wort aus seinem Munde. Sein Blick schweifte langsam über die Menge hin, die er sonst mit einem einzigen Winke gelenkt hatte und die ihm nun so gegenüberstand. Er sprach noch immer nicht, es war, als wollten die Worte nicht über seine Lippen.

Unglücklicherweise befand sich Landsfeld mit Fallner in unmittelbarer Nähe. Da vor dem Direktionsgebäude, wo man die Beamten eingeschlossen hatte, die verwegensten seiner Anhänger sich zusammenfanden, hatte der Sozialistenführer seine Stellung dort genommen. Das Erscheinen Dernburgs schien ihm weder überraschend noch unerwünscht zu sein, im Gegentheil, es blitzte wie Genugthuung in seinen Augen auf, als er leise zu Fallner sagte, der als eine Art Adjutant stets an seiner Seite war: „Da ist der Alte! Ich wußte, daß er nicht ruhig in seinen vier Pfählen bleiben würde, während hier auf seinen Werken der Teufel los ist. Jetzt kommt die Sache in Fluß!“

Endlich begann Dernburg zu sprechen, seine Stimme war laut und fest, und das tiefe Schweigen ringsum ließ kein Wort verloren gehen. „Was soll der Lärm hier auf den Werken? Es liegt kein Grund dazu vor. Ihr habt den Ausstand angekündigt und ich habe die Werkstätten schließen lassen und halte sie geschlossen. Ihr habt Eueren Lohn erhalten, also geht nach Hause!“

Die Arbeiter stutzten, sie waren es gewohnt, daß der Chef kurz und befehlend sprach, aber diesen verächtlichen eisigen Ton hörten sie zum ersten Mal aus seinem Munde. Sie fühlten das sofort, ohne sich genau Rechenschaft darüber zu geben.

Jetzt hielt Landsfeld den Augenblick für gekommen, um persönlich einzugreifen. „Du folgst mir mit den anderen,“ befahl er kurz, zu Fallner gewendet, und dann trat er ohne weiteres an Dernburg heran. „Es handelt sich hier nicht um die Lohnfrage,“ begann er in herausfordernder Haltung. „Was die Arbeiterschaft von Ihnen will, Herr Dernburg, das ist Ihnen ja mitgetheilt worden. Die ungerechten Entlassungen sollen –“

„Wer sind Sie? Wer giebt Ihnen das Recht, hier mitzureden?“ unterbrach ihn Dernburg, obgleich er den Sprecher ebenso vom Ansehen kannte wie dieser ihn.

„Mein Name ist Landsfeld,“ war die hochfahrende Antwort. „Ich denke, das genügt für meine Berechtigung.“

„Nein, denn Sie gehören nicht zu meiner Arbeiterschaft. Fremde Einmischung dulde ich nicht. Verlassen Sie Odensberg, auf der Stelle!“

Der Befehl klang stolz und verächtlich. Landsfeld trat einen Schritt zurück und maß den Mann, der allein vor ihm stand und so zu sprechen wagte, vom Kopf bis zu den Füßen.

„Einer solchen Aufforderung folge ich nicht,“ versetzte er höhnisch. „Ich stehe hier im Namen meiner Partei, welche die Odensberger Dinge sehr nahe angehen. Kameraden! Erkennt Ihr mich als Euren Vertreter an? Soll ich für Euch sprechen?“

Fallner und die Seinen, die ihrem Führer gefolgt waren und ihn von allen Seiten umgaben, antworteten mit stürmischer Zustimmung, während die übrigen stumm blieben. Landsfeld hob triumphierend das Haupt. „Sie hören es! So sage ich Ihnen denn, daß die Bedingungen, die Sie für die Wiederaufnahme der Arbeit gestellt haben, schmachvoll und entwürdigend sind. Ich erkläre jeden, der sich ihnen fügt, für einen Feigling und Verräther.“

„Und ich erkläre, daß ich mit Ihnen und Ihresgleichen nichts zu thun habe!“ rief Dernburg, durch diese Herausforderung aufs äußerste gereizt. „Meinen Arbeitern habe ich die Bedingungen gestellt, unter denen allein ich die Werke wieder öffne – mit Menschen Ihres Schlages verhandle ich überhaupt nicht.“

Landsfeld fuhr wüthend auf. „Mit Menschen meines Schlages? Wir sind wohl nur Gewürm in den Augen des hohen Herrn? Kameraden! Laßt Ihr Euch das gefallen?“

Er rief nicht umsonst seine Genossen an. Schimpfworte und Drohungen wurden gegen Dernburg geschleudert, der immer fester in der Menge eingekeilt wurde. Von jedem Beistand abgeschnitten, mußte er jeden Augenblick des Aergsten gewärtig sein.

Da wurden in der Ferne Rufe und Stimmen laut, aber nicht wild und drohend, sondern in jubelnder Begrüßung. Jetzt vernahm man sogar ein stürmisches „Hoch“, das sich langgedehnt fortpflanzte und immer näher kam. „Hoch Runeck! Egbert Runeck Hoch!“ erscholl es von allen Seiten, und in den dichtgedrängten Massen öffnete sich ein Weg für den Ingenieur, der rasch herankam.

Athemlos von dem stürmischen Gange, stellte er sich an die Seite Dernburgs mit einer Miene, die verrieth, daß er entschlossen war, mit ihm zu stehen und zu fallen. Er sandte Landsfeld einen drohenden Blick zu, den dieser mit einem spöttischen Achselzucken erwiderte.

„Bist Du wirklich da, mein Junge?“ murmelte Landsfeld. „Nun, wenn Du Dir selbst den Hals brechen willst, dann brauche ich es nicht zu thun.“

Runeck hatte inzwischen eine rasche Umschau gehalten, er erkannte die Gefahr der Lage und ergriff das einzige Mittel, das hier noch Rettung verhieß. „Zurück vom Hause!“ herrschte er den Arbeitern zu, die das Direktionsgebäude besetzt hielten. „Seht Ihr nicht, daß Herr Dernburg zu seinen Beamten will? Ich werde ihn geleiten, macht Platz!“

Die Leute waren betroffen, bestürzt über diese Parteinahme; sie gehorchten und begannen zurückzuweichen. Der Platz vor dem Hause wurde allmählich leer, und war Dernburg erst dort in der Mitte seiner Beamten, so war er auch in Sicherheit. Wenn Runeck dann an seiner Seite blieb, verlief die ganze Sache friedlich. Allein das paßte nicht in den Plan Landsfelds; er griff von neuem ein. „Was soll das heißen?“ rief er scharf und laut. „Unser Abgeordneter nimmt Partei gegen uns und stellt sich auf die feindliche Seite? Hierher, Runeck! Bei uns ist Dein Platz, uns hast Du zu vertreten – oder willst Du etwa zum Verräther werden?“

Das böse Wort „Verräther“ that sofort seine Wirkung, ein dumpfes drohendes Murren wurde laut. Jetzt verlor Runeck die Mäßigung, die er sich bisher schwer genug bewahrt hatte. „Ihr selbst seid Verräther und Schurken, wenn Ihr den Mann angreift, der Euch allen geholfen hat, wo er nur konnte!“ donnerte er. „Zurück von ihm! Wer ihn anrührt, den schlage ich zu Boden!“

Seine Haltung war so wild und drohend, daß alles zurückwich, nur Landsfeld nicht. „Willst Du das vielleicht auch bei mir versuchen?“ schrie dieser und stürzte sich vorwärts auf Dernburg zu, aber in demselben Augenblick sank er auch, von einem wuchtigen Faustschlag Egberts getroffen, mit einem lauten Schrei zu Boden, wo er blutüberströmt liegen blieb.

Die rasche blitzähnliche That entfesselte alle Leidenschaften der wüthenden Menge. Mit einem wilden Geschrei stürzten sich Fallner und seine Genossen auf Runeck, der sich vor Dernburg warf und ihn mit seinem Leibe deckte. Einige Minuten hielt seine Riesenkraft stand gegen die Angreifer, aber das Ende dieses ungleichen Kampfes war vorauszusehen. Da blitzte plötzlich ein Messer in der hoch erhobenen Hand Fallners, ein wuchtiger Stoß und Egbert sank blutend zusammen.

Diesmal aber wirkte die That anders als vorhin, die Menge war wie gelähmt vor Entsetzen. Das Ungeheuerliche des ganzen [371] Vorgangs schien ihnen auf einmal zum Bewußtsein zu kommen, selbst Fallner stand regungslos da, wie erschreckt über seine That. Das Geschrei war verstummt; niemand hinderte Dernburg, der mit bleichem Gesicht und zusammengepreßten Lippen sich langsam niederbeugte und den Bewußtlosen in seine Arme nahm.

Inzwischen hatten die Beamten, als der Platz vor dem Hause frei wurde, einen erneuten Versuch gemacht, zu ihrem Chef zu dringen; das war nur theilweise gelungen, aber sie befanden sich doch bereits in seiner Nähe, als der blutige Vorfall sich ereignete. Doktor Hagenbach wußte das mit rascher Geistesgegenwart zu benutzen. „Platz für den Arzt!“ rief er, sich vorwärts drängend. „Laßt mich durch!“

Das Wort half, es öffnete sich für ihn eine schmale Gasse in der dicht zusammengekeilten Menge und die Beamten drängten nach; in wenigen Minuten war Dernburg von ihnen umgeben. Doch dieser kümmerte sich nicht darum; er kniete neben Egbert, dessen Haupt er stützte, und als der Doktor sich jetzt niederbeugte und die Wunde untersuchte, fragte er leise im Tone tiefer Angst: „Ist er – tödlich getroffen?“

„Sehr schwer!“ sagte Hagenbach laut und ernst. „Er muß augenblicklich fortgeschafft werden.“

„Nach dem Herrenhause!“ fiel Dernburg ein. „Jawohl, das ist das beste.“ Der Doktor legte rasch einen Nothverband an und wandte sich dann dem blutenden Landsfeld zu, um auch ihn zu untersuchen. „Hier ist keine Gefahr!“ rief er laut den Umstehenden zu. „Der Schlag hat den Mann nur betäubt. Tragt ihn ins Haus – er wird bald wieder zur Besinnung kommen, zu besorgen ist nichts. Aber Runeck – der ist schwer getroffen!“

Seine Miene verrieth, daß er das Schlimmste fürchtete, und das entschied die Haltung der Menge. Es entstand ein erregtes Gemurmel, das sich von Mund zu Mund fortpflanzte, bis in die Reihen derer, die zu ferne gestanden hatten, um den Vorfall mit anzusehen. Und als nun Egbert aufgehoben und fortgetragen wurde, ging eine Bewegung des Schauers durch die Menschenmassen. Sie sahen ihren Abgeordneten, den sie ihrem Chef zum Trotze gewählt und mit lautem Jubel auf den Schild gehoben hatten, blutüberströmt, leblos auf den Armen der Beamten, die ihn trugen, und der alte Chef schritt neben ihm und hielt die Hand des Bewußtlosen in der seinen. Es bedurfte keiner Aufforderung, Platz zu machen; alles wich stumm zur Seite, wo der traurige Zug vorüberkam, kein Wort, kein Laut ließ sich vernehmen. Wie Todesschweigen lag es über all den Tausenden.




Inzwischen harrte man im Herrenhaus angstvoll auf den Ausgang jenes Lärmens und Tobens, das deutlich vernehmbar von den Werken herüberscholl. Maja war erst aus dem Parke gekommen, als ihr Vater sich bereits drüben inmitten der Arbeiter befand, sie konnte ihn also nicht mehr sprechen. Sie wollte zu Cäcilie flüchten, um dieser ihr Herz auszuschütten, fand sie aber in einer so besinnungslosen Angst und Aufregung, daß eine Aussprache unmöglich war.

„Laß mich, Maja!“ flehte die junge Frau verzweiflungsvoll. „Nur jetzt laß mich! Später will ich alles von Dir hören, Dir in allem Rede stehen, aber jetzt kann ich nichts anderes denken und fühlen als seine Gefahr!“ Damit war sie hinausgeeilt auf die Terrasse, von wo man nach den Werken hinüberblicken konnte.

Der armen Maja wurde das Herz noch schwerer. Seine Gefahr! Damit konnte doch nur der Vater gemeint sein, an dem auch Cäcilie mit aller Liebe hing. War er denn wirklich so schwer bedroht unter seinen Arbeitern?

So war mehr als eine Stunde vergangen und Maja hielt es nicht länger aus. Was sollte Oskar von ihrem Ausbleiben denken! Er mußte glauben, sie sei in ihrem Entschluß wankend geworden, sie wolle ihn allein ziehen lassen – ins Verderben! Sie mußte zurück zu ihm, nur auf wenige Minuten, um ihm zu sagen, daß es unmöglich sei, den Vater jetzt zu sprechen! Mit fliegendem Athem eilte sie in den Park, der schon in tiefer Abenddämmerung lag. Da kam ihr der Vater entgegen.

Dernburg hatte mit seinen Begleitern den kürzesten Weg gewählt, jenen kleinen Seitenpfad, auf dem er vorhin nach den Werken gelangt war und den man von der Terrasse aus nicht sehen konnte. Egbert war schon unterwegs durch die Bewegung des Tragens und den Schmerz der Wunde wieder zur Besinnung gekommen; seine erste Frage hatte Landsfeld gegolten. Hagenbach erklärte auch ihm, daß dessen Wunde unbedeutend und nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, und ein tiefes erleichtertes Aufathmen verrieth, wie sehr diese Auskunft den Verwundeten beruhigte. Maja, die im ersten Augenblick nur den Vater sah, warf sich stürmisch an seine Brust. „Du lebst, Papa, Du bist gerettet! Gott sei Dank, nun wird alles gut werden!“

„Ja, ich bin gerettet – um diesen Preis!“ sagte Dernburg leise, indem er hinter sich deutete. Das junge Mädchen gewahrte jetzt erst den Verwundeten und stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

„Still, mein Kind!“ mahnte Dernburg, „Ich wollte Euch nicht erschrecken. Wo ist Cäcilie?“

„Draußen auf der Terrasse. Ich muß sie benachrichtigen, sie ängstigt sich fast zu Tode um Dich,“ flüsterte Maja, mit einem angstvollen Blick auf den Jugendgespielen, der wie ein Sterbender aussah. Dann eilte sie davon zu ihrer Schwägerin.

Dernburg ließ Egbert in sein eigenes Schlafzimmer tragen und half ihn dort auf das Bett niederlegen, während Doktor Hagenbach sich um ihn bemühte und dem rasch herbeigerufenen Diener einige Anweisungen gab. Da öffnete sich die Thür und in Majas Begleitung erschien Cäcilie; ohne sich um die Zeugen zu kümmern, ohne sie auch nur zu sehen, stürzte sie mit einer stürmischen Bewegung zu dem Lager und sank dort in die Knie. „Egbert, Du hattest mir doch versprochen, zu leben!“ rief sie verzweifelnd, „und nun hast Du doch den Tod gesucht!“

Dernburg stand da wie vom Blitz gerührt. Er hatte nie auch nur die leiseste Ahnung von dieser Liebe gehabt, und nun verrieth der eine unbewachte Augenblick ihm alles.

„Ich wollte ja nicht sterben, Cäcilie, gewiß nicht,“ sagte Egbert matt. „Aber es gab keine andere Möglichkeit, ihn zu retten.“

Sein Auge wandte sich auf Dernburg, der jetzt herantrat und noch immer fassungslos von einem zum anderen blickte. „Steht es so mit Euch beiden?“ fragte er langsam.

Cäcilie antwortete nicht; sie umklammerte nur mit beiden Händen die Rechte des Geliebten, als fürchtete sie, man könnte sie von ihm trennen. Egbert versuchte zu sprechen, aber Dernburg hinderte ihn daran.

„Sei ruhig, Egbert,“ sagte er ernst „Ich weiß, daß Erichs Braut Dir heilig gewesen ist, Du brauchst es mir nicht erst zu versichern; und nach seinem Tode hast Du ja heute zum ersten Mal wieder Odensberg betreten. Mein armer Junge! Der Gang ist Dir verhängnißvoll geworden, Du hast ihn mit Deinem Herzblut bezahlen müssen.“

„Aber dies Blut hat mich doch frei gemacht von der Kette!“ rief Egbert aufflammend. „Ihr ahnt alle nicht, wie schwer ich daran getragen habe. Jetzt ist sie gebrochen – ich bin frei!“

Er sank erschöpft zurück, und nun mischte sich Doktor Hagenbach ein. Er verbot dem Verwundeten aufs bestimmteste jedes Sprechen und jede weitere Aufregung und verhehlte ihm das Gefährliche seines Zustandes nicht.

Dernburg blickte auf seine Schwiegertochter, die mit gefalteten Händen stehend zu ihm aufsah, er verstand die stumme Bitte. „Egbert braucht also volle Ruhe,“ sagte er ernst „und eine aufopfernde Pflege. Ich übergebe ihn Dir, Cäcilie – Du wirst hier die beste Pflegerin sein!“ Er beugte sich noch einmal zu dem Verwundeten nieder, wechselte einige leise Worte mit dem Arzt und ging dann in sein Arbeitszimmer. Maja, die bisher wortlos an der Thür gestanden hatte, folgte ihm, aber sie nahte dem Vater so scheu und zögernd, als habe sie selbst eine Schuld zu beichten.

„Papa, ich habe Dir etwas zu sagen,“ flüsterte sie mit gesenkten Augen. „Ich weiß, Du hast heute schon so Schweres durchgemacht – aber ich kann nicht warten. Da draußen im Park harrt jemand meiner und Deiner Entscheidung – ich soll sie ihm bringen. Willst Du mich hören?“

Dernburg hatte sich zu ihr gewandt. Ja freilich, er hatte heute Schweres durchgemacht, aber jetzt kam das Allerschwerste. Er streckte beide Arme aus, und seinen Liebling an die Brust schließend, sagte er mit brechender Stimme: „Meine kleine Maja! Mein armes, armes Kind!“ – –

[382] Es war Nacht geworden, eine dunkle Sturmnacht mit schwer umwölktem Himmel. Die Odensberger Werke, die noch vor wenigen Stunden von wüstem Leben erfüllt waren, lagen jetzt still und verlassen da, Es hatte keiner besondere Maßregeln, nicht einmal einer Aufforderung bedurft, um die Arbeiter zu veranlassen, sich nach Hause zu begeben. Seit ihr Abgeordneter ihren Führer niederschlagen hatte und selbst unter dem Messer eines der Ihrigen gefallen war, hatte sich eine dumpfe Bestürzung der Leute bemächtigt. Sie empfanden alle die Schwere dieser Vorgänge, wenn sie sich auch deren volle Tragweite noch nicht klar machten. Fallner wurde scheu gemieden, und als es vollends bekannt wurde, daß Landsfeld, der sich in der That schon nach einer halben Stunde wieder erholte, zu Fuß Odensberg verlassen habe, da schlug die Stimmung der Odensberger vollständig um. Es wurden bittere Anklagen und Vorwürfe laut aber nicht gegen den, der da drüben im Herrenhaus mit dem Tode rang, die ganze Bitterkeit richtete sich gegen Landsfeld allein. –

Durch Nacht und Sturm kam eine einzelne hohe Gestalt und blieb vor dem Herrenhaus stehen, wo hinter mehreren Fenstern noch matter Lichtschein sichtbar war, in dem Gemach, wo Egbert unter der Obhut Cäciliens lag, in den Zimmern Dernburgs und Majas. Sie alle schliefen nicht in dieser Nacht. Der Mann, der so regungslos unten stand, wußte nichts von den letzten Ereignissen. Er hatte wohl auch das Lärmen aus den Werken gehört, als er den Rosensee verlassen, und er kannte auch die Befürchtungen, die man für heute abend hegte, aber was ging ihn jetzt noch Odensberg an, was das Leben überhaupt?

Oskar von Wildenrod war bereit zum letzten Gange. Er wußte, daß er seine Braut nicht mehr wiedersehen könne und dürfe, und doch zog es ihn mit unwiderstehlicher Sehnsucht noch einmal in ihre Nähe, zu der Stätte, wo das Einzige weilte, das er auf Erden wahrhaft geliebt. Er hatte es bewiesen, wenn auch erst in allerletzter Stunde. Die Rettung, die ihm in dieser Stunde geboten wurde, hatte er von sich gestoßen um Majas willen, und mit diesem Opfer fiel alles ab, was an seiner Liebe Berechnung gewesen war. Sie blieb das einzig reine Gefühl in einem befleckten verlorenen Leben, dessen Rechnung jetzt mit einer Kugel ausgeglichen werden sollte.

In der Erinnerung Wildenrods tauchte jener erste Abend auf, den er einst in Odensberg verlebt. Damals hatte er dort oben am Fenster gestanden, den Kopf voll von ehrgeizigen Plänen und im Herzen die erste aufkeimende Neigung zu dem lieblichen Kind, an dessen Hand der so heiß begehrte Reichthum hing. Damals hatte er sich gelobt, dereinst Herr und Gebieter dieser Arbeitswelt zu werden, er hatte im Vorgefühl seines Sieges stolz hinübergeblickt zu den Werken, wo aus den riesige Essen die Funkengarben aufgesprüht waren. Jetzt lag das alles in toter Ruhe, das rastlose Getriebe stand still, die Feuer waren erloschen.

Nur dort drüben, wo die Walzwerke lagen, dämmerte ein matter ungewisser Schein, der aber allmählich heller wurde. Oskar blickte erst gleichgültig, dann schärfer darauf hin. Jetzt verschwand das Leuchten, um gleich darauf wieder aufzutauchen, jetzt zuckte es hin und her, und dann auf einmal war es, als ob ein Blitz die Nacht zerreiße. Eine Flamme schoß jäh empor und in ihrem Scheine sah man, daß die ganze Umgebung von qualmenden Rauchwolken erfüllt war.

Wildenrod fuhr auf bei diesem Anblick, aber schon in der nächsten Minute stürzte er nach dem Hause und schlug gegen das Fenster der Pförtnerwohnung. „Feuer auf den Werken! Wecken Sie Herrn Dernburg! Ich eile voran!“

„Feuer in dieser Sturmnacht? Gott steh’ uns bei!“ rief die entsetzte Stimme des aus dem Schlaf geschreckten Mannes. Oskar hörte nicht darauf, er eilte nach den Werken hinüber, von wo der Brand jetzt immer deutlicher sichtbar wurde. Sonst waren dort, selbst in der Nacht, noch Hunderte thätig, heute waren nur die Aufseher zurückgeblieben und diese lagen im Schlafe.

Wildenrod kannte die Werke genau; er wandte sich zuerst nach dem Häuschen des alten Mertens, der, seit die Arbeiten in Radefeld zu Ende waren, hier einen Posten innehatte, und weckte auch ihn aus dem Schlafe. Es wurde Lärm geschlagen, in wenigen Minuten waren ein paar Dutzend Menschen versammelt, und jetzt ließ auch das Feuerhorn seine dumpfen heulenden Töne vernehmen. Odensberg hatte die vorzüglichsten Löschanstalten weit und breit, denn Dernburg hatte aus seiner Arbeiterschaft eine freiwillige Feuerwehr gebildet, die trefflich eingeübt war. Aber heute waren ja alle Bande der Ordnung gelöst, die Arbeiter befanden sich in ihren abgelegenen Wohnstätten, da war kaum Hilfe von ihnen zu erwarten.

Jetzt erschien Dernburg selbst, der noch einsam in seinem Arbeitszimmer gewacht hatte, als der Feuerruf ertönte, und gleichzeitig stürzte ein Theil der Beamten herbei, deren Wohnungen in der Nähe lagen, Wildenrod sah sich plötzlich dem Manne gegenüber, der ihm vor wenigen Stunden noch Sohnesrechte zugestanden hatte und dem inzwischen jene niederschmetternde Enthüllung geworden sein mußte. Auch Dernburg wich unwillkürlich zurück beim Anblick des Freiherrn, den er auf der Flucht und [383] schon in weiter Entfernung glaubte. Aber jetzt war keine Zeit zu irgend welchen Erörterungen – Oskar trat entschlossen vor. „Ich entdeckte den Brand zuerst,“ sagte er, „und ließ sofort die Alarmsignale geben. Das Feuer scheint in den Walzwerken ausgebrochen zu sein.“

„Ja, dort ist es!“ bestätigte Dernburg. „Aber da kann es nicht durch Unvorsichtigkeit entstanden sein, die Arbeit ruht ja seit den Mittagsstunden – der Brand ist gelegt worden!“

Die Umstehenden theilten sämtlich seine Meinung, das sah man, aber Wildenrod schnitt jede weitere Bemerkung ab. „Gleichviel, wir müssen zur Brandstätte vordringen!“ rief er. „Bei diesem Sturme sind alle Werke in höchster Gefahr.“

„Bei diesem Sturme sind sie verloren!“ sagte Dernburg finster. „Wir haben nicht einmal Hände zum Löschen.“

„Aber unsere Feuerwehr! Die Arbeiter –“ warf der alte Mertens ein, doch ein bitteres Auflachen seines Herrn unterbrach ihn. „Meine Arbeiter? Die lassen brennen, was brennen will. Ruft sie nur herbei mit den Feuerhörnern, es kommt keiner – keiner, sage ich Euch! Es sind ja meine Werke, da rührt sich keine Hand!“

Allein wie zur Antwort wurden jetzt Rufe und Stimmen laut und am Eingang zu den Werken tauchten Fackeln auf. Ein Trupp von Arbeitern erschien in geschlossener Reihe, die Feuerhelme auf den Köpfen, die Brandkittel übergeworfen, und ihnen nach donnerten die Spritzen. Und nach fünf Minuten kam ein zweiter Trupp und dann ein dritter und vierter. Jetzt erscholl der Feuerruf überall, nah und fern, das ganze Odensberger Thal wurde lebendig; überall blitzten Lichter auf. Die Werke füllten sich mit Menschen, es kam alles und alles war bereit, zu helfen.

Dernburg hatte anfangs fast versteinert auf die Ankommenden geblickt; als aber nun ein Zug nach dem anderen aus dem Dunkel auftauchte, als die Leute wie auf Leben und Tod heranjagten, um nur rechtzeitig anzukommen, als im Galopp die Spritzen vorfuhren, da hob ein tiefer Athemzug die Brust des Herrn von Odensberg; er richtete sich hoch auf, als werfe er eine lange getragene Last von sich und rief: „Nun, wenn Ihr denn doch helfen wollt, dann vorwärts! Dem Feuer zu Leibe!“

Das geschah, aber der Brand hatte schon allzu reichliche Nahrung gefunden. Das ganze Innere der Walzwerke schien in Flammen zu stehen, vergebens versuchte man hineinzudringen. Dernburg hatte persönlich die Oberleitung der Rettungsarbeiten übernommen und lenkte seine Leute mit Wort und Blick, und sie gehorchten ihm so pünktlich und unbedingt wie nur je.

Aber auch Oskar von Wildenrod war unermüdlich mit dabei. Er fragte nicht erst, ob man ihm dies Recht noch zugestehe, er nahm es sich einfach. Er war überall, wo es Noth that. Aber obwohl er die einzelnen Abtheilungen muthig und unerschrocken immer wieder vorführte, obwohl die Spritzen ihre zischenden Strahlen unausgesetzt in die Gluth schleuderten, so hatte doch das Feuer einen übermächtigen Bundesgenossen an dem herrschenden Sturme, und im Verein mit ihm spottete es aller Mühen und Anstrengungen. Wie feurige Schleier zuckten die Flammen aus den Fenstern des Gebäudes, sie leckten an den Mauern und schossen sprühend aus dem Dache heraus. Der Sturm jagte sie schon hinüber nach den anderen Dächern, er führte brennende Späne hoch durch die Luft, um sie dann verderbenbringend wieder niedersinken zu lassen. Schon hatte es auch anderswo an einzelnen Stellen gezündet, überallhin mußten Abtheilungen zum Löschen gesandt werden.

Wildenrod kehrte eben von einem dieser Nebenbrände, den er unter seiner Aufsicht hatte löschen lassen, zur eigentlichen Brandstätte zurück, wo der Herr von Odensberg nicht vom Platze wich. Dieser sprach eben mit dem Oberingenieur, der mit rathlosen Mienen vor ihm stand.

„Wir zwingen es nicht, Herr Dernburg,“ sagte er. „Sehen Sie nur, das Feuer droht schon, nach den Gießereien hinüberzugreifen, und brennen die erst, dann hat es überallhin offene Bahn. Ein Mittel gäbe es vielleicht noch, aber Sie wollen es ja nicht – wenn wir den Versuch machten, das große Reservoir der Radefelder Leitung zu öffnen.“

„Nein niemals – das würde Menschenleben kosten!“ erklärte Dernburg. „Mag sein, daß sich Freiwillige dazu finden würden, die Leute sind in ihrer jetzigen Stimmung zu jedem Opfer fähig, aber ich opfere kein Menschenleben, eher mögen die Werke alle niederbrennen.“

Er trat zu den Spritzen, die eben wieder mit ihren Wasserstrahlen einen neuen Angriff versuchten, und gab dort einige Befehle, während Wildenrod, der zugehört hatte, sich an den Oberingenieur wandte. „Was ist’s mit der Radefelder Leitung?“ fragte er hastig.

„Die Leitung ist unmittelbar an die Walzwerke angeschlossen,“ versetzte der Beamte. „Wenn es möglich gewesen wäre, rechtzeitig das große Becken oben auf dem Boden und das Hauptrohr der Zuleitung zu öffnen, so hätte der Brand erstickt werden können. Aber wir konnten uns dort keinen Zugang verschaffen. Das Rohr liegt –“

„Ich weiß,“ unterbrach ihn Wildenrod. „Ich war dabei, als die Leitung angeschlossen und erprobt wurde, und habe mit angesehen, wie man den Zufluß öffnete. Der Zugang ist unmöglich, sagen Sie?“

Der Oberingenieur zuckte die Achseln und deutete auf die Brandstätte. „Jetzt ist er vielleicht eher möglich, unsere Spritzen haben Bahn gemacht, wenigstens für kurze Zeit, aber Herr Dernburg hat recht, der Versuch würde Menschenleben kosten. Wer wagt sich in die glühenden Mauern, die jeden Augenblick einstürzen können? Und wenn es wirklich gelänge, die Leitung zu öffnen und die Wassermassen des Reservoirs dort oben in den Feuerherd zu leiten, wie sollen unsere Leute zurückkommen? Der Dampf erstickt sie, wenn das Wasser losbricht, es kommt keiner lebendig heraus.“

„Es handelt sich nur darum, daß einer lebendig hineinkommt,“ murmelte Oskar, das Auge starr auf den lohenden Brand gerichtet. Der Oberingenieur sah ihn betroffen an, aber bevor er noch zu antworten vermochte, kehrte der Chef zurück. „Uebernehmen Sie das Kommando dort drüben,“ befahl er. „Winning hält es nicht mehr aus.“

Der Beamte eilte fort und Dernburg streifte mit einem finsteren Blick den Freiherrn. „Was wollen Sie hier?“ fragte er in gedämpftem Ton. „Es sind Hände genug da zum Löschen, wir brauchen Ihre Hilfe nicht.“

„Vielleicht doch!“ sagte Wildenrod mit einem seltsamen Lächeln.

Dernburg trat dicht an ihn heran. „Ich habe Sie vor meinen Beamten und Arbeitern nicht preisgeben wollen, jetzt aber sage ich Ihnen, Sie sind hier nicht mehr am Platze, Herr von Wildenrod. Gehen Sie!“

Wildenrod begegnete fest den drohend auf ihn gerichteten Augen, dann sagte er langsam und ernst: „Ich gehe! Grüßen Sie Maja, vielleicht erlauben Sie ihr doch noch – um mich zu weinen!“

Er wandte sich schnell ab und verschwand in dem Gewühl der Hilfeleistenden. –

Es war eine furchtbare Nacht, die Odensberg heute durchlebte. Die vom Sturm gejagten Wolken blutroth gefärbt von den lodernden Flammen, hastig hin und her wogende Menschenmassen, ein brausendes Rufen, Schreie, das Rasseln der Spritzen – es war ein unheimliches Bild.

Da auf einmal erhob sich inmitten der Brandstätte eine mächtige Dampfwolke, die sich immer weiter ausbreitete, und zugleich ließ sich ein eigenthümliches Zischen und Brausen vernehmen. Die Flammen loderten nicht mehr so hoch empor wie vorhin, sie schienen zu sinken, zu flüchten vor irgend einer geheimnißvollen Gewalt, während der Dampf und das Brausen immer stärker wurden. Die Umstehenden konnten sich den Vorgang nicht erklären, alle möglichen Vermuthungen wurden laut, Dernburg fand zuerst die Lösung des Räthsels. „Die Radefelder Leitung ist offen!“ rief er. „Das Wasser ist eingebrochen. Vielleicht ist das Hauptrohr geborsten oder das Feuer hat den Verschluß gesprengt. Gleichviel – es bringt uns Rettung!“

Athemlos folgte alles dem Kampf der beiden feindlichen Elemente, aber bald siegte die Fluth, die offenbar den ganzen Boden überschwemmte, wo das Feuer seine Hauptnahrung gefunden hatte. Es brannte wohl noch an verschiedenen Stellen des Daches, aber das war zu löschen und wurde gelöscht, als das Flammenmeer im Inneren zusammensank. Die Spritzen traten wieder mit voller Kraft in Thätigkeit, und jetzt stürzte auch ein Theil der längst schon wankenden Mauern ein, das Hauptgebäude brach in sich zusammen. Damit war die Gefahr für die Umgebung beseitigt und der Brand auf seinen Herd beschränkt.

„Das war Hilfe in der Noth!“ sagte Dernburg zu den ihn umgebenden Beamten. „Und daß die Leitung gerade im [384] entscheidenden Augenblick losbrach, ist wohl mehr als Zufall gewesen – das Walten einer höheren Hand.“

„Ich fürchte, es war eine Menschenhand!“ entgegnete der Oberingenieur leise.

Dernburg wandte sich betroffen zu ihm. „Was wollen Sie damit sagen?“

„Freiherr von Wildenrod ist nirgends zu finden,“ erklärte der Beamte ernst. „Er sprach vorhin mit mir über die Möglichkeit, die Leitung zu öffnen, und that dabei eine seltsame Aeußerung, die mich erschreckte. Wenige Minuten später sah ich ihn nach jener Richtung eilen und dort verschwinden. Hier hat kein Zufall gewaltet.“

Dernburg erbleichte, jetzt auf einmal wurden ihm Oskars letzte Worte klar und er verstand alles. „Um Gotteswillen!“ fuhr er auf, „dann müssen wir zur Brandstätte dringen, müssen wenigstens versuchen –“

„Unmöglich!“ unterbrach ihn der Direktor. „Unter den glühenden dampfenden Trümmern athmet nichts Lebendes mehr.“

Er hatte nur zu sehr recht, das sah auch Dernburg ein; tieferschüttert legte er die Hand über die Augen. Für ihn gab es hier keinen Zweifel mehr; der Mann, der Odensberg an sich hatte reißen wollen um jeden Preis, er hatte sich geopfert, um Odensberg zu retten! –

Die Arbeiten auf der Brandstätte nahmen noch Stunden in Anspruch. Es galt, das da und dort immer wieder aufflackernde Feuer zu ersticken, die Brandstätte abzuschließen und die immer noch strömende Fluth der Radefelder Leitung abzusperren.

Der Tag war bereits angebrochen, als es endlich möglich wurde, die Leute zu entlassen und nur die zur Bewachung nöthige Mannschaft zurückzubehalten. Sie hatten alle an Muth und Ausdauer das Aeußerste geleistet; nun warteten die Männer, mit den rauchgeschwärzten Gesichtern und triefenden Kleidern, erschöpft von der langen schweren Arbeit, auf ihren Chef. Aller Blicke waren stumm und fragend auf ihn gerichtet, als er jetzt in ihre Mitte trat. Seine Stimme, obgleich voll tiefer Bewegung, war weithin hörbar. „Ich danke Euch, Kinder! Was Ihr in dieser Nacht für mich gethan habt, das werde ich Euch nie vergessen. Ihr habt mir die Niederlegung der Arbeit angekündigt und ich wollte Euch die Wiederaufnahme verbieten. Nun habt Ihr doch gearbeitet für mich und mein Odensberg, und da denke ich“ – er streckte plötzlich einem alten Arbeiter mit eisgrauem Haar, der dicht vor ihm stand, beide Hände entgegen – „wir bleiben nun auch zusammen und arbeiten wieder zusammen wie seit dreißig Jahren!“

Und in dem stürmisch jubelnden Zuruf, der jetzt von allen Seiten laut wurde, ging der Odensberger Ausstand zu Ende.




Mehr als zwei Jahre waren vergangen seit jener Sturmnacht, in welcher der Brand auf den Odensberger Werken gewüthet hatte, aber aus dem Sturm und Brand jener Tage, die alles mit Vernichtung bedroht, hatte sich neues Leben und Schaffen emporgerungen.

Die Ereignisse, die damals den Familienkreis Dernburgs ebenso schwer getroffen hatten wie seine Stellung als Herr von Odensberg, waren allmählich in den Hintergrund getreten, obgleich sie noch lange ihre folgenschweren Wirkungen gezeigt hatten. Am Tage nach dem Brande hatte man die Leiche Oskar von Wildenrods gefunden. Seine heldenmüthige That, an der nicht zu zweifeln war, wurde überall bewundert; nur Dernburg und Egbert wußten und die wenigen sonst Eingeweihten ahnten es, daß ein beflecktes und verlorenes Leben mit diesem freiwilligen Opfertod gesühnt worden war. Für alle anderen blieb das Andenken des Freiherrn rein, der unter den rauschenden Tannen des Odensberger Parkes seine Ruhestätte fand.

Die allgemeine Annahme ging dahin, daß der Brand gelegt worden sei, aber Beweise dafür hatte man nicht gefunden und auch nicht finden wollen. Fallner, auf den eine Spur wies, hatte Deutschland verlassen, um sich der Untersuchung zu entziehen, die ihm wegen des schweren Angriffes auf Runeck bevorstand. Da alle jene Vorfälle in der Oeffentlichkeit nur allzu großes Aufsehen gemacht hatten, so wollte man sie um keinen Preis durch eine Gerichtsverhandlung wieder in den Vordergrund drängen – in diesem Punkte war Dernburg mit den Gegnern einverstanden. Er that das Möglichste, die ganze Sache in Vergessenheit zu bringen, um den neu errungenen Frieden mit seinen Arbeitern nicht durch bittere Erinnerungen und Erörterungen aufs neue zu gefährden.

Runeck hatte vom Krankenbette aus seiner Partei die Erklärung gesandt, daß er sein Mandat niederlege. Auch ohne jene schwere Verwundung, die ihn Wochen hindurch an das Lager fesselte und ihm monatelang jede ernstere Thätigkeit verbot, wäre der Entschluß unvermeidlich gewesen. Das Band zwischen ihm und seinen einstigen Genossen, schon lange nur noch äußerlich vorhanden, war jetzt endgültig zerrissen. Das Ergebniß der Neuwahl war vorauszusehen; es gab nur einen, der dem Herrn von Odensberg den Platz hatte streitig machen können, und dieser eine trat zurück. Aus der Wahlurne ging Eberhard Dernburg mit überwiegender Mehrheit hervor, und diesmal standen auch seine Odensberger zu ihm – die Aussöhnung war vollständig gewesen.

Egbert hatte nach seiner Genesung Odensberg verlassen und war lange fern geblieben. Er wie Dernburg fühlten, daß sich die neue Zukunft, wo sie sich die Hände reichen wollten, nicht so ohne weiteres an die Vergangenheit anknüpfen ließ, daß sich da noch manche innere Wunde schließen mußte, wenn auch die äußere geheilt war. Der junge Ingenieur hatte weite Reisen gemacht und war ein volles Jahr lang in Amerika gewesen, wo es für ihn noch so viel zu sehen und zu lernen gab. Dort hatte er die Studie, die er einst in England begonnen, zum Abschluß gebracht. Als er nun endlich nach Odensberg zurückkehrte, da war das lange Harren zu Ende, da durfte er das Glück umfangen, das ihm einst an der Schwelle des Grabes aufgeblüht war; nach einem kurzen Brautstande fand in aller Stille seine Vermählung mit Cäcilie statt. –

Heute herrschte im Herrenhause eine freudige festliche Bewegung, man erwartete das junge Ehepaar von der Hochzeitsreise zurück, und Frau Doktor Hagenbach, die auch nach ihrer Heirath noch in den alten vertrauten Beziehungen zu dem Dernburgschen Hause stand, ordnete soeben noch einiges für den Empfang. Aus dem kränklichen nervösen und verblühten Mädchen war eine heitere und noch immer anmuthige Frau geworden; Doktor Hagenbach hatte seine ärztliche Autorität auch als Ehemann behauptet, er hatte seiner Frau die verhaßten „Nerven“ vollständig abgewöhnt.

Frau Leonie war eben fertig geworden, als sich die Thüre öffnete und ihr Gatte eintrat. Auch ihm schien der Ehestand ganz gut zu bekommen, denn er sah höchst vergnügt aus und Sprache und Haltung waren vortheilhaft verändert – man sah wohl, er hatte es ernst genommen mit dem „Menschlichwerden“. Er nickte seiner Frau zu und sagte: „Ich komme nur einen Augenblick herauf, Leonie, um Dir zu sagen, daß ich vorher noch einen Krankenbesuch zu machen habe. Es wird aber nicht lange dauern, zum Empfang bin ich jedenfalls wieder da.“

„Sie treffen ja erst gegen zwei Uhr ein“, bemerkte Leonie. „Aber noch eine Frage, lieber Hugo – hast Du Dir die Sache mit Dagobert überlegt?“

Der Doktor zog wieder sein grimmiges Gesicht von ehemals und seine Stimme gewann einen grollenden Ton, als er antwortete: „Da giebt es nichts zu überlegen! Ich werde mich hüten, dem Jungen die dreihundert Mark zu schicken, die er seiner Behauptung nach so nothwendig braucht. Er muß mit dem auskommen, was ich ihm ein für allemal ausgesetzt habe.“

„Aber die Summe ist doch nicht so groß,“ wandte Frau Leonie ein, „und Du hast sonst nicht über Dagobert zu klagen. Er arbeitet fleißig, schreibt uns fleißig –“

„Und schmachtet Dich noch immer fleißig an, in Versen und in Prosa,“ ergänzte Hagenbach. „Na, auf den dummen Jungen braucht ja ein vernünftiger Mensch nicht eifersüchtig zu sein, obgleich er sich unterstand, mir nach Empfang der Verlobungsanzeige zu schreiben, ich hätte ihm einen tödlichen Stoß in das verrathene Herz gegeben. Der Herzensstoß hindert ihn aber nicht, sich bei jeder Gelegenheit hinter seine Frau Tante zu stecken, wenn er etwas von mir, dem Verräther, haben will, und sie nimmt leider immer seine Partei. Diesmal hilft es ihm aber nichts – er bekommt das Geld nicht, und damit Punktum!“

Leonie widersprach nicht, sie lächelte nur mit nachgiebiger Miene und ließ den Gegenstand fallen. „Wir werden heut’ im engsten Kreise sein,“ bemerkte sie. „Nur Graf Eckardstein ist geladen.“

„Hoffentlich bedeutet das, daß wir bald wieder eine Braut im Hause haben und daß in nicht allzu ferner Zeit eine junge Gräfin ihren Einzug in Eckardstein hält.“

Frau Leonie schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich fürchte, das [386] ist noch keineswegs ausgemacht. Herr Dernburg wünscht es ja zweifellos, aber Maja verhält sich noch immer ablehnend. Wer weiß, wie ihre Antwort lautet, wenn der Graf sich wirklich erklärt.“

„Aber sie kann doch nicht ewig um den einstigen Verlobten trauern – sie war ja damals noch ein halbes Kind.“

„Und doch hat sein Tod sie beinahe das Leben gekostet!“

„Ja, das war eine schöne Zeit!“ sagte Hagenbach mit einem Seufzer. „Auf der einen Seite Egbert, der wochenlang zwischen Leben und Tod schwebte, auf der anderen Fräulein Maja, die gleichfalls Anstalt zum Sterben machte, und dazwischen Frau Cäcilie, die mir eines Tages, als es dem Runeck gerade recht schlecht ging, in aller Seelenruhe erklärte, wenn es mir nicht gelänge, ihren Egbert zu retten, dann wolle auch sie nicht mehr leben. Einen lustigen Brautstand haben wir beide gerade nicht dabei gehabt – Gott sei Dank, daß die Ehe besser geworden ist! Doch ich muß fort! Ich gehe erst noch einmal nach Hause, hast Du etwas zu bestellen?“

„Eine Kleinigkeit: Du wolltest ja den Kutscher zur Bahn schicken – da kann er den Brief und die Postanweisung gleich mitnehmen.“

„Welche Postanweisung?“ fragte der Doktor mißtrauisch.

„Nun, die dreihundert Mark für Dagobert. Ich habe die Anweisung schon ausgefüllt, sie liegt auf Deinem Schreibtisch, Du brauchst nur das Geld herauszugeben, lieber Hugo.“

„Leonie, was fällt Dir denn ein?“ fuhr Hagenbach gereizt auf. „Ich habe Dir doch gesagt und sage es noch einmal –“

Er kam aber nicht dazu, es noch einmal zu sagen, denn seine Frau unterbrach ihn: „Ich weiß, Hugo, Du stellst Dich bisweilen hart und bist doch die Herzensgüte selbst. Du hast ja längst beschlossen, dem armen Jungen das Geld zu schicken –“

„Ich denke nicht daran!“ rief der Doktor wüthend.

„Doch, Du denkst daran,“ versicherte Frau Doktor Hagenbach mit einer Bestimmtheit, gegen die sich schlechterdings nichts einwenden ließ. „Du fürchtest nur, Deiner Autorität etwas zu vergeben, und da hast Du recht wie immer. Deshalb habe ich es Dir abgenommen und an Dagobert geschrieben. Es geschah einzig um Deinetwillen, das siehst Du doch ein, lieber Hugo.“

Der „liebe Hugo“ hatte in seiner Ehe schon manches einsehen lernen. Er hörte zwar nie einen Widerspruch und es geschah alles ausschließlich nach seinem Willen, das sagte ihm seine Frau täglich, und er glaubte es auch meistens, in Odensberg aber war man anderer Meinung. Da wurde mit aller Entschiedenheit behauptet, daß die Frau Doktor das Regiment im Hause führe. Und jedenfalls wurde die Postanweisung mit den dreihundert Mark noch im Laufe der nächsten Stunde abgesendet. –

Im Salon saß Maja Dernburg allein am Fenster; zu ihren Füßen lag Puck; er war gesetzt und verständig geworden und hatte seine Neigung, Menschen, welche karrierte Beinkleider trugen, hinterrücks zu überfallen, gänzlich abgelegt. Freilich wurde er auch nicht mehr so viel geneckt wie früher, seine junge Herrin streichelte und liebkoste ihn wohl noch, aber das lustige Spiel, das sie sonst mit ihm getrieben, hatte längst aufgehört, schon seit Jahren. Sie war überhaupt nicht mehr die „kleine Maja“, das kindlich reizende Geschöpf mit dem lachenden Uebermuth und den sonnigen Augen. Wohl hatte sich die schlanke weißgekleidete Mädchengestalt dort am Fenster zum vollsten Liebreiz entwickelt, aber aus dem lachenden Kinde war eine stille Jungfrau geworden, und in den braunen Augen lag es wie tiefe schwere Schatten, wie ein noch immer nicht überwundenes Weh.

Es war still ringsum und Maja blickte träumerisch hinaus in den hellen Sommertag, als ihr Vater eintrat. Sein Haar war weiß geworden in den letzten Jahren, sonst aber war er noch immer die alte ungebeugte Erscheinung.

„Hältst Du schon Ausschau nach dem Wagen?“ fragte er.

„Nein, Papa, dazu ist es noch zu früh,“ entgegnete das junge Mädchen. „Egbert und Cäcilie können vor einer Stunde nicht hier sein, aber da wir fertig sind mit allen Anstalten zu ihrem Empfang –“

„Um so besser, dann werden wir noch eine Stunde für unseren Gast allein haben. Eckardstein ist schon da – drüben in meinem Arbeitszimmer.“

„So? Weshalb ist er denn nicht mit Dir gekommen?“

„Weil er es für nothwendig hielt, mich als Parlamentär vorauszuschicken. Wir haben eine lange und ernste Unterredung miteinander gehabt – soll ich Dir den Inhalt derselben erst noch mittheilen oder erräthst Du ihn?“

Maja hatte sich erhoben; sie war bleich geworden, während ihre Augen sich bittend auf den Vater richteten. „Papa – konntest Du mir das nicht ersparen?“

„Nein, mein Kind,“ sagte Dernburg ernst. „Viktor ist entschlossen, sich diesmal die Entscheidung zu holen, und Du wirst seiner Erklärung stand halten müssen. Er bat mich um meine Fürsprache, und ich habe sie ihm zugesagt, denn ich habe da noch ein Unrecht von früher her gut zu machen. Er warb schon damals vor drei Jahren um Dich, wenn es auch nicht bis zum offen ausgesprochenen Antrag kam; ich sah in dieser Werbung des vermögenslosen jungen Offiziers nur eine Berechnung und ließ ihn das sehr bitter fühlen. Er hat aber bewiesen, daß seine Liebe echt und treu ist, und ich würde gern, sehr gern das Glück meiner Maja in seine Hände legen.“

„Ich möchte bei Dir bleiben, Papa,“ flüsterte das junge Mädchen, sich fast angstvoll an seine Brust schmiegend. „Willst Du mich denn nicht behalten?“

„Mein Kind, getrennt werden wir ja auch nicht, wenn Du Viktors Gattin wirst. Du weißt es am besten, was ihn bisher von Eckardstein ferngehalten hat; Dein Jawort würde ihn sofort bestimmen, den Abschied zu nehmen und sich in Zukunft seinen Gütern zu widmen. Dann bleiben wir beisammen, Eckardstein liegt ja so nahe.“

„Ich kann nicht!“ rief Maja heftig, indem sie sich emporrichtete. „Oskar hat mich im Leben unlöslich an sich gekettet, er läßt mich auch im Tode nicht frei! Wie oft ist mir das Herz schwer geworden, wenn ich in Viktors bittende Augen blickte und diese stumme Bitte nicht verstehen durfte, aber ich kann nicht glücklich sein an der Seite eines anderen!“

„Es ist nur wenigen bestimmt, glücklich zu sein,“ sagte Dernburg mit schwerem Nachdruck, „doch die Pflicht, glücklich zu machen, wo das in unsere Hand gegeben ist, die Pflicht haben wir alle. Viktor weiß, was geschehen ist, er fordert von Dir nicht jene leidenschaftliche Liebe, die Dich an Oskar band, er würde sie vielleicht nicht einmal verstehen. Aber Du bist ihm nothwendig zu seinem Glück, und seine treue ehrliche Zuneigung ist es wohl werth, daß Du Dich um seinetwillen losmachst von jenen Erinnerungen. Du hast volle Freiheit, Maja – nur das eine bedenke: wer überhaupt leben will, der muß auch für andere leben!“

Das junge Mädchen antwortete nicht, ein paar schwere Thränen rollten langsam aus ihren Augen; die ernste Mahnung war nicht wirkungslos geblieben.

„Nun, was soll ich dem Grafen sagen?“ fragte Dernburg nach einer Pause.

Maja preßte beide Hände gegen die Brust, als wollte sie ein dort aufsteigendes Weh niederkämpfen, dann senkte sie das Haupt und erwiderte fast unhörbar: „Sage ihm – daß ich ihn erwarte!“

Da fühlte sie die Lippen des Vaters auf ihrer Stirn, und sie in die Arme schließend, sagte er in tiefer Bewegung: „Recht so, mein armes – mein tapferes Kind!“

Fünf Minuten später trat Viktor Eckardstein ein, fast unverändert in seiner äußeren Erscheinung, nur ernster, männlicher in seinen Zügen. Jetzt freilich zeigte sein ganzes Wesen nur Erregung und Unruhe.

„Ihr Herr Papa sagte mir, daß ich Sie allein finden würde, Maja,“ hob er an. „Ich möchte Ihnen so manches, so vieles anvertrauen und weiß doch nicht, ob Sie es hören wollen.“

Maja stand mit gesenkten Augen da; eine leise Röthe begann in ihrem Gesicht aufzusteigen, als sie wortlos bejahend das Haupt neigte.

Der Graf schien doch irgend ein anderes Zeichen der Ermuthigung erwartet zu haben, seine Stimme gewann einen leisen Anflug von Bitterkeit, als er fortfuhr: „Es ist mir schwer genug geworden, mit meinen Bitten und Wünschen erst einem anderen zu nahen, und wenn es auch Ihr Vater war. Aber Sie haben sich mir immer so fern gehalten, Maja, haben mir so wenig Hoffnung gegeben, daß ich es nicht wagte, die Frage, an der mein Lebensglück hängt, zuerst an Sie zu richten. Ich fühle nur zu sehr, daß ich hier einen Fürsprecher brauchte.“

„Ich wollte Ihnen nicht wehe thun, Viktor, gewiß nicht,“ versicherte Maja. und streckte ihm mit der alten kindlichen Vertraulichkeit die Hand hin, die er fest im die seinige schloß.

[387] „Und Sie haben mir doch wehe genug gethan mit jener stetigen stummen Abweisung,“ sagte er vorwurfsvoll. „O, von der Stunde an, in der ich damals im Waldhäuschen das ‚Wichtel‘ fand, seit jenem Augenblick, wo aus der grauen Hülle das süße Gesichtchen meiner Jugendgespielin auftauchte, wußte ich, wo das Glück meines Lebens lag. Darf ich nun endlich sprechen? Maja, ich liebe Dich über alles, ich kann nicht leben ohne Dich!“

Es waren keine glühenden stürmischen Liebesworte, wie sie das junge Mädchen einst von den Lippen eines anderen gehört hatte, aber aus ihnen sprach warme, innige Zärtlichkeit und Maja hätte kein Weib sein müssen, wäre sie dieser festen treuen Liebe gegenüber gleichgültig geblieben.

„Du willst es, Viktor – so nimm mich hin!“ sagte sie leise. „Ich bin Dir ja gut gewesen seit meinen Kinderjahren!“

Mit einem jubelnden Ausruf schloß Viktor sie an seine Brust, zur höchsten Verwunderung Pucks, der den beiden zusah und sich die Sache offenbar nicht recht erklären konnte.

Die Verlobung, die nun auch dem Vater angekündigt wurde, nahm begreiflicherweise alle Bewohner des Herrenhauses so in Anspruch, daß man nicht mehr daran dachte, Ausschau nach dem Wagen zu halten, der jetzt drüben auf der Waldhöhe erschien. Der Weg führte noch eine Strecke auf dieser Höhe hin, ehe er sich ins Thal hinabsenkte. Da lag Odensberg, diese mächtige Stätte der Arbeit, inmitten seiner grünen Tannenberge. Die Walzwerke waren längst wieder aus der Asche emporgestiegen, umfangreicher noch als früher, und neue Anlagen anderer Art hatten sich ihnen zugesellt, denn auf den Dernburgschen Werken gab es keinen Stillstand, sie breiteten sich mit jedem Jahre weiter aus.

Die junge Frau in dem einfachen grauen Reiseanzuge beugte sich aus dem offenen Wagen und blickte hinüber, wo halb versteckt hinter den Bäumen des Parkes das Herrenhaus sichtbar wurde. Cäcilie war immer ein schönes Mädchen gewesen, aber die Frau in der vollen Entfaltung jenes eigenartigen Reizes, der ihr von jeher die Herzen gewonnen hatte, war fast noch schöner. Es konnte freilich keinen größeren Gegensatz geben als diese zarte, noch immer etwas fremdartige Erscheinung und den Mann, der an ihrer Seite saß. Das war noch ganz der alte Egbert Runeck, in seiner herben trotzigen Kraft, die bereit schien, den Kampf mit der ganzen Welt aufzunehmen und durchzufechten. Nur die grauen Augen unter der breiten wuchtigen Stirn hatten einen anderen Ausdruck als früher; ein warmer heller Schimmer lag darin, und es war nicht schwer zu errathen, woher dies Leuchten stammte.

„Dort liegt unsere Heimath, Cäcilie!“ sagte Runeck, indem er auf das Thal deutete. „Du freilich hast Odensberg nie geliebt – wirst Du es da ohne Ueberwindung ertragen, dauernd hier zu leben?“

„Wenn ich bei Dir bin! – Und das fragst Du noch?“ entgegnete die junge Frau mit leisem Vorwurf.

„Ja, bei mir, Deinem starren Egbert, der nicht einmal immer Zeit haben wird für Dich, wenn er erst wieder mitten in der Arbeit steht. Auf unserer Hochzeitsreise – da gehörte ich nur Dir allein, da konnten wir einen Märchentraum träumen, aber jetzt kommen die ernsten Arbeitstage mit ihren Pflichten und Sorgen und sie werden mich oft genug von Deiner Seite rufen. Wirst Du das auch verstehen, Cäcilie? Du hast dem allem bisher so fern gestanden!“

Er blickte mit einer gewissen Unruhe auf seine Gattin, aber er begegnete einem hellen frohen Aufleuchten ihrer Augen. „Nun, dann werde ich es wohl lernen müssen, Deine Sorgen und Pflichten zu theilen. Willst Du es mich lehren, Egbert? Aber was weißt Du denn von Märchenträumen, Du Mann der grausamen Wirklichkeit? Wo hast Du sie kennengelernt?“

Runecks Auge schweifte über die Waldberge, bis zu der fernen einsam aufragenden Felswand, von deren Gipfel im hellen Sonnenschein ein Kreuz herübergrüßte, das Wahrzeichen des Albensteins. „Dort oben,“ sagte er leise, „als der Wald um uns brauste und der Glockenruf aus der Tiefe emporstieg, O, es war eine schwere Stunde – eine furchtbare für Dich, mein armes Weib. Ich mußte Dich erbarmungslos aufschrecken aus Deinem ahnungslosen Glück und die bunte glänzende Welt, in der Du bisher gelebt hattest, in Trümmer schlagen, um Dir den Abgrund zu zeigen, an dem Du standest.“

„Schilt die Stunde nicht!“ bat Cäcilie, sich an ihn schmiegend. „Da bin ich aufgewacht, da habe ich sehen und denken lernen. Weißt Du, Egbert,“ – ein neckisches Lächeln verdrängte den Ernst in ihren Zügen – „ich habe dabei immer an die alte Sage von der Springwurzel denken müssen, die den Felsen spaltet, in dem die versunkenen Schätze ruhen. Du hast mir damals so hart und mitleidslos zugerufen: ‚Die Tiefe ist leer und tot, es giebt keine versunkenen Schätze mehr!‘ Und nun –“

„Nun bin ich selbst zum Schatzgräber geworden!“ ergänzte Egbert, indem er sich niederbeugte und in die dunklen feuchtschimmernden Augen seiner Frau blickte. „Du hast recht, in der Stunde gewann ich Dich trotzalledem.

Ich hob aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist mein!“ –

Es war einige Stunden später, der Empfang und die Begrüßung im Herrenhause waren vorüber, und während Cäcilie noch im Salon mit Maja und dem Grafen Eckardstein plauderte, trat Dernburg mit Runeck auf die Terrasse hinaus.

„Es war Zeit, daß Du kamst, Egbert,“ sagte er. „Der Direktor ist bei seiner jetzigen Kränklichkeit der Stellung nicht mehr gewachsen; er wollte schon vor Monaten seine Entlassung nehmen und hat sich nur bestimmen lassen, zu bleiben, bis Du an seine Stelle treten und die Leitung der Werke übernehmen könntest. Ich bin auch sehr froh, Cäcilie wieder im Hause zu haben, denn Maja werde ich nicht lange mehr behalten, Viktor spricht schon von der Hochzeit, er ist ganz berauscht von seinem Glück.“

„Aber Maja selbst zeigt noch nicht viel von bräutlichem Glück,“ warf Egbert ein. „Hat sie ihr Jawort gern gegeben?“

„Nein, gern nicht, aber doch aus freiem Willen. Und nun dies Wort einmal gegeben ist, wird es auch den düsteren Schatten verjagen, den Oskars Liebe und sein Tod über ihr Leben geworfen hat. Jetzt steht eine Pflicht zwischen ihr und jener Erinnerung, jetzt wird sie überwinden.“

„Und Graf Viktor wird ihr das leicht machen!“ ergänzte Egbert.

„Davon bin ich überzeugt. Er ist ja keine groß angelegte Natur wie“ – Dernburg streifte mit einem Seitenblick seinen Pflegesohn – „wie ein gewisser anderer, den ich eigentlich für Maja in Aussicht genommen hatte, aber dieser andere ist leider immer seinen eigenen Weg gegangen und seinem eigenen Starrkopf gefolgt, und so hat er es auch in der Liebe gemacht.“

„Du hast bisher nicht viel Freude gehabt an Deinem Sohn,“ sagte Egbert, mühsam seine tiefe Bewegung unterdrückend, „er hat sogar im offenen Kampfe gegen Dich gestanden; aber glaube es mir, Vater, ich habe am schwersten darunter gelitten, und jetzt gehört meine ganze Kraft Dir und Deinem Odensberg.“

„Wir können sie brauchen,“ erklärte Dernburg. „Ich fühle doch bisweilen das Alter und das Versagen meiner Kraft – wer weiß, wie lange sie noch ausreicht! Einstweilen trittst Du an meine Seite, und da denke ich, werden wir auf dem Boden gemeinsamer Arbeit den Ausgleich finden für alles, was noch trennend zwischen uns liegt. Wir haben ja darüber gesprochen, als Du aus Amerika zurückkehrtest.“

Egberts Auge begegnete voll und klar dem des Sprechenden. „Ja, und ich glaubte Dir die volle Wahrheit schuldig zu sein, als Du mich zur Leitung Deiner Werke beriefest. Von meiner einstigen Partei habe ich mich losgesagt für immer, aber nicht von dem, was Großes und Wahres in jener Bewegung liegt. Das bleibt für mich bestehen. Das werde ich vertreten und dafür werde ich kämpfen mein Leben lang.“

„Ich weiß es“, sagte Dernburg, ihm die Hand hinstreckend. „Aber auch ich habe gelernt in jenen schweren Tagen. Ich bin nicht mehr der alte Eisenkopf, der meint, er könne sich allein einer neuen Zeit entgegenstemmen. Freilich kann ich dieser neuen Zeit nicht mit offenen Armen entgegengehen; ich habe ein ganzes Menschenleben hindurch auf anderem Boden gestanden und kann mir nicht selbst untreu werden. Aber ich kann eine junge frische Kraft an meine Seite rufen, die emporgewachsen ist in der Gegenwart. Wenn ich dereinst Odensberg ganz in Deine Hände lege, dann Egbert führe Du die neue Zeit herauf, ich will es nicht hindern! Bis dahin aber für uns alle: Freie Bahn!“