Textdaten
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Autor: Friedrich Nüsperli
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Titel: Vom Vater Zschokke
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40 und 41, S. 628–631, 646–648
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[628]
Vom Vater Zschokke.
Von Friedrich Nüsperli.[1]

Wer den Rheinstrom bei Schaffhausen mit Donnerrollen über die Felsen herunterstürzen, oder von der Pfalz zu Basel hinab in sanftem Dahingleiten die liebe Schweiz verlassen, oder im Rheingau sich zwischen herrlichen Weinbergen hindurchwinden sieht, mag wohl in seinem Herzen den lauten Wunsch aufkommen fühlen, den Mächtigen auch einmal daheim, im hohen Rhätien, an seinen Quellen besuchen und beobachten zu können.

So geht es uns auch gegenüber großen Männern, deren Namen uns die Geschichte in auffallenden Schriftzügen vorführt, deren Werke wir im Leben wirksam sehen, deren Schriften wir lesen, die sie schrieben, unsere Kenntnisse zu erweitern, zu läutern und zu befestigen und unser Gemüth zu erfrischen, zu bessern und zu veredeln. Es zieht uns eine natürliche Sehnsucht hin zu diesen Männern, Zeugen zu werden, wie sie an ihrem eigenen Heerde, im Kreise der Familie schalten und walten.

Die Hand, die in diesen Zeilen Erinnerungen an Vater Heinrich Zschokke, den berühmten Verfasser der „Stunden der Andacht“, „des Schweizerlandes Geschichte“, der vielgelesenen Novellen und Erzählungen u. a. m., aufzuzeichnen unternommen, will den Leser in Zschokke’s Heimath, in das Innere seines Hauses, in seine allernächste Umgebung bringen. Sie möchte, diese Hand, zu solcher Führung wohl vor anderen geeignet sein, weil sie selber geleitet worden ist durch den gefeierten Dahingegangenen von den ersten Kinderjahren an bis in’s reifere Mannesalter, da Zschokke’s Gattin dem Verfasser dieser Zeilen nahe Blutsverwandte und Pathin war und zwischen Heinrich Zschokke und ihm ein Band bestanden hat, innig, wie zwischen Vater und Sohn.

Bekanntlich war Zschokke als Statthalter nach Basel berufen worden; damit wurde er dem Familienkreise näher gerückt, in den er bald aufgenommen werden sollte.

Am linken Ufer der Aare, eine halbe Stunde von Aarau entfernt, erhebt sich ein mäßiger Hügel, bepflanzt mit Obstbäumen, Weinreben und Wald, der Kirchberg genannt. Auf dem östlichen Ende des Bergrückens steht, mit ausgezeichneter Aussicht auf die Ebenen und Hügel des Aargau, auf den Jura und eine lange Kette des Alpengebirges, einsam die Kirche nebst Pfarrhaus, eine Viertelstunde noch weiter östlich, hart am Ufer der Aare, aber liegen Schloß und Dörfchen Biberstein, nach Kirchberg pfarrgenössig.

[629]

Zschokke im Garten seines Landhauses „Blumenhalde“.

Auf Kirchberg wohnte mit seiner Familie der Pfarrer Jacob Nüsperli von Aarau, Mitglied des aargauischen Cantonsschulrathes, ein Mann voll klaren Blickes in das Wesen der Christuslehre, voll Begeisterung für die Staatsgrundsätze der Neuzeit, für das Aufblühen der Volksschulen und ein treubesorgter Vater seiner vier Kinder, eines Sohnes, und dreier Töchter, bei deren Erziehung er die einfache Lebensweise der guten alten Zeit und die neuen Grundsätze der Bildung in Einklang zu bringen suchte. Seine älteste Tochter, Nettli, geboren den 3. September 1785, war eine eben aufblühende, jungfräuliche Rose, ebenso klug und liebenswürdig, wie aufopfernd und muthvoll. Wagte sie es doch einst, in jenen Zeiten der Verwirrung, einem tobenden und auf den „Franzosen zu Kirchberg“ (so nannte man damals den Pfarrer) schimpfenden Haufen von bewaffneten Bauern vor das Haus entgegenzutreten und die Thür, damit der Vater nicht gefährdet werde, hinter sich schließen zu [630] lassen, um die Lärmer in jungfräulicher Hoheit, mit freundlichen Worten und dargereichten Erfrischungen zu besänftigen.

Mit seiner Nettli machte sich der Pfarrer einst auf den Weg nach Basel, denn es brannte sein Herz, bei dem dortigen Statthalter, für dessen Schriften und Thaten er sich ergriffen fühlte, um eine Unterredung nachzusuchen. Während der Vater seinen Geschäften oblag, weilte die Tochter im Kreise einer befreundeten Familie. Auf einmal ertönte durchs Haus der Ruf: „Unser Statthalter! er reitet vorüber!“ Die Tochter des Hauses öffnete die Fenster und zog das fremde Mädchen heran, damit dessen früher geäußerter Wunsch, Zschokke sehen zu können, erfüllt werden möchte. Hier trafen die Blicke von Jüngling und Jungfrau sich zum ersten Mal, denn auch Zschokke hob, vom Geräusch des Fensteröffnens aufmerksam gemacht, seine Augen empor. Aus der Art, wie später Frau Zschokke die Erzählung dieses ersten Zusammentreffens oft wiederholte, konnte man entnehmen, daß dasselbe auf das Herz derselben einen tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, während der junge Mann, welcher grüßend zu den Frauen emporblickte, das „Unschuldsgesicht einer jugendlichen Gestalt“ wahrnahm und sich mit seinem kriegerischen Geleite über die Eine, die indeß keiner kannte und die gewiß eine Fremde sein mußte, in ein Gespräch einließ, aber nachher bekennen mußte: „der Genuß des Augenblickes sei, wie mancher andere, verschwunden und vergessen worden.“

Im Frühling des Jahres war es, als die Pfarrerstochter aus einem Concert von Aarau ihrer Heimath zuwanderte, im Herzen bewegt, denn es hatte der frühere Statthalter von Basel, der sie dort einst gegrüßt, sich unter den im Concert Anwesenden befunden. Als sie eben zwischen den Brücken war (die Aare floß früher in zwei Armen an Aarau vorüber, so daß man, um nach Kirchberg zu gelangen, zwei Brücken zu überschreiten hatte), hörte sie eilige Schritte hinter sich ihr näher kommen, und siehe – Zschokke war’s, der ihr nachgeeilt, um sie zu bitten, ihrem Vater seinen baldigen Gegenbesuch anzukündigen.

Nettli hatte auch in Aarau einen tiefen Eindruck auf den Mann gemacht, ohne daß ihm bewußt war, daß sie das nämliche Mädchen sei, nach dessen Namen er sich in Basel vergebens erkundigt hatte. Wie konnte es anders sein, als daß die Herzen sich bald entgegenschlugen, namentlich als Zschokke das nahe Schloß Biberstein zu seinem Aufenthalte wählte und den Besuch im Pfarrhause oft wiederholte, angezogen von dem ruhigen Ernst des Vaters, der damals mit Meier die Gründung der Cantonsschule betrieb und später Pflanzer der Baumschule wurde, angezogen von dem lebbaften und durchdringenden Geist der Mutter, von der Schönheit, häuslichen Einfachheit und schmucklosen Geschäftigkeit Nettli’s und von den noch im Kindesalter stehenden beiden jüngern Schwestern.

Zschokke brachte in die Familie des Pfarrers ein neues Gemüths- und Geistesleben, war Allen Alles: dem Einen begeisterter Theilnehmer an Entwürfen zur Beglückung des Nächsten, dem Andern Kampfgenosse in Witz und Laune, dem Dritten der im Stillen des Herzens geliebte Jüngling, den Kindern unermüdlicher Spielgenosse. Seinem geliebten Mädchen zu Kirchberg gegenüber aber reifte in ihm das Gelübde: „Diese, oder nie eine, zur Gefährtin des Lebens!“ Doch wollte er die Auserwählte weder zur Genossin von Schicksalen machen, die seiner noch in den fortdauernden Stürmen der Staatsumwälzungen warten mochten, noch den Frieden eines unerfahrenen Herzens leichtsinnig mit Hoffnungen stören, welche vielleicht unerfüllt bleiben mußten! Als aber durch die Vermittlungsurkunde Napoleon’s (März 1803) Ruhe in die Schweiz gekommen, als Zschokke Bürger des Aargau (August 1804) und Mitglied des Oberforst- und Bergamtes geworden war (das Buch „der Gebirgsförster“ entstand damals), bewarb er sich um die Hand der Pfarrerstochter und verband sich mit Nettli, die nach des Mannes Wunsch von nun an Nanny hieß, am 25. Februar 1805, vom Schwiegervater getraut.

Groß ist die Zahl der anmuthigen kleinen Erzählungen aus der Bräutigamszeit und den ersten Jahren von Zschokke’s Ehe. Am Hochzeitstage selber wollte er durchaus, daß seine Braut ihn in ihrem Ehrenschmucke, dem Hauskleid nämlich, zur Kirche begleite. Begreiflicherweise wäre für die ganze Frauenwelt im Hause das keine Hochzeit gewesen, und er mußte nachgeben. Dagegen willigte man ein, daß das jüngste Familienglied, damals ein munterer Knabe von anderthalb Jahren, auch mit dabei sei, und der überglückliche Bräutigam freute sich inniglich, als der kleine Schreihals in fröhlicher Laune die Anwesenden in der Kirche mit ihren Namen anrief. Während des Hochzeitsmahles, das, wie nachmals bei allen jüngern Kindern[2] des Hauses, im Pfarrhof selber stattfand, meldete sich ein bejahrter Landmann in althergebrachten, gefältelten Schweizerhosen und Dreispitz und fragte nach dem „Herrn Schwyzerpott“. Die Mutter der Braut, in der Küche beschäftigt, wollte ihn abweisen: der Schweizerbote habe heute keine Zeit zu Geschäften. Da der Alte jedoch große Dringlichkeit vorgab und endlich dem Gesuchten vorgeführt wurde, übergab er demselben jenes allbekannte Lied: „An den aufrichtigen und wohl erfahrnen Schweizerboten zu seinem Hochzeitstage!“ das uns noch jetzt in Hebel’s alemannischen Gedichten so lieblich anspricht. Unter einem Strom von Freudenthränen trug dann dasselbe der Bräutigam im Kreise der Seinen vor.

In den ersten Stunden alleinigen Beisammenseins schloß Zschokke mit dem jungen Weibchen einen Ehevertrag bessern Werthes, als jener gewöhnlich, in welchem man sich gegenseitig um Geldsummen und Aussteuern oder Wittwengehalte vergleicht. Sie kamen nämlich überein in den Grundsätzen, nach denen sie ihre Ehe führen wollten. Was aber damals erst noch gute Grundsätze sein konnten, erhärtete mit den Jahren zu guten Grundgewohnheiten. Sie lauteten: „Wir werden Beide miteinander glücklich sein, so lange wir leben auf Erden; aber wir müssen ein dreifaches Gelübde thun: Von heute an lebe Du für mich und ich lebe für Dich. Wir wollen nie vor einander das geringste Geheimniß haben und, selbst wenn wir gefehlt hätten, es uns einander sogleich offenbaren; dann aber wollen wir unsere häuslichen Sachen Niemandem sagen, damit sich Niemand zwischen uns dränge. Endlich wollen wir niemals gegen einander böse werden und nicht einmal zum Scherz mit einander böse thun, denn aus Neckerei wird oft Ernst und, was man zuweilen thut, daran gewöhnt man sich leicht.“

So begann eine Ehe, die, bis der Tod sie nach vielen Jahren trennte, eine der musterhaftesten und glücklichsten des Landes wurde.

Wie Zschokke vom frühen Morgen an seinen Geschäften unausgesetzt oblag, so mußte es auch bei seiner Frau und den Dienstboten (damals war’s ein Geschwisterpaar, Sämi und Meili), später bei den Kindern sein. So sahen sich Sämi und Meili einst mit großen Augen an, nachdem ihnen der „Herr“ befohlen, sie sollten alle Steine des Gartens zusammenlesen und in eine Ecke schaffen, als das geschehen war, in eine zweite, in die dritte, vierte und endlich wieder zurück in die erste. Die jungen Leute begriffen nicht, daß es ihrem Herrn, bei Mangel an anderweitiger Beschäftigung, daran lag, sie nicht müßig zu sehen. Zu einem Besuch wollte die junge Frau sich in einen Rock mit einer Schleppe kleiden, wie sie damals getragen wurden. Der Mann, dem Einfachheit und Natürlichkeit im Benehmen, in Hausgeräthe, Nahrung und Kleidung über Alles ging, bat seine Nanny, das nicht thun zu wollen. Das Weibchen legte sich auf’s Bitten, dann rannen Thränen hervor; endlich versuchte sie’s mit Trotzen. Da ergriff der Mann ganz ruhig eine Scheere und schnitt vom Rocke, der auf dem Tische lag, weg, so viel er für überflüssig ansah. So gab er seiner Nanny in den ersten Wochen der Ehe zu verstehen, daß er nicht mit sich spaßen lasse, und wiederholt waren wir Zeuge, wie die Ehegatten auch später und wiederbolt jene ruhige Festigkeit des männlichen Willens als Grundstein ungetrübter Eintracht bis an’s Lebensende segneten.

Einst stand der junge Gatte mit seiner Nanny auf den Zinnen des Schlosses Biberstein, hoch über dem Ufer der Aare. Sie, noch neu in häuslichen Sorgen, war in Jammer aufgelöst, denn sie hatte den letzten Thaler des Hauses in der Tasche.

„Wo ist der?“ fragte Zschokke lächelnd, ergriff das dargereichte Silberstück und schleuderte es weit hinaus in die Fluthen des vorüberfließenden Stromes, um anzudeuten, wie wenig ihm an Geld und irdischem Gute gelegen, wie leicht er auch Zeiten des Mangels, voll Gottvertrauen und dem Kummer um Zeitliches das Herz verschließend, ertragen könne. „Jener weggeworfene Thaler,“ bekannte nachmals Frau Zschokke oft, „hat uns in unserer Ehe reichliche Zinsen getragen.“

Zschokke, der für das Komische ein offenes Herz hatte, fand inniges Ergötzen an den Reimereien seines Bibersteiner Schusters, [631] die derselbe seinen Kunden, auf die Sohle geschrieben, vorführte; oder an dem Schloßschaffner, wenn dieser ihm herzlich dankend entgegenhinkte, unter stetem Aechzen über die Schmerzen an den Füßen, die Zschokke mit Bürsten gerieben, um den vom Blitzstrahl getroffenen Mann den Armen des Todes wieder zu entreißen; oder an dem Staunen seiner kleinen Schwägerinnen, als er den Ring einer derselben in das Pistol lud und es abschoß und jener sich dann, mit einer seidenen Schleife geziert, am Halse der Eigenthümerin wieder vorfand; oder an seinem Sämi, wenn er ihn auf seine Reisen mitnahm und dieser sich dazu herausgeputzt hatte, während der Herr im abgetragenen grünen Kleide erschien, wenn dann in den Gasthäusern und Sennhütten des Gebirges der Diener für den Herrn genommen wurde und daran lustige Mißverständnisse und Abenteuer sich anknüpften. Nebenbei sei bemerkt, daß Zschokke die Leitung der Dienstboten ganz seiner Frau überließ. Durch diese machte er ihnen die Bedingungen der Aufnahme in’s Haus bekannt, wobei namentlich besonderer Nachdruck auf Wahrhaftigkeit gelegt wurde. Jede im Hause dienende Person wußte, daß eine Lüge unnachsichtlich die Entlassung zur Folge haben würde. Im Uebrigen war Zschokke den Dienstboten gegenüber nichts Weiteres, als ein freundlicher Hausgenosse. In der Regel weilten Knecht und Magd lange Jahre im Hause.

Auf Antrieb von Pater Rudolf Meier in Aarau, der neben Pfarrer Nüsperli einer der thätigsten Gründer der Cantonsschule war und als begüterter Mann auch in anderer Richtung für gemeinnützige Werke große Opfer brachte, begann Zschokke zu Biberstein von Neuem die Herausgabe des Schweizerboten und verband sich zu diesem Behufe (im Jahre 1804) mit Buchdrucker und Buchhändler Heinrich Remigius Sauerländer, der damals von Basel nach Aarau übersiedelte und von nun an ihm Freund und Kampfgenosse wurde für Freiheit und Recht. Drei eheliche Bande knüpften in spätern Zeiten Kinder und Enkel der beiden Familien aneinander.

An den Schweizerboten, dieses Zeitungsblatt, das auf die Sittengeschichte und den Entwickelungsgang der Schweiz so unendlich großen und nachhaltigen Einfluß geübt, schloß sich dann auch des Schweizerboten Kalender an.

„Gott, Schöpfer alles Beseligenden“, gab dem Schweizerboten, wie Hebel im Hochzeitsliede geweissagt, in Jahresfrist „ein goldig Büeble“ und „die ungeahnten Freuden des Vaters im Anblick des erstgebornen Sohnes“. Theodor war’s, nunmehr Arzt und Lehrer der Naturgeschichte an der Cantonsschule zu Aarau. Ihm folgte Emil, jetzt Pfarrer ebenda, und so kam ein Knabe nach dem andern, bis das Dutzend voll war. Den Schluß bildete, als dreizehntes Kind, ein Töchterlein, Cölestine, nunmehr Frau Sauerländer in Frankfurt.

Im Aargau dürfen Taufen nur in der Kirche stattfinden; in der Stadt Aarau werden sie in einer sonntäglichen Abendstunde vorgenommen. Den gottesdienstlichen Handlungen wohnen in der Regel nur die Pathen und nächsten Anverwandten des Kindes bei. Aus dem Hause Zschokke war jeweilen auch die Mutter des Täuflings dabei. Als nun nach zwölf „Buben“ das Dreizehnte, ein Mädchen, getauft werden sollte, schlossen sich dem Taufzuge eine große Zahl von Schülern, Freunden und Verehrern des Vaters an, um dem Elternpaar die allgemeine Freude an dem seltenen Familiensegen zu bekunden.

Von den zwölf Söhnen gingen dem Vater zwei schmerzlich beweinte Kinder voran, zwei als Jünglinge und einer als Mann, Julius, Rechtsanwalt und Criminalrichter in Baselland. Ihm folgen zwei Söhne, Alexander, Lehrer des Kunstzeichnens an der Cantonsschule zu Aarau, und Eugen, der jüngere Arzt. Achilles ist Pfarrer in Gontenschwil bei Aarau, und die beiden Jüngsten sind Bauverständige, Alfred, Cantonsbaumeister von Solothurn, und Olivier. Mithin leben noch fünf Söhne, alle in bedeutsamen Stellungen und im Geiste des Vaters wirkend, Wohlthäter ihrer Mitmenschen, ebenso bescheiden und rastlos thätig, wie er, alle Väter, zum Theil schon Großväter einer zahlreichen, vielversprechenden Nachkommenschaft.

Als Vater steht Zschokke auf höchster Stufe seiner Menschenwürde da. Heiterkeit und Ernst, Milde und Strenge im Umgang mit seinen Kindern, Alles an gehörigem Orte, zeichneten ihn aus. Bemüht war er, die Seinigen früh an’s Entbehren des Entbehrlichen zu gewöhnen, und sorgsamste Pflege verwendete er auf die wahren Bedürfnisse und dies bis auf’s Geringfügigste. Heranbildung zu einer Höhe, welche das Niedrige weit hinter sich läßt, und Erziehung zu einer Gesinnung, die sich dem Niedrigsten freundlich gleichstellt, Angewöhnung zu Verschwiegenheit und Freimuth, wo jedes am Platz, nicht sowohl Büchergelehrsamkeit, als handliches Eingreifen für’s Leben – das waren Zschokke’s Zielpunkte in seiner Eigenschaft als Erzieher seiner Kinder.

Für den ersten Unterricht der Kinder sorgte die Mutter; dann übernahm der Vater die heranwachsenden Knaben, lehrte sie die Anfangsgründe des Lateinischen und Griechischen, führte sie in Cäsar, Virgil und Homer ein, ließ sie hierauf in den öffentlichen Lehranstalten Aarau’s für Hoch- und Kunstschule vorbereiten und endlich zur Vollendung ihrer Bildung Reisen machen.

Unvergeßlich sind uns die mit seinen Söhnen genossenen Stunden, in denen er die Alten erklärte, oder die Winterabende, an welchen er die allgemeine Weltgeschichte vortrug, deren schriftliche Ausarbeitung unter unsern Händen nach und nach zu dickleibigen Bänden anwuchs. Dieselbe Hand, die zuweilen für den Kleinsten eine Puppe, gewöhnlich Sämeli genannt, einkleidete, schwang die Peitsche, wenn der Vater am Weihnachtsmorgen mit den „Buben“ den Ritt zu Steckenpferd um den mit Wachskerzen beleuchteten Baum eröffnete; dieselbe Hand regierte das Schattenspiel, in welchem die Figuren, ein Nikodemus, ein Habakuk, eine Marzipille, Gespräche führten, die unvermerkt auf unsere Kinderherzen gemünzt waren; dieselbe Hand sammelte beim Apotheker, beim Kürschner, beim Gewürzkrämer und im eigenen Naturalienkasten diejenigen Gegenstände, womit für Jeden von uns eine Naturaliensammlung gegründet werden sollte; dieselbe zog auf einer Landkarte des Heimathcantons Aargau ein Netz von Straßen und Wegen, um darauf mit zwei feindlichen Heeren, die durch eine größere Anzahl nach den Waffengattungen verschieden bemalter Bleistücke dargestellt waren, sinnreichen Spielregeln gemäß uns Knaben Krieg führen zu lassen; dieselbe Hand schrieb zu den Bildern am Ofen anmuthige Gedichte, die wir auswendig lernen mußten; dieselbe verbesserte unverdrossen unsere Hefte und fügte den gemachten Fehlern mit rother Tinte umfassende Bemerkungen an; dieselbe strafte auch ohne langes Federlesen und in einer uns fürchterlichen Gemüthsruhe mit ein paar tüchtigen „Kläpsen“ auf den Hintern. Ohrfeigen waren uns unbekannte Größen.

Die Gemüthsruhe verließ überhaupt, meines Wissens, den Vater Zschokke nur ein Mal. Ein Mann bewarb sich bei ihm um das Amt eines Forstaufsehers, das Zschokke zu vergeben hatte. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, zog der Aspirant ein Stück Geld aus der Tasche und wollte es auf den Tisch legen. Als ihn Zschokke mit Entrüstung zurückwies und ihm erklären wollte, nun gerade darum solle er das Amt nicht erhalten, denn wer besteche, lasse sich wieder bestechen, wendete sich der Unglückliche an einen der Kleinen, welcher eben anwesend war, mit den Worten: „So nimm’s denn Du!“ Da entbrannte des Vaters Zorn. Er faßte den Mann am Kragen und warf ihn die Treppe hinunter, freilich zugleich besorgt, daß er nicht Schaden leide.

Die strenge Handhabung von Wahrheit und Rechtlichkeit, die sich die Eltern ihren Kindern gegenüber angelegen sein ließen, wurde einst auf eine harte Probe gestellt. Wenn ein Kind bei Tische eine Speise nicht gern aß, hieß es: „Das Kind hat keinen Hunger, warte man ab, bis sich derselbe einstellt.“ Dann ließ man das Kiud warten, ohne ihm weiter Etwas zu reichen, bis das verschmähte Gericht von ihm gewünscht und verspeist wurde. Nun waren die weißen Rüben nicht nach dem Geschmacke des Töchterleins und es sollte den ihm zugefallenen Antheil dieser Speise mehrere Stunden nach aufgehobener Tafel noch beseitigen. Es saß also am Tische, vor ihm die Rüben, die Mutter in eine Flickarbeit vertieft am Fenster. Alles war mäuschenstill im Hause und im Zimmer. Ein Blick der Mutter auf den Teller überzeugte sie, daß der Rüben weniger geworden. Aber was bemerkt Frau Zschokke weiter? Schiebt nicht das Kind den vollen Löffel unter den Tisch und zieht ihn entleert wieder zurück, und liegt nicht ein Bruder vor dem Kind auf den Knieen unter dem Tische verborgen und nimmt die bittern Gaben des Schwesterchens in seinen Mund auf? Richtig, so ist’s! Daß die Strafe für eine derartige Umgehung des elterlichen Willens nur milde ausgefallen, das kann sich Jeder denken.

[646] Im Reisen fand Vater Zschokke, wie bereits bemerkt worden, eines der vorzüglichsten Bildungsmittel für Körper, Gemüth und Geist seiner Söhne, und es ist wiederholt vorgekommen, daß in volkreichen Gassen einer ausländischen Stadt ein junger Zschokke einherwandelte, dann wie festgebannt stehen blieb und sich nach allen Seiten umsah. Er hatte den heimathlichen „Bubenpfiff“ vernommen, bestehend aus zwei kurzen und einem um einige Töne tieferen, längeren Stoß der Luft aus dem Munde, und richtig, da eilte ein Bruder unverhofft auf ihn zu, der, wie er, auf Reisen war. Zu diesen Reisen wurden die Knaben von früh auf angeleitet, indem man sie zuerst ganz kleine und dann immer weitere Wanderungen unternehmen ließ, zuerst hinaus in die „neue Vorstadt“, zu Sauerländers, dann zum Großvater nach Kirchberg, dann in’s Frickthal zu einem befreundeten Bekannten etc. Natürlich fehlte es dabei an Abenteuern nicht, die dann jedesmal, wenn sie daheim wieder erzählt wurden, das liebende Elternpaar überglücklich machten. So kam einst einer der Knaben, welchen man zu Herrn Sauerländer hatte schicken wollen, zurück und theilte mit, er habe nicht in die neue Vorstadt gelangen können, weil an einer Stelle die Gasse versperrt gewesen. „Wodurch?“ wurde gefragt, und der Knabe antwortete: „Durch den Schatten!“ Der Vater hatte ihm nämlich unmittelbar vor dem Aussenden die Haare abgeschnitten und ihm dann auf die Reise die Ermahnung mitgegeben, er solle, um sich nicht etwa zu erkälten, nur im Sonnenschein gehen. Weil nun an einer Stelle der Gasse die Sonne nicht hinscheinen konnte, war der gewissenhafte Knabe wieder umgekehrt.

Um seine Knaben noch auf einem andern Wege der Naturwissenschaft zuzuführen, ließ Zschokke es geschehen, daß sie an den Sonntagabenden, namentlich im Winter, oft mehrere gleichgesinnte Bekannte um sich versammelten, um selbstthätig unter dem Namen „Verein der jungen Naturfreunde“ einander schriftliche Arbeiten über Naturgegenstände vorzutragen und dieselben mündlich zu verhandeln. Ein handschriftlich angefertigtes Wochenblatt „der Blumenhaldner“, jeweilen von einem der Söhne verfaßt und zusammengeschrieben aus Eingaben, welche von den Brüdern herrührten, theilte die Neuigkeiten, die sich im Hause zugetragen, allwöchentlich mit und wurde am Sonntag im Kreise der Familie vorgelesen. Mitunter betheiligte sich auch die Mutter durch Einsendungen dabei. Ein Wörterbuch, enthaltend alle Personen und denkwürdigen Dinge des Hauses, unter Beifügung der angemessenen beschreibenden oder geschichtlichen Bemerkungen, sowie eine Karte, die Umgebungen Aaraus darstellend, versehen mit der Andeutung der Fundorte von Mineralien und Pflanzen, wurden begonnen, leider aber nicht vollendet.

Vater Zschokke liebte seine Kinder alle mit der nämlichen Herzensinnigkeit, ohne eines zu bevorzugen. Auf seinen Zweitältesten Sohn Emil, nun ersten Pfarrer in Aarau, gründete er indessen die meisten Hoffnungen, bezüglich einstiger Wirksamkeit des Mannes. Wiederholt hat er in seinem Unterricht über „mündlichen Vortrag“ sich an den Knaben gewendet: „Emil, ich habe Euch nun auseinandergesetzt, wie der besprochene Gegenstand in einer öffentlichen Rede zu behandeln wäre. Begieb Dich jetzt für einige Augenblicke in’s Nebenzimmer, überlege Dir, wie Du über die Sache sprechen wollest, dann komme und halte Deinen Vortrag!“ Wir alle Andern mußten, wenn Emil des Vaters Wunsch erfüllt hatte, bekennen: „Das könnten wir nicht!“

Emil, der, wie bemerkt, eine natürliche Gabe zum Redner hatte, behauptete als Knabe oft: „Entweder will ich Schauspieler werden, oder Pfarrer.“ Der Vater leitete den Entschluß des Kleinen dem letztgenannten Ziele zu. Leider erlebte er es aber nicht, daß dieser, sein Sohn, Pfarrer des Cantonshauptortes wurde.

Vater Zschokke hielt darauf, daß wir mitunter Komödie spielten. Wir mußten dabei zuweilen einen bekannten Gegenstand, z. B. den Tellenschuß, aus dem Stegreif aufführen. Jeder folgende Spieler hatte sich dabei auf die oft unvermuthete Wendung seines Vorredners bereit zu halten und einzurichten, damit das Stück so viel wie möglich ein abgerundetes Ganzes abgebe. Einst konnte [647] der Vater seine Nanny kaum beschwichtigen, als sie dem Spiele eines der Knaben entnehmen wollte, derselbe müsse ein besonderes Geschick zum Lügner und Spitzbuben haben.

Man hat Vater Zschokke von mehrern Seiten getadelt, daß er jeden seiner Söhne während der Schulzeit in den Freistunden bei einem Meister förmlich ein Handwerk habe erlernen lassen. Bei den beiden Aeltesten that er es auch wirklich (Klempner und Zinngießer); warum er bei den Jüngern davon abging, ist uns nicht bekannt. –

Der Weihnachtstag war höchstes Familienfest, wo Jedes nach Alter, Neigung und Bedürfniß reichlich beschenkt wurde. Am Osterfest war die treue Mutter namentlich darauf bedacht, die Ihrigen mit den buntesten Eiern zu erfreuen. Daneben erhielt am Geburtstage Jedes seinen Kranz, seinen Kuchen und kleine Angebinde von Eltern und Geschwistern. An des Vaters Geburtstage, am 22. März, durften Schneeglöcklein im Krystallglase nie fehlen. Diesen seinen Geburtstag pflegte er gern mit einer That zu bezeichnen, die am Lebensweg wie ein Denkstein stehen sollte.

Vater Zschokke liebte es, gewisse Uebungen im Haus Jahr um Jahr regelmäßig wiederkehren zu lassen. So führte er die Seinen, nachdem er die Lichter am Weihnachtsbaum angezündet, Jahr um Jahr mit dem nämlichen langgedehnten Oh! in das festlich geschmückte Speisezimmer ein. Jahr um Jahr wurden die Vorfenster an des Vaters Geburtstage beseitigt und die Gartenbänke hinaus auf die Schattenplätze um das Haus geschafft etc.

Auch die Tages- und Wochenordnung war stets die nämliche. Die fünfte Morgenstunde fand den Vater, im Sommer und Winter, schon am Schreibtisch in seinem Studirzimmer. Um sechs Uhr, wie im Sommer so im Winter, wurde das Frühstück aufgetragen. Dem Vater brachte die Mutter den Kaffee auf’s Zimmer. Er trank denselben, während er schrieb und ein Pfeifchen rauchte, in langen Zwischenräumen. Nach vier Stunden erhielten die Buben das „Zehnibrod“ und dem Vater brachte die Mutter eine Erfrischung, die gewöhnlich aus einem Butterbrod und einem Glas Wein oder einem Spitzgläschen voll Kirschenwasser bestand. Nachdem er sein Büchlein „Branntweinpest“ geschrieben, durfte das „Chrisiwasser“ aber nicht mehr auftreten. Einer der Söhne wurde dann zu Herrn Sauerländer, auf die Post und in’s Schlachthaus gesendet, Zeitungen, Briefe und Fleisch zu holen. Um zwölf Uhr stellten sich die Kinder beim Vater ein und empfingen seinen Unterricht bis zwei Uhr. Darauf ging’s zum Mittagessen. Der Nachmittag war frei. Da las der Vater die Zeitungen, hielt sich, wenn’s die Witterung erlaubte, mit den Seinen im Garten auf und empfing hier seine Besuche. Des Morgens nahm er solche nicht gern an. Die Frau mußte dabei entscheiden, ob der Vater bei der Arbeit dürfe gestört werden oder nicht. Trat man dann in das Heiligthum seines Arbeitszimmers, in dem, neben höchster Einfachheit, die größte Ordnung und Reinlichkeit herrschte, ein, so legte er die Feder nieder, sah den Kommenden ein paar Minuten schweigend an, rieb sich die Augen, als ob er aus einem Traum erwachen müsse, ließ sich hierauf die Wünsche, die man hegte, vortragen und ging dann in die Sache ein. Jeder wurde übrigens von Zschokke freundlich und mit voller Hingabe aufgenommen, der schlichte Landmann, der ihn fragen wollte, wohin der Weg nach Amerika gehe, wie der Fürst, der kam, ihm seine schriftlichen Arbeiten zu überbringen, mit der Bitte, ihnen die letzte Feile anzulegen.

Des Abends um sechs Uhr wurde, zur Sommerszeit im Garten, von der Familie der Kaffee genossen; dem Vater brachte man eine Flasche Wein, aus der er ein paar Gläser trank, und ein Stück Braten oder Wurst. Ein „Schweinerippeli“ zog er Allem vor. Am Sonntag besuchte der Eine oder der Andere aus dem Hause den Morgengottesdienst beim reformirten oder beim katholischen Pfarrer. Dann brach Groß und Klein nach Kirchberg auf, wo beim Großvater zu Mittag gegessen und die Reize eines süßen Nichtsthuns genossen wurden. Um neun Uhr ging regelmäßig Alles zu Bette.

Selbst in den männlichen Jahren entzogen sich die Söhne dem Gehorsam gegen den Vater nicht und handelten kindlich treu nach seinen Grundsätzen. Dafür zeugt folgende Begebenheit. Als am Sonntag, den 21. August 1831, die Nachricht in Aarau eintraf, es hätten die Stadtbaseler einen bewaffneten Ausfall gegen das Landvolk unternommen, es sei Bürgerblut geflossen und das Städtchen Liestal sei in Brand versetzt worden, war eben der Vater nicht daheim, sondern nur die Mutter saß im Garten der Blumenhalde und erzählte einem Besucher unter Thränen die Einzelnheiten des Unglücks. Da kam einer der Söhne aus der Stadt dahergestürzt und erklärte: „Mutter, ich eile nach M. zu F., der soll den Landsturm ergehen lassen, dem Landvolk zur Hülfe.“

„Mein Kind,“ sagt die Mutter, „thue das nicht: wäre der Vater daheim – Du weißt’s, daß er den Aufbruch ungeordneter Volkshaufen verdammt –, er würde Dir auch von Deinem Vorhaben abrathen.“

„Du hast Recht, Mutter!“ entgegnete der Sohn. „Aber daheim kann ich nicht bleiben. Was soll ich machen? Ich weiß es! Mit meinem chirurgischen Bestecke eile ich nach Liestal, den Verwundeten mit meiner Kunst beizuspringen!“

„Das thue, mein Kind, das wird der Vater nicht misbilligen!“

So zog, mit Einbruch der Nacht, der Sohn fort, von einem einzigen Begleiter gefolgt, durch das Juragebirg und die im Aufruhr begriffenen Dorfschaften, und kam in den ersten Morgenstunden des folgenden Tages zu Liestal an, wo er mehreren Verwundeten Hülfe bringen konnte.

In Aarau machte Vater Zschokke selten Besuche. In frühern Jahren freilich speiste er jeden Sonnabend bei Rudolf Meier zu Mittag. Am Montag Abend war er regelmäßig in der Sitzung der „Gesellschaft für vaterländische Cultur“ zu finden; nie aber im Kaffee- oder Wirthshaus. Seine Erholung fand er im Kreis seiner Familie, der überhaupt Jedem den höchsten geselligen Genuß darbot. Wenn aber ein Verein tagte, der seinem geistigen Streben entsprach, dann war er mit ganzer Seele dabei, ließ sein Wort belehrend, warnend, begeisternd walten und bewies sich an der Tafel als der Heiterste und Unterhaltendste, wofür unter Anderm seine Lieder zeugen, die er auf die Jahres- und Festversammlungen der Culturgesellschaft im Bade Schinznach gedichtet hat.

Von Biberstein zog Zschokke im Jahre 1807, um der Buchdruckerei des Herrn Sauerländer näher zu sein, nach Aarau, wo er auf dem „Rain“ ein Haus kaufte mit einem Garten und einem „Gütli“ dahinter. Dann, als ihn ein „kleiner Goldregen“ überraschte, Geldsummen, schon seit den Revolutionsjahren verloren geschätzt, z. B. der von der Baseler Regierungsstatthalterschaft noch rückständige Gehalt, baute er sich seine „Blumenhalde“ auf, ein Landhaus in der Nähe von Aarau, am linken Ufer der Aare, mit weiter Aussicht bis hinaus auf die Schneehäupter der Alpen.

Wie Zschokke’s Vermögensverhältnisse waren, wissen wir nicht, weil davon in der Familie nie geredet wurde. Wenn man aber bedenkt, daß dessen Vater ein „wohlbemittelter Bürger“ war, der während des siebenjährigen Krieges durch bedeutende Tuchlieferungen für die preußische Armee sich ansehnliches Vermögen erworben; daß der Sohn in Beamtungen, namentlich aber durch seine schriftstellerischen Arbeiten, sich guter und nachhaltiger Einnahmsquellen erfreut haben mag, während er und die Seinen höchst einfach lebten: so darf angenommen werden, daß er sich in blühenden Vermögensumständen befand. Ist doch aufgezeichnet, wie er auf mehr als siebenzehntausend Franken Verzicht leisten konnte, um nicht zwei rechtschaffene Familien in’s Verderben zu stürzen. Auch auf sein Amt als Forstinspector, das einzige, das ihm damals einen Gehalt abwarf, verzichtete er freiwillig, als die unfreisinnige Regierung des Aargaus ihm andeutete, es schicke sich für ihn als einen ihrer Beamten nicht, sie im Schweizerboten zu kritisiren.

Zschokke wirkte auf seine Zeit und die Nachwelt durch verschiedene Hebel, deren Stützpunkt stets die Heiterkeit seines Gemüths und seine ausgezeichnete und werkthätige Menschenliebe waren. Er wirkte durch seinen persönlichen Umgang im Kreis der Familie, im Rathssaal (sein letztes Wirken bestand hier in der Theilnahme an der Aufhebung der Klöster des Aargaus) und gegenüber einer großen Anzahl von Besuchern aus allen Ländern und Ständen, namentlich auch als Lehrer; ferner durch einen ausgedehnten Briefwechsel, durch seine Schriften, von denen mehrere in die verschiedensten Sprachen übersetzt worden sind, endlich durch seine Stiftungen.

Die Schriften, welche er verfaßte, sind bekanntlich theils geschichtlichen Inhalts (bairische Geschichte, Schweizergeschichte u. a.), theils enthalten sie Gegenstände der Volkswirthschaft (Gebirgsförster, Goldmacherdorf u. a.), theils Dichtungen (eine lange Reihe von Novellen). Sein Hauptwerk aber bleiben „Die Stunden der Andacht“, dieses Evangelium der Neuzeit, geschrieben Leidenden zum Troste, [648] Irrenden zum Wiederfinden eines Weges, hadernden Kirchen zur Versöhnung miteinander und Allen zur Stärkung durch das Jesuwort. Den Schluß seiner Werke bildet die „Selbstschau“, die er in seinem siebenzigsten Jahre vollendete. Sie enthält eine Naturgeschichte seines Gemüthes und eine Entwickelungsgeschichte seines Geistes.

Zu den Stiftungen, die von Vater Zschokke ausgingen, gehören die Freimaurerbauhütte zur Brudertreue in Aarau, die Gesellschaft für vaterländische Cultur des Aargaus, der „Lehrverein“ zu Aarau, die Gewerbschule daselbst, zu der zwei dortige begüterte Fabrikanten das Geld und Zschokke den geistigen Grund gelegt; ferner die Taubstummenanstalt ebenda und die Pestalozzi-Anstalt in Olsberg. Ferner war er es, welcher eine vernunftgemäßere Bewirthschaftung der Forsten des Cantons anbahnte. Es konnte nicht fehlen, daß ein Mann, wie Heinrich Zschokke, der mit gewaltiger Wucht des Witzes und überzeugender Wahrheit in manches Vorurtheil und Lebensverhältniß der Staaten, Kirchen, Familien und Gemüther eingriff, wenn auch immerhin vom Wunsche beseelt, als wahrer Geistesjünger zu segnen, neben treuen und begeisterten Freunden und Verehrern, auch von Gegnern, ja Feinden in großer Zahl, in Nähe und Ferne umgeben war. Aber er bewies sich als Einen, der nicht wieder schalt, da er gescholten wurde, nicht drohte, da er litt; er stellte es Dem anheim, der recht richtet.

Mit Unwillen äußerte er sich einst gegen uns über ein einflußreiches Mitglied des großen Rathes, an das er sich bei einer Wahl mit der Frage gewendet, wer unter den ihm selber unbekannten Bewerbern der empfehlenswertheste sei, als sich nachher, bei Eröffnung der Stimmzettel, zeigte, daß er, Zschokke, jenem Bewerber einzig und allein die Stimme gegeben und also nicht einmal der, welcher ihm denselben empfohlen hatte.

Die Ansichten Zschokke’s über Gesetzgebung und Staatsregierung sagten nicht Allen zu. Seine vorurtheilslose Selbstständigkeit war Manchem zuwider. Aus diesem Grunde scheint er neben seinem Freunde, Pfarrer Bok, nachmaligem Domdekan des Bischofs von Basel in Solothurn, nie in den aargauischen Cantonsschulrath gekommen zu sein, damit sie Beide nicht zu einflußreich würden.

Ein Freund Zschokke’s hatte im Laufe der Zeiten seine freisinnigen Ansichten zu verleugnen angefangen und als Milglied einer Cantonsregierung sich als Gegner der Preßfreiheit bewiesen. Als nun deshalb diesen Mann der öffentliche Tadel traf, wollte er sich in dem Schweizerboten rechtfertigen und als eine unentwegte Stütze der freien Presse darstellen. Zschokke warnte ihn und erbot sich, einige Aenderungen an dem Entwurfe der Rechtfertigung eintreten zu lassen. Das wollte der Verfasser durchaus nicht zugeben und verlangte eine wörtliche Aufnahme seines Aufsatzes. Zschokke sagte ihm dieselbe endlich zu mit dem Nachweis der Nothwendigkeit, in einem folgenden Stück des Schweizerboten einen Gegenaufsatz erscheinen lassen zu müssen. An der Hand von unwiderleglichen Thatsachen geschah dann auch das letztere, und für den Herrn Regierungsrath wurde der letzte Schaden größer, als der erste gewesen. Daß von da an die Freundschaft erkaltete, ist begreiflich.

Als bei der Neugestaltung der Dinge im Aargau (im Jahre 1830) die aristokratischen Staatsformen und Männer freisinnigern Grundsätzen und Persönlichkeiten weichen sollten, wurde ein Verfassungsrath gewählt und Zschokke zu dessen Vicepräsidenten ausersehen. Weil nun der Präsident nicht im Fall war, eine größere berathende Versammlung zu leiten, mußte Zschokke dessen Stelle einnehmen. Das sollte nicht sein. Zschokke erhielt demnach eine unterschriftslose Warnung, er möchte sich den Sitzungen des Verfassungsrathes entziehen, denn es seien Dolche gegen ihn in Bereitschaft. Vater Zschokke sah die Grundlosigkeit dieser Angabe ein und besuchte nach wie vor die Rathsversammlungen. Höchstens ließ er sich etwa von einem der Söhne begleiten.

Auf einem andern Wege gelangten seine Gegner indessen doch zum Ziele. Sie bewirkten, daß die Mehrheit des Verfassungsrathes in das Grundgesetz des Cantons die Bestimmung aufnahm: es dürfe kein Staatsamt an einen Solchen vergeben werden, der nicht geborener Schweizerbürger sei. Zschokke nahm daraufhin sofort seine Entlassung und ließ sich von seinem Entschlusse, auf dem Austritte zu beharren, nicht wieder abbringen, trotzdem, daß jene ihn verletzende Bestimmung in der nächsten Sitzung wieder beseitigt wurde.

Noch lange Jahre nach seinem Tode mußten Zschokke’s Söhne gegen einen argen Verleumder im Auslande gerichtlich einschreiten, um das Andenken des theuren Vaters rein zu erhalten. Der leichtfertige Mensch konnte sich dabei nur auf Hörensagen berufen, ohne Personen nennen zu können. Selbstverständlich wurde er verurtheilt, des Verewigten angetastete Ehre wieder herzustellen. Stille Heiterkeit aber verbreitete sich jedesmal über das Gemüth unsers Lehrers, wenn er erfuhr, daß dieser oder jener Geistliche, der sich vergessen konnte, ihn in Schrift und Wort zu verunglimpfen, immer wieder zu den „Stunden der Andacht“ seine Zuflucht nahm, um für seine Vorträge Stoff wie Form zu gewinnen. – Körperlich überragte er kaum das mittlere Maß, aber sein Gliederbau war fest und kräftig. Mit dem ziemlich raschen Fuß, dessen Zehen, wie beim Krieger, stark nach außen gerichtet waren, trat er fest auf. Ueber den breiten Schultern ruhte das Haupt mit breitem Gesicht und blühenden Wangen, langsam und ruhig, deutlich, stets in gewählter Ausdrucksweise und nicht lauter, als nöthig war, sprach er im gewöhnlichen Verkehr, wie auf öffentlicher Rednerbühne und begleitete seine Worte mit einem naturgemäßen, einfachen und würdigen Gebehrdenspiele, mit einem sichern, furchtlosen Wesen, welches dem Gefühl körperlicher Stärke und Gewandtheit ebensosehr wie dem Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit und redlichen Strebens entstammte. In Beziehung auf seine Kleidung hielt er sich weniger an die Mode, als an Bequemlichkeit und Reinlichkeit. Oft machte er uns auf die Abgegriffenheit seines Hutes aufmerksam, sagend: „So ist’s in Freistaaten, wo Jeder dem Andern gleichsteht. Den Hut muß man fast mehr in der Hand, als auf dem Kopfe haben.“

„Er trat froh in Gott und überall in ihm und mit ihm zum Lebenswinter ein, jenseits dessen ihn kein Frühling mehr auf diesem Erdsterne erwartete. Er bereute nicht, gelebt zu haben.“ Des Geistes ungeschwächte Gesundheit fing an zu wanken im Jahre 1843. Im Winter von 1847 auf 48 und während des darauffolgenden Frühlings mußte er, zwar schmerzlos und nur in Folge großer Schwäche, die meiste Zeit im Bett zubringen. Doch blieb ihm auch jetzt noch die Heiterkeit des Gemüthes ungetrübt, wie die Schärfe des Gehörs und der Sehkraft, gleicherweise seine geistige Frische wohl erhalten. Schriftstellerische Arbeiten und der Briefwechsel mit Freunden unterblieben nicht; mit lichtvoller Klarheit sprach er zu den Seinen noch in den letzten Tagen von seinen religiösen Ueberzeugungen. Freundlich mit Wort und Hand, begrüßte er am Morgen des Todes, am 27. Juni 1848, die um das Lager sich versammelnden Seinigen und entschlummerte allmählich Schlag zehn Uhr in einem Alter von mehr als siebenundsiebenzig Jahren. Groß war die Zahl derer, die ihm am 30. Juni zum Grabe folgten. Voran schritten die Zöglinge der Taubstummen-Anstalt. Den Sarg deckte, nach seinem Wunsche, der Eichenkranz, den ihm einst, im Jahre 1828, Freunde zu Frankfurt a. M. gewunden.

Sein Grab im „Rosengarten“ zu Aarau deckt ein roher, unbehauener Marmorblock von schwarzer Farbe, um anzudeuten: es traure die nach höherem Lichte der Erkenntniß sehnsüchtig ausblickende Menschheit über seinem Staube.

Seine Nanny überlebte den Tod ihres Gatten beinahe zehn volle Jahre, rastlos den Sorgen um Kinder und Enkel obliegend. Wie die Biene, beladen mit der Bürde ihres Fleißes, in der Nähe ihrer Wohnung ermattet zu Boden sinken kann, so sank auch sie am 10. Februar 1858 von Aarau heimkehrend und am Hügel emporsteigend, in der Nähe der Blumenhalde kraftlos hin, raffte sich nach längerer Zeit wieder auf, schleppte sich heim und legte sich zu Bette. Als aber ihr Hochzeitstag (25. Februar) graute und sie die Todesstunde näher kommen fühlte, sagte sie: „Nun kann mich denn heute der Papa wieder als seine Braut empfangen!“ Hierauf an die Söhne gewendet: „Die eine Hälfte von Euch lasse ich noch auf der Welt zurück, die andere Hälfte finde ich dort oben wieder. O, wie freue ich mich, sie zu sehen!“

Um eilf Uhr, in der Stunde der Trauung, brach ihr Auge und die Glorie der Vollendung verbreitete sich über ihr entschlummertes Antlitz.



  1. Zschokke’s Schwager.
  2. Louise wurde nachmals Gattin des Rectors Evers an der Cantonsschule zu Aarau und Sophie die des Handelsgärtners Zimmermann daselbst.