Textdaten
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Autor: Hermann Friedrich Karl Knauthe
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Titel: Vom Kreuzschnabel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 445
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[445] Vom Kreuzschnabel. Wunderbar ist die Geschichte dieses Vogels. Von Christi Kreuzigung an ist er bekannt und von da an schon in der Sage, daß er es gewesen, welcher die Nägel am Kreuze löste und zum Dank fortan einen gekreuzten Schnabel, gleichsam als Orden für geleistete Dienste (wichtig für die Geschichte der Orden!), erhalten habe. Mosen, ein Sohn des sächsischen Obervoigtlandes, wo der Kreuzschnabel unter dem Namen Krinitz in jedem Häuschen, in jeder Stube in einem oder mehreren Exemplaren zu finden, kleidete diese Sage in poetisches Gewand und machte ihn durch seine Poesie demnach unsterblich.

Wunderbar, wie seine Geschichte, ist auch die Metamorphose seiner Befiederung! In der Jugend roth, färbt er sich später grau, grau-grün. Jeder kennt diesen Vogel; Jeder wird gewiß schon oft sein munteres Wesen im Käfig bewundert haben, wo er mit Hülfe seiner Füße und des Schnabels behend und mit erstaunlicher Kraft an den Wänden seines drahtenen – denn Holz zerspaltet er mit seinem harten Schnabel – Gefängnisses herumklettert, wie er ferner einen ihm gegebenen Fichtenzapfen, sein Lieblingsgericht, zerhackt und die Samen verzehrt; ich sage, einem Jeden wird er wohl in seiner Lebensweise schon Gelegenheit zur Bewunderung gegeben haben. Hauptsächlich aber hat dieser Vogel besonders bei Bewohnern der gebirgigen Gegenden noch heutigen Tages den großen Ruf, Krankheiten von dem Menschen weg in sich aufnehmen zu können. Man hat deshalb, wenn ein Mensch krank wird, auch nichts Eiligeres zu thun, als daß man einen Kreuzschnabel sofort in das Krankenzimmer hängt. Der „rechtsgeschlagene“ Kreuzschnabel, bei dem der obere Schnabeltheil nach rechts über dem untern liegt, gilt für wirksamer bei Krankheiten des weiblichen Geschlechtes; der linksgeschlagene, bei welchem das umgekehrte Verhältniß der Schnabellage stattfindet, zeichnet sich als kräftiger bei Krankheiten des männlichen Geschlechtes aus. Den größten Ruf genießt der Vogel bei rheumatischen Krankheiten, und der Leidende ist seines Erfolges bezüglich der Besserung der Krankheit um so gewisser, wenn er früh Morgens noch nüchtern vor Sonnenaufgang in das Trinkgefäß des Thieres spuckt.

Nicht Krankheiten allein aber nimmt der Vogel in sich auf, sondern auch jedwedes Hauskreuz und Unglück. Auch Prophet ist er; denn in ein neugebautes Haus gebracht, ersieht der Besitzer, ob das Haus mit Glück und Segen bestehen wird, oder ob dem Hause oder dessen Bewohnern eine getrübte Zukunft bevorsteht. Stirbt der Vogel, so bleibt das Haus oder die Familie vor Unglück geschützt, der Vogel hat es mit sich fortgenommen; bleibt er am Leben: dann wehe, die Zukunft wird eine trübe! Wie hier, so bezahlt das edle Thier mit seinem Tode auch die Krankheiten Derer, von welchen er sie anzieht. Sobald er in einem Krankenzimmer stirbt, werden auch die Leiden des Kranken besser, und sollten sie nicht gleich schwinden, so doch gewiß mit dem Tode eines zweiten in die Stube gebrachten Vogels. Geschieht es nicht, dann ist der Kranke seiner Unheilbarkeit oder seiner Verschlechterung gewiß. Eine wichtige Wunderkraft, die sicherlich in manchen Ehen, besonders denjenigen geschätzt werden wird, wo ein Sohn sehnlichst erwünscht wird, sei es, um den hohen Namen der Nachwelt zu erhalten oder um ein Majorat nicht zerfallen zu lassen, sei es aus rein selbstlosestem innigstem Wunsche, gleichviel, der Krinitz besitzt hier unberücksichtigt der Interessen der Betreffenden die hohe unbezahlbare Wunderkraft, daß er, unter das Bett der Kreißenden gebracht, durch seine Anwesenheit die Geburt eines Knäbleins bewirkt, wie überhaupt den ganzen Zustand erleichtert. Rufe aus, Leser: „Wunder, ihr existirt noch in der Welt!“ Ja, und ich selbst stimme bei, aber nur in der Beziehung, daß man sich wirklich wundern muß, warum der Speculationsgeist der Jetztzeit noch nicht diese Wunderkraft ausnutzte und sich noch nicht Gründer fanden, welche einen Curort mit Krinitzen etablirten.
Dr. Knauthe.