Vision (Mühsam)
- [57] VISION
- Oktober 1917
- Vor dem Rot des Tags, der Abschied nimmt,
- wälzt sich wollig wolkig grauer Rauch,
- welcher eines nahen Schlotes Bauch
- schwer erklimmt.
- 5Und der Rauch formt vor dem roten Schein
- weiche Arabesken und Figuren.
- Wunderlich zerfließen die Konturen
- querluftein.
- Was die Menschenhand am Ofen drunten
- 10um des Brotes willen schafft und flicht,
- zieht vorbei im abendhimmelsbunten
- Schemenlicht.
- Hämmer fallen auf geglühten Stahl.
- Flammen schlagen, und der Motor brüllt,
- 15wo man schwere Eisenmäntel füllt
- ohne Zahl.
- Traurig bleibt der Wandrer stehn und sieht,
- wie das finstre Werk in grauen, langen,
- schlimmen Wegs bewußten Wolkenschlangen
- 20nachtwärts zieht.
- Giftig spaltet sich die Schlangenhaut.
- Schwerter züngeln und Kanonenmünder
- runden sich und bersten, Hundertpfünder, –
- ohne Laut.
- 25[58] Pferdeleiber winden sich, und Hände
- greifen langgefingert jäh ins Leere.
- Durch die Reste wüster Waldgelände
- stelzen Heere.
- Steil und spitzig stoßen Bajonette
- 30auf und nieder. Türme steigen, kippen.
- Tanzend, wiegend schlingt sich eine Kette
- aus Gerippen.
- Fäuste wachsen, krallen sich um Kehlen.
- Dürre Körper sinken unter Hieben.
- 35Vor dem roten Schein im Rauch zerstieben
- Menschenseelen.
- Nacht verschluckt die nebligen Gebilde.
- Ruhlos walkt der Schlot der Waffenschmiede...
- Wann wird Tag? O, wann erwacht der milde
- 40Weltenfriede?