Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Zweyter Theil/Neuntes Buch

<<< Neuntes Buch >>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung
Seite: {{{SEITE}}}
von: [[{{{AUTOR}}}]]
Zusammenfassung: {{{ZUSAMMENFASSUNG}}}
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[[Index:{{{INDEX}}}|Wikisource-Indexseite]]
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[155]
Neuntes Buch.
Genie, Talent, günstige Verhältnisse zur edeln und schönen Liebe.


Erstes Kapitel.
Einleitung.

Ich habe es schon gesagt, die Liebe kann als eine edlere, gesellige Fertigkeit, als eine schöne Kunst betrachtet werden, deren Werk an der Person erscheint, die sich mit einer andern zärtlich verbindet. Dieß Paar liebender Menschen kann seinem innern Gehalte nach ein ästhetisch schönes Ganze darstellen, und durch beydes das Bild einer absoluten Vollkommenheit erwecken.

Es ist höchster Grundsatz für alle Fertigkeiten und für alle Künste, die für den Beschauungshang arbeiten, Bilder der Vollkommenheit darzustellen, die auf den Geist und auf den Instinkt zugleich wirken, und sogar in der genauesten Uebereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft stehen. Solche Werke, solche Schöpfungen sind dann gewiß fähig, bey der Beschauung zu rühren, und das Geschmacksurtheil, [156] das wir darüber fällen, hat mehr Anspruch auf Allgemeingültigkeit, als jedes andere.

Das gegenwärtige und die drey folgenden Bücher dieses Werks sind dazu bestimmt, jenen obersten Grundsatz auf die zärtliche Verbindung zwischen beyden Geschlechtern anzuwenden, und ein Ideal von Vollkommenheit der Liebe darzustellen, das zum Vorbilde ferner Nacheiferung dienen kann.

Ihr, die ihr mich leset, verfehlt nicht den Gesichtspunkt, aus dem ihr mich beurtheilen müßt! Ich bin Lehrer einer Theorie, deren Grundsätze nur bey seltenen Menschen und unter seltenen Verhältnissen ihre Anwendung finden können.

Nie kann ich darauf rechnen, daß die Maxime, die ich vortrage, in ihrem ganzen Umfange werde befolgt werden. Nie kann ich hoffen, daß das Ideal, welches ich aufstelle, in seiner ganzen Höhe werde erreicht werden. Nein, das kann ich nicht, so wenig als der Theorist in irgend einer edleren und schöneren Fertigkeit, von dem Lehrer in den nachbildenden Künsten an, bis zu demjenigen hinauf, der die Grundsätze der vollkommensten Staatskunst oder des höchsten Verdienstes in jeder Tugend vorträgt. Demungeachtet sind ihre Grundsätze und die meinigen nicht unbrauchbar; demungeachtet sind unsere Ideale nicht Chimären.

Allemahl ist die Absicht solcher Theorien dahin gerichtet, ein Ideal aufzustellen, wornach das wirkliche Produkt seltener Menschen an Gesinnungen, Handlungen und Werken beurtheilt werden soll. Jemehr sich das Produkt dem Ideale nähert, um desto mehr erhält es Anspruch auf Vollkommenheit. Dann aber sollen solche Theorien auch Maximen festsetzen, bey deren Kenntniß [157] und Befolgung die Annäherung an Vollkommenheit eher zu erwarten steht, als bey deren Unkunde und Vernachlässigung.

Denkt euch, daß ein Cato, ein Aristides, ein Sülly, ein Richelieu, ein Homer, ein Raphael auftreten, daß sie ihr offenherziges Bekenntniß darüber ablegen könnten, ob sie nach Beendigung einer Situation, worin sich der Adel ihres Geistes entfaltet hat, oder nach Vollendung eines Geschäfts, eines Meisterwerks, wobey sich ihr Genie thätig bewiesen hat, sich nicht immer bewußt geblieben sind, daß, ohne übermenschliche Kräfte und Verhältnisse vorauszusetzen, sie dennoch in ihren Produkten an Gesinnungen, Handlungen und Werken, dem Bilde von Vollkommenheit das in ihrem Kopfe schwebte, näher hätten treten können? Wer kann daran zweifeln! Mangel an Aufmerksamkeit, an Stetigkeit, an Gegenwart des Geistes; Ungleichheiten in der Wirksamkeit derjenigen Kräfte, deren Gebrauch von der Gewalt über uns selbst abhängt, wird sich der edelste, der fähigste, der fertigste Mensch immer vorzuwerfen haben.

Hier geht nun der Aesthetiker von dem bloßen empirischen Critiker ab. Jener stellt das Bild der Vollkommenheit dar, welches jenen großen Genien vorschwebte, und das sie als abhängend von der Willkühr des Menschen geahndet haben. Er entwickelt und stellt es dar, nach Begriffen von demjenigen, was er selbst für möglich hält, wenn die Menschen diejenigen Kräfte, die ihnen zu Gebote stehen, mit anhaltender Aufmerksamkeit anwenden wollten. Der empirische Critiker hingegen sieht die Vollkommenheit nur in demjenigen, was bereits geleistet ist, und spannt seine Forderungen nicht höher, als er weiß, daß sie bereits erfüllt sind.

[158] Ich kann unmöglich diese letzte Verfahrungsart billigen. Sie verführt den Lehrer sehr leicht Unvollkommenheiten und Mängel mit Vorzügen zu verwechseln. Sie ladet den Schüler, vermöge der natürlichen Lässigkeit des menschlichen Geistes ein, sich bereits durch Annäherung an jene mangelhaften Muster für vollkommen zu halten. Gewiß, derjenige, der eine Theorie edler Fertigkeiten und schöner Künste schreibt, muß die Fähigkeiten des Menschen und seine Verhältnisse genau kennen; er muß wissen, was von unserer Willkühr abhängig ist oder nicht; aber nie darf er bloß darauf Rücksicht nehmen, was die bisherigen Erfahrungen als wirklich geschehen liefern. Er muß dem menschlichen Genie das weiteste Ziel vorstecken, was nur in seinen Grenzen liegen kann. Dann wird sich der Aesthetiker noch immer von dem Dichter unterscheiden, der aus der wirklichen Welt völlig herausgeht, und den Menschen, mit idealischen Kräften versehen, unter eben so idealischen Verhältnissen darstellt. Er steht zwischen diesem und dem Moralisten in der Mitte.

Der Moralist setzt gewöhnliche Fähigkeiten, gewöhnliche Verhältnisse zum Voraus: er verlangt von dem Menschen nur diejenige Anwendung des Verstandes und der Vernunft, die jene zulassen, und dieß bestimmt die Regeln die er vorschreibt; er schreibt sie allen vor. Der Aesthetiker rechnet auf seltene Menschen und seltene Verhältnisse; er wendet die Gesetze des Verstandes und der Vernunft nur auf diese an, und bestimmt nur für diese Regeln.

Derjenige, der edel liebt, sagt der Dichter, bewundert in einem schönen Antlitze die glückliche Nachahmung der unkörperlichen Schönheit, das Urbild, nach welchem [159] es gebildet wurde. Edel lieben, sagt der Aesthetiker, heißt dem Geliebten durch Ausbildung seines Sinnes für Vollkommenheit, Adel und Schönheit das dauerndste, sicherste und höchste Gut zuführen, dessen der Mensch hienieden fähig ist. Lieben, sagt der Moralist, heißt das Glück des Geliebten befördern, ohne die Pflichten zu beleidigen, die wir Gott, uns selbst und unsern Mitmenschen schuldig sind. Dieß letzte kann von allen gefordert werden; das mittelste von wenigen; das erste von niemanden.

Die Ideale des Dichters können gar nicht nach den Gesetzen der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wie diese in der wirklichen Welt anwendbar sind, geprüft werden; sein Gebiet und sein Gerichtshof liegen innerhalb den Grenzen der Imagination. Die Ideale des Aesthetikers dürfen mit den Gesetzen der Wahrheit und der Zweckmäßigkeit, wie sie in der wirklichen Welt zur Anwendung kommen, nicht im Widerspruche stehen; nur muß diese wirkliche Welt auf den Haufen seltener Menschen, unter nicht gewöhnlichen Verhältnissen, eingeschränkt werden. Seine Grundsätze, seine Vorbilder können dann auch dem Moralisten in die Hände arbeiten, und dem gewöhnlichen Menschen nützlich werden. Beyde nehmen Verstandes- und Vernunftmäßigkeit zum Leitfaden an. Jener sucht sie nur in ihrer höchsten Vollständigkeit und Vortrefflichkeit zu erreichen; dieser läßt sich an Befriedigung der Nothdurft genügen. Inzwischen ist niemand, der sittliches Gefühl hat, gegen die Wonne an Vollkommenheit gefühllos. Er ahndet sie anfänglich unter dunkeln Bildern, bald klären sich diese Bilder mehr vor ihm auf, der Trieb nach Veredlung und Verschönerung erwacht, und wenn es ihm beym Mangel an [160] Fähigkeiten, und unter ungünstigen Verhältnissen gleich nicht vergönnt seyn sollte, ein edles und schönes Ganze hervorzubringen, so wird er doch einzelne Theile an sich und seinen Werken zu erhöhen und zu schmücken wissen.


Ich werde jetzt vorläufig zu zeigen suchen, welche Fähigkeiten bey dem Menschen, der sich zur Vollkommenheit in der Geschlechtsliebe zu heben sucht, vorausgesetzt werden müssen. Der Mann ist derjenige, der zuerst nach Vereinigung strebt. Von ihm ist zuerst die Rede. Da aber seine liebende Person nicht gedacht werden kann, ohne in Verbindung mit demjenigen Menschen von verschiedenem Geschlechte, mit dem er seine Natur, oder gar sein Wesen zusammenzusetzen strebt; so muß zugleich von der Wahl des geliebten Weibes geredet werden.

Endlich werde ich noch die Umstände berühren, unter denen man sich die liebende Person als handelnd denken muß; die Scene, wo sie am vortheilhaftesten auftritt.


Zweytes Kapitel.
Die erste Anlage zur edeln und schönen Liebe ist ein Herz in allen Bedeutungen.

Ist dein Wesen reitzbar, reitzbar besonders zur Wonne, so hast du schon eine Anlage zur Liebe. Derjenige, den nicht leicht etwas rührt, oder der nur durch die Befriedigung eines Bedürfnisses zur Lust des Genügens gereitzt werden mag, der ist unfähig zu lieben.

Fühlst du leicht Mitleiden mit anderer Unglück, magst du gern mit andern Menschen zusammen seyn, [161] verträgst du dich gern mit ihnen, unterhälst dich gern mit ihren Freunden, eignest dir leicht ihren Frohsinn an, so hast du Sympathie! Ohne diese kannst du nicht lieben.

Liebst du die Freuden der Häuslichkeit, bist du eitel auf den Beyfall des zärteren Geschlechts, fühlst du Stolz auf den Besitz eines Herzens, bist du fähig dich zu begeistern, nach Aneignung eines fremden Geistes schwärmerisch zu streben; bist du überhaupt der Ueppigkeit und Lüsternheit der Seele und des Körpers sehr ausgesetzt; so hast du Geschlechtssympathie, und mit ihr eine Anlage mehr, um zu liehen.

Aber wie wenig Anspruch geben dir diese Eigenschaftten auf den Charakter einer wahrhaft liebenden Seele!

Du, der du stolz sagst: ich bin der liebendste der Menschen, komm her, und höre, was die liebende Seele thut.

Sie handelt nicht, sie treibt keinen Tausch mit Wohlwollen und Gutthaten. Ihre höchste Belohnung ist das Bewußtseyn zu beglücken. Sie erwartet keine Wiedergabe von Gefälligkeiten um gefällig zu seyn. Sie mißt nicht die Schritte ab, mit denen sie dem Menschen entgegengeht. Vernachlässigt, betrogen von einzelnen Menschen, wird sie nicht aufgefordert, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Verkannt, sucht sie in ihrem Betragen zuerst die Ursach davon auf. Hört sie einen andern neben sich loben, so freuet sie sich des lobenswürdigen Menschen, zürnt nur auf sich selbst, dem Gepriesenen nicht gleich zu seyn, und verdoppelt ihre Bemühungen, es zu werden. Jede Ahndung von dem, was anderer Wohl bereiten kann, ist für sie Gesetz; sie verbindet, ohne daß man es erwartet, und bereitet Genuß, ohne zum [162] Dank zu verpflichten. Bey Zwisten will die liebende Seele gern das Unrecht auf sich nehmen, welches sie wieder gut machen kann; sie sucht die Verständigung mit dem Beleidiger nicht auf, um ihn seines Unrechts zu überführen, sondern um ihn minder schuldlos zu finden. Wenn sie belehrt, wie weiß sie dem Belehrten das Gefühl ihrer Superiorität zu ersparen! Wenn sie bestrafen muß, wie weiß sie den Bestraften durch das Gefühl, daß sein Wohl es erheischt, zu schonen! O du! der du über ungerechte Verkennung deines Herzens klagst, frage dich erst, ob du dich dem Ideale eines solchen Charakters von fern gleich stellen darfst, zu dem die Möglichkeit gewiß in eines jeden Gefühle, und ein annäherndes Vorbild in dem Erfahrungskreise eines jeden Menschen liegt.

Fühlst du nun solche Anlagen in dir, so macht deine einzelne Person ein edles und schönes menschenliebendes Ganze aus. Willst du aber, daß dein Wesen in der Vereinigung mit einem andern bestimmten Menschen, als eine zusammengesetzte, gepaarte Person, ein schönes und edles Ganze ausmachen solle; so mußt du auch Anlagen zur Zärtlichkeit haben. Du mußt dich stark und dauernd an die einzelne Person hängen können; du mußt ein Herz haben, im engsten Sinne des Worts.

Ich habe im ersten Theil dieses Werks gesagt, daß die stärkste Anhänglichkeit oft nichts für allgemeine Menschenliebe beweiset. Und das ist wahr! Aber wenn diese Anhänglichkeit zärtlich ist, so ist die Anlage an der Beförderung des fremden Glücks Wonne zu empfinden, vorhanden, und diese wird dann leicht weiter ausgebildet. Ich habe Menschen gekannt, bey denen jene allgemeine Menschenliebe ursprünglich wenig rege war, die aber von früher Jugend an das Bedürfniß fühlten, sich zärtlich an [163] die einzelne Person zu hängen. Sie empfanden es in Jahren, worin andere an Spielen und rauschenden Vergnügungen Gefallen tragen. Sie empfanden es in Jahren, worin andere nur Ruhe und Bequemlichkeit suchen. Ihr Herz, gewohnt sich für den einzelnen Menschen aufzuopfern, sein Wohl über das ihrige zu setzen, dehnte sich nach und nach über mehrere aus. Allgemeine Menschenliebe trat der Zärtlichkeit zur Seite, trat zuletzt an ihre Stelle, und hielt sie für die Versagung, welche die erste erfuhr, einigermaßen schadlos.


Drittes Kapitel.
Die zweyte Forderung ist ästhetischer Sinn.

Unter denjenigen, welche sehen, giebt es dennoch viele, denen die Wollust des Anblicks fremd ist. Sie wissen wenig von der angenehmen Reitzung, welche die Gestalt, die Farben, die Lichter auf die Sehnerven hervorbringen. Ihre Nerven sind, wie ein berühmter Arzt sagt, wie Stricke. Gemeiniglich steht mit dieser Grobheit ihres äußern Sehorgans die Beschaffenheit ihres innern Anschauungssinnes in dem genauesten Verhältnisse. Menschen dieser Art haben nicht einmahl Gefühl für das gemeine Schöne. Alle Bilder, die sich ihnen darstellen, müssen, um ihnen wohlgefällig zu seyn, erst auf etwas Substanzielles an ihnen bezogen werden. Das Licht der Sonne rührt sie, weil es sie erleuchtet und erwärmt; der Glanz des Goldes, weil er sie an Reichthum erinnert. Sie kennen keine Wollust als diejenige, welche der Gaumen oder die Tastungsorgane genießen, und das [164] Auge muß sich erst an die Stelle dieser Organe setzen, wenn sie das Sichtbare angenehm finden sollen.

Inzwischen machen Menschen dieser Art doch nur Ausnahmen aus. Der Sinn für das gemeine Schöne ist ziemlich gewöhnlich. Aber der Sinn für das ästhetisch Schöne ist desto Seltener.

Der Mangel an Interesse für innere Wahrheit und Tüchtigkeit ist unter dem vornehmen und geringen Pöbel sehr gemein, und erstreckt sich auf alle seine Verhältnisse. Ein guter Mensch ist für ihn derjenige, der, uneingedenk seiner wahren Bestimmung, nur unschädlich ist; ein Meisterstück der Kunst ist für ihn jede Erfindung, die ihn unterhält. Diejenigen unter diesem Pöbel, die sich durch Kenntnisse auszeichnen wollen, thun es nur, um ihre Neugier, ihren Stolz, ihren Unterhaltungstrieb zu befriedigen. Die Freude wird ihnen verdorben, wenn die Kenntniß leicht zu erhalten ist, oder wenn ihr Scharfsinn nicht dadurch ausgezeichnet wird. Darum stoßen sie die Mittel zur Aufklärung, die ihnen nahe liegen, von sich, und suchen das Fernliegende auf. Wie kann derjenige, der nicht unmittelbar an der Uebereinstimmung eines Gegenstandes mit den Gesetzen der Vernunft und des Verstandes Gefallen findet; der sich nicht freuet, ein Ding wahr und tüchtig an sich selbst zu finden; der immer erst fragen muß, wozu er es brauchen könne, ehe er sich zum Wohlgefallen daran bestimmt; wie kann ein solcher Mensch, frage ich, diese Verstandes- und Vernunftmäßigkeit sogar im Bilde mit Vergnügen anschauen? Wie kann er an der höheren Ausfüllung dieser Gesetze, an Vollständigkeit, Vortrefflichkeit, Vollkommenheit, Wonne hegen? Wie wird er sogar diese Gesetze auf das bloße Aeußere der Dinge, auf ihre Formen anwenden? Wie [165] wird er sich bis zum Begriff und zum Genuß der Schönheit erheben? Und wie wird endlich sein Geschmack hinreichend geläutert werden können, um nicht das Scheinedle mit dem wahren Edeln, das conventionelle Schöne mit dem allgemeingültigen Schönen zu verwechseln?

Nirgends sind diese Verirrungen leichter, als in der Liebe. Von jeher hat man die absurdesten Anstrengungen, die abenteuerlichsten Aufopferungen, die sinnlosesten Formalitäten, wobey nichts als Stolz und Eitelkeit zum Grunde lag, für edle und schöne Liebe gehalten. Noch jetzt zieht man häufig den Prunk gothischer Galanterie, und die träumende Schwärmerey eines Petrarca der wahrhaft edeln und schönen Liebe eines Socrates vor.

O du, der du edle und schöne Liebe genießen willst, fange früh an, dein Herz und deinen Geschmack zu bilden! Lange, ehe du hoffen darfst, die Liebe in ihrer Vollkommenheit zu erkennen, lerne die sittliche Würde des einzelnen Menschen achten, und die Werke seines Genies und der Natur nach den Gesetzen der Wahrheit und Zweckmäßigkeit prüfen! Laß dich nicht von denjenigen verführen, welche behaupten, die Schönheit könne nicht auf Begriffe zurückgeführt werden. Das kann sie, das muß sie, wenn sie wahren Anspruch darauf haben soll, dir zu gefallen. Freylich, im Augenblicke des Genusses wirst du diese Prüfung nicht anstellen, aber hinterher wirst du deinen Geschmack vor dir selbst rechtfertigen können. Angewöhnt zu einer fertigen Anwendung der Gesetze deines Verstandes und deiner, Vernunft, wirst du bald deinen Beschauungshang dergestalt bilden, daß das Unbestimmte, Unzusammenhängende, Schlechtgeordnete, Unangemessene, selbst im Bilde, dich nicht zur [166] Wonne, sondern zum Widerwillen reitzen wird. Sieh, es giebt wohlerzogene Menschen, deren jungfräulicher Geschmack auch ohne besondere Anleitung zur Kenntniß dieser oder jener schönen Kunst, in jeder das wahre Schöne von dem Häßlichen, was die Mode in Schutz nimmt, unterscheidet! So hängt unser höherer und niederer Anschauungssinn von unserm Verstande und unserer Vernunft ab, wenn wir gleich in dem Augenblicke der Beschauungswonne uns ihrer Leitung nicht bewußt sind. Der Mann von geprüftem Edelsinn, der Mann von gebildetem Geschmack kann nur dasjenige auf die Länge edel und schön finden, was in seinem Innern und Aeußeren mit den Gesetzen der Vernunft und des Verstandes übereinstimmt.


Viertes Kapitel.
Talent und schaffender Genius.

Herz und ästhetischer Sinn sind zureichend, um Adel und Schönheit der Liebe in andern zu empfinden und zu würdigen. Aber um sie an uns selbst zu zeigen, dazu bedarf es eines schaffenden Genius, oder mindestens des Talents.

Talent setzt die Gabe zum Voraus, die Verhältnisse erprobter Erfahrungen zu neuen Aufgaben leicht zu fassen; es setzt Anlagen unserer Kräfte zum Voraus, die Richtung, die wir ihnen haben geben wollen, nach einiger Aufmerksamkeit und Uebung instinktmäßig oder mechanisch zu befolgen: es setzt endlich, wenn es eine höhere Stufe erreicht, Scharfsinn und Erfindungskraft genug zum Voraus, um durch Combinationen der gegebenen [167] Vorschriften mit eigenen Ideen auf neue Ansichten zu gerathen.

Ein Mann von Talent in der edleren und schöneren Liebe wird leicht die Grundsätze auffassen, die in früheren Mustern liegen; er wird sie leicht auf seine Lage anwenden, er wird bald zur Fertigkeit in ihrer Befolgung gelangen, und zuweilen sein Produkt mit Zügen schmücken, die von den frühern Vorbildern nicht entlehnt, sondern in ihrem Geiste gedacht und hervorgebracht sind.

Wer aber schaffenden Genius in seinem Busen trägt, der nimmt aus sich selbst den Begriff und die Grundsätze edler und schöner Liebe; er bedarf keiner Muster, wenig Vorbereitung, wenig Uebung; er stellt sein Produkt als ein neues, vorher unerhörtes Wesen dar, und wenn er der Wahrheit und Zweckmäßigkeit getreu bleibt, so zaubert er Meisterstücke hervor, die dem künftigen Talente wieder zu Mustern der Nachahmung, und zu Quellen ansteckender Begeisterung dienen.

Plato war ein Genie in der Liebe, Petrarca ein Talent.


Fünftes Kapitel.
Energie des Charakters, Festigkeit, Selbständigkeit, Reife des Alters.

Der Mann, der sich auf eine kurze Zeit stark anhängen, sich ganz hingeben kann, aber bald, des Verhältnisses überdrüßig, zu neuen Verbindungen, oder zum Zustande der Gleichgültigkeit hineilt: der Mann, der einer kleinlichen Eitelkeit huldigt, oder in träumenden Schwärmereyen sein Leben hinempfindelt, ein solcher [168] Mann wird nie die Liebe an seiner Person zur Vollkommenheit heben!

Ueberhaupt kann der Mann, von dem es sich voraussetzen läßt, daß er in der engeren Verbindung, der er nachstrebt, die Rolle des Weibes spielen, und sich von der Gattin führen und leiten lassen werde, nie das Gefühl des Adels und der Schönheit durch seine liebende Person erwecken. Es wird ein Mangel an innerm und äußerm Wohlverhältnisse, ein Mangel an Wahrheit und Tüchtigkeit diesem Gefühle stets entgegen stehen.

Der Mann muß Führer, muß Stütze des Weibes seyn: so ist der Begriff ihres Verhältnisses in der Natur, so ist er in unsern bürgerlichen und geselligen Einrichtungen gegründet. Das Frauenzimmer kann nie so vollständig und so vortrefflich Mann seyn, als die Mannsperson, die dem Charakter des stärkeren Geschlechts getreu bleibt. Diese kann nie so vollkommen Weib seyn. Wenn beyde daher ihre Rollen tauschen, so entsteht dadurch ein Mangel an innerm Zusammenhange, an Bestimmtheit und Ordnung. Aber auch der Begriff des Angemessenen, Schicklichen, in Beziehung auf die äußern Verhältnisse, wird dadurch gestört. Das Frauenzimmer, das hier Mann wird, kann der zusammengesetzten Person, dem Paare, nie diejenige Achtung bey der bürgerlichen und örtlichen Gesellschaft sichern, die einen Theil ihrer Würde ausmacht. Die Mannsperson wird verachtet, die sich von dem Mannweibe auf den Schultern tragen läßt; mithin ist es nicht die liebende, die zusammengesetzte Person, die das Interesse auf sich zieht, sondern nur die eine Hälfte derselben, die sich für das Publikum von der andern isoliert.

[169] Es ist kaum zu erwarten, daß der Jüngling diejenige Festigkeit des Charakters besitzen könne, die zur Gründung des männlichen Wesens in der vereinigten Person erfordert wird. Nur der reife Mann scheint wahren Anspruch auf eine Liebe machen zu können, welche die Forderungen der Vollkommenheit ausfüllt.

Mir ist es lächerlich, wenn man Jünglingen, die kaum das Knabenalter verlassen haben, einen Anspruch auf edle Liebe einräumen will. Wenigstens wird dann das Wort in einem sehr laxen Sinne genommen.


Sechstes Kapitel.
Körperliche Schönheit.

Verbindungen zwischen Personen, die dem Körper nach häßlich oder indifferent sind, können sehr achtungswerth, sehr edel, ja, in so fern wir bloß auf den Ausdruck der Seelenvereinigung Rücksicht nehmen, von einer gewissen Seite schön seyn. Aber nie wird man sie als Vollkommenheit einer eben so wohl aus Körpern als Seelen zusammengesetzten Person mit Wonne anschauen können.

Alle Romandichter, die uns vollkommene Liebe dargestellt haben, haben die Liebenden schön von Körper dargestellt, und das mit Recht.

Wir denken uns die liebende Person als ein aus zwey Körpern und aus zwey Seelen zusammengesetztes Ganze. Ist uns dieß gegenwärtig, oder erscheint es uns in einem körperlichen Bilde; wie läßt sich die Aufmerksamkeit allein auf das Geistige der Vereinigung richten? Es ist allemahl ein Mißverständniß zwischen den Theilen, [170] welche das Ganze ausmachen, der eine Mensch mag einzeln, oder die Verbündeten mögen beyde häßlich am Körper seyn. Selbst in dem Falle, wenn die körperlichen Formen beyder Menschen, oder die Formen des einen nur indifferent sind, findet keine Vollkommenheit Statt. Hier genießen wir nur des Vortheils, daß, da unser Sinn für körperliche Schönheit nicht geradezu beleidigt wird, auch unser Sinn für das Geistige weniger in seinem Genusse gestört werde.

Körperliche Schönheit im hohen Grade, selbst an dem Manne, gehört daher zum Ideal vollkommener Liebe. Ein Apollo an der Hand einer Venus; – welch ein Bild! Aber die äußerste Seltenheit einer solchen Erscheinung macht uns schon nachsichtiger, und wir werden bereits zufrieden seyn, wenn der Körper des Mannes nur in einem solchen Wohlverhältnisse zu dem Körper des Weibes steht, daß beyde zusammengestellt, sich als ein schön gruppiertes Paar im liebenden Ausdrucke denken lassen. Die Zärtlichkeit der weiblichen Formen muß durch die Verbindung mit der Stärke der männlichen ohne grellen Kontrast gehoben werden, und diese letzte als ein angemessener Theil der schönen Gruppe erscheinen.

Ein solches Wohlverhältniß wird man da finden, wo der Bau und die Bildung des männlichen Körpers den Ausdruck einer hohen und doch zugleich zärtlichen Seele unterstützt, wo die Größe und das Bestimmte der Formen nicht allein mit dem Begriffe des stärkern Geschlechts übereinstimmen, sondern auch mit der Figur des Weibes, das mit dem Manne zusammengestellt wird, harmonieren: wo endlich die Unvollkommenheiten, die allenfalls der Figur in Ruhe Abbruch thun würden, in [171] der Bewegung, welche liebende Geberden begleiten, verschwinden oder übersehen werden. Körpern dieser Art gestattet man es schon, daß sie der Geliebten gefallen; man denkt sie sich in Verbindung mit dem ihrigen, als anpassende Theile eines schönen Ganzen, wenn sie gleich, einzeln betrachtet, in Ruhe versetzt, und des liebenden Ausdrucks entblößt, für keine Schönheiten gelten könnten. Es sind wohlgruppierende Körper; Körper, die sich an der Seite des weiblichen, und mit ihm verschlungen, wohl ausnehmen, und dem Beschauungshange Wonne gewähren können.


Siebentes Kapitel.
Traurige Folgen der Liebe zu einem unwürdigen Gegenstande.

Ihr, die ihr begabt mit allen Eigenschaften zur edeln und schönen Liebe, alle ihre Süßigkeiten, alle ihre seligen Folgen zu genießen geschickt seyd! Hütet euch, betet, daß Unvorsichtigkeit oder Schicksal euch nicht in die Netze eines unwürdigen Gegenstandes verstricke! Wißt, das Verhältniß, das euch bey glücklicher Wahl zu Göttern heben kann, mag durch ein unglückliches Loos euch zu Teufeln verkehren, oder euch zum Pflanzenleben erniedrigen! Wehe dem, zu dessen Marter ein herrschsüchtiges, gefallsüchtiges Weib die Künste nützt, durch die ein kaltes Herz seine Herrschaft über ein warmes behauptet! Es giebt wenig Frauenzimmer, die nicht empfindlich gegen den Reitz sind, von einem edeln Manne ausschließlich und einzig angebetet zu werden. Es sey der Reitz der Neuheit, es sey bloßer Stolz, es sey wirklich eine [172] Regung des Sinnes für Vollkommenheit, der ihnen die edlere Liebe interessant macht. Genug, sie heucheln entweder die Vorzüge die uns begeistern, oder sie empfinden wirklich auf eine Zeitlang den Trieb edler und schöner Gefühle würdig zu seyn. Aber ihre Eitelkeit, ihr Trieb, allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, ihre Belustigungssucht, ihre Abneigung gegen alle ernsthafte und dauernde Anstrengung, zuweilen auch noch gröbere körperliche Triebe – lassen sie bald in der Ausübung der strengen Pflichten ermüden, welche wahre, edle und schöne Liebe auflegt. Unterdessen wollen sie die einmahl gemachte Eroberung nicht verlieren; sie wollen den Schein des Herzens und der Tugend beybehalten; sie wollen den pikanten Reitz, den das Ungewöhnliche und Seltene mit sich führt, nicht aufopfern. Nun nutzen sie alle Mittel, die schlauer Coquetterie zu Gebote stehen. Durch abwechselndes Geben und Verhalten, durch Zuvorkommung und Zurückziehen, durch erlogenen Stolz und erkünstelte Delicatesse, wird der Arme in steter Unruhe und Ungewißheit, im unaufhörlichen Streben nach einem Gute erhalten, das er nie genießen wird, dessen Aussicht ihn unfähig macht zum Genuß jedes andern, zur Ausfüllung seiner Pflichten, zum frohen Gefühl seines Daseyns! Zerknickt in seinem schönsten Wachsthume, hinwelkend in der Blüthe seines Lebens, verfällt er in jenen Zustand träumender Unfähigkeit, dessen Aeußerungen an kindischen Wahnsinn grenzen!

Wehe auch dem, der wirklich wiedergeliebt wird, aber von einem Geschöpfe, das bey Armuth des Geistes und vernachlässigter Bildung des Herzens, des schöneren Genusses der Liebe unfähig ist, unter verächtlichen, sittenlosen Lagen! Aber wie ist dieß möglich? werdet ihr [173] fragen. Wie kann ein Mann von edelm Geiste in solche Verblendung fallen? Schont, schont den Unglücklichen! Was ihn hinriß, was ihn nun auf immer fesselt, war eine Thräne, geweint zu rechter Zeit; es war ein tröstendes Wort, ein erheiterndes Lächeln, gegeben in Stunden, in denen das Herz seine Leere beseufzt und nach Füllung dürstet! Er hat ein edles Weib hoffnungslos geliebt, er findet das erste Gefühl von wahrer Gegenliebe bey einem minder würdigen! Er kann durch das Geschenk seines Herzens beglücken, durch dessen Versagung eben so unglücklich machen, als er selbst es war! Mitleid, Dankbarkeit, Bedürfniß reißen ihn hin; seine Rechtschaffenheit legt ihm Pflichten auf, welche oft Natur und Gesetze durch neue Bande verstärken.

Glücklich noch, wenn er nun von seiner Höhe ganz herabsinkt. Und oft ist dieß der Fall! Wer liebt, der vereinigt sein Wesen, der theilt mit dem Geliebten Empfindungen und Verhältnisse. Was uns einzeln Erbärmlichkeit schien, das wird in der Vereinigung unvermeidliche Unvollkommenheit; was wir einzeln als Laster verabscheuet haben würden, das scheint uns unter dem Gewande der Liebe unglückliches Verhängniß. Unvermerkt verlieren wir jene Selbstachtung, die Grundlage aller Tugend, jene Schätzung des Anstandes und des Schicklichen, die sie so sehr befördern. Unaufhaltsam gleiten wir auf der schlüpfrigen Bahn der Verdorbenheit so tief hinab, daß fremde Augen die Kluft, die sich zwischen unserer jetzigen Denkungsart und unserer vorigen eröffnet hat, und die wir selbst nicht bemerken, nur mit Schrecken betrachten.

Und unser Geist! Ich weiß es: es liegt in dem bloßen einfältigen Beyeinanderseyn, in dem bloßen Austausch [174] von Liebkosungen, deren Geben und Empfangen kaum die untersten Kräfte unserer Seele spannt, ein Vergnügen, welches auch der edlere Genießer nicht verkennt, nicht verschmäht, aber mit sparsamer Behutsamkeit aufnimmt. Allein wenn der Arme in seiner Verbindung keine andere Nahrung findet, sich durch ihren Genuß für die Entbehrung jeder andern schadlos halten muß; ach! wie elend, wie erbärmlich ist dann sein Loos! Wie gewöhnt sich dann der Geist so leicht, dem Geiste anderer nichts weiter abzufordern, ihm nichts weiter zurückzugeben! Indem unsere natürliche Trägheit jene beschränkten Freuden versüßt, stimmen wir unsere Forderungen so weit herab, um wohl gar in bloßen körperlichen Freuden das Wesen der Liebe und das Glück des Lebens zu suchen!

So gehen Tage, Wochen, Jahre hin! Glücklich noch, wenn dieser Zustand dauern könnte! Aber er dauert nicht! Umstände, Lagen ändern sich, und ein Zufall weckt den edeln Sinn aus seinem Schlummer! Lautpochend melden sich in unserm Busen die Ansprüche auf Adel und Schönheit! Keine ehernen Ketten sind dann so drückend als der Pflaumenarm des Weibes, der sich um den Nacken des Mannes windet, ihn in seinem edeln Emporstreben aufzuhalten! Kein Kerker ist so grausenvoll für den Gatten, welcher die höhere Bestimmung eines vernünftigen Wesens für sich selbst, für den Verbündeten, und die gemeinschaftlichen Früchte ihrer Liebe ahndet, als der Aufenthalt bey einem Wesen, das im Gefühl seiner ängstlichen Zärtlichkeit und seiner Unbedeutung ihn an der Erfüllung seiner Pflichten hindert, weil es nicht mit ihm empor steigen kann. Ich habe sie gekannt, solche zwangvolle Verhältnisse, ich habe sie [175] gesehen, solche Gefangene, die eine traurige Verirrung fesselte! Sie suchten sich aus ihrer Niedrigkeit zu erheben, sie suchten einen bessern Stoff in ihre Unterhaltungen zu bringen, auf den höheren Zweck wechselseitiger Vervollkommnung los zu arbeiten. Umsonst! der Verbündete ohne Lust, ohne Kraft, sich auszubilden, und diesen edeln Trieb des Geliebten von seiner Seite zu unterstützen, suchte alles hervor, um ihn zu hindern. Er versagte dem Geliebten den Umgang mit gebildeteren Menschen, die Lesung vernünftiger Bücher, aus Furcht, daß die Vergleichung ihm schade, und daß ein höherer Grad von Aufklärung in dem andern bey diesem das Gefühl seiner Schwäche vermehren möchte. Selbst die Sorge für die Erziehung ihrer Kinder schien ihm ein Raub an der Zärtlichkeit, die er kindisch allein forderte, begangen.

Und was setzte er an diese Stelle? Tändelnde Liebkosungen, oder gar hervorgesuchte Zänkereyen, deren Entstehen und Beylegung die Langeweile eines unthätigen, aber ununterbrochenen Zusammenseyns lindern sollten!

Ach! wenn in solchen Lagen das Gefühl der Dankbarkeit, jemanden so ganz an uns hängen zu sehen, das Bewußtseyn einzig glücklich zu machen, unsere Thränen bey Tage zurückhält; wie suchen wir die Nacht auf, ihnen ihren stillen Lauf zu lassen!

[176]
Achtes Kapitel.
Bestimmung der Freyheit, die wir bey der Wahl des geliebten Gegenstandes behalten.

Aber ist denn das Herz der Leitung der Vernunft unterworfen? Steht es in unserer Gewalt, uns zu verlieben? Wählt man den Gegenstand, dem man zärtlich anhängen will?

Es ist Werk des Schicksals, ruft man mir von der einen Seite zu: es ist unvermeidliches Glück oder Unglück was die Liebe herbeyführt. Ihren Gegenstand aufzusuchen, oder ihm entfliehen zu wollen, ist vergebliche Anmaßung. Noch eh’ ihr geboren wurdet, war ein Wesen geschaffen, zur Vereinigung mit euch bestimmt. Eine unwiderstehliche Sympathie zieht euch an einander. Nicht die eifersüchtige Wachsamkeit zusammengerotteter Wächter, nicht die Entfernung durch Meere getrennter Länder, nicht eure eigene Flucht, wird die Schöne, die für euch ausersehen ist, eurem Anblicke, und euer Herz der Macht ihrer Reitze entziehen! Ihr tragt ihr Bild in eurem Herzen, euch selber unbewußt; ein Ungefähr wird es euch in der Natur darstellen, und ihr werdet diesem unvermeidlich huldigen. Ob zu euerm Glück, ob zu euerm Verderben? – das ist die Sache des Ungefährs, eures günstigen oder ungünstigen Gestirns, oder vielmehr der höheren Vorsehung, die den Lauf eures Lebens regiert. Ueberlaßt euch dieser, und vermehrt nicht das Gefühl eurer Ohnmacht durch vergebliches Widerstreben!

Nein, ruft mir eine andere Partey entgegen, nein! jene Sympathien, jene schnellen Ueberraschungen unsers [177] Herzens und unvermeidlichen Niederlagen unserer Vernunft sind hervorgesuchte Entschuldigungen für unsere Schwäche, fade Huldigungen für das weichere Geschlecht, Moral aus der Oper, romanhafte Chimären. Junger Mann, fühlst du das Bedürfniß zu lieben, so sey deine erste Sorge, diejenige zu finden, die deiner Liebe werth sey. Suche sie auf, und hoffe nicht, daß sie durch die dünnen Lüfte für dich vom Himmel herabsinke. Es steht in unserer Macht, bey einem mäßigen Grade von Selbstbeobachtung, Anstrengung und Vorsicht, uns gegen Anfälle von Trieben, die nur schwache Seelen für unwillkührlich und unüberwindlich halten, in Sicherheit zu setzen. So widerstehen wir dem Reitz des süßesten Giftes, wenn unmittelbarer Tod und Verderben durch den Mund des weisen Arztes auf seinen Genuß gesetzt ist.

Welcher von diesen beyden Lehren wollen wir unsere Beystimmung ertheilen? – Keiner von beyden unbedingt! Laßt uns Leidenschaft von Zärtlichkeit unterscheiden. Diese kann überlegen, diese kann sich für den würdigern Gegenstand bestimmen, und wenn sie in der Folge in Leidenschaft übergeht, so ist der Charakter des Unwillkührlichen, den sie annimmt, nicht weiter gefährlich.

Leidenschaft hängt nicht von unserer freyen Bestimmung ab, und es ist wahr, es ist schon vorhin gesagt, sie kann plötzlich und unvermerkt entstehen, sie kann uns überraschen und überschleichen. Wir können uns nicht immer vor ihr in Acht nehmen, weil wir sie nicht voraus sehen, und in vielen Fällen ist unsere Vorsicht und Wachsamkeit darum nicht anzuwenden, weil wir ihrer nicht zu bedürfen glauben.

Aber gewiß, dieß sind die seltneren Fälle! Oefter sehen wir die Gefahr gar wohl voraus, und suchen uns [178] nur, angekörnt durch den sinnlichen Reitz, der den Anfang jeder Leidenschaft begleitet, absichtlich über die Leiden zu verblenden, die ihre Folgen, unserer völligen Ueberzeugung nach, für unser edleres Wesen mit sich führen werden. Ueberhaupt aber giebt es ein ziemlich sicheres Verwahrungsmittel gegen unwürdige Verbindungen, das nur unter einem ganz besondern Zusammenfluß von Umständen seine Wirksamkeit verlieren dürfte.

Jüngling! veredle deinen ganzen Charackter! Gewöhne dich früh daran, Wahrheit, Zweckmäßigkeit, Adel und Schönheit in allem aufzusuchen, was dich erfreuen soll! Dann wirst du gegen die Reitze des Unwahren, Mangelhaften und Unsittlichen abgehärtet werden, und sollten sie dich dennoch verführen, so wirst du bald von deiner Verirrung zurückkehren, und selbst aus ihr neue Vortheile, neue Stärkung für deinen Edelsinn und Sinn des Schönen zu ziehen wissen! Es wird dir vielleicht gelingen, den unwürdigen Gegenstand der dich hinriß, zu veredeln, oder wenn du daran scheiterst, so wirst du, es koste was es wolle, die Verbindung brechen, und in der wiedererlangten Selbstwürde Entschädigung für die Versagung liebender Triebe finden.

So kann der edle Mensch selbst den Gegenstand seiner Leidenschaft wählen, indem er sich empfänglicher für die Einwirkung solcher Reitze gemacht hat, die es werth sind sein Herz zu besitzen; abgehärteter gegen diejenigen, für welche die Begeisterung ihm zur Schande gereicht.

Zwar ist diese Wahl nicht so abhängig von unserer Willkühr als diejenige, mit der wir Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses wählen, wenn unsere Vernunft sich nach Rücksichten der Brauchbarkeit bestimmt. [179] Zwar sind die Gegenstände der Verführung zur Befriedigung sinnlicher Triebe, oder der Eitelkeit und der Belustigungssucht, die Ovid und seine Nachfolger in Tempeln und Schauspielhäusern aufsuchen, leichter gefunden. Aber frey ist diese Wahl wie diejenige des guten und gebildeten Geschmacks, der die Wonne der Beschauung weniger von der falschen Schönheit einer Nymphe von Boucher, als von der wahren einer Venus von der Hand des Praxiteles erhält. Und sollten wir uns auch nicht völlig fest gegen die Reitze erlogener Tugend und gezierter Anmuth machen; bleibt immer noch die verletzbare Ferse für den nicht zu verwundenden Achill übrig; so ist doch der größte Theil unsers Herzens gesichert, und die Mittel zur Heilung liegen nicht so fern.

Und du, der du dich auf solche Art gestählt hast, sey sicher, daß die Buhlerin gewöhnlicher Art dich seltener zum Ziel ihrer Angriffe machen wird! In einer Aufwallung von Gefallsucht oder Lüsternheit wird sie vielleicht die Macht ihrer Reitze an dir erproben wollen, aber schwerlich wirst du der Mann seyn, den sie auf die Dauer zu fesseln sucht.


Neuntes Kapitel.[WS 1]
Weise Mäßigkeit bey unsern Forderungen.

Ihr also, denen kein feindliches Schicksal die Freyheit zu wählen raubt, sucht ein Herz auf, das neben allgemeiner Menschenliebe zugleich das Bedürfniß fühlt, sich an einen Einzigen zu hängen! Sucht eine liebende Seele auf! Dieß ist nicht bloß Erforderniß zur edeln und schönen Liebe, es ist unerläßliche Bedingung zu jeder [180] wahren und glücklichen Liebe! Findet ihr ein Wesen, das fähig ist, andern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn gleich ihre Anmaßungen mit den seinigen zusammenstoßen; das im Stillen und ungesehen verbinden mag, auch dann verbinden mag, wenn es nicht geachtet und verkannt, und mit Undank gelohnt wird; das seine Fehler beweinen und abbitten kann; – und ein solches Wesen ist zugleich fähig, alles für einen Einzigen aufzuopfern; o! so liebt, und seyd sicher, daß eure Vernunft in kälteren Augenblicken euch wenigstens nie die Schande einer unedlen und häßlichen Wahl vorwerfen wird.

Vielfältige Erfahrungen haben mich überzeugt, daß ein solches Herz von Natur Anlage zum Gefühl für das Vollkommne, Edle und Schöne hat, und daß diese durch Liebe leicht ausgebildet werden könne. Gesetzt dann auch, die Geliebte mit einem solchen Herzen bleibt von Seiten des Verstandes und der Phantasie in einigem Abstande hinter dem Mann zurück; gesetzt sie erreicht nie völlig die reitzenden Talente, deren gemeinschaftliche Ausbildung das Glück des Lebens so sehr erhöhet; das bloße Streben nach einer Vollkommenheit, deren Werth gefühlt wird, ist schon ein hoher Genuß, vielleicht der höchste den die Liebe darbietet. Was kann interessanter seyn, als einen Geist sich aufarbeiten, seine Schwäche überwinden, alle seine edleren Anlagen ausbilden sehen, um der Liebe willen!

[181]
Zehntes Kapitel.
Höheres Glück.

Wo ihr also ein solches Herz, für Menschenliebe und Zärtlichkeit geschaffen, antrefft, da wagt es dreist, eine engere Verbindung in der Hoffnung einzugehen, daß sie veredelt werden könne! Und wagt es nie ohne ein solches Herz, selbst da nicht, wo die größten Anlagen des Geistes und des Körpers die anziehende Person schmücken.

Aber dreymahl glücklich ist derjenige, der in dem Weibe seiner Wahl neben jenem Herzen zugleich jene Unschuld, jenes feine und hohe Gefühl der Ehre und Selbstwürde, jene Energie und Selbständigkeit, jenes Genie und Talent, jene Schönheit der Formen, kurz, jene Anlagen und ausgebildeten Fähigkeiten antrifft, deren Hauptzüge ich jetzt mit schneller Hand entwerfen werde. Was ich vorzeichne läßt sich zusammen finden. Aber gesetzt, diese Vereinigung machte ein bloßes Ideal aus, so wird Annäherung an Vollkommenheit, wie schon oft gesagt ist, in der wirklichen Welt für Vollkommenheit selbst genommen.


Eilftes Kapitel.
Unschuld, Ehrgefühl, Stolz und Selbstwürde in dem geliebten Weibe.

Es ist möglich, ja es ist gewiß, Weiber die vom Pfade der Tugend gewichen sind, können zu ihr, zum Edelsinn und zum Gefühl des Schönen in der Liebe, zurückkehren. Warmes Blut, üppige Eitelkeit, Anlage [182] zur Begeisterung, und vor allen Dingen das Bedürfniß eines leeren Kopfs und Herzens, können, unterstützt von schlechtem Beyspiel und Verführung, den Sinn für das Gute, Edle und Schöne einschläfern, und seine Entwickelung hindern. Dennoch wird der Anblick einer tugendhaften Liebe in andern, der Stolz, einem edeln Manne anzugehören, diesen schlafenden Sinn wecken, und die Bande, die ihn aufhielten, zerreißen. Nicht bloß Romandichter schildern uns solche Charaktere der Danaen, Lauren und Camillen; nein, ich weiß es, sie finden sich auch in der Natur.

Inzwischen, so hebend für die Phantasie, so schmeichelhaft für den Stolz des Mannes, der die schöne Büßende zurückführt, das Bild einer solchen Liebe immer seyn mag, nie wird sie zu der Stufe der Vollkommenheit gehoben werden können, auf der die Liebe zu einer reinen, schuldlosen Seele strahlt, die nie ihre Selbstwürde aus den Augen gesetzt hat. Diese gewährt ein Vertrauen, eine Sicherheit zur Tugend und zur Treue des geliebten Weibes, zu der jene nie gelangen kann. Allemahl bleibt dort die Besorgniß, daß eine lange Gewohnheit ihre vorigen Rechte wieder erlangen werde; daß Zeit und Lagen die vorübergehende Begeisterung endigen mögen; daß es nicht so wohl Achtung für sich selbst, als der Wunsch sey, dem Geliebten nicht zu mißfallen, der die schöne Bekehrte zur Aufmerksamkeit auf ihr Betragen anhält, und daß daher der Schleyer des Geheimnisses, der den Rückfall vor seinen Augen verbirgt, auch dem inneren Auge der Gefallenen die Schwärze ihres Vergehens entziehen werde. Es ist nicht wahr, daß diejenige, die von ihrem Falle wieder aufsteht, ein höheres Vertrauen zu ihrer Festigkeit erweckt, als diejenige, [183] die mit Behutsamkeit sich vor dem ersten Straucheln bewahrt. O Ehrgefühl, o Stolz auf nie gekränkten Ruf, ihr hohen Beförderungsmittel weiblicher Tugend! O Schamhaftigkeit, Offenheit, ihr großen Bürgen der Treue! Wie schwer werdet ihr in ein Herz zurückkehren, aus dem ihr einmahl geflohen seyd! Es ist ein hohes, heiliges, mächtiges Wesen, das Weib das sich selbst respektiert, der Verführung der Sinne und der Eitelkeit widersteht, und seine Umarmung zum Preise für denjenigen allein aufbewahrt, der sein Herz auf ewig gewinnen wird! Es ist ein hohes, heiliges, mächtiges Wesen für andere, noch mehr für das Weib selbst, daß sich dieses Werths bewußt ist. Aber bedarf es, um ihn zu fühlen, nicht einer Blüthe von Empfindungen, welche durch die erste freche Hinwegsetzung über die Gesetze des Anstandes gemeiniglich auf immer welkt! Und läßt es sich hoffen, daß das Bewußtseyn dieses innern Werths jemahls wieder erlangt werden könne, wenn es durch eigene Schuld verloren gegangen ist?

Darum gehört es zur Vollkommenheit der Liebe, ein Herz zu erwärmen, das nie von einem unreinen Feuer geglüht hat, und einen keuschen Körper zu umschlingen, der sich nur für ewig dauernde Liebe hingeben konnte. Zur Vollkommenheit der Liebe gehört es, daß unsere Verbindung mit den Begriffen von Schicklichkeit und Anstand unserer Zeitgenossen, unserer Bekannten und Freunde, vereinigt werden möge, damit sie als ein Gegenstand wohlgefälliger Beschauung erscheinen möge, und die Verbündeten sich selbst des Abglanzes freuen können, den sie von sich wirft. Wie selten wird dieß der Fall seyn, wenn die Person, die mit uns vereinigt gedacht wird, bey aller ihrer gegenwärtigen Vortrefflichkeit, in [184] früheren Zeiten ihren Ruf verloren hat. Seht, eine solche Verbindung ist wie ein schönes Kunstwerk, das nicht zu dem Orte und dem Lichte seiner Aufstellung paßt, und daher unvortheilhaft und falsch erscheinen muß.


Zwölftes Kapitel.
Energie und Selbständigkeit in dem geliebten Weibe.

Es ist barer Egoismus unsers Geschlechts, der dem weiblichen keine andere Energie gönnt, als diejenige, die ihm die Stärke der Leidenschaft einflößt: es ist herrischer Uebermuth in dem Manne, der verlangt, das Weib solle keinen Charakter haben, als denjenigen, den ihm der Geliebte eingiebt.

Liebe verlangt Energie und selbständigen Charakter von beyden Seiten. Es müssen zwey Wesen seyn, von denen jedes seinem Geschlechte nach vollständig und vortrefflich ist, und die in der zusammengesetzten Person ein vollkommenes Individuum der Gattung, Mensch, erscheinen lassen.

Weiber und Männer, die ihr auf diese meine Worte hört, betrügt euch nicht mit dem Gedanken, daß gänzliche Hingebung in die Denkungsart des Geliebten die Liebe erwecken oder dauerhaft mache! Sie schmeichelt dem Eigennutze, aber nur auf kurze Zeit; bald wird die Gleichförmigkeit der Gesinnungen Langeweile und Ueberdruß erwecke. Ich kenne Ehen, in denen das Weib keine Meynung, keinen Willen für sich hat, und wenn es diese vorübergehend faßt, sie bald fahren läßt, [185] um die des Mannes anzunehmen. Ihr schließt daraus auf das Glück, das solche Verbindungen auszeichnet, wenigstens auf die Stärke der Leidenschaft, die die Gattin an ihren Gatten fesselt! Ihr irrt euch! Der Mann legt wenig Werth auf ein Wesen, das er bloß als den Schatten, als den Nachhall des seinigen betrachtet. Er findet keine Unterhaltung bey der immer bejahenden Gattin! Und sie liebt nicht! Wie? Sie liebt nicht? Nein! Ihre Klugheit, unterstützt von natürlichem Pflegma, sucht Anfangs durch unbedingte Gefälligkeit den Hausfrieden zu bewahren. Bald entwöhnt sie sich völlig des Geschäfts, selbst zu sehen und zu urtheilen, und was ursprünglich Wirkung einer eigennützigen Klugheit war, wird hernach Folge der Gewohnheit, Sorglosigkeit, Abneigung gegen alle Anstrengung des Geistes. Sie überläßt dem Manne die Beschwerlichkeit, mit für sie zu denken und zu bestimmen.

Wie viel anders stellt sich dagegen diejenige liebende Verbindung dar, worin das Weib seine eigene Art zu beurtheilen und zu handeln hat. Fern sey es von mir, jenen Irrthum gothischer Galanterie in Schutz zu nehmen, der die Stärke des Weibes mit der Stärke des Mannes verwechselt, und Eigensinn für Selbständigkeit hält. Nein, die Energie des weiblichen Charakters besteht nicht in der Kraft, den Mann zu beherrschen, und ihm Huldigung für alle seine Launen abzudringen. Die Frau setze nicht ihren Ruhm darin, politische Intriguen zu führen, einer Amazone gleich, kriegerische Uebungen zu treiben, oder pedantisch über Kunst und Wissenschaft abzusprechen. So will es nicht die Natur, so wollen es nicht unsere bürgerlichen Einrichtungen. Aber sie glaube an die Würde ihrer Gattung, als Mensch, und an die [186] Würde ihres Geschlechts als Weib! Aber sie wisse, daß sie eine Vernunft hat, die eben so gut, wie die des Mannes, ihren Willen bestimmt, und eine Stärke, die obwohl anders als bey dem Manne modificiert, darum nicht minder mächtig ist, über ihre Sinnlichkeit, und oft über äußere Verhältnisse zu herrschen. Aber sie überzeuge sich endlich, daß sie auf eine gleich freye Wirksamkeit ihrer Kräfte mit dem Manne in allem rechnen darf, was ihre sittliche Veredlung zum Zweck hat, und daß es einen Kreis von Thätigkeit giebt, worin sie sogar vorzüglich vor dem Manne zu wirken berechtigt ist; ihr Hauswesen und die örtliche Gesellschaft.

Die Frau zeigt Energie des Charakters, indem sie ihre Ansprüche mäßigt, den Umfang ihres Gebiets willig einschrankt, und die Grenzen ihrer Herrschaft nach dem Verhältnisse ihrer Kräfte festsetzt. So ist Mäßigkeit ihre erste Stärke, und wahrlich! keine geringe, da sie Selbstkenntniß, Unterdrückung falscher Ansprüche, und richtige Beurtheilung des Localen, voraussetzt.

Die Frau zeigt Energie, indem sie anhaltend auf sich selbst aufmerkt, sich in Obacht und Gewalt behält, damit Aufwallungen von Hitze, Uebermuth, Trotz, oder auch Nachlässigkeiten, und unbehutsamer Verrath ihrer Absichten, diese nicht vereiteln. So ist Zurückhaltung, Mäßigung, ihre zweyte Stärke, und wieder keine geringe, da sie Gewalt der Vernunft über Sinnlichkeit voraussetzt. Die Frau zeigt Energie, indem sie anhaltend auf die Gegenstände um sich herum aufmerkt, diese in Obacht nimmt, keinen günstigen Umstand oder Augenblick versäumt, und nicht leicht an sich selbst, und an dem Schicksale verzweifelt. So ist kluges Abgewinnen, [187] emsige Achtsamkeit, ausdauernde Geduld, ihre dritte Stärke, und wieder der durchsetzenden, die Umstände und die Zeiten zwingenden Gewalt des Mannes sehr oft vorzuziehen. Endlich kann man auch darin einen Zug ihrer Stärke setzen, daß sie sich leicht an die Befolgung gewisser Verhaltungsregeln angewöhnt, und bey ihrer Anwendung schnell zur Fertigkeit gelangt. Bey allem diesem kommt ihr der Instinkt, kommt ihr sogar das Gefühl ihrer Schwäche sehr zu Statten. Sie ist oft mäßig in ihren Forderungen, behutsam in der Wahl der Mittel, und in ihrem Betragen, aufmerkend auf Umstände und Zeiten, geduldig, ausdauernd, geschickt, und gefertigt, eben weil sie schamhaft, bescheiden, emsig, fein, und voll heitern Sinnes von Natur ist. Aber wie leicht kann dieser nicht ungünstige Instinkt zu ihrem Verderben ausschlagen! Wie leicht kann ihre Schamhaftigkeit nicht in Blödigkeit, ihre Bescheidenheit nicht in Kleinmuth, ihre Emsigkeit nicht in Tändeley, ihre Feinheit nicht in List, ihr heiterer Sinn nicht in Leichtsinn ausarten? Und wie sehr bedarf es daher der Leitung der Vernunft, und eigener Bildung, damit jene glücklichen Anlagen zur eigenthümlichen Stärke des Weibes nicht seine Schwäche ausmachen!

Eine Gattin, die ihre Selbständigkeit behauptet, wird den Mann in allem, worin sie, ungeachtet ihrer Vereinigung mit dem Manne, als einzelner Mensch und Weib fortwährend beurtheilt werden kann, nie als Herrscher, sondern nur als Rathgeber betrachten. Und ein Mehreres darf er sich nicht anmaßen zu seyn. Nie wird er ohne Gefahr sie den gefährlichsten Verirrungen auszusetzen, es wagen dürfen, ihr seine Begriffe [188] aufzudringen, über Devotion gegen Gott, Sittlichkeit, Anstand und Pflichten gegen ihre Familie, und die örtliche Gesellschaft. Selbst ihren Geschmack an Meublierung und Putz muß er nicht beherrschen wollen. Er darf dieß alles leiten, aber nicht ohne ihre Ueberzeugung vorher gewonnen zu haben, und nie ohne ihre Selbständigkeit und das Recht, das sie hat, in diesen Stücken ihre eigene Meinung beyzubehalten, anzuerkennen. Sie, die Gattin, wird dann ihrer Seits in denjenigen Verhältnissen, die der Mann nicht mit ihr theilt, sich sogar des Rathgebens enthalten, und in allen ihren gemeinschaftlichen Verhältnissen ihm die Führung, das Vorangehen, die endliche Bestimmung, nicht bestreiten. Sie herrscht mit, aber wie eine untergeordnete, helfende Macht! Sie bewacht den zu raschen Mann, sie hält ihn auf durch ihre Vorstellungen, durch ihre Bitten, durch ihre Thränen! Und muß sie dennoch nachgeben, so geschieht es nie aus blindem Glauben an die Unfehlbarkeit des Geliebten. Sie nutzt vielmehr ihre ganze Eigenthümlichkeit, die schädlichen Folgen des vernachlässigten Raths abzuwenden, und wenn diese dennoch eintreten, sie durch Trost und Heilmittel zu mildern! Wie wichtig wird dem Manne die Beystimmung einer solchen Gattin! Wie ungern wird er für sie beyde allein wählen und allein handeln wollen!

[189]
Dreyzehntes Kapitel.
Talent und Genie in dem liebenden Weibe.

Das Talent der Weiber in der Liebe ist der feine Anschlag, der nichts von demjenigen verloren gehen läßt, was die zärtliche Verbindung zweyer Herzen Edles und Schönes mit sich führt; jene Gabe aus ihrer Tiefe neue selbstgefühlte Vorzüge hervorzuholen, und ihre Form mit immer neuen Reitzen zu schmücken. Es giebt nicht viel Weiber, die dieß Talent besitzen. Aber diejenigen, die es haben, vermehren den Genuß der Liebe ins Unendliche. Die geringste Aufmerksamkeit die ihr für sie habt, jede Wendung die ihr braucht, eure Liebe auf eine feine Art darzustellen, jede Bemühung, sie zu veredeln und zu verschönern, wird von ihnen zum Voraus geahndet und ganz gefühlt. Nicht das allein; sie bemächtigen sich des Stoffs, den ihr ihnen darbietet, und liefern ihn euch wieder mit einer Bearbeitung, die an Werth die Materie übertrifft.

Es giebt auch Genies in der Liebe unter den Weibern. Heloise und du portugisische Nonne, wem fallen nicht hierbey eure Briefe ein! Der schöpferische Geist ihrer Urheber sichert ihnen eben so sehr die Verehrung, als der wahre Ausdruck der Liebe. Auch euch, Sappho und Ninon, würde ich hier nennen, wenn eure Originalität mit edler Liebe in näherem Bande gestanden hätte.

Weiber, die Talent oder Genie in der Liebe haben, haben es beynahe in allen Fertigkeiten und Künsten, die zur Unterhaltung des geselligen Lebens gehören. Es hängt nicht allein vom Herzen ab; es erfordert eine feine Sinnlichkeit, Phantasie, Scharfsinn und andere [190] Kräfte, die wir zum Theil nicht einmahl kennen. Sie können dem Herzen fehlen; aber da, wo sie vorhanden sind, wird das gereitzte Herz sie leichter wecken.


Vierzehntes Kapitel.
Kenntnisse, nützliche und edle Fertigkeiten, schöne Künste, Sitten in dem geliebten Weibe.

Der Mann kann während der liebenden Verbindung die Kenntnisse der geliebten Gattin vermehren, sie an gewisse Sitten gewöhnen, sie zu gewissen Fertigkeiten und Künsten anführen, die zur Nothdurft, zur Veredlung und Verschönerung des Lebens und der zusammengesetzten Person gehören. Aber seine Bemühung scheint glücklicher zu seyn, wenn sie nicht so wohl den ersten Unterricht, die erste Gründung dieser Stücke zu bezielen braucht, als vielmehr ihre fernere Ausbildung. Es hält schwer, Vorerkenntnisse, die an sich trocken sind, und ein leicht fassendes Gedächtniß fordern, in spätern Jahren zu erlernen; es hält noch schwerer, in diesen Jahren unsern Geist und unsern Körper zu einer gewissen bestimmten Richtung und zu einer geschmeidigen Folge zu gewöhnen, welche durch frühe Uebung am sichersten erlangt werden.

Unerlaßliche Bedingung scheint es wenigstens zu seyn, daß das Mädchen bereits von Kindheit an zu denjenigen Kenntnissen, Sitten, Fertigkeiten und Künsten angezogen sey, die erfordert werden, um seinen künftigen Stand als Hausfrau und Beförderin der örtlichen Geselligkeit nach dem Verhältnisse seiner Lage auszufüllen.

[191] Ordnung, Reinlichkeit, Kenntniß weiblicher Arbeiten, Wirthschaftlichkeit überhaupt, lassen sich von dem Begriffe des achtungswürdigen Weibes nicht trennen. Diese Stücke werden bey jedem Frauenzimmer vorausgesetzt werden müssen, und nur in ihrer Anwendung unterscheidet sich die reiche Dame von dem Weibe, das selbst Hand an häusliche Arbeiten legen muß. Dieses thut selbst, jene besorgt, daß das Erforderliche geschehe. Beyde müssen wissen was dazu gehört, beyden muß es zur Gewohnheit geworden seyn, darüber zu halten. Der Liebe ist alles möglich; aber schwer, sehr schwer wird es ihr fallen, ein Weib, das an Schmutz, Unordnung, Unrechtlichkeit gewöhnt ist, davon zurückzubringen, ihm diejenigen Kenntnisse mitzutheilen, welche die kluge Wirthschafterin voraussetzt, und ihm besonders Geschmack an derjenigen stetigen Aufmerksamkeit auf ein einförmiges Detail einzuflößen, das allemahl lästig wird, wenn die Fürsorge dafür durch frühe und lange Gewohnheit nicht zur andern Natur und zum Bedürfnisse geworden ist.

Eben so nothwendig scheint es zu seyn, daß das Weib durch frühe Bildung geschickt geworden sey, sich mit Anstand in derjenigen örtlichen Gesellschaft zu zeigen, worin es dereinst an der Hand des Geliebten als Mitglied und Beförderin des geselligen Vergnügens auftreten soll. Es ist schwer, daß die Bäuerin in dem Kreise des wohlhabenden Mittelstandes, daß ein Mädchen aus diesem herausgenommen, in dem Zirkel der reicheren und vornehmeren Classe auftrete, und darin die Gesetze des Schicklichen und der Höflichkeit mit Unbefangenheit beobachte. Glaubt nicht, daß dieser Vorzug unbedeutend sey. Es gehört zur Selbständigkeit des Weibes, daß es in der örtlichen Gesellschaft als ein nützliches Mitglied, nützlich [192] für die gesellige Mittheilung seinen Platz behaupte. Der schönste Anspruch, den es nächst demjenigen auf den Nahmen einer guten Hausfrau haben kann, ist der, auf den Nahmen der Beförderin der Geselligkeit! Und du, Gatte, du machst eine zusammengesetzte Person, Ein Paar mit der Gattin aus! Du kannst dich nicht von der örtlichen Gesellschaft trennen, ohne dieser ein Recht zu rauben, welches sie auf deinen Beytrag hat, und ohne deiner Verbindung manchen Genuß zu entziehen. Trennst du dich aber nicht von der Gesellschaft, willst du mit einer Gattin erscheinen, der es an der nöthigen Bildung für die gesellige Mittheilung mangelt, so erscheinst du im offenbarsten Mißverhältnisse mit der Hälfte deines Wesens, und sogar mit der übrigen Gesellschaft, in der du nicht mehr als eine einzelne Person beurtheilt werden kannst! Man wird die Vollkommenheit deiner Verbindung nicht fühlen, und dir sowohl, als deiner Gattin, wird der hohe Genuß entgehen, zu wissen, daß ihr in eurer zusammengesetzten Person auch für andere der Gegenstand wohlgefälliger Beschauung seyd.

Besser aber freylich gar keine Bildung, als eine verschrobene, als eine solche, die Unwahrheit und Unzweckmäßigkeit in jeder ihrer Aeußerungen zeigt, falsche Ansprüche nährt, und auf Kosten des Herzens und der Sittlichkeit erlangt wird.

[193]
Funfzehntes Kapitel.
Schönheit körperlicher Formen in dem geliebten Weibe. Ausbildung der Talente, welche sie zu heben dienen.

Es läßt sich die zusammengesetzte Person der beyden Liebenden nicht als Vollkommenheit und Schönheit denken, ohne schöne körperliche Formen in dem Weibe.

Aber da die ernste Schönheit hauptsächlich den männlichen Körper zieren muß, so ist die reitzende hauptsächlich dem weiblichen zu wünschen, damit die zusammengesetzte Person desto auffallender das Wohlverhältniß gepaarter Geschlechtsverschiedenheiten, selbst bey der Zusammenstellung ihrer Körper im Ganzen, zeige. Wer weiß, ob eine Juno mit einem Apollo zusammengruppiert, anders als Freunde erscheinen würden; ihre Schönheiten ähneln sich zu sehr! Apollo und Venus! Wie viel auffallender hier das Bild der Liebe!

Formen, die etwas üppiges mit sich führen, ohne der Zierlichkeit Abbruch zu thun; Augen, aus denen Liebe, unter Führung der Sittlichkeit hervorbricht; Mienen, die Heiterkeit der Seele, Selbstwürde und Sympathie verkündigen; Stellungen, die keine Ueberlegung, aber doch angewöhnte Aufmerksamkeit auf sich selbst und andere regiert; Bewegungen der Gliedmaßen, die Blumenranken ähneln, welche die geschickte Hand des Künstlers zieht und ordnet; – das sind die Gestalten, die uns an dem zarten Körper des Weibes vorzüglich rühren, die sind es, die wir uns am liebsten an der Seite des Mannes von ernster Schönheit denken.

[194] O daß das Mädchen auch nicht die Talente ganz vernachlässigt habe, welche die angebornen Reitze des Körpers bey der Bewegung heben, und sie mit Beywerk schmücken! Tanz, Mimik, Putz, können einen hohen Sinn für Schönheit, und weil diese sich nicht ohne Wahrheit und Zweckmäßigkeit denken läßt, auch Sinn für diese zeigen. Schwerlich wird in späteren Jahren der Geschmack in diesen Talenten, die dem Körper näher angehören, ausgebildet werden mögen! Früh muß der Geist an Absonderung des Wahren von dem Falschen, und der Körper an Fertigkeit gewöhnt seyn.

Doch auch hier bleibt keine Wahl zwischen Ziererey und Mangel an aller Bildung! Hundertmahl lieber diesen als jene!


Sechzehntes Kapitel.
Günstige Verhältnisse.

Bey aller Fähigkeit, die der Mann zur edeln und schönen Liebe haben kann, bey aller Würdigkeit der Person, auf die seine Wahl gefallen ist, wird dennoch der Begriff von Vollkommenheit nie auf die zusammengesetzte Person zutreffen können, wenn Mangel an Gegenliebe oder äußere Hindernisse die Vereinigung hindern.

Ich werde im folgenden Buche die Mittel angeben, Gegenliebe zu erwecken. Aber es giebt Fälle, worin sie nicht wirksam seyn können, und vielleicht von dem edeln Manne nicht einmahl angewandt werden dürfen. Alsdann bleibt die Liebe allemahl einseitig, mithin die zusammengesetzte Person unvollständig. Die Liebe, so wie ich sie betrachte, ist eine Art von Drama, das seine Exposition [195] in dem ersten Erwachen der Liebe bey dem Manne, seine Verwickelung in dessen Bemühungen Gegenliebe zu erwecken, und seine Auflösung in dem Genuß der Vereinigung findet. Wo dieser letzte Theil wegfallen sollte, da könnte das Drama für kein vollendetes Ganze gelten. Der isolierte Mensch könnte freylich selbst in seiner unglücklichen Liebe vollkommen und schön bleiben. Aber dem gepaarten Menschen ginge doch immer vieles ab, was wir für ihn wünschen, und unglückliche Liebe ist in Vergleichung mit der glücklichen, von Gegenliebe gekrönten, gewiß die unvollkommnere.

Aus eben diesem Grunde wird die Vollkommenheit der Liebe durch diejenigen Hindernisse gestört, welche äußere Umstände der Vereinigung der Liebenden entgegen setzen. Diese können in der physischen Entfernung und in der Trennung liegen, welche die Abhängigkeit von Eltern, Gatten, vom Gesetz, und vom eigenen Bewußtseyn der Pflicht veranlaßt. Personen, die auf solche Art an ihrer Vereinigung gehindert werden, können zwar mit ihren Herzen zusammenhängen, aber da Liebe auch Körper und Verhältnisse zu vereinigen strebt, so geht der Liebe allemahl vieles von ihrem Vollkommenheitszustande ab, wenn sie in der ausgebreitetsten Wirksamkeit ihrer Bestrebung gehindert wird.

Ferner wird nothwendig ein gewisser Grad von Wohlstand und Muße erfordert, um der edeln und schönen Liebe huldigen zu können. Es ist zwar ein großer Irrthum, wenn wir in irgend einer Lage allein für Liebe leben zu dürfen glauben; ein Irrthum, der mit den Pflichten gegen uns selbst, gegen die größere und örtliche Gesellschaft im offenbaren Widerspruche steht; ein Irrthum, der unfehlbar das baldige Ende der Liebe nach [196] sich zieht. Wer inzwischen durch bedrängte Lagen gezwungen wird, für die Bedürfnisse eines jeden Tages mit qualvoller Anstrengung zu sorgen; wer durch eine ehrwürdige Bestimmung angehalten wird, alle seine Kräfte den Bedürfnissen des Staats und dem Beruf eines gewissen Standes zu widmen, der wird weder Mittel noch Zeit finden, auf eine engere liebende Verbindung diejenige Sorgfalt zu wenden, wodurch diese allein zur Vollkommenheit gehoben werden kann.

Wenn nun die Lage einiger Menschen sie unstreitig abhält, der edeln und schönen Liebe ihre Kräfte zu weihen; wenn dieser Abgang einer der höchsten Freuden ihres Lebens, weit entfernt ihnen einen Vorwurf zuzuziehen, zuweilen gerade den Anspruch auf höhere Vollkommenheit ihrer selbständigen Person begründet; so ist es doch gewiß, daß oft bloßer Unverstand und Trägheit die Menschen abhält, den Vorzug, edel und schön zu lieben, zu ihren übrigen hinzuzufügen. Es lassen sich wenig Lagen so drückend denken, daß nicht bey weiser Eintheilung unserer Zeit und unsers Einkommens Mittel übrig bleiben sollten, die zusammengesetzte Person an uns zu veredeln und zu verschönern. Die Schuld liegt, wie gesagt, an unserer Lässigkeit, am Mangel des ästhetischen Sinnes, oft auch an der Unbestimmtheit unserer Ideale, welche uns hindern zu bessern und zu schmücken, wo wir das Bild unserer Phantasie nicht sogleich völlig ausgefüllet finden.

Du, der du klagst, daß dein Vollkommenheitssinn keine Nahrung in dieser Welt finde, wisse, daß dieser in unserer Welt sinnlicher Erscheinungen nie völlig ausgefüllt werden kann. Vollkommenheit ist kein Wesen aus dieser Welt! Was du hienieden so nennst, sind Gemählde, [197] Symbole jenes Originals, das sein Daseyn in demjenigen Reiche unsinnlicher Wesen hat, dem du nur zum Theil angehörst! Diesem geliebten Originale strebst du dich zu nähern! Aber willst du den Genuß verschmähen, den dir sein Schattenriß gewährt, weil du sein treuestes Bild nicht erblicken kannst? Nimm ihn mit! es ist immer ein Funke mehr, der dir von dem göttlichen Feuer zuströmt!

Und so veredle und verschönere dann auch deine Liebe so viel du vermagst! Bilde deinen Charakter und den Charakter deiner Gattin zu einem vollständigen und vortrefflichen Ganzen; bildet zusammen eure Verwandte, eure Hausgenossen, eure Nachbaren, den Ort an dem ihr wohnt, eure Geschäfte, eure Unterhaltungen, nach dem hohen Vorbilde, das euch vorschwebt! Ihr werdet nie endigen! Und wie unermeßlich ist das Gebiet des Schönen! Der Kittel wie der Talar, der Gewächstopf wie der Park, die Hütte wie der Pallast, das ländliche Fest wie das Prachtmahl, alles das bietet Stoff zur Verschönerung dar, und leidet einen geschmackvollen Schmuck! Entfernt von den Wohnsitzen der Gelehrsamkeit und der Künste, ausgeschlossen aus dem Wirkungskreise der großen Welt und politischer Triebfedern, werdet ihr in der Natur, in den Sitten des Mittelstandes und des Landmanns, vorzüglich aber in euch selbst, Gelegenheit genug zu Betrachtungen finden, die euch den Genuß des Schönen und Edeln darbieten. Ihr werdet das Volkslied, das den Ausdruck der Liebe wieder giebt, und das eure Kehlen anstimmen, darum nicht verschmähen, weil kein Naumann und sein Orchester euer Ohr bezaubern können! Ihr werdet die Umarmung zweyer Liebenden, die eure Kreide schafft, darum nicht verachten, weil Italiens und Dresdens Meisterstücke euer Auge zur Erkenntniß [198] höherer Schönheit eröffnet haben! Die gemeinschaftliche Deklamation eines oft gelesenen Dichters wird euch nicht verleidet werden, weil ihr Molé und Schrödern spielen saht, und der freundliche Platz neben eurem Hause, den eure Hand geschmückt hat, wird euch trösten, den Golfo von Neapel nicht wieder zu sehen!

Wer so fühlt, der hat erst echten Sinn für Vollkommenheit!


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Neunzehntes Kapitel.