Ursprung und Wesen der modernen Geschichtsauffassung

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Autor: Gustav Buchholz
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Titel: Ursprung und Wesen der modernen Geschichtsauffassung
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 2 (1889), S. 17–37.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
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[17]
Ursprung und Wesen der modernen Geschichtsauffassung.[1]
Von
Gustav Buchholz.


Wir sind gewohnt den Aufschwung der deutschen Geschichtswissenschaft in unserem Jahrhundert auf die Wiedergeburt des nationalen Gedankens zurückzuführen, welche sich nach einer Zeit der Noth und des Druckes ohne Gleichen in der mächtigen Bewegung der Freiheitskriege gewaltsam vollzog. Und wer wollte leugnen, dass hier ein enger Zusammenhang besteht, dass unwiderstehliche Impulse die Nation, welcher das Bewusstsein ihrer Eigenart und Zusammengehörigkeit unter der Fremdherrschaft aufgegangen war, zu ihrem grössten gemeinsamen Besitzthum, ihrer Geschichte, zurückführen mussten. In diesem Sinne wird es ewig denkwürdig bleiben, dass der Freiherr von Stein es war, welcher die Begründung der Monumenta Germaniae unternahm.

Aber die Wurzeln der Erscheinung liegen tiefer. Denn nicht um den zeitweiligen und isolirten Aufschwung einer einzelnen Wissenschaft handelt es sich im Grunde, sondern um die Genesis einer ganz neuen geistigen Anschauungsform, um das Erwachen des historischen Sinnes, der nicht bloss den Betrieb der geschichtlichen Wissenschaft von Grund aus umgestaltet, sondern dem gesammten Zeitalter die Signatur gegeben hat.

[18] Es wäre ein vergebliches Bemühen, die Ursachen dieses grossartigen geistigen Processes, welcher sich in der romantischen Bewegung vollzog, aus nationalen Motiven allein ableiten zu wollen. Der nationale Gedanke, so bedeutungsvoll er ist, hat doch nur als ethischer Impuls gewirkt, er selbst ist keine primäre Erscheinung, er ist bedingt und befruchtet durch Motive rein intellectueller Natur.

„Die romantische Reaction – sagt Lord Acton –, die mit der Invasion von 1794 begann, war die Empörung der misshandelten Geschichte“[2]. Wir machen uns dies Wort zu eigen, aber wir setzen den Ursprung der Bewegung noch wesentlich weiter zurück, über die Jahre der französischen Invasionskriege hinaus, ja selbst vor den Beginn der Revolution, unter deren Ansturm so viele historische Bildungen in Trümmer gingen. Denn auch die Revolution ist uns nur die Verkörperung des rationalistischen Gedankens der Epoche auf politischem Gebiete. Dieser Gedanke aber war innerlich schon überwunden, ehe er sich in der Revolution und den ihr folgenden Kriegen der revolutionären Propaganda zu seiner letzten und grossartigsten Bethätigung erhob. Er war überwunden von Deutschland aus, längst ehe die Schlachten der Freiheitskriege geschlagen waren.

Die Namen Winckelmann, Herder und Goethe gilt es hier zu nennen. Das Letzte, was aus Goethe’s Feder geflossen, war das Wort von der „genetischen Denkweise, deren sich der Deutsche nun einmal nicht entschlagen kann“[3]. Er hatte selbst die wissenschaftliche und philosopische Arbeit eines langen Lebens in den Dienst dieser Denkweise gestellt. Ihm und Herder verdanken wir es in erster Linie, wenn diese Anschauungsform, welche nun die Welt beherrscht, von Deutschland aus ihren Siegeslauf angetreten hat.

Nicht als ob die Idee unvermittelt dem Haupte dieser Männer entsprungen wäre. Auch sie hat ihre Genesis wie jede andere historische Erscheinung, und es wäre lockend genug, ihren Wurzeln nachzugehen. Aber ich muss es mir versagen, im Einzelnen das vielverzweigte Geflecht aufzudecken, mit dem die historische Weltanschauung in dem geschichtlichen Boden wurzelt. Nur die [19] beiden Hauptäste, welche sich zu dem Wurzelstamm der neuen Idee zusammenschlossen, mag es gestattet sein, hier nachzuweisen.

Jean Bodin war es gewesen, der von antiken Vorstellungen befruchtet[4] um die Mitte des 16. Jahrhunderts den Satz von der Abhängigkeit des Menschen von klimatischen und tellurischen Bedingungen in seiner „Methodus ad facilem historiarum cognitionem“ (1566) zuerst ausgesprochen hatte. Auf seinen Schultern stand Montesquieu, als er zwei Jahrhunderte später in der Schrift über die Ursachen der Grösse und des Niedergangs der Römer (1734) den Einfluss der natürlichen, in örtlichen, zeitlichen, nationalen Verschiedenheiten gegebenen Verhältnisse auf den Gang der römischen Geschichte zu erweisen unternahm und im „Esprit des Lois“ (1749) allgemein die geographischen Grundbedingungen der verschiedenen Staatsformen entwickelte. Aber er blieb noch bei der Einzelerscheinung stehen, ihm fehlte der Begriff einer das Ganze zusammenschliessenden Entwicklung. Und doch war dieser Begriff damals schon gefunden. Es ist Leibniz’ens unvergängliches Verdienst gewesen, ihn philosophisch ausgeprägt und als die lex continuationis zum Grundprincip seiner Metaphysik gemacht zu haben. Sein Satz, dass im Verlaufe einer Entwicklung jede Erscheinungsform das Ergebniss aller früheren und die Ursache aller künftigen sei, musste in seiner Anwendung auf die Auffassung der Geschichte von den weittragendsten Folgen werden.

Aber ich halte inne. Wir stehen bereits an der Schwelle der neuen Zeit. Derjenige, welcher den ersten Schritt hinüberthat, war Winckelmann. Seine Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) ging aus der Vermählung der Ideen von Leibniz und Montesquieu hervor. Sie gründet sich auf den Gedanken, dass die Entwicklung der griechischen Kunst abhängig war von dem Werden und Wachsen, von der Blüthe und dem Verfall des Volkes, welches sie hervorbrachte. Wie wenig die Zeitgenossen sich fähig erwiesen, diesen Gedanken sogleich aufzunehmen, zeigt das Beispiel Lessing’s, dessen Laokoon zwei Jahre später erschien (1766): seine Augen, sonst so hell und durchdringend, in diesem Punkte waren sie gehalten, er machte keinen [20] Unterschied zwischen den Epochen und beurtheilte alles mit demselben absoluten Massstab der Verstandeskritik, ebenso wie er in der Dramaturgie die Regeln des Aristoteles einfach auf das moderne Drama der Engländer und Franzosen übertrug.

Auf um so fruchtbareren Boden fiel der neue Gedanke bei der jüngeren Generation, der Herder und Goethe angehörten. Mit Enthusiasmus nahm man ihn auf und durchtränkte sich mit jener genetischen Denkweise, die hier zum erstenmal an einem historischen Stoffe erprobt ward.

Ja man ging weiter. Goethe, den seine ganze Richtung mehr auf die Natur als auf die Geschichte hinführte, that den bedeutungsvollen Schritt, den Begriff der Entwicklung in die Naturbetrachtung hineinzutragen. Sowohl sein Aufsatz über den Zwischenknochen (1784) wie die Metamorphose der Pflanzen (1790) sind getragen von der Idee der Stammverwandtschaft, der Einheit und Continuität aller Lebewesen. So ist er der Anfänger und Bahnbrecher einer Richtung geworden, welche in unserem Jahrhundert die Naturwissenschaft vollkommen beherrscht, wenn anders man Anfänger und Bahnbrecher denjenigen nennen darf, der den methodischen Grundgedanken einer neuen wissenschaftlichen Richtung zuerst aufgestellt hat, mögen im Uebrigen seine sachlichen Ergebnisse längst überholt sein oder die Consequenzen, welche Spätere ziehen, weit über den Kreis seiner eigenen Ideen hinausgreifen.

Das Evangelium aber der neuen Lehre der Entwicklung hat Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ niedergelegt, deren erster Band im Jahre 1784 erschien[5]. Hier ward der bei so beschränkten Mitteln fast verwegene Versuch gemacht, die gesammte Schöpfung aus sich heraus als Ganzes zu begreifen, als eine unermessliche, durch die Reihen aller lebendigen Erdwesen hinaufsteigende organische Kette, als den sprossenden Baum des Lebens, der vom pflanzenartigen zum weissen Saft der Thiere, sodann zum rötheren Blut und endlich zur vollkommeneren Wärme organischer Wesen aufsteigt[6]. „Das Resultat der Reize wird Trieb, das Resultat der Empfindungen Gedanke: ein ewiger Fortgang von organischer Schöpfung, der [21] in jedes lebendige Geschöpf gelegt ward“[7]. „Es ist“ – sagt Herder – „anatomisch und physiologisch wahr, dass durch die ganze belebte Schöpfung unserer Erde das Analogon Einer Organisation herrsche“[8]. Man sieht, wir begegnen hier wieder dem Gedanken Goethe’s, der sich beiden unabhängig aus dem Begriff des Werdens und der Entwicklung ergab und im geistigen Austausch eines intimen persönlichen Verkehrs, während Goethe seine Entdeckung des Zwischenknochens vorbereitete, Herder den ersten Band der Ideen niederschrieb, zwischen den Freunden hin und her ging.

Auf der Basis dieser Naturanschauung erhebt sich nun bei Herder die Auffassung der Menschengeschichte. Alles ist in der Natur verbunden, ein Zustand strebt zum anderen und bereitet ihn vor: der Mensch schliesst die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied[9]. Auch in der Geschichte ist die genetische Kraft, d. h. die in allen Theilen und in jedem nach seiner Weise wirkende eingeborene Lebenskraft die Mutter aller Bildungen, der das Klima – wie es im siebenten Buch[10] nicht ohne bewusste Wendung gegen Montesquieu heisst – feindlich oder freundlich nur zuwirkt. „Angeboren, organisch, genetisch ist dies Vermögen: es ist der Grund meiner Naturkräfte, der innere Genius meines Daseins“[11]. Auch die Vernunft ist diesem allgemeinen Gesetz der Genesis unterworfen, sie ist eine Summe der Erziehung unseres Geschlechts[12]. „Hier liegt“ – sagt Herder[13] – „das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welche es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich selbst und entwickelte es abgetrennt von äusseren Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechtes möglich.“ So tritt neben die natürliche Genesis die geistige, die – wie jene durch die organischen Kräfte – durch Erziehung und Tradition wirkt und von Herder als Cultur oder – im Sinne des 18. Jahrhunderts [22] – als Aufklärung bezeichnet wird[14]. Von diesem Standpunkt aus überblickt er „die ganze Kette der Bildung unseres Geschlechts in der Geschichte“[15] und findet als das grosse Hauptgesetz, welches in allen Erscheinungen zum Ausdruck gelangt: „dass allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, theils nach Lage und Bedürfniss des Ortes, theils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit, theils nach dem angeborenen und sich erzeugenden Charakter der Völker“[16].

Uns heute erscheint dieser Gedanke fast trivial, eben weil es uns so vollkommen in Fleisch und Blut übergegangen, Keim und Trieb der modernen Geistesbildung geworden ist. Aber in jenen Tagen bedeutete er eine Revolution. Die einseitige Richtung der rationalistischen Geschichtsauffassung, welche – mit Herder zu reden – nach der einen Form ihrer Zeit alle Jahrhunderte modelte[17] und nur das begriff, was ihr geistig conform war, hat an diesem Worte Schiffbruch gelitten. Der Gedanke, dass die Epochen aus sich selber zu verstehen seien, dass an die Stelle des Beurtheilens: der absoluten Bewunderung wie des ungerechten Tadelns und Meisterns das Begreifen und genetische Verstehen treten müsse, war die einfache Consequenz dieser Anschauung, welche in den geschichtlichen Ereignissen und Wandlungen nicht ein willkürliches Thun und Machen, sondern ein naturwüchsiges, organisches Werden erblickte.

Wie aber alles um uns her geworden ist, nicht bloss Staat und Kirche, unter deren Ordnungen wir leben, sondern auch Recht und Sitte und die wirthschaftlichen Einrichtungen der Menschen, die Systeme der Philosophie so gut wie die Gebilde der Kunst, die Wissenschaft in all ihren Zweigen, ja zuletzt das Volk selbst, dessen Glieder wir sind, und die Sprache, die wir reden, so hat auch alles seine Geschichte, eine Geschichte nicht in dem Sinne blosser Anhäufung chronologischer Daten und Materialien, sondern Geschichte als Entwicklungsgang, als das Product organischer Kräfte und der Einwirkung von Zeit, Ort und äusseren Umständen.

[23] So war mit dem Begriff auch das Gebiet der Geschichte unendlich erweitert und eine Fülle neuer Aufgaben gestellt. Herder selbst hat einige von ihnen ausdrücklich bezeichnet, so die Geschichte der römischen Rechtsgelehrsamkeit[18] und die Geschichte der deutschen Sprache[19], und wie viele andere hat der Fortgang der Wissenschaft zu Tage gefördert von der vergleichenden Sprachwissenschaft an und der durch Ritter mit historischem Geiste getränkten Geographie bis herab auf jene dem populären Bewusstsein so geläufige, den historischen Fachmännern so ominöse Culturgeschichte, die Zusammenfassung alles Wissens von Natur und Menschheit in der Form der Entwicklung. Ja gibt es überhaupt ein Gebiet wissenschaftlicher Forschung, welches nicht durch den geschichtlichen Gedanken dauernd befruchtet und innerlich vertieft worden wäre? Ihn sehen wir heute siegreich nicht bloss im Mittelpunkte des gesammten Geisteslebens stehen, wir dürfen auch sagen, dass er die Entwicklung unserer staatlichen und politischen Verhältnisse im neunzehnten Jahrhundert gelenkt hat.

Was ist der nationale Gedanke, die Triebkraft aller politischen Bildungen des Zeitalters, anders als ein Zweig neben anderen an dem Baume der genetischen Denkweise Herder’s und Goethe’s? Ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur wie eine Familie, heisst es in den Ideen, der natürlichste Staat ist ein Volk mit einem Nationalcharakter[20]: er ruht auf sich selbst, denn er ist von der Natur begründet und steht und fällt nur mit den Zeiten, ein zusammengezwungenes Reich ist ein Ungeheuer, kein Staatskörper[21]. Es ist gewiss keine Uebertreibung zu sagen, dass hier die Wurzeln unserer modernen Auffassung vom nationalen Staat liegen. Freilich Herder und Goethe waren desshalb keine Patrioten in unserem Sinne, und für uns Deutsche war es noch ein langer Weg durch Krieg und nationales Elend hindurch, ehe die philosophische Erkenntniss Einzelner das dunkle Gefühl der breiten Schichten des Volkes durchdrang und sich in politische Thaten umsetzte. Denn die grossen Ereignisse und Wandlungen der Völkergeschichte werden vorwiegend durch sittliche [24] Antriebe bestimmt. Gerade sie waren es, welche in erster Linie die volksthümliche Erhebung des Jahres 1813 ins Leben riefen, sie hatten auch an der romantischen Geistesbewegung einen kaum hoch genug zu schätzenden Antheil. Aber alles das soll uns die Erkenntniss nicht verdunkeln, dass hinter den ethischen Motiven doch noch andere Factoren stehen, dass ein ursächlicher Zusammenhang vorhanden ist zwischen der Ausbildung des historischen Sinnes und der Entwicklung des nationalen Bewusstseins, mit einem Wort: dass auch hier das „Analogon einer Organisation“ herrscht.

Die Einzelheiten der Herder’schen Geschichtsauffassung zu verfolgen, hätte keinen Werth. Wir schulden ihm den befreienden Gedanken; die Ausführung, die er selbst gibt, ist häufig einseitig und befangen genug, wenn auch immer interessant und anregend. Ueberall geht er andächtig dem Werden und Wachsen, dem Aufblühen und Verwelken nach, die ganze Menschengeschichte ist ihm eine „reine Naturgeschichte“[22], alle historischen Erscheinungen die „natürlichen Producte ihrer Lage, Zeit, Einrichtung und Umstände“[23]. Aber die Auffassung ist im Einzelnen doch in hohem Grade durch die rationalistischen Anschauungen der Zeit beeinflusst. Schon die Annahme einer Entwicklung auf die Humanität hin, die er aus „Lessing’s Erziehung des Menschengeschlechtes“ entlehnt, trägt diesen Charakter, noch mehr aber seine Beurtheilung des Christenthums und des Mittelalters. Er findet, dass der menschliche Geist durch die christliche Religion, wie sie sich nun einmal historisch entfaltet, eine unglaublich schiefe Form erhalten, und dass das Kreuz, das über die Nationen errichtet war, sich auch den Stirnen derselben sonderbar eingeprägt habe[24]. Von Grund aus zuwider war ihm diese „Mönchsreligion“[25] und die „Barbarei des römischen Papstthums[26]. Es ist bekannt, dass er in den Kreuzzügen nichts sah als „eine tolle Begebenheit, die Europa einige Millionen Menschen [25] kostete und in den Zurückkehrenden grösstenteils nicht aufgeklärte, sondern losgebundene, freche und üppige Menschen zurückbrachte“. Das Gute, das zu ihrer Zeit geschah, kam nach Herder meistens von Nebenursachen her[27].

Aber all diese schiefen Urtheile, die sich leicht vermehren liessen – ich erinnere noch an die ungerechte Beurtheilung der Römer –, können das Verdienst der Ideen nicht schmälern. Es war der Tribut, den sie ihrem Jahrhundert abtragen mussten. Auch hat Herder nicht zu allen Zeiten so absprechend über die christliche Religion und das Mittelalter geurtheilt, vielmehr hatte er selbst, anderthalb Jahrzehnte früher, in jener kleinen Schrift, die den keimkräftigen Grundgedanken der Ideen schon enthielt und den Titel trug: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774), gerade eine Lanze eingelegt für jenes verschrieene finstere Zeitalter und einer unbefangeneren Beurtheilung desselben die Bahn geebnet, auf der dann bald die Romantiker in hellen Haufen einherzogen.

Und noch mehr! So einseitig und ungerecht Herder häufig in seinem Urtheil war, so hat er der Geschichte doch nie Gewalt angethan. Er hat nicht, wie es von Hegel später geschah, den Stufengang der Entwicklung einem dialektischen Princip untergeordnet und im Fortgang der Geschichte jenen berufenen Entwicklungsprocess des Weltgeistes erblickt, welcher in Europa seinen Abschluss findet, vielmehr war er der Ansicht, dass zu gewisser Zeit, unter gewissen Umständen auf jedes Volk ein Zustand des Glückes, der Blüthe, der Ausgestaltung einer relativen Humanität traf[28]. Ihm waren bei seiner geschichtlichen Betrachtung „die Weltbegebenheiten nur das Zifferblatt, dessen Zeiger von inneren Uhrgewichten geregt wird“[29], und wenn er oft genug die Ziffern falsch ablas, so hat er sich doch nie vermessen, mit vorwitziger Hand in das innere Getriebe zu greifen oder an dem Zeiger eigenmächtig zu rücken. Darum mochte seine historische Auffassung im Einzelnen tausendfältig corrigirt werden, ohne dass dies den Grundgedanken berührt und der Wirkung seiner Ideen Abbruch gethan hätte. Schon Goethe konnte sagen, Herder’s Ideen seien dergestalt in die Kenntnisse [26] der ganzen Masse übergegangen, dass nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden[30]. „Das Werk“ – sagt er an einer anderen Stelle – „hat unglaublich auf die Bildung der Nation eingewirkt“[31].

Diese unvergleichliche Wirkung der Ideen stellt sich dar und ist nur völlig zu verstehen als das Ergebniss einer allgemeinen Reaction gegen die einseitige Verstandeskritik des Zeitalters, gegen die Missachtung des geschichtlich Gewordenen im Vergleich zu der reinen Idee der Aufklärung und der Humanität. Denn nicht darauf kommt es an, dass ein neuer Gedanke ausgesprochen wird, sondern dass die Bedingungen gegeben sind, ihn zu voller Wirksamkeit auf die Zeitgenossen kommen zu lassen. Der Gedanke des Bodinus lag zwei Jahrhunderte todt, bis er in Montesquieu’s Schriften zu neuem Leben erwachte und nun auf einmal durch tausend Canäle das Allgemeinbewusstsein durchtränkte. Leibniz’ens Idee der Entwicklung brauchte fast ein Jahrhundert, um aus der Abgezogenheit philosophischer Speculation herauszutreten und in der Anwendung auf das natürliche und geschichtliche Leben Fleisch und Blut zu gewinnen. Als dann dieser Schritt gethan und die genetische, d. h. die geschichtliche Anschauungsform mehr und mehr in die oberen Schichten unseres Volkes einzudringen begann, da bedurfte es immer noch der ganzen Wucht ethischer Impulse, welche die europäischen Kriege, die Fremdherrschaft und die gemeinsame Erhebung der Völker gegen Napoleon ausübten, um jenen Umschwung auch im Bewusstsein der Massen herbeizuführen, welcher den Anbruch des neuen Zeitalters endgültig besiegelte.




Die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne hat verhältnissmässig spät die befruchtende Einwirkung jener Ideen erfahren. Sie stand abseits von der Bewegung der Geister unter dem Banne der utilisirenden Denkweise Gatterer’s und Schlözer’s, und erst Johannes von Müller stellte die Verbindung her mit den Anschauungen der Romantiker. Aber nicht von dieser Seite konnte [27] der Wissenschaft Heil erwachsen. Denn gerade die kritische Schärfe war Müller’s schwächste Seite. Und das vor Allem war Noth, dass die historische Methode sich frei machte von der rationalisirenden Kritik der Aufklärungsepoche und mit vollem Bewusstsein den genetischen, im eigentlichsten Sinne historischen Gedanken in sich aufnahm und verarbeitete. Ein Orientalist und Theologe war es, der, Herder’schen Spuren folgend, hier die Bahn brach, Joh. Gottfr. Eichhorn, dessen Bibelkritik die Zusammensetzung des Pentateuchs, speciell der Genesis, aus mehreren selbständigen historischen Werken zu erweisen unternahm[32]. Ihm folgte Friedr. Aug. Wolf mit seinen Prolegomena zu Homer (1794), welche die Philologie zu einer geschichtlichen Wissenschaft machten. Hier zuerst war es ausgesprochen, dass auch die Ueberlieferung etwas Gewordenes sei, eine Geschichte habe, und man weiss, mit welcher freudigen Zustimmung diese Uebertragung des genetischen Gedankens auf ein neues Gebiet von Goethe aufgenommen wurde[33]. Aber fast zwei Jahrzehnte noch sollten vergehen, ehe Niebuhr mit seiner römischen Geschichte (1811) auftrat und die neugewonnene Erkenntniss auf dem engeren Gebiet der politischen Geschichte zur Anwendung brachte. Freilich nun auch gleich mit einer Meisterhaftigkeit und genialen Sicherheit, welche über die Versuche der Vorgänger weit hinaus griff und nach Macaulay’s Zugeständniss Epoche machte in der Geschichte der europäischen Intelligenz[34].

Kritik an den überlieferten Thatsachen der Geschichte hatte man längst geübt, selbst das autoritätsgläubige Mittelalter bietet nicht wenige Beispiele hierfür, aber erst das achtzehnte Jahrhundert hatte den kritischen Verstand auf den Richterstuhl erhoben und den Zweifel mit Methode betrieben. Man gefiel sich in der Bestreitung der Glaubwürdigkeit aller Tradition und war gross darin, ihre inneren Widersprüche aufzudecken. Das Ergebniss [28] war allgemeiner Zusammenbruch morscher Ueberlieferungen, unerhört in der Geschichte des menschlichen Geistes. Aber die Skepsis zum kritischen Principe erhoben, erwies sich als unfruchtbar und unfähig zu positiver Leistung. Indem sie vor Allem das Wunderbare aus der Geschichte wie aus der heiligen Schrift zu entfernen bemüht war, wusste sie doch nichts an seine Stelle zu setzen, als jene vernunftgemässen Umdeutungen, welche der rationalistischen Interpretation und Kritik einen Namen für immer gegeben haben. „Man kann“, sagt Niebuhr mit Bezug auf das Wunder in der römischen Sage, „diesem seine Eigenthümlichkeit rauben und so lange weglassen und ändern, bis es zu einem gewöhnlichen möglichen Vorfall wird, aber man muss auch fest überzeugt sein, dass das übrigbleibende Caput mortuum nichts weniger als ein historisches Factum sein wird“[35]. – Und überall da, wo es sich einfach darum handelte, verschiedene Berichte über einen gewöhnlichen historischen Vorgang abzuschätzen, kam man – einzelne wenige Ausnahmen abgerechnet – im Grunde nicht über den Standpunkt vergangener Jahrhunderte hinaus und erschöpfte Fleiss und Scharfsinn in künstlichen Harmonisirungsversuchen, welche die widersprechenden Ueberlieferungen, so gut es eben gehen wollte, auf ein Niveau brachten, – wenn man es nicht vorzog, in skeptischer Laune mit der falschen auch die echte Tradition über Bord zu werfen. Dies Ergebniss war nothwendig, da die einfache Kritik der Thatsachen nie zu einem Werthmassstab für die Beurtheilung der Ueberlieferung verhelfen konnte.

Hier eben war es, wo der genetische Gedanke einsetzte. Indem er von dem Begriff der Entwicklung ausging und diesen in alle geschichtlichen Bildungen hineintrug, konnte es nicht ausbleiben, dass er auch in der geschichtlichen Tradition den Spuren organischen Werdens nachging und an die Stelle blosser Kritik der Thatsachen eine Kritik der Ueberlieferung setzte. Es war ein ungemein bedeutungsvoller Schritt, der damit gethan ward, es war die Geburtsstunde moderner Geschichtsforschung. Die gesammte Tradition veränderte auf einmal ihr Antlitz, die todte Masse gewann Leben: aus der Umhüllung einer sagenhaft [29] ausgeschmückten oder durch falsche Bezüge und Reflexionen entstellten Erzählung eines Jahrhunderte später lebenden Historikers, der in die Darstellung der Vergangenheit die Ideen seiner Zeit hineintrug, löste sich der ursprüngliche und zeitgenössische Kern einer knappen und trockenen annalistischen Berichterstattung los. Man erkannte und schied die mannigfachen Epochen der Ueberlieferung, die, wie die Formationen der Erdrinde, bald reinlich in Schichten geordnet übereinanderliegen, bald im buntesten Wirrsal gemischt sind, und indem man den Process rückwärts verfolgte und überall bis auf die älteste Form, das Urgestein der Ueberlieferung, zu dringen versuchte, ergab sich die Aufgabe, die versprengten Theile der einzelnen Ueberlieferungsepochen zu sammeln und voneinander zu scheiden, um so das Bild der ursprünglichen Tradition, soweit es noch erreichbar, wiederherzustellen.

Mit bewundernswerthem Scharfsinn ist Niebuhr auf diesem Wege vorangeschritten, ohne sich viel um Vorgänger und Hilfsmittel zu kümmern. „Ich hatte das Ziel erreicht“, sagte er selbst später, „wie ein Nachtwandler, der auf der Zinne schreitet“[36]. Was er lieferte, war darum auch nicht so sehr – und konnte es damals noch nicht sein – eine Geschichte Roms im gewöhnlichen Sinne, als vielmehr eine Geschichte der römischen Tradition, und schon Goethe hob ganz richtig hervor, dass der Titel eigentlich hätte lauten sollen: „Kritik der Schriftsteller, welche uns die römische Geschichte überlieferten“[37]. „Wir müssen uns bemühen“, so bezeichnet der Autor selbst in der Vorrede des ersten Theiles seine Aufgabe[38], „Gedicht und Verfälschung zu scheiden und den Blick anstrengen, um die Züge der Wahrheit befreit von jenen Uebertünchungen zu erkennen“. Die Grundsätze aber, nach denen diese Sonderung vorzunehmen ist, entwickelt er im zweiten Theile[39] so: „Für echt kann in der älteren Geschichte Roms nur der kürzeste Begriff der Vorfälle selbst gelten, jede Ausführlichkeit ist [30] verdächtig, die beurtheilende Erzählung das Werk einer späten, dem Alterthum ganz fremd gewordenen Zeit“. Eben auf dieser Scheidung des Echten vom Unechten, des Gleichzeitigen vom Späteren, die zum Grundaxiom aller heutigen Quellenkritik geworden ist, beruht der Anspruch, welchen Niebuhr für seine Forschung erhebt, der Skepsis zum Trotz eine sichere und glaubhafte Geschichte herstellen und behaupten zu können[40]. Da die Nachfolger jedesmal die ihnen überkommene schriftliche Tradition, sei es vollständig oder wenigstens zum Theil, sei es im Wortlaut oder in redactioneller, vielleicht auch tendenziöser Bearbeitung in ihre Werke aufgenommen haben, so liegt auch der späteren Ueberlieferung häufig noch ein Kern guter Nachrichten zu Grunde, es kommt nur darauf an, ihn aus der Umhüllung fremdartiger Zuthaten loszulösen. Das Geschäft der Quellenkritik ist, hierzu die Kriterien zu finden, die denn nach den verschiedenen Gebieten historischer Forschung im Einzelnen verschieden genug sein mögen, im Ganzen aber doch alle auf jenen Satz zurückgehen, dass die ursprüngliche Tradition knapp und sachlich ist, häufig annalistischen Charakter trägt, die spätere Bearbeitung dagegen sich durchweg als reflectirend, ausschmückend, ausführlich kennzeichnet. Bei dem Stande unserer mittelalterlichen Ueberlieferung ist es nicht selten möglich gewesen, verlorene Quellenwerke mit ziemlicher Sicherheit sogar für ihren Wortlaut aus einer grossen Zahl von Ableitungen und Bearbeitungen wiederherzustellen; die ältere römische Geschichtsforschung muss in den meisten Fällen zufrieden sein, wenn sie den Inhalt bestimmter Abschnitte der gleichzeitigen Werke feststellen kann, – immer aber ist es dasselbe Ziel, welches verfolgt wird, und im letzten Grunde dieselbe Methode. „Ich vergleiche“, sagt Niebuhr in der zweiten Ausgabe[41], „das Ergebniss solcher Forschungen der Entblössung eines übertünchten alten Frescogrundes, von dem die Farbe ohne alle Spur herab ist, und nur der mit dem Griffel eingedrückte Umriss, wie ihn die alten Maler einzureissen pflegten, hie und da sichtbar wird: wir verachten den Fund nicht, aus dem sich doch errathen lässt, was einst dort gemalt stand.“

[31] Und auch da, wo uns statt dürftiger Umrisse die ursprünglichen Farben des Gemäldes in voller Frische erhalten sind, wo ein günstiges Geschick die gleichzeitige Berichterstattung vor dem Untergang bewahrt hat, ist es wieder die genetische Methode der historischen Kritik, welche auf den überkommenen Stoff Anwendung findet. Die Fragen: in welcher Stellung befand sich der Chronist? konnte er die Wahrheit erfahren? wollte er sie mittheilen? inwiefern war sein Gesichtskreis landschaftlich beschränkt oder durch Parteirücksichten beeinflusst? welche Dinge berichtet er als Augenzeuge? wo stützt er sich auf die Aussagen anderer, etwa auf eine schon ausgeschmückte mündliche Tradition? wo haben ihm Briefe und Actenstücke vorgelegen und sind zum Theil wörtlich von ihm herübergenommen? und was sich sonst noch alles an kritischen Einzelfragen erheben kann, – es fasst sich schliesslich zusammen in die eine Hauptfrage nach der Genesis des überlieferten historischen Stoffes.

Gerade die Erkenntnis, dass wir es immer nur, auch in der besten und ursprünglichsten Ueberlieferung, mit Auffassungen von den Dingen, nicht mit den Dingen selbst zu thun haben, nöthigt uns, den Standpunkt des Schriftstellers kennen zu lernen und die Medien, durch die er sah. Zu diesem Zwecke lösen wir sein Werk kritisch auf, versuchen uns dessen Entstehung nach Zeit, Ort und Umständen zu erklären, seine Missverständnisse und seine Vorurtheile, sein Pragma und seine Tendenz zu begreifen und fühlen uns dann erst im Stande, seine Nachrichten für den kritischen Aufbau der Geschichte zu verwerthen. Dieses ganze Verfahren ist rein genetisch, getragen von dem Gedanken des organischen Werdens.

Die Ueberlieferung erscheint hier nicht mehr als etwas schlechthin Gegebenes, das man entweder gläubig hinnehmen oder skeptisch verwerfen kann, sondern als eine historische Erscheinung so gut wie jede andere, die aus dem Gesichtspunkt der Entwicklung verstanden sein will. Eine reiche Literatur auf allen Gebieten der historischen Forschung dient diesem Zwecke, und die Wissenschaft darf sich diese mühsame Detailarbeit nicht verdriessen lassen. Denn eben die genetische Quellenkritik ist es, welche unsere moderne Geschichtsforschung von der geschichtlichen Arbeit vergangener Jahrhunderte [32] so wesentlich unterscheidet. Sie üben, heisst die Entwicklungsgeschichte der Ueberlieferung verfolgen[42].




Ist dann diese Arbeit gethan, der Schutt unechter Tradition hinweggeräumt und das sichere Material einer beglaubigten Berichterstattung herbeigeschafft, so mag der eigentliche Aufbau der geschichtlichen Darstellung beginnen. Die Methode der wissenschaftlichen Arbeit ist auch hier ausschliesslich die genetische. Mag es gelten, eine historische Einzelerscheinung, den knappen Ausschnitt aus einem grösseren Ganzen, zur Darstellung zu bringen, vielleicht eine Episode von wenigen Jahren, oder Leben und Wirken einer einzelnen Persönlichkeit, mag das Ziel weiter gesteckt sein und die Entwicklung eines bestimmten Zeitalters, eines ganzen Volkes, ja schliesslich den gesammten Umkreis der Weltgeschichte umfassen, immer ist – im Kleinen wie im Grossen – die Aufgabe des Historikers dieselbe: den Spuren der Entwicklung bescheiden nachzugehen, sie ungetrübten Blickes aufzufassen und möglichst rein und unverfälscht wiederzugeben. Höhere Ziele wagt er sich nicht zu stecken, und wenn die Menschen des 18. Jahrhunderts in dem angemassten Vorurtheil, als sei die Weltgeschichte das Weltgericht, alles vor das kritische Tribunal des richtenden Verstandes zogen, und an Dinge wie Menschen den absoluten Massstab ihrer Anschauungen legten, so geht unser Bestreben in erster Linie dahin, jede historische Erscheinung zu verstehen, das heisst: ihre Ursprünge klar zu legen, ihren inneren Zusammenhang mit anderen Erscheinungen der Zeit festzustellen, ihre Wirkungen auf die Folgezeit kennen zu lernen und sie so gewissermassen in den grossen und ewigen Zusammenhang des gesammten geschichtlichen Lebens als Glied einer unendlichen Kette einzureihen.

[33] Aber wollen wir uns denn nun des historischen Werthurtheils gänzlich begeben? Wollen wir nur Thatsachen verzeichnen, Entwicklungsreihen anschaulich machen, aber uns geflissentlich bemühen, unser eigenes Urtheil über all diese Dinge zu unterdrücken? Leugnen wir es nicht: – die Consequenz der genetischen Geschichtsbetrachtung führt dahin. Aber es wäre eine verhängnissvolle Selbsttäuschung, auch nur zu glauben, dass wir dazu im Stande wären. Unser Urtheil beeinflusst unsere Auffassung auf Schritt und Tritt. Es ist nie anders gewesen und wird nie anders sein, so lange denkende und fühlende Menschen Geschichte schreiben. Wir würden eine schlechte Lehre aus den Geschichtsschreibern ziehen, welche uns als Quellen dienen, wenn wir uns von jenem Gesetze ausgenommen wähnten, welches lehrt, dass jede historische Thatsache, indem sie durch das Medium des Erzählers hindurchgeht, eine Brechung und Färbung erleidet, vergleichbar jener, welche die Strahlen des Lichtes im Prisma erfahren. So gewiss wir im 19. Jahrhundert leben und nicht im 11. und 12., so gewiss wir auf dem Boden dieses deutschen Staates stehen, dessen Aufrichtung wir erlebt haben, so gewiss ist es, dass wir mit all unserem Denken, unserem Urtheilen und Fühlen verwachsen sind mit den mächtigen Factoren, welche die uns umgebende Welt bestimmen. Es liegt nicht in unserer Macht, uns über uns selbst hinauszuheben, und wenn wir Geschichte schreiben, so können wir uns von den Meinungen und Vorurtheilen nicht loslösen, welche uns unbewusst beherrschen, ja die uns in gewissem Sinne „das Leben gaben“. Diesem Gesetze sind wir alle unterworfen und auch unsere grössten Geschichtsschreiber von heute gehen unrettbar einer Zeit entgegen, welche sie bei aller Würdigung ihrer geistigen Bedeutung in erster Linie doch als Material betrachten wird für eine Geschichte der historischen Anschauungen ihres Zeitalters[43].

Hier also liegt die Schranke unserer genetisch-historischen Betrachtungsweise. Unser Ziel: die von aller subjectiven Beimischung losgelöste Darstellung reiner Entwicklung ist ein Ideal so unerreichbar in der Wirklichkeit der Dinge, wie je eines. [34] Wir werden stets von dem Unsrigen hinzuthun. Ja, mag die Ueberzeugung uns noch so tief eingeprägt sein, dass wir in unserem moralischen und intellectuellen Urtheil kein absolutes Werthmass der Dinge besitzen, für uns bleibt dieses Urtheil dennoch das absolute.

Und wenn dem so ist, wenn wir uns bewusst sind, unsere politischen, wie unsere sittlichen und religiösen, ja auch unsere intellectuellen Anschauungsformen nun einmal nicht eliminiren zu können bei unseren historischen Arbeiten, wenn wir in Folge dessen jedem Anspruch darauf von vornherein entsagen müssen, als könnten wir darstellen, wie die Dinge wirklich gewesen, und uns bescheiden, nur zu sagen, wie sie uns erschienen sind, – stehen wir damit nicht vor dem Bankerott unserer Geschichtsauffassung, ist es nicht an der Zeit umzukehren und Ernst zu machen mit jener naiven Anschauung, die uns ja doch im Blute steckt, dass der Mensch der Gegenwart mit seinem Denken und Fühlen, mit seinem Lieben und Hassen der einzige Massstab sei für alles geschichtliche Leben der Vergangenheit?

Ich fürchte nicht, dass Jemand mit Bewusstsein diesen Schritt wird unternehmen wollen. Freilich, wir wollen jenen Widerstreit zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis nicht verringern, nicht künstlich zu überbrücken suchen, wir wollen sein Dasein einfach anerkennen. Er weist uns darauf hin, dass auch diese Anschauung, der wir heute huldigen, nicht die abschliessende ist, dass eine Zeit kommen wird, welcher sie veraltet, „historisch“ erscheint. Aber noch ist ihre Mission nicht erfüllt und uns, denen die genetische Denkweise zum geistigen Lebenselement geworden ist, kann es das Ziel nicht verrücken, wenn wir uns klar machen, dass wir es doch nicht erreichen können. Es ist hier nicht anders, wie auf allen Gebieten des Lebens. „Unser Gang ist ein beständiges Fallen“, ein ewiger Compromiss zwischen Wollen und Vollbringen.

Nicht also um eine principielle Lösung des Widerspruchs kann es sich handeln, wohl aber um eine Ausgleichung in der Praxis. Und diese, meine ich, liegt nahe genug. Genetisches Begreifen und naives Beurtheilen der geschichtlichen Vergangenheit – mögen sie in der Idee noch so weit auseinanderliegen, in der Wirklichkeit treten sie zu einander in die fruchtbarsten Wechselbeziehungen, sie bedingen sich gegenseitig, sind eins ohne das [35] andere undenkbar. Wir können einmal ohne unser Werthurtheil in der Geschichte nicht operiren – selbst das massive Gefüge roher Geschichtstabellen durchdringt sein Hauch –, wir können es nicht streichen und die Idee der Entwicklung an seine Stelle setzen. Wohl aber können wir es dieser Idee bewusst unterordnen. Und das eben muss unser praktisches Ziel bleiben. Mit anderen Worten: Was wir erstreben und von uns und anderen verlangen, ist einzig, dass aller geschichtlichen Werthbeurtheilung vorangehe der redliche Versuch, einer jeden historischen Erscheinung ihren Platz im Entwicklungszusammenhang anzuweisen, Verhältnisse und Menschen genetisch zu begreifen. Dann erst mag das Urtheil in seine Rechte treten, für das wir auf diese Weise eine sichere Norm gefunden haben. Und eben, je mehr jener Versuch gelungen ist, desto weniger einseitig wird sich das Urtheil den historischen Ereignissen aufdrängen, desto besonnener und stichhaltiger wird es – eine reife Frucht vom Baume der Erkenntniss – sich aus dem Zusammenhange der Dinge selbst ergeben: es wird nicht aufgehoben oder verdrängt, sondern gereinigt, geläutert und vertieft werden.

Ich glaube, damit ist dann auch der wichtigen pädagogischen Aufgabe der Geschichte, die neben ihrer wissenschaftlichen Aufgabe einhergeht, genug gethan. Die Menschen der Gegenwart werden sich nie das Recht nehmen lassen, über die geschichtliche Vergangenheit zu urtheilen, wie es das Recht der Zukunft sein wird, die Summe zu ziehen aus den Bestrebungen und Leistungen unseres Zeitalters. Die grosse praktische Aufgabe des Historikers aber ist es, dieses Urtheil in richtige Bahnen zu lenken. So wenig er sich derselben entziehen kann, ohne sich an seiner Nation, ja an der allgemeinen Bildung der Menschheit zu versündigen, so wenig kann er dabei des Werthurtheils entrathen, ohne welches die Geschichte dem populären Bewusstsein arm und leer erscheinen würde. Aber auch hier wird er sich stets bewusst bleiben, dass dem historischen Werthurtheil das genetische Begreifen und Verstehen voranzugehen habe.

Und von diesem Standpunkt aus schlichtet sich auch meines Erachtens der alte Streit über die Objectivität des Historikers von selbst. Genetische Betrachtung und historische Objectivität sind fast synonyme Begriffe: beide im höchsten Sinne unerreichbar, aber in praktischer Beschränkung auf das Erreichbare das [36] gemeinsame Ziel aller unserer heutigen Geschichtschreibung. Eine subjective d. h. verstandeskritische Geschichtschreibung im Sinne des 18. Jahrhunderts – im unsrigen noch von Schlosser mit so grossem Erfolge vertreten – ist heute wissenschaftlich unmöglich. Alle unsere Forschung ruht auf dem Boden der genetischen Denkweise, ist darum ihrem Grundcharakter nach objectiv. Ein Principienstreit über diese Frage ist heute gegenstandslos, wenn auch selbstverständlich die grossen individuellen Unterschiede der schriftstellerischen Charaktere darum nicht verschwunden sind oder je verschwinden werden. Aber mag der eine den reinen Entwicklungsprocess als solchen, der andere die Werthbeurtheilung in den Vordergrund stellen, – dennoch stehen beide auf demselben Boden und ringen nach demselben Ziel. Was sie scheidet, sind keine sachlichen Gegensätze, sondern nur die Gradesunterschiede, die individuellen Abstufungen einer und derselben wissenschaftlichen Anschauung.

Alles Geschehene als ein Gewordenes zu erfassen, schwebt unseren Bestrebungen als letztes Ziel vor. Wir sind uns aber – noch einmal sei es gesagt – vollkommen bewusst, dass dieses Ziel unerreichbar ist. Um die Entwicklung der Menschengeschichte rein auffassen und wiedergeben zu können, müssten wir einen Standpunkt ausserhalb dieser Welt haben, nicht selber Menschen sein. Wir wissen, wie unser Urtheil so häufig trübend und irreführend unserer Erkenntniss vorgreift und sie in falsche Bahnen lenkt. Dass unser Material lückenhaft, unser Wissen Stückwerk ist, predigt uns jeder Tag. Es wäre unter diesen Umständen mehr als gewagt, wenn wir versuchen wollten, wie dies in der That verlangt worden ist, nach Analogie der Naturwissenschaften zu bestimmten Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung zu gelangen. Gibt es solche Gesetze der Entwicklung und des Fortschritts in der Geschichte – und wir können uns den Verlauf der Dinge ohne sie nicht vorstellen –, so sind sie jedenfalls für uns nur ein Gegenstand des Ahnens, der philosophischen Speculation und des religiösen Glaubens, nicht des Wissens und Schauens. Jede Zeit und jedes Volk, jede Religion und Philosophie legt das eigene Lebensideal dem Gang der Geschichte als Ziel des Fortschritts unter, die historische Wissenschaft als solche kennt kein solches Ideal. Von dem Strom, in welchem wir dahingetragen [37] werden, können wir, rückwärts gewandt, nur ein ganz kleines Stück übersehen, vor uns liegt dichter Nebel: Richtung und Ziel, Quelle wie Mündung sind unserem Blicke gleichermassen verborgen. Wir wissen weder, von wannen wir kommen, noch wohin wir gehen. Nur die Bewegung, in welcher wir und alles um uns sich befindet, fühlen wir, aber den Bewegenden sehen wir nicht. Auch die Geschichte vermag den Schleier nicht zu heben, der das Räthsel des Daseins umhüllt, und es wäre Schwärmerei und vermessener Wahn, da von Gesetzen zu sprechen, wo wir bescheiden kaum von Wahrnehmungen und beschränkten Erfahrungen reden können.

Es ist eine ganz scharfe Linie, welche Wissen und Glauben, empirische Erkenntniss und religiöse Vorstellung scheidet, – im Interesse beider liegt es, dass sie weder von hüben noch von drüben überschritten werde.



Anmerkungen

  1. Vorbemerkung. Für den nachfolgenden Aufsatz konnte Bernheim’s inzwischen erschienenes lehrreiches Buch über die historische Methode noch nicht benutzt werden. Wenn ich auch nach dem Erscheinen dieses Buches mit meinen ursprünglich nur für den mündlichen Vortrag niedergeschriebenen Betrachtungen hervorzutreten wage, so veranlasst mich dazu der Umstand, dass ich auch bei B. die Ableitung Niebuhr’s u. seiner Quellenkritik aus dem Goethe-Herder’schen Ideenkreise der Entwicklung nicht gefunden habe, und der Wunsch, diese Auffassung dem Urtheil der Fachgenossen zu unterbreiten.
  2. Die neuere deutsche Geschichtswissenschaft, übers, [aus der Engl. hist. Review I] v. Imelmann, Berlin 1887, S. 3.
  3. Werke, Cotta 1840 XL, 525. Werke, Hempel XXXIV, 174.
  4. Vergl. Pöhlmann, Hellenische Anschauungen über den Zusammenhang zwischen Natur und Geschichte S. 75 Anm.
  5. Ich citire nach Buch und Capitel, da eine im allgemeinen Gebrauch befindliche Ausgabe nicht existirt, die Suphan’sche noch nicht vollendet ist.
  6. Ideen, Buch III, Cap. 1.
  7. Ebendort.
  8. II, 4.
  9. V, 6.
  10. VII, 4.
  11. Ebd.
  12. IX, 1.
  13. Ebd.
  14. Ebd.
  15. Ebd.
  16. XII, 6.
  17. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (Riga 1774, Herder’s Werke, Hempel XXI, 162).
  18. XIV, 5.
  19. IX, 2.
  20. IX, 4.
  21. XII, 2.
  22. XIII, 7. Die Bedenken, welche man gegen die einseitig naturhafte Geschichtsauffassung geltend machen kann, berühren den Grundgedanken der Entwicklung nicht.
  23. XIII, 6.
  24. XVII, 1 (5).
  25. XVIII, 5.
  26. XVIII, 6.
  27. XX, Einl.
  28. Auch eine Philosophie… Werke Hempel XXI, 163.
  29. Ideen Buch XX, Einl.
  30. Werke, Cotta 1840, Bd. 33 S. 173, Werke, Hempel, Bd. 29 S. 783.
  31. Werke, Cotta 1840, Bd. 33 S. 124, Hempel, Bd. 29 S. 702.
  32. Eichhorn’s Einleitung ins alte Testament erschien in erster Auflage 1780–83, in zweiter 1787.
  33. Elegie: Hermann u. Dorothea; Br. an Schiller, 19. April 1797.
  34. The appearance of the book is really an era in the intellectual history of Europe: Macaulay an Napier, 19. Aug. 1830. (Trevelyan, Life and letters of Lord Macaulay I, 195. Wegele, Gesch. der Historiographie S. 1006.)
  35. Röm. Gesch. I (1. Aufl.), 148.
  36. Bd. I (2. Aufl. 1826), Vorrede S. X.
  37. Br. an Niebuhr vom 23. Nov. 1812. (Lebensnachrichten über B. G. Niebuhr III, 362.)
  38. S. IX.
  39. Vorr. S. V.
  40. T. 2 (2. Ausg. 1830) S. IV.
  41. II (1830) 134.
  42. Was ich hier allein von der Kritik erzählender Quellen ausgeführt habe, gilt natürlich nicht minder von der Kritik des ganzen übrigen historischen Quellenmaterials. Ich verweise beispielsweise auf die belehrende Darstellung, welche Bresslau (im 2. Cap. seines Handbuchs der Urkundenlehre Bd. I) der Geschichte der Urkundenkritik gewidmet hat. Was heute über Echtheit oder Unechtheit der einzelnen Urkunde entscheidet, ist im Grunde nichts anderes als ihre Entstehungsgeschichte. Diese klarzulegen dienen alle Operationen der Diplomatik.
  43. Diesen Gedanken führt sehr lichtvoll aus ein Wort von Pattison, angeführt bei E. A. Freeman, Methods of historical study (1886) S. 266. Vergl. auch S. 295.