Textdaten
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Autor: L. St.
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Titel: Unterm Kindelbaume
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 231–232
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[231]
Unterm Kindelbaume.

Am Fuße des Gebirges, am Ausgang eines seiner grünen, reizenden Thäler, liegt ein stattliches Dorf. Es ist Laubenhain mit vielen schönen weißen Häusern. Hinter dem Dorfe zieht sich ein mäßig hoher Berg mit prächtigen Obstpflanzungen hin, der Kindelberg genannt, und die kühlere Herbstsonne bestrahlt die gerötheten Aepfel und Birnen in der Fülle des gilbenden Laubes. – In diesem heitern Wetter wandert ein sehr einfach gekleideter Mann mit einem alten Ränzchen auf dem Rücken von der Landseite her dem Dorfe zu. Sein graues Haar und seine verwitterten Gesichtszüge verrathen den hohen Sechziger, wenn nicht gar schon den angehenden Siebenziger, aber das Gesicht zeigt einen edlen Schnitt, das Auge hat einen geistreichen, fast schwärmerischen Ausdruck. Der blaue Kittel und die graue Linnenhose sind rein, wenn auch ärmlich, eine leichte Mütze deckt den bedeutsamen Kopf. Er schreitet rüstig an seinem Knotenstocke. Aber dann und wann bleibt er stehen und betrachtet irgend einen an sich unbedeutenden Gegenstand mit großer Aufmerksamkeit und unverkennbarer Theilnahme, bald einen Baum, bald einen Stein, ein Gartenhäuschen, den durch die Wiesenflur sich schlängelnden Gebirgsbach. Sein Auge leuchtet dabei so wunderbar, über seine schmalen Lippen gleiten leise Worte wie Gebete. Er ist offenbar in großer Bewegung, und diese scheint zu steigen, je näher er dem Dorfe kommt, zu dessen Häusern und besonders zum Kirchthurme dann und wann sein Blick voll unaussprechlicher Wonne fliegt. So kommt er in das Dorf. Seine Aufregung ist so groß, daß er sich einige Minuten lang an eine Gartenplanke anlehnen muß. Dann geht er langsam weiter. Er schaut die Häuser an und grüßt in die Fenster. Die Bewohner danken ihm halb befremdet. Niemand kennt den freundlichen alten Mann. Als er am Forsthause vorüber geht, schleichen ein Paar große Thränen an seinen Wangen herab. Die hochgelegene Kirche grüßt er wieder, wehmüthig lächelnd, wie einen alten Freund und steigt dann zum Gottesacker empor. Da weilt er bald bei diesem, bald bei jenem der einfachen Grabmonumente und liest ihre Inschriften aufmerksam. Endlich findet er einen halbversunkenen mit Flechten überzogenen Grabstein, kniet daran nieder, faltet die Hände und betet. Und er geht weiter. Durch ein Hohlengäßchen gelangt er an den Kindelberg und ersteigt ihn. Das ist kein Fremdling im Dorfe, und wenn ihn auch Niemand kennt; er kennt dagegen alle Wege und Gelegenheiten. Von der Höhe des Bergs läßt er das thränenschwere Auge über das Dorf und die reizende Gegen schweifen.

„O Vaterland!“ ruft er in schmerzlich-froher Bewegung, „wie freu’ ich mich, daß ich dich wiedergefunden! Sei mir herzlich gegrüßt, du Stätte meiner Wiege! O Erde, auf der sie stand mit mir, nimm du auch meinen Sarg mit mir auf! Sieh, ich bringe mich dir wieder, dir, der ewig jungen Mutter, den alten Knaben, den ungetreuen und doch so getreuen Sohn, der weite Länder und Meere durchirrte und doch zuletzt zu dir zurückkehrt, um bei dir zu schlafen, auszuschlafen und zu rasten von der wüsten Sorge und der heißen Arbeit, die man Leben nennt!“

Nun suchte er mit geschärftem Auge und großer Aufmerksamkeit unter den Obstbäumen. Fleißig forschte er an der Rinde derselben. Endlich rief er im Tone der höchsten Freude:

„Gefunden! Du bist’s! Ja, du bist’s, mein lieber theurer Apfelbaum!“ Und er umarmte den Baum, wie einen geliebten Menschen und küßte ihn auf die glatte Schale, herzlich, innig, brünstig. „Du kennst mich noch, nicht wahr, mein Baum? Du bist ja mein Kindelbaum! Dich hab’ ich gepflanzt, als ich der Dorfschule entlassen und dort unten in der Kirche in den Christenbund aufgenommen wurde. Ach, das war eine schöne Zeit! Da war ich ein hübscher Knabe von dreizehn Jahren und du ein nettes Stämmchen von drei bis vier Jahren. O, ich sehe dich noch, wie dich der Vater heimbrachte, und du von der Schwester zum Kindelfeste mit einem Blumenkranze geschmückt wurdest. Ich grub mit Hacke und Schaufel die Grube für dich, ich setzte dich hinein, ich warf die Erde auf deine Wurzeln; ich begoß sie jeden Tag. Und welch ein stattlicher Baum bist du geworden! Dir sieht man kein Alter an wie mir! Ha und welch köstliche Früchte trägst du! Ich weiß, ich weiß, es war die beste Sorte, welche aufzutreiben war. Beutst du sie mir doch herab wie zum Danke. Recht so! Recht so, alter Freund! Meine Früchte sind schon längst abgefallen.“

Er pflückte einen der schönen Aepfel und biß hinein.

„O, wie labst du mich!“ jauchzte er. „Sieh, ich habe nicht vergebens gelebt; denn ich habe dich gepflanzt.“

Plötzlich fühlte er sich am Arme gefaßt und barsch angeredet.:

„Er hat hier einen Apfel gestohlen und muß mit mir zum Schulzen; denn ich kenne Ihn nicht, und Stehlen wird hier bestraft. Weiß Er das nicht?“

Es war das hämische Gesicht eines Bauers, das ihn so begrüßte.

„Wer ist Er denn, mein Freund, daß Er sich erlauben darf, mich des Diebstahls zu bezüchtigen?“

„Der Teufel ist Sein Freund, aber ich nicht. Er ist ein Vagabund, und ich bin Schütz und Gemeindeschöpf und königlicher Kreiser und Waldwart dazu. Er hat mich „Sie“ zu nennen, weiß Er das! Marsch mit mir zum Schulzen! Ich hab’ Ihn auf der Mauserei erwischt, Er hat ja den gestohlenen Apfel noch in der Hand.“

Der alte Mann widersetzte sich nicht; er folgte dem strengen Schützen, Gemeindeschöpfen und königlichen Waldwart mit einem wehmüthig bittern Lächeln.

War der Schöpf schon eine unangenehme Persönlichkeit, so war der Schulz eine höchst widerwärtige, eine aufgeblasene Figur, ein dummstolzes, hochrothes Gesicht mit einer affectirten Würde, das Ganze die lächerliche Karrikatur eines gewiegten und sich seiner Wichtigkeit bewußten Bureaukraten.

Der Delinquent wurde vorgeführt, nachdem der Schöpf seinen Bericht abgestattet hatte.

„Wer ist Er? Wie heißt Er?“ schnaubte ihn der Schulz an.

„Ich heiße Philipp Raab und bin aus dem hiesigen Orte gebürtig. Mein Vater war vor fünfzig Jahren hier Förster und ich sein einziger Sohn. Ich habe in Südamerika gelebt und bin hierher gekommen, um hier meine Tage zu beschließen.“

Der Schulz und der Schöpf sahen den Sprecher mit großen Augen an.

„Ach, Er ist der Försters-Flipp!“ rief der Erstere, „von dem meine Mutter selige oft erzählte. Das ganze Dorf hat viele Jahre von seinen verwegenen Streichen gesprochen. Er ist ein wahrer Ausbund und Taugenichts gewesen, sogar Verse hat er gemacht und Seine Mutter, die Ihn verzogen, todt geärgert.“

Der Alte nickte wehmüthig, als sei das Alles wahr, und doch lag in seinem Auge, in seinen Zügen Etwas, das besagte: es sei das in einem Sinne, von welchem dieser gar keine Ahnung haben könne.

„Na, wie man sieht, hat Er’s so fort getrieben sein Leben lang und nichts vor sich gebracht. Als ein junger Bettler ist Er gegangen und als ein alter Bettler wieder gekommen, der der Gemeinde die Aepfel stiehlt.“

„Der Baum, von welchem ich den Apfel pflückte, ist mein Kindelbaum. Ich weiß nicht, ob der Gebrauch noch besteht. Sonst pflanzte jedes Kind an seinem Confirmationstage einen Baum am Kindelberge. Jenen Baum habe ich gepflanzt und in seine Rinde meine Namensschiffer geschnitten.“

[232] „Das mag wahr sein oder nicht, der Baum geht Ihn nichts an, der gehört der Gemeinde. Er hat einen Gulden Strafe zu erlegen, und wenn er das nicht kann, vierundzwanzig Stunden Haft im Gemeindekoben bei Wasser und Brot. Dann kann Er hingehen, wohin Er will, meinetwegen, woher Er gekommen ist; denn in Laubenhain hat Er kein Heimatsrecht mehr. Wir haben hier des armen Gesindels genug und können keine Vagabunden brauchen. Bezahl’ Er den Gulden und scheer Er sich fort; ich duld’ ihn keinen Tag im Orte. Wenn Er nicht freiwillig geht, lass’ ich Ihn in’s Amt transportiren, das bringt Ihn per Schub aus dem Lande. Wird Er zahlen?“

Der Alte schüttelte mit dem Kopfe. Zwei große Thränen glitten langsam auf seinen verwitterten Wangen herab.

„Na, denn fort in’s Loch!“

Der Gemeindediener und respective Nachtwächter führte den Delinquenten auf gestrengen Befehl ab. Es war ein etwas vergrößerter Hundestall, in welchen er gestoßen wurde. Der Büttel erlaubte sich rohe Scherze mit ihm; der Alte schwieg.

Es war schon finstre Nacht, als der Diener ihm ein Stück hartes verschimmeltes Brot und einen defecten unsaubern Krug mit Wasser brachte.

„Hört, guter Freund Nachtwächter,“ sagte der Gefangene mit wunderbar zitternder Stimme (sie klang wie der Ton einer zerreißenden Saite), „ich will Euch den Gulden für den Schulzen und noch einen halben für Euch zahlen, laßt mich frei. Es ist mir unwohl geworden. Ich will in dieser Nacht noch fort gehen und nicht wieder kommen.“

„Das kann ich nicht für mich thun. Ich muß es dem Herrn Schulzen melden. Gebt das Geld her, Alter!“

Der Gefangene zahle, der Nachtwächter ging. Nach einer langen, bösen Stunde kehrte er zurück.

„Der Herr Schulz saß in der Schenke, da läßt er sich nicht nicht gern stören. Er läßt Euch anbefehlen, Euch nicht wieder hier betreten zu lassen, bei Strafe der Ausweisung auf dem Schub.“

Der alte Mann schüttelte die Glieder, als er auf der Straße stand. Er verließ in der finstern Nacht das Dorf, aber sein Schritt war nicht mehr so sicher und fest, als wie er hereingekommen war. Doch fand er den Pfad wieder auf den Kindelberg, doch fand er seinen Kindelbaum wieder in der dunkeln Nacht. Er brauchte ihn gar nicht zu suchen, er hatte ihn gleich, als ob ihn eine höhere Eingebung führte. Und nun kniete er an dem Baume nieder und weinte. Vielleicht betete er auch. Endlich umarmte er den Baum. –

Am andern Morgen meldete der Gänsehirt sehr eilig beim Schulzen: auf dem Kindelberge liege ein todter Mann. Der Gemeindediener und Nachtwächter, welcher auch Todtengräber war, wurde dorthin beordert. Der alte „Vagabund“ lag unter seinem Kindelbaum todt, hielt ihn aber noch mit beiden Armen umschlungen. Ein Haufen Dorfjugend umstand die Leiche und trieb ihren Spott damit; die Rangen wußten schon, daß es der Försters-Flipp war, von dem sie so fabelhafte Dinge gehört. Gestern Abend war in allen Häusern die Rede von diesem „curiosen Menschen“ gewesen, der so weit her und so alt und arm wieder gekommen war. Der Schöpf stellte sich auch ein, um einen Bericht an’s Amt aufzunehmen. Auf seinen Befehl trugen der Todtengräber und der Hirt die Leiche auf einer Tragbahre in den Gemeindekoben.

„Durchsuch’ seine Taschen!“ herrschte der Schöpf dem Nachtwächter zu. „Vielleicht findet sich so viel bei ihm, was ein schlechter Sarg kostet.“

Der Todtengräber zog eine ziemlich volle Börse, ein prächtige goldne Uhr und ein rothsaffianes Portefeuille hervor und überreichte es dem staunenden Schöpfen.

„Hör’,“ sagte dieser heimlich, „das bleibt unter uns; verstehst Du mich. Da hast Du einen blanken Thaler.“

Den nahm der Schöpf aus der Börse des alten „Vagabunden“ und ließ sie dann sammt der Uhr schnell in seiner eigenen Tasche verschwinden. Mit den Papieren, welche er in dem Portefeuille fand, konnte er nicht so schnell fertig werden. Dergleichen war ihm noch nicht vorgekommen. Er verfügte sich damit zum Schulzen. Dieser war schon besser damit bewandert. Als der gewaltige Dorfregent sämmtliche Blätter durchgesehen hatte, sagte er:

„Hör’, Valtin, das muß unter uns bleiben. Verstehst Du mich! Das fällt mit in den Gemeindesportelkasten. Ich gebe Dir fünfzig Thaler. Du hältst das Maul, und wir lassen Gras darüber wachsen.“

Der Schöpf hielt die Hand auf und sagte kein Wörtchen von der Uhr und der Börse. Der Schulz zahlte, und am andern Morgen wurde der „alte Vagabund“ in einem schlechten, rohen Kasten vom Todtengräber und dem Hirten auf den Gottesacker getragen und an der Mauer verscharrt. Der Schulz und der Schöpf gingen nach der Stadt und nahmen dort im ersten Gasthofe den Koffer des alten Herrn in Beschlag. Daheim angekommen, theilten sie, was sich darin vorfand. Die ganze Gemeide hatte ihr rohes, albernes Gespött über den Försters-Flipp, der als ein Vagabund am Kindelberg „verreckt“ war und nun an der Kirchhofmauer lag. So weit, meinten sie, könne es Jeder bringen. Dazu brauche man nicht in die weite Welt zu gehen.

Die Sache schien damit abgethan, aber sie war’s nicht. Der Todtengräber hatte die Börse in der Hand gehabt und ihren Inhalt überschläglich taxirt, als daß es ihn nicht hätte ärgern sollen, daß er nur einen Thaler von der Erbschaft erhalten. Der Schöpf war doch nicht gar zu dumm und hatte die Zettel im Portefeuille auch angesehen und überzählt, und es wurmte ihn je länger, je mehr, daß er sich hatte mit fünfzig Thalern abspeisen lassen. Der Todtengräber steckte die Geschichte seinem guten Freunde, dem Amtsdiener, und der Schöpf steckte sie seinem guten Freunde dem Amtsschreiber. Aber der Amtmann war der gute Freund des Schulzen. Der Schulz lachte den Schöpfen aus und der Schöpf den Nachtwächter. Alles war und blieb still von der Erbschaft des alten Vagabunden, aber in’s Ohr flüsterten sich die Leute seltsame Dinge davon.

Plötzlich wurden in einer Nacht der Amtmann, der Schulz, der Schöpf und der Nachtwächter verhaftet und in’s Kriminalamt gebracht, bei Allen auch genaue Haussuchung gethan. Da fand sich denn ein Testament Philipp Raab’s, worin er die Gemeinde seines Geburtsorts Laubenhain zum Erben seines ungeheuern in Surinam erworbenen Vermögens eingesetzt. Der Schulz hatte dieses in Banknoten bestehende Vermögen unterschlagen und später dem Amtmann einen Theil abgegeben.

Zufällig war der alte Vagabund, eh’ er seinen Geburtsort aufgesucht, in der Residenz bei einem Banquier gewesen, und hatte mit demselben über seine Geldangelegenheit conferirt. Dieser hatte später von dem Tode und der Begräbnißart des steinreichen Mannes gehört und den auf der Hand liegenden Betrug bei der Landesregierung angezeigt. Durch einen gewandten Polizeimann war diese über den Vorfall in genaue Kenntniß gesetzt worden. Der Amtmann kam mit Verlust seiner Stelle und halbjährigem Gefängniß davon; der Schulz erhielt zehnjährige Zuchthausstrafe und mußte den Raub herausgeben, der Schöpf kam ein Jahr in’s Zuchthaus, der Nachtwächter ein Vierteljahr. Die Gemeinde Laubenhain trat die reiche Erbschaft an; sie wurde dadurch die reichste im Lande. Die Leiche des „edlen Menschenfreundes“ wurde ausgegraben und prächtig geschmückt in einen kostbaren Sarg gelegt. Auf Befehl der Regierung wurde ihm das Grab unter seinem Kindelbaume bereitet und mit Quadern ausgemauert. Das ganze Dorf ging mit zur Leiche, das Amtspersonal und eine Commission der Regierung. Der Superintendent hielt in der Kirche eine lange Predigt über der Leiche des Wohlthäters und rühmte seine Verdienste, der Pfarrer eine rührende Rede am Grabe.

Vier Wochen später stand ein herrliches Monument von Stein auf dem Grabe.

Das sind die Menschen unserer Tage!
L. St.