Französische Hafenstädte. II. Marseille

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Titel: Französische Hafenstädte. II. Marseille
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 233–235
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Französische Hafenstädte.
II. Marseille.

Durch die Truppenverschiffungen nach dem Orient hat Marseille neuerer Zeit ein erhöhtes Interesse gewonnen und ist oft in den Zeitungen genannt worden.

Nach Toulon, das wir uns früher angesehen haben, kommt geographisch in der schönen Provence, die ihr breites, glühendes Gesicht im mittelländischen Meere bespiegelt, die alte Massilia, jetzt Marseille, im großen materiellen und telegraphischen Völkerverkehre vielleicht die wichtigste Stadt Frankreichs. Von hier aus correspondiren Diplomaten und Welthandelsleute ununterbrochen vermittelst elektrischer Blitze und dampf- oder segelbeschwingter Gesandten und Boten. Dabei glänzt und glüht das kolossale Häuser- und Geschäftsmeer so blendend und bestechend aus seiner Meeres- und Bergesbucht auf den Wasserspiegel hervor, daß man beim ersten Anblick die Schönheit und Größe der Stadt gern überschätzt. Ihre Lage ist allerdings eine der malerischsten, die man sich denken kann. Sie füllt den Mittelpunkt eines etwa drei Stunden breiten Bassins von hohen, steilen Hügeln, an denen unzählige prächtige Landhäuser und Landsitze, Meiereien und städtische Dörfchen herum zu klettern scheinen. Jeder große Kaufmann hat hier seine „maison de campagne,“ sein Landhaus, oft von großer Pracht und Ausdehnung. Man nennt sie lokal „bastides.“ Ihre Zahl beläuft sich auf mehr denn 5000. Uebrigens fehlt dieser Schönheit und Prachtfülle auch hier ein Hauptreiz, das grüne, blühende Gewand der Natur. Berge und Bassin, Häuser und Wege sehen trocken und durstig aus. Dazu kommt nicht selten der giftige, heiße „Mistral“-Wind, der Lungen und Augen austrocknet, ohne daß die Wasserdämpfe des Hafens Erquickung bieten, denn sie gleichen dann einem heißen, stagnirenden Sumpfe, da sie einen großen Theil des Unraths, der hier aus der großen Stadt herunter läuft, den Einwohnern in malitiöser Feinheit zurückschicken. Die Stadt ist beinahe in Hufeisenform um den Hafen herumgebaut mit der alten, griechischen Massilia im Norden. Die alte und neue Stadt scheiden sich durch die prächtigste Straße, welche in gerader Linie von Porte d’Aix bis Porte de Rome durch die ganze Breite der Stadt läuft. Die Mitte dieser Hauptstraße (genannt „Cours“), wo kostbare Bäume und luftige, plätschernde Fontainen zwischen den prächtigsten Palästen von ferner Natur und ihrem duftigen, kühlen Schatten zu erzählen scheinen, bildet an kühlen Abenden den Hauptsammelplatz der höhern Spaziergänger, unter denen Italiener, Engländer, Türken, Griechen und braune, civilisirte Helden von Algier und Cairo mit funkelnden, natürlichen oder bewaffneten Augen sich stark markiren und in ihren verschiedenen, nationalen Weisen ihr Interesse an den Schönheiten der Stadt zu erkennen geben. Noch voller und bunter sieht’s in der zweiten Hauptstraße aus, der Rue Cannebière, welche breit und stolz im rechten Winkel zu der ersteren bis herunter in die Mitte des Hafens führt. Der Hafen ist ein natürliches Oblongum. Hier gehen und kommen jährlich nicht weniger als durchschnittlich 18 bis 20,000 Schiffe mit einem Tonnengehalt, der mehr als 40 Millionen Centner beträgt. Das ist viel, aber immer nur erst ein Viertel des Seeverkehrs von Liverpool.

Diesem[WS 1] natürlichen Hafen verdankt Marseille hauptsächlich seine alte commercielle Wichtigkeit. Seitdem vor 3000 Jahren die Griechen von Phocis, Freiheit in der Fremde dem Joche des großen Eroberers Cyrus vorziehend, ihre neue Heimath hier gefunden, erblühte schnell aus ihrer mitgebrachten höhern Kultur die erste Civilisation des alten Galliens, wie damals das von celtischen Stämmen bewohnte Frankreich hieß. Handel und Wissenschaft, Gewerbe, Kunst und Literatur, freudige, feine Formen des Umgangs und Lebens und geistige Ueberlegenheit überhaupt erhob diese griechische Colonie zu einer geliebten, geachteten Erzieherin für die „Söhne der Wildniß.“ Das mächtige Rom bewieß ihr allen möglichen Respect, bis sie in den zerstörenden Kriegen zwischen Cäsar und Pompejus (die um die absolute Krone stritten, welche das demoralisirte, servil gewordene Volk schon lange vorher anbot, ehe Augustus oben die Monarchie fertig bekam) genöthigt ward, es mit dem letzteren zu halten, wofür der siegende Cäsar sie belagerte und einnahm, aber so viel Achtung vor ihrer Schönheit und Bildung bekundete, daß er mit der größten Strenge seine wilde Soldateska von Plünderung und Verwüstung abhielt.

Unter der römischen Herrschaft und durch das Mittelalter hindurch wußte die griechische Colonie ihre commercielle Wichtigkeit und Communal-Freiheit zu wahren. Sie blieb eine Art Freistaat mit eigener Regierung, aus Volkswahl hervorgehenden Magistraten, mit dem Privilegium, Verträge mit andern Staaten zu schließen u. s. w., bis sie endlich von Karl von Anjou, Fürsten der Provence, erobert, zugleich ihre glänzende Herrschaft auf dem mittelländischen Meere den aufgehenden Handelsgestirnen Pisa, Genua und Venedig abtrat.

Erst ganz neuerdings ist sie als französische Handelshauptstadt des mittelländischen Meeres und als Hauptpoststation zwischen England und Italien, und Frankreich und England in deren politischen und commerciellen Beziehungen zu den Ländern um’s mittelländische Meer herum zu neuer, größerer Bedeutung erstanden. Ihre neuen Schwingen sind das Dampfschiff und der electrische Telegraph.

Geschichtlich erwähnen wir nur noch die wüthende Rolle, welche Marseille mit seinem heißeren Blute und leidenschaftlichen Erinnerungen an ihre ehemalige Freiheit in der ersten französischen Revolution spielte. Es lieferte die Hauptmetzger für die September-Schlächtereien in Paris und bekanntlich auch die „Marseillaise.“ Unter Fréron und Barras wüthete es selbst am Wahnsinnigsten in seinen eigenen Eingeweiden und schlachtete in kurzer Zeit 400 seiner reichsten Bewohner, um deren Eigenthum zu confisciren. Ein Volksvertreter schlug sogar vor, den ganzen Hafen auszufüllen, damit die Freiheit nicht wieder durch – Verkehr gestört werde. Der Name Marseille ward vernichtet und in „la Commune sans Nom“ („die Commune ohne Namen,“ also gerade ein recht langer Name) verwandelt.

Robespierre’s Sturz, fast im ganzen Lande zugleich der Sturz der Schreckens- und Leidenschafts-Herrschaft, war in Marseille das Zeichen zu neuer, umgekehrter Wuth. Die Reaction gegen die Freiheitsschlachten-Helden (und Schlächter) stürmte das Fort St. Jean, worin zweihundert Revolutionäre saßen und metzelte sie alle nieder.

Die größte Merkwürdigkeit von Marseille ist der neue Hafen, in’s Meer gegraben von 1224 Yards Länge und 1312 weit vom Gestade, von welchem in Entfernungen von je 550 Fuß mächtige Hafendämme führen. Er bildet ein inneres Bassin und zwei äußere Häfen, welche durch einen Kanal zwischen Fort St. Jean und dem alten Fort verbunden werden. Vom alten Hafen und seinen Bollwerken steigen die Häusermassen amphitheatralisch ununterbrochen hinauf bis zu den umschließenden Hügelketten, so daß der Hafen zugleich Sammelplatz alles Unrathes der Stadt wird, der um so furchtbarer ist, da das Meer hier keine Fluth hat und die brennende Sonne im Sommer das ganze Thal verpestet, das nur in Südostwinden Erlösung findet, welche Fluth und Bewegung in den Hafen bringen. Die Pest fand hier deshalb auch oft genug eine reiche Ernte. Sie raffte z. B. im Jahre 1420 die ganze größere Hälfte der Bevölkerung, über 50,000 Menschen, hinweg. Die Galeerensclaven, welche die Todten begraben mußten, starben auch größtentheils, die übrigen weigerten sich, so daß manche Straßen thatsächlich mit Todten verbarrikadirt wurden. Unter den Schrecken dieser Scenen erhoben sich einzelne großherzige Männer, besonders Bischof Belpunée und Chevalier Rose, welche selbst Hand anlegten, die Todten zu begraben und so wieder Leben unter den Verzweifelten schufen.

Die alte Stadt, vom Meere her besonders imposant, ist inwendig ein schmutziges Gemenge enger Straßen. Nur die Häuserreihe an den Bollwerken hin besteht aus sehenswerthen Gebäuden und Palästen, von denen das Hotel de Ville mit seinem überladenen Schmuck das größte Curiosum ist. Zwei starke Forts bewachen den Eingang des alten Hafens: das alte Schloß und der St. Jean-Thurm im Norden (wo Philippe Egalité mit zwei seiner Söhne gehalten ward,) im Süden Fort St. Nicholas, von Ludwig XIV. angelegt. Nicht weit davon erhebt sich eine der

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Marseille.

[235] ältesten und merkwürdigsten Kirchen Frankreichs, St. Victor. Sie war im 13. und 14. Jahrhundert die reichste Abtei und Mutterkirche einer Menge Filiale, durch welche sie unermeßlich reich ward. Südlich davon steht auf dem steilen Felsen: Notre Dame de la Garde, die berühmte Kapelle mit dem Bilde der Jungfrau Maria aus Olivenholz geschnitten, in welchem alle Fischer und Seeleute des mittelländischen Meeres, besonders deren Weiber, ihre besondere und persönliche Schutzheilige verehren. Die Wände und die Decke dieser Kapelle und alle möglichen Winkel und Ecken sind mit der abenteuerlichsten Curiositäten-Sammlung von Opfern und Gelübden angefüllt, welche Seeleute in Gefahr versprachen und dann getreulich ablieferten; Sturm- und Schiffbruchgemälde, Dampfschiffexplosionen, Rettungen von englischen Kriegsschiffen, wundärztliche Werkzeuge und Operationen (gemalt), Krankenbetten, Schiffsmodelle, Hunderte von Tau-Stücken, mit denen Schiffbrüchige gerettet wurden, und eine Masse an Krücken, für welche Gichtbrüchige, Krüppel und Lahme bei ihrem Sterben die heilige Jungfrau zur Erbin machten, auch ein sehr kostbarer, massiv silberner Tintenfisch, ein Geschenk der Fischweiber von Marseille aus der Zeit, als die Cholera zum ersten Male nahte, um durch diese Gabe wo möglich Schonung zu erkaufen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Diesen