Textdaten
>>>
Autor: Wilhelmine Heimburg
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Unter’m Schlosse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 813–818
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[813]
Unter'm Schlosse.
Von W. Heimburg.


Wenn man durch das Wasserthor die alte Stadt am Harze betritt, bleibt der Blick, der noch eben auf duftigen Blumenfeldern und üppigen Gärten, auf prächtigen alten Bäumen und der fernen blauen Bergkette geruht, an fast armseliger Umgebung haften, an dunklen, feuchten Gassen mit erbärmlichen Häusern und schauerlichem Pflaster, bevölkert von einer Menge nicht allzu reinlicher Kinder. Vor uns scheinen die hohen Felsen des Schloßberges den Weg zu versperren; sie sind überwuchert von Ligustersträuchern mit spärlichen lila Blüthen; oben, zur halben Höhe, kleben, wie Schwalbennester, kleine Häuser, noch höher hinauf rauschen die dunklen Kastanien des Burggärtleins, und hinter ihnen ragt der alte graue Bau des Schlosses empor, gekrönt von dem Thurm des ehrwürdigen Domes.

Die Straße hier unten windet sich eng zwischen den Felsen hindurch und führt dann steil empor, zum Entzücken der Kinder, weil es sich so wunderschön im Winter auf dem Schlitten hinunter sausen läßt. Dort oben sind die Häuser schon stattlicher, an jedem derselben sieht man eine Steinbank, oder wenigstens vor der Thür ein paar Stufen, die zum Sitzen benutzt werden.

Die Leute, die „unter’m Schlosse“ wohnen – so heißt die Straße – besitzen kleine Gärten, welche jenseits der Gasse steil an dem Schloßberg hinaufklettern und deren Pflege mühsam ist, denn viele, viele Stufen muß das erfrischende Wasser hinaufgetragen werden, und nicht selten reißt ein heftiger Gewitterregen Pflanzen und Erde von den Felsen und plätschert gleich einem Wasserfall die steinerne Treppe hinunter.

Aber heimlich und traut ist es in solch einem Berggarten. Ganz oben an die alte gewaltige Mauer des Schlosses schmiegt sich die schattige Lindenlaube, und aus dem frei geschnittenen Guckfenster kann der Blick hinausschweifen über die Stadt mit ihren vielen altersgrauen Wartthürmen, über gesegnete Felder und Fluren, weit, weit in das Land hinein, so weit, daß man bei hellem Wetter die Thürme des Magdeburger Domes zu erkennen vermag. Und seitwärts, da hebt es sich blau über einander fort, Berg an Berg, und über sie alle ragt die Kuppe des Brockens empor in ewiger majestätischer Ruhe.

Ja, es ist schön in der alten Lindenlaube hier oben, im Garten der verwittweten Frau Stadtmusikus Rose. Das weiß sie auch gar wohl, denn trotz ihrer siebenzig Jahre steigt sie noch jeden Sommerabend die sechsundfünfzig Stufen hinauf, um hier oben ein Feierstündchen zu halten. Da klingt eben die Schelle ihrer Hausthür, und die alte Frau schreitet über die Straße; rechts und links nickt sie freundlich den spielenden Kindern zu, und mit dem Glockenschlage sechs Uhr, der noch einmal so laut hier oben erschallt, ist sie durch die kleine Gartenpforte getreten und beginnt langsam die Treppe zu ersteigen.

Es ist ein eigenartig Gesicht, das da unter der sauberen Haube hervorsieht, voller Falten und Fältchen; zwei silberweiße Locken hangen zierlich aufgesteckt an den Schläfen, und die Nase ist fein, schier zu fein für den Mund unter ihr; noch hält sie den Blick gesenkt und liest sorgsam ein paar Schneckenhäuser von den Stachelbeersträuchern, aber jetzt schauen die Augen auf. Was für ein paar wunderbar junge Augen in dem alten Gesicht! So eigenthümlich in Schnitt und Farbe, und der Ausdruck wie der eines Mädchens, das noch nichts weiter gesehen als lachendes Leben. Ja, die Augen waren jung geblieben, trotzdem sie viel geweint hatten. Deshalb hingen der Frau Stadtmusikus auch alle Kinder an wie die Kletten, und aus Keines Hand schmeckten die kleinen grünen Stachelbeeren oder eine Muskatellerbirne je so süß, wie aus der ihren. Sie selber aber blieb auch gar zu gern bei Kindern stehen und herzte und küßte das oder jenes, und wenn sie ein ganz besonders hübsches sah, so konnten plötzlich bittere Thränen aus den blauen Augen fließen.

Nun trat sie in die Laube und ließ sich, tief Athem schöpfend, auf die Bank nieder. Sie blickte wie prüfend über die terrassenartig hinabsteigenden Gemüsebeete des Gartens, welche von schmalen Wegen durchschnitten wurden, und als ob sie Alles zur Zufriedenheit gefunden in dem engen Reich, schweiften ihre Augen nun in die Ferne, die im vollsten Glanze der Abendsonne duftig und gesegnet vor ihr ausgebreitet lag. So konnte sie stundenlang hinausblicken, als müsse dort etwas sein, das zu ihr solle, als suche sie etwas da draußen in der weiten Welt.

Auf dem Steintische vor ihr lag ein Haufen grüner Bohnen, sowie ein Messer neben einer Schüssel; eine derbe Schürze aus selbstgesponnener Leinwand hing daneben. Ueber die Stirn der alten Frau glitt ein leiser Zug des Mißvergnügens, als sie dies bemerkte. Einen Augenblick wollte sie wohl das Messer ergreifen und die angefangene Arbeit fortsetzen, aber dann nahm sie, wie sich rasch besinnend, ein Strickzeug aus der Tasche, ließ das schneeweiße Baumwollengarn in den Schooß gleiten und begann zu stricken. Ihre Gedanken waren wohl nicht dabei, Gott weiß wo sie umherschweiften; ihre Blicke hingen träumend an den fernen Bergen.

Ueber ihr flüsterten die Zweige der Lindenlaube, und kleine Mauerschwalben schossen zirpend an ihr vorbei, um das Nest in dem alten Gemäuer des Schlosses zu suchen. Unten auf der [814] Straße war es still geworden; das Lärmen der Kinder war verstummt – sie saßen jetzt um das Abendbrod in den Stuben; zuweilen drang ein Peitschenknall und das Knarren eines heimkehrenden Erntewagens herauf; der Abendfriede begann sich über die Stadt zu senken.

Da klang eine Frauenstimme über die Hecke des Nachbargartens in das Ohr der alten Frau, dazu das Weinen eines Kindes.

„Schlaf, schlaf, mein Schäfchen! Ich singe Dir auch etwas:

‚Buko von Halberstadt,
Bring doch unserm Kindchen wat!
Wat sall ick em denn bringen?
Ein Paar Schauh mit Ringen,
Ein Paar Schauh mit Gold beschla’n!
Sall unser Kind drin danzen gahn.’“

Noch einmal wiederholte sich der Gesang – dann wurde es still.

Der alten Frau in der Laube ruhten die Hände müßig im Schooße, sie war in längst vergangenen Zeiten. –

Da schritt sie eben die Stufen hinauf, als junge Frau; hei, wie leicht es ging, obgleich sie eine Last auf den Armen trug. Freilich, diese Last war wunderfein und zierlich: an ihre Wange hatte sich ein blondes Köpfchen geschmiegt und schaute sie an aus großen blauen Kinderaugen.

„Singen, Mutter, singen!

Und da hatte sie das alte Wiegenlied angestimmt:

„‚Buko von Halberstadt –’

Heisa, klein Mäuschen soll tanzen, und Vater spielt dazu.“

Des Kindes glückliches Gesicht stand wieder so deutlich vor ihr; wie war es süß gewesen mit seinen blauen Augen! Alle Leute blieben stehen, wenn sie mit dem Lieblinge auf dem Arme durch die Straßen schritt.

„Das wird ein Staatsmädchen, Tine,“ hatte ihr alter Vater immer gesagt, „da wirst Du was aufzupassen kriegen.“

Ihre Mutter aber hatte oft ängstlich gebeten:

„Tine, laß dem Kinde es doch nicht merken, daß es gar so hübsch ist! Es ist ein kluges Ding, und es wäre schade darum, könnt’ Dir noch leid thun; schau, wie sie sich freut, wenn sie ein buntes Schürzchen an hat! Es wird gar eitel werden.“

Und die alte brave Frau war mit verstelltem Zorne auf die Kleine losgefahren:

„Du bist ein garstig Ding, ein häßlich Mädchen, kein Mensch mag Dich leiden – o pfui!“

Dann lachte das ganze holde Kindergesichtchen und griff nach der Kattunhaube der alten Frau, und die vergaß, was sie eben gesagt, nahm sie in die Arme und küßte sie herzhaft ab und trug sie dann zum Großvater in die Werkstatt; er solle dem Zuckerkindchen ein paar neue blaue Schuhe anmessen.

O das Entzücken, als das kleine Geschöpf zum ersten Mal zierlich die Röckchen faßte und nach des Vaters Geige zu tanzen begann! Es war ganz allein mit ihm im Zimmer, und der eifrige Musikus hatte beide Augen auf die Noten geheftet, aber draußen lauschten sie Alle an der Thür, sie und die Großmutter, der blasse Lehrling und die Nachbarkinder; da drehte sich das Kind glückselig im Kreise; die blonden Locken wehten um das Gesichtchen, und hochroth glühten die Wangen.

Da war sie hinein gegangen und hatte das Kind emporgehoben und es geküßt und geherzt vor lauter Entzücken über seine Schönheit; das war nicht recht gewesen, nein, nein! Sie hatte ihre Strafe schwer bekommen, o so schwer!

Der alte Großvater starb, und sein letztes Wort war noch einmal: „Hab’ ein Auge auf das Mädchen, Tine! Sie ist anders wie die anderen.“

Freilich war sie das, tausendmal hübscher und freundlicher. Ihre alte Mutter schüttelte den Kopf, wenn sie vor Weihnachten Nächte lang aufsaß, um Kleidchen und Hut zu verfertigen, viel schöner, als die anderen Mädchen sie trugen:

„Kind, Tine, Du wirst schon noch einmal sehen, was Du gemacht hast mit Deiner Louise; sie ist nun doch einmal keine Prinzessin.“

Aber dafür hatte sie kein Ohr gehabt; sie war ja zu reizend, die heranwachsende Kleine. Und was träumte sie Alles für das Kind, für ihr ganzes Glück, wie sie zu sagen pflegte!

Ihr Mann, ihr guter, seliger Mann, der so viel älter war als sie, wie oft war er unwillig gewesen, wenn sie sich im Hause abarbeitete und das Mädchen müßig daneben stand!

„So hilf doch Deiner Mutter, Du faule Grethe, was stehst Du da und guckst zu!“

Aber dann hatte sie gelacht und selbst abgewehrt.

„Ei, Heinrich, laß das Mädchen fort! Sie verdirbt mehr dabei als sie hilft; guck doch nur die kleinen Hände – die sind nicht für die Küche.“

Und dann war aus dem Kinde ein schönes Mädchen geworden, und wenn es Sonntags zur Kirche ging, dann stieß die Frau Stadtmusikus das Fenster auf und lugte hinter den Blumen hervor der schlanken Gestalt ihrer Tochter nach; sie konnte nicht immer mitgehen, war sie doch manchmal vor Thau und Tag aufgestanden, um ein duftiges weißes Kleid zu plätten.

Sie meinte das silberhelle Lachen ihres Lieblings wieder zu hören; das hatte ja alle Zeit durch das Haus geklungen; einem Jeden, der sie sah, that sie es an mit ihrem holdseligen, frischen Mädchenwesen; das schmeichelte so süß, das bat so unwiderstehlich – wer sie gekannt, vergaß sie nie. Mit durstigen Athemzügen genoß sie Alles, was solche fröhliche Mädchenjugend ersehnt, und warum nicht? – sie war ja nur zur Freude geschaffen.

Um diese Zeit kam eine Operngesellschaft in die Stadt. Da hatte der Herr Stadtmusikus alle Hände voll zu thun, das Orchester einzuspielen, und allabendlich ging’s in das Theater, denn Freibillets für Weib und Kind gab’s selbstverständlich. Wie leuchteten da die Augen des Mädchens, und wie glockenhell und schalkhaft zierlich sang sie andern Tages alle Melodien nach, die sie gehört!

Mitunter kam auch dieser oder jener von der Theatertruppe in das Haus unter dem Schlosse, am meisten der Tenor; er hatte alle Tage etwas zu fragen oder zu bestellen beim Herrn „Capellmeister“, und einmal, an einem Sonntage, da war er gar hier hinaufgekommen in die Lindenlaube, wo sie mit der Louise gesessen. Er war ein schöner schlanker Mensch gewesen, mit träumerischen schwarzen Augen; nur wenn er sang, dann konnten sie blitzen, und wie hatte er gesungen an jenem Abend! Da stand er vor der Laube und schickte das frische Liedel weit hinaus in die Ferne, und das schöne Mädchen saß auf der obersten Treppenstufe und hielt die Hände eng gefaltet im Schooß, die Augen zu ihm aufgeschlagen in andachtsvoller Bewunderung:

„I weiß nit, wie’s kommet,
I glaub’s immer so:
Da drauß’ in der Ferne
Fliegt’s Glück irgendwo.

I hab’ schon am Dache
Frau Schwalbe gefragt,
Ob sie’s nit gesehen?
Da hat ,Ja!’ sie gesagt.

Da wollt i gern wissen,
Wie’s ausschauen thut?
I wollt’s gerne suchen –
I hätte den Muth.

Da ist sie geflogen
Ueber’s Städtel hinaus;
Sie meint: i soll wandern –
I bleib’ nit zu Haus.“

O, sie wußte noch jedes Wort, jeden Klang; sie sah noch, wie er den Hut von dem dunklen Haar genommen hatte und ihn schwenkte, als grüße er wirklich in der blauen Ferne ein wunderbares Glück, und wie er mit einem Ruck verstummte und zu dem Mädchen niedersah, und sich dann in die Laube hin gesetzt und so blaß ausgesehen hatte, und wie Abends beim Zubettegehen die Louise der Mutter so zärtlich „Gute Nacht!“ gesagt, wie noch nie, und immer wieder die Arme um ihren Hals geschlungen hatte – ja, das Alles war ihr erst später aufgefallen, auch daß das Mädchen mit so leichenblassem, verstörtem Gesichte den Doctor gefragt und immer wieder gefragt hatte, ob der Vater sterben müsse an dem leichten Schlaganfall, der ihn wenige Tage später befiel. „Nein, mein Kindchen; es ist ja nur ein Hexenschuß – keine Angst haben!“ war die Antwort gewesen, und sie, die thörichte blinde Mutter, sie hatte gemeint, das sei die Angst und Sorge gewesen um den Vater. –

Die alte Frau in der Laube stöhnte plötzlich laut auf; der funkelnde Sonnenglanz da draußen war verschwunden, und Schatten lagerten sich allgemach über Felder und Fluren; von dem alten [815] Thurme schwangen sich volle mächtige Glockentöne herab und verkündeten Abendruhe nach heißem Tage. Das summte und dröhnte von dem grauen Gemäuer zurück in gewaltigen Schwingungen, bis es weit in der Ferne erstarb. Jeden Abend hallten diese Töne über die Stadt – auch an jenem Abend, als der Stadtmusikus die Augen schloß.

„Hol’ mir das Kind!“ hatte er sie gebeten, die weinend am Bette niedergekniet war; sie ging und kam dann zurück und hockte sich zitternd an der Bettstatt nieder; das Herz schlug stürmisch in ihrer Brust, so stürmisch, wie das des sterbenden Mannes.

„Ich kann sie nicht finden, die Louise,“ stammelte sie, „ich habe den Lehrling nach ihr geschickt; sie muß gleich kommen.“

Sie hatte in ihrer Herzensangst ein unwahres Wort gesagt – sie wußte es, das Kind würde nicht kommen.

„Es wird Feierabend, Tine, hörst Du wohl die Glocken?“ hatte er gesagt, und dann „grüß mir die Louise, meine –“ und dann war es vorbei.

Sie hatte den Gruß nie bestellt. Wie überhaupt die nächsten Tage über sie hingegangen, das war ihr niemals ganz klar geworden. Das Sterben des Mannes war ja ein leichter Schmerz neben dem, der sie noch getroffen an jenem Abend. Sie wußte wohl noch, daß sie, das Mädchen suchend, bis hier hinauf in die Laube gekommen war – und dort, auf dem nämlichen Tische vor ihr, unter einem kleinen Stein, da lag der Brief, der schreckliche Brief –

Halb von Thränen verwischt waren die Buchstaben gewesen. „Sie wisse, daß die Eltern nie und nimmer ihre Einwilligung geben würden, sie habe ihn zu lieb, sie müsse fort, aber sie wolle wiederkommen, wenn sie was Rechtes geworden sei; sie käme ganz bestimmt, und der Vater möge gesund werden, und er und die Mutter, die liebe Mutter, die sie auch so lieb gehabt, mögen ihr verzeihen; wenn sie reich geworden und eine große Künstlerin, wie er ihr gesagt, dann wolle sie Beiden all das wieder vergelten, was sie an ihr Gutes gethan.“

Das war es – sie hatte Mann und Kind an einem Tage verloren.

„Es sei ja nicht anders möglich,“ hatte die alte halbblinde Großmutter gesagt in ihrem Lehnstuhle am Fenster, die dem lieben Gott bittere Vorwürfe machte, daß er nicht sie statt des noch rüstigen Mannes gefordert; „Kinder sind kein Spielzeug, Tine, aber Du hast nicht hören wollen.“

Das war zu viel. Sie wurde krank, sehr krank; die Nachbarn kamen, um sie zu pflegen, und schalten auf das leichtsinnige Mädchen, das heimlich davongegangen mit einem wildfremden Menschen. Dann fuhr sie jäh empor im Bette; sie konnte ihr nicht einmal zürnen in ihrem Weh. – –

Die alte Frau schrak zusammen – sie gewahrte etwas, was ihre Gedanken in die Gegenwart zurückrief. Ihre Hand fuhr mit dem Taschentuche über die Stirn, dann griff sie eifrig zu dem Strickzeug und ließ die in Thränen schwimmenden Augen die Gartentreppe hinunterschweifen.

Da kam es herauf in anmuthiger Hast, eine leichte Mädchengestalt im einfachen Sommerkleide, goldblonde Flechten um den Kopf gewunden.

„Großmutter!“ rief sie, und blieb ungefähr auf der Hälfte der Treppe stehen, „darf ich mit Minna in’s Theater gehen? Sie geben ,Anne Liese’ – bitte, bitte, erlaube es mir nur dies einzige Mal, liebe Großmutter!“

„Nein!“ klang es zurück, fast schroff und rauh.

Ein Schatten getäuschter Erwartung flog über das eben noch so fröhliche Gesicht, und die dunklen Augen sahen beredt und flehend empor.

„Warum denn nicht?“ fragte sie betreten, „die andern Mädchen gehen alle – und das hübsche Lied, das darin vorkommt, höre doch nur, Großmutter:

,Flieg’ auf, flieg’ auf, Frau Schwalbe mein,
Du sollst mein Liebesbote sein!“

Sie sang es glockenhell.

„Komm herauf, Louise, und schnitze die Bohnen fertig!“ unterbrach die Stimme der Großmutter den Gesang.

Sofort wandte sich das Mädchen.

„Minna,“ rief sie hinunter, „geh’ nur allein! Ich darf nicht mit.“

Dann kam sie herauf, zog einen Stuhl aus der Laube, band sich die Schürze um und fing, die Schüssel auf dem Schooße, in etwas aufgeregter Hast an die Bohnen zu schneiden.

Es war eine auffallend feine Erscheinung, dieses junge Mädchen im schmucklosen Kattunkleide, selbst der Trotz, der um den rothen Mund lag, stand ihr gut, aber er wich bald einem wehmüthigen Zuge, der die Mundwinkel herabzog, und im Umsehen waren zwei große Tropfen über die Wangen herabgerollt und fielen auf die flinken kleinen Hände.

Der alten Frau in der Laube wurde es sichtlich schwer, dies mit anzusehen, aber sie blieb scheinbar gleichgültig beim Stricken und begnügte sich, das Mädchen mit ihren guten klaren Augen unverwandt zu betrachten. So saßen sie schweigend lange Zeit; es war schon dunkel geworden, und das lichtscheue Volk der Fledermäuse begann seine Schlupfwinkel in den Spalten des alten Gemäuers zu verlassen.

„Ich will die Bohnen hinunter tragen,“ sagte das Mädchen endlich und schon sprang sie, die Schüssel in den Händen, die Treppe hinab.

„Falle nicht mit dem Messer, Kind!“ rief ihr die alte Frau nach, aber sie erhielt keine Antwort mehr.

Wohl eine Stunde lang saß sie noch dort oben, allein mit ihren Gedanken; jene schrecklichen Tage zogen wieder an ihr vorüber, die Stunden, als sie in ihrer Stube auf den Knieen gelegen und sich die Hände wund gerungen nach ihrem Liebling. „Wende dich zu mir, Herr, und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend!“ war ihr tägliches Gebet gewesen. Aber sie kam nicht wieder, und alles Nachforschen war vergeblich.

Da endlich, nach drei Jahren, ein Lebenszeichen. „Es sei ihr nicht geglückt, wie sie gehofft,“ hieß es in dem in sichtlicher Eile geschriebenen Briefe, „sie wolle nun mit ihrem Manne nach Amerika, aber – das Kind, das kleine Kind! Ob wohl die Mutter es aufnehmen möge? Sie selbst komme nicht; sie schäme sich vor den Leuten daheim.“

Das war der Brief, der in dem Händchen des Kindes lag, das eine auffällig gekleidete schlumperhafte Person eines Abends im Zwielichte in das Haus unter dem Schlosse brachte, oder vielmehr zur Haustür hinein schob, um dann spurlos zu verschwinden.

Sie hatte das Kind mit einer Freude aufgenommen, als sei ihr die Verlorene wiedergeschenkt, mit Dank gegen Gott, der sich ihrer Verlassenheit erbarmte; sie wollte gut machen, was sie an der Tochter gefehlt, aber sie wollte auch diese wiedergewinnen. Auf’s Neue begannen die Nachforschungen; sie ließ in amerikanische Blätter die Aufforderung setzen, die Tochter möge zurückkehren; sie brauche sich nicht zu schämen, denn die Mutter schäme sich ihrer nicht; das Haus unter dem Schlosse sei groß genug für Alle. –

Erst nach ohngefähr einem Jahre des Wartens traf ein Brief ein, vielfach mit fremden Marken beklebt, und mit nicht zu entzifferndem Poststempel versehen. Es war eine feine Männerhandschrift, welche die Adresse geschrieben, und im Briefe stand von derselben feinen Schrift so klar und deutlich, als sei das Geschreibsel gestochen: wie Unterzeichneter die traurige Pflicht zu erfüllen habe, den Eltern anzuzeigen, daß seine unvergeßliche Frau auf einer Gastspielreise in den Südstaaten nach längerem Kränkeln gestorben sei. Ihr letztes Wort sei ein Gruß an die Mutter gewesen und die Bitte, die Kleine nicht zu verlassen.

Wie die Stadt hieß, in der ihr Kind das müde Haupt zum Sterben gelegt, war nicht angegeben; auch hatte der Gatte es nicht für nöthig befunden, seine Adresse hinzuzufügen; er hatte den Brief nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens unterzeichnet. Es war keine Frage nach seinem Kinde in den wenigen Zeilen enthalten; Alles, was einen ferneren Anknüpfungspunkt gestatten konnte, war sorgfältig vermieden. Sie wußte jetzt nur, daß sie keine Tochter mehr hatte, daß diese gestorben – verdorben war.

Nun durchlebte sie in ihrem armen jammernden Mutterherzen Alles, was ihr Kind erlitten, sah sie mit dem bunten leichtlebigen Theatervölklein von Stadt zu Stadt ziehen, sah sie Abends auf einer elenden Bühne mit Theaterfähnchen behangen in leichtsinnigen Stücken leichtsinnige Rollen spielen, fühlte mit ihr, wie ihr jedes Lächeln zur Qual wurde – sie war ja schon längere Zeit leidend gewesen, wie der Mann schrieb – ob er wohl je ein freundlich Wort für die Erschöpfte gehabt, ob er liebevoll an ihrem Sterbelager gestanden und ihr die heiße Stirn gekühlt hatte? Wer wußte, was für ein Elend sie durchlebt! Wie mochte [816] sich das arme junge Weib gesehnt haben nach der Mutter, nach dem trauten Vaterhause, wie tief bereut haben, daß sie gegangen!

Sie rang sich die Hände, wenn ihr diese und ähnliche Gedanken kamen, und erst wenn sie den Brief immer wieder las, der die Gewißheit brachte, daß ihr Kind ausgekämpft habe und in Frieden schlummere, erst dann konnte sie ruhiger werden.

Und nun wandte sich ihr Mutterherz ganz und voll der Enkelin zu. Wie ein hohes unverdientes Glück kam es ihr vor, als wieder kleine Füße durch das Zimmer trippelten und ein paar Aermchen sich zärtlich nach ihr ausstreckten. „Kinder sind kein Spielzeug,“ flüsterte sie vor sich hin, wenn sie in überwallender Zärtlichkeit das Kind an sich reißen wollte, und dann zwang sie sich gewaltsam zur Strenge. Kein buntes Tüchelchen, kein Püppchen, nichts, gar nichts, wonach ein Kinderherz sich sehnt, bekamen die kleinen verlangenden Hände, und den Tadel der Leute, daß das arme Häschen auch gar so armselig aufgezogen, gar so streng gehalten werde, ertrug sie schweigend. Die Leute sahen es ja nicht, wie sie die Nächte stundenlang an dem Bette des Kindes knieete und ihm mit leisem Flüstern erzählte, warum sie ihm so viel versagen müßte, wie oft sie die schlafenden Augen küßte und die Fingerchen, die schon so fleißig stricken mußten!

„Du Herzenskind, Du dankst es mir noch einmal, daß Deine Großmutter so barsch mit Dir war, dann, wenn Du eine brave, fleißige Hausfrau geworden bist.“

Und nun wandern die Gedanken in die Zukunft; da wohnt nebenan der junge Tischlermeister, der jetzt das große Möbelmagazin baut; ist es ihr doch, als ob er mehr nach dem hübschen Mädchen guckt, als just nöthig sei – o, wenn das wäre, und wenn die Louise – welch ein Glück! Wie ruhig könnte sie sterben, das Mädchen in solchem Schutze zu wissen! Aber der wollte sicher nicht das Kind einer Davongelaufenen, von Theatersleuten – und sie ist doch so gut, so hübsch, fast ebenso hübsch wie ihre Mutter. Ach ja, der Väter Sünde rächt sich an den Kindern.

Seufzend erhob sie sich und schritt die Stufen hinunter; die Fenster des Wohnzimmers waren noch dunkel. Ob sie nur noch im Finstern saß und weinte? „Armes, dummes Ding, sie weiß gar nicht, wie gut ich es mit ihr meine.“

Sie schloß die Gartenthür und trat gleich darauf in den dunklen Hausflur: „Mach’ ein bischen Licht, Lieschen! Ich kann nicht sehen,“ rief sie, aber es rührte sich nichts im ganzen Hause, nur die alte Schwarzwälderin tickte eintönig weiter, und die Hauskatze strich mit leisem Miauen an ihren Kleidern vorbei. Sie ging in die finstere Stube. „Lieschen?“ fragte sie leise; dann öffnete sie das Fenster: „Lieschen, Lieschen!“

Keine Antwort.

„Sie trotzt heute wohl gar?“ murmelte sie und setzte sich geduldig wartend in den Stuhl zurück.

Vom Thurme schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde – das Mädchen wollte nicht kommen; endlich tönten zehn langgezogene Glockentöne vom Schlosse herab und schlugen mahnend an das Ohr der alten Frau.

„Jetzt hört’s auf ein Spaß zu sein,“ sagte sie, sich emporrichtend; „Lieschen, Louise!“ rief sie wieder hinaus in die stille Sommernacht; man konnte doch sonst so gut jeden Ruf vernehmen dort oben in den Gärten, und vielleicht war sie doch dort bei Nachbarsleuten. – Keine Antwort; nur eine Fledermaus flatterte unheimlich scheu am Fenster vorüber.

Der alten Frau stand das Herz plötzlich still; wie, wenn sie doch in’s Theater gegangen? heimlich gegangen?

Sie legte die Hände vor die gefurchte Stirn. „Wenn sie das thäte, dann –“ Sie mochte es nicht ausdenken. Und doch, und doch! Könnte dann nicht noch einmal ein Tag kommen, an dem sie vergeblich rufen und suchen würde, wie dazumal, an jenem schrecklichen Tage? Wenn sie heute heimlich ging, wohin sie nicht sollte – konnte sie dann nicht auch ganz von ihr gehen? Hatte sie es denn damals gemerkt, daß ein Liebesverhältniß hinter ihrem Rücken spielte, eine Flucht geplant wurde?

Aber nein, nein, sie kommt noch; sie wird bei Nachbars Hannchen sein; wie kam sie auf ein solches Mißtrauen! Wie sie darauf kam? Als ob sie nicht getäuscht worden war, auf die grausamste Weise – und floß nicht der Eltern leichtes Blut in den Adern des Kindes?

Sie hatte plötzlich die Stubenthür geöffnet und war hinausgetreten vor die Hausthür; das Herz klopfte ihr, daß sie meinte, es hören zu können. „Lieschen!“ rief sie nochmals zu dem Garten empor, aber ihre Stimme zitterte.

„Guten Abend, Frau Rose,“ sagte vorübergehend ein Mädchen.

„Hast Du Lieschen nicht gesehen, Hannchen? Ich meinte, sie wäre bei Dir –“

„Bei mir? Nein; ich denke, sie ist im Theater; sie hat heut den ganzen Tag von weiter nichts geredet.“

„Schön Dank!“ sagte die alte Frau mit verlöschender Stimme.

„Gute Nacht, Frau Rose!“

Des Mädchens Schritte hallten durch die Nacht, dann wurde es wieder still auf der Gasse wie zuvor.

In dem Kopfe der alten Frau drehte sich eine ganze Welt von schrecklichen Möglichkeiten. „Sie ist fort,“ war das Einzige, was sie fassen konnte. Noch nie, so lange das Kind bei ihr war, hatte es sich je suchen lassen, und – richtig, es war so ganz anders in der letzten Zeit, so still, so nachdenkend, so – sie wußte selbst nicht wie.

Mit wankenden Schritten ging sie über die Straße; wohin sie wohl eigentlich wollte?

„Lieber Gott im Himmel, laß mir doch das Einzige, was ich noch habe, laß es mich nicht erleben, daß sie mich hintergeht!“ murmelte sie halblaut vor sich hin.

„Sie suchen wohl Lieschen, Frau Rose?“ fragte eine ruhige Männerstimme neben ihr.

„Herr Jesus! Gevatter, wißt Ihr’s – wo ist sie?“

„Nun, nun! Ihr seid ja ganz aus dem Häuschen; freilich weiß ich’s, aber ob ich’s verrathen darf, ist ein ander Ding.“

„O Gott, Gevatter, nur heraus damit – sie ist im Theater, nicht wahr?“

„Nun ja, so was Aehnliches ist’s wohl schon, wenigstens ist ein erster Liebhaber dabei. Guckt, drinnen sitzt sie mit meinem Bengel, dem Fritz, und sie herzen und küssen sich, die losen Vögel, gelt, Frau Gevatter, das hättet Ihr nicht gedacht, daß wir zwei Beide noch einmal verwandt werden sollten?“

„Mit dem Fritz?“ stammelte die alte Frau, und das Bild des jungen fleißigen Tischlermeisters stieg vor ihr auf – ihr Lieschen saß da mit dem Fritz? „Wo? Wo denn?“ rief sie dann und faßte in zitternder Hast nach der Hand des stattlichen Mannes; Hand in Hand gingen sie vor das Fenster des Nachbarhauses und blickten spähend hinein.

In dem Sorgenstuhle des Hausherrn am Ofen dehnt sich behaglich eine große Katze; am Tische vor der Lampe spinnt eifrig die alte Hausfrau, dort hinten aber, unter der Epheulaube, auf dem kleinen Korbsopha, sitzt der hübsche junge Meister, und hält ein über und über erglühendes Mädchen in den Armen.

Lange stehen sie stumm neben einander, die beiden Alten, und schauen das junge Liebespaar; ein Jedes von ihnen hat seine eigenen Gedanken.

„Der Himmel sei gelobt!“ flüstert die alte Frau endlich vor sich hin, und lächelt über die thörichte Angst, die sie gehabt; wie war sie nur auf so dumme Gedanken gekommen? Dabei tropft eine Thräne über die andere auf ihre saubern Haubenbänder, und dann schleicht sie sich leise fort, und bald sitzt sie wieder im einsamen Stübchen am Fenster. Hinter den gezackten Giebeln des alten Schlosses droben steigt eben der Mond empor; er wirft sein bläuliches Silberlicht über Häuser und Gärten und lugt durch die Monatsrosen und Geranien in das Gesicht der alten Frau; zum ersten Male seit langen Jahren liegt ein Lächeln des Glückes um ihren Mund. Eng gefaltet ruhen die Hände; sie denkt an ein Grab, das irgendwo in weiter, weiter Welt liegen muß, ungehegt und ungepflegt, aber sie denkt sein in Frieden – das Kind ist geborgen; sie soll glücklich werden, die Liese.

Da gleiten ein paar Schatten am Fenster vorüber; leise Schritte knistern auf den Sandsteinstufen draußen – dann noch ein Flüstern und Raunen; behutsam wird die Hausthür aufgemacht, und im nächsten Augenblick sinkt eine helle Mädchengestalt neben der alten Frau nieder; der blonde Kopf birgt sich in ihren Schooß, und weich und bebend klingt es:

„Großmutter, herzliebste Großmutter!“

Die alte Frau nimmt das Köpfchen zwischen ihre beiden Hände und sieht voll in das hübsche Mädchengesicht.

„Ei, Liese, Du bist mir gewiß noch recht böse, weil ich nicht haben wollte, daß Du im Theater des alten Dessauers erste Liebe sehen solltest, wie?“

[818] „Ach nein, Großmutter,“ erklärte sie in holder Verlegenheit, „es war nicht um die ‚Anne Liese’, daß ich weinte, nein, gewiß nicht, aber er, der Fritz wollte – dem Fritz seine Schwester, die fragte, ob ich nicht mit ihnen hingehen möchte, und – dann wie ich nicht durfte, ist er auch nicht gegangen, und dann saß ich hier vor der Hausthür; da ist er gekommen und hat mich zu seiner Mutter geholt, und morgen wollte er auch zu Dir –“

„I, was mag er denn nur wollen, Liese?“

„O Großmutter, liebste Großmutter, kannst Du Dir es denn gar nicht denken?“

„Und bist Du denn glücklich, Liese?“ flüsterte die alte Frau.

Das Mädchen nickte und schlang auf’s Neue die Arme um den Hals der Großmutter. –

Am folgenden Abend saß im Gärtlein, droben in der Laube ein junges Brautpaar der alten Frau Rose gegenüber, und die frischen Lippen des Mädchens erzählten schelmisch dem Bräutigam von der Angst, welche die Großmutter gehabt, als sie gestern Abend nicht zu finden war. Die alte Frau lächelte auch, dann aber fing sie an zu erzählen, all das, was auf diesen Blättern steht. Ueber ihr bewegten sich flüsternd die Lindenzweige der Laube; sie konnen ja auch ein Wörtlein mitreden von der, die einst ihr Elternhaus verließ. Die Ferne lag in goldiger Abendbeleuchtung; tiefviolett grüßten die Berge herüber.

Von dem jungen, leicht erblaßten Gesichte des Mädchens aber verschwand das Lächeln; sie hatte die Hand ihres Bräutigams ergriffen und sah mit feuchten Augen in das Land hinaus. Irgendwo weit, weit da draußen, da war ein Grab, das ihr gehörte – wer wußte wo?